CLEMENS-BRENTANO-PREIS - FÜR LITERATUR 2021

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CLEMENS-
BRENTANO-PREIS
FÜR LITERATUR
2021
AN SIMON
SAILER
CLEMENS-BRENTANO-PREIS 2021                                                                                           1
FÜR SIMON SAILER

Der mit 10.000 Euro dotierte Clemens-
Brentano-Preis für Literatur wird 2021 von der     vergeben, die mit ihren Erstlingswerken bereits die Aufmerksamkeit
Stadt Heidelberg an Simon Sailer für seinen        der Kritiker und des Lesepublikums auf sich gelenkt haben.
Erzählband Die Schrift (Edition Atelier, 2020)
verliehen.                                         Der Preis ist deutschlandweit einmalig, denn die Jury ist nicht nur
                                                   mit professionellen Literaturkritikerinnen und -kritikern, sondern
IN DER JURY-BEGRÜNDUNG HEISST ES:                  auch mit Studierenden des Germanistischen Seminars der Univer-
„Ein Ägyptologe erhält eine rätselhafte, aber      sität Heidelberg besetzt.
faszinierende Schrift, die sein Leben immer
mehr aus der Bahn wirft. Mit Elementen der         Der Preis wird am 21. Juli 2021 durch Bürgermeister Wolfgang
Hoch- und Popkultur spielend, entwickelt Simon     Erichson in Heidelberg an Simon Sailer überreicht. Die Laudatio
Sailer in subtil-packendem Erzählton ein cineas-   hält Thomas Ballhausen. Im Rahmen der Preisverleihung findet eine
tisches Leseerlebnis: „Die Schrift“ handelt von    Lesung samt Gespräch mit dem Autor statt.
der Macht der Zeichen sowie dem Horror, Opfer
einer höheren Instanz zu werden. So entsteht,      DIE JURY
ergänzt durch anspielungsreiche Illustrationen,    Julian Bockius, Germanistik-Student (Heidelberg)
eine so vielfältige wie doppelbödige Erzählung.    Thorsten Dönges, Literarisches Colloquium Berlin (Berlin)
Sie ist Thriller und Novelle in einem.“            Dr. Christine Lötscher, Freie Kritikerin und Wissenschaftliche
                                                   Mitarbeiterin der Universität Zürich (Zürich)
Der Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidel-       Frank Pietsch, Germanistik-Student (Heidelberg)
berg wird seit 1993 jährlich im Wechsel in den     Ann-Katrin Schwarz, Germanistik-Studentin (Heidelberg)
Sparten Lyrik, Erzählung, Essay und Roman an       Martina Senghas, Hörfunkjournalistin, SWR (Mannheim)
deutschsprachige Autorinnen und Autoren            Dr. Jan Wiele, Feuilleton- und Literaturredakteur der FAZ (Frankfurt)
2   GELEITWORT DES OBERBÜRGERMEISTERS                                                                                                                                                                 3
    DER STADT HEIDELBERG

                            Der Clemens-Brentano-Preis für Literatur der      nichts mehr in seinem Leben, wie es war. Auch
                            Stadt Heidelberg wird seit 1993 an aufstreben-    in der Erzählung ist nichts, wie es scheint.
                            de Talente der Literaturszene vergeben. Stets     Was leichtfüßig wirkt, ist mit großer Kunst
                            zeichnet er dabei Werke aus, die zu den ersten    gewebt. Erwähnt werden müssen deshalb
                            eigenständigen Publikationen der Schriftstel-     auch Jorghi Polls wunderbare Illustrationen in
                            lerinnen und Schriftsteller gehören. Damit ist    Die Schrift. Sie sind mehr als bloße Illustration:
                            er ein wichtiges Instrument der UNESCO-           Sie sind unabdingbarer Teil der Erzählung.           gehörige Seminar leitet. Und er gilt den 2020 neu berufenen pro-
                            Literaturstadt, um den literarischen Nachwuchs                                                         fessionellen Jury-Mitgliedern: Thorsten Dönges vom Literarischen
                            zu fördern und zu unterstützen.                   Das unabdingbare und besondere Merkmal des           Colloquium Berlin, der Schweizer Literaturkritikerin Dr. Christine
                                                                              Clemens-Brentano-Preises ist wiederum die            Lötscher, dem Feuilleton- und Literaturredakteur der Frankfurter All-
                            In die stattlich gewachsene und namhafte Liste    Zusammensetzung der Jury: Sie ist paritätisch        gemeinen Zeitung Dr. Jan Wiele sowie der SWR-Hörfunkjournalistin
                            der mit dem Preis ausgezeichneten Autorin-        mit professionellen Literaturkritikerinnen und       Martina Senghas als Jury-Vorsitzende. Gemeinsam haben Sie die-
                            nen und Autoren reiht sich nun Simon Sailer       -kritikern sowie Studierenden des Germanisti-        se Preisverleihung mit ihrer Expertise bereichert.
                            ein mit seiner Erzählung Die Schrift. Der Titel   schen Seminars der Universität Heidelberg
                            mag schlicht anmuten. Doch dahinter verbirgt      besetzt. Auf diese Weise bleibt der Preis selbst     Ich beglückwünsche den Preisträger für seine ausgezeichnete Er-
                            sich eine komplexe, ja abgründige Handlung,       offen – für junge Lesende und junge Ansichten.       zählung Die Schrift und wünsche den Leserinnen und Lesern eine
                            die einen das Gruseln lehren kann und zugleich    Er fördert so auch den Meinungsaustausch auf         so vergnügliche wie erkenntnisreiche Lektüre.
                            grundsätzliche Fragen aufwirft: Wer bin ich?      Augenhöhe zwischen den Generationen.
                            Wer oder was lenkt mein Handeln? Was ist          Daher möchte ich den diesjährigen studenti-
                            das: die Wirklichkeit? Denn Sailers Protago-      schen Jurymitgliedern Julian Bockius, Frank
                            nist, ein Wiener Ägyptologe namens Leo Buri,      Pietsch, Ann-Katrin Schwarz und ihren Kommi-
                            gerät durch eine Schrift, die ihm zugespielt      litoninnen und Kommilitonen herzlich für ihr
                            wird, unversehens in einen bedrohlichen Stru-     Engagement danken. Dieser Dank gilt auch             Prof. Dr. Eckart Würzner
                            del von Zeichen und Anzeichen. Und bald ist       Frau Prof. Dr. Michaela Kopp-Marx, die das zu-       Oberbürgermeister der Stadt Heidelberg
4   INTERVIEW                                              MIT SIMON SAILER                                                                                                                                                                5

                                                           vorstellbar. Es ist allerdings so, dass sich mit      se ich meine Manuskripte immer einige Zeit          und an Kafka orientiert. Außerdem habe ich beim Schreiben von
    Ende März per E-Mail durchgeführt von den studenti-
    schen Jury-Mitgliedern Raquel Mahanjane, Lena-Sophie   dem Verkauf von Büchern, zumal literarisch            liegen, bis zu einem Jahr, bevor ich sie überar-    „Menschenfisch“ viel an „Dune“ von Frank Herbert gedacht.
    Müller und Yusheng Wang                                ambitionierteren, schwer ein Lebensunterhalt          beite. Vom ersten Entwurf bis zur Publikation
                                                           bestreiten lässt, weshalb Schriftstellerinnen         sind an die drei Jahre vergangen. Allerdings        Hatten Sie schon mal Schreibblockaden? Wenn ja, wie haben
    Sehr geehrter Herr Sailer, wir möchten Ih-             und Schriftsteller auf Preise und Stipendien          habe ich parallel auch an anderen Texten gear-      Sie diese gelöst?
    nen ganz herzlich zum diesjährigen Cle-                angewiesen sind, wenn sie nicht schon von             beitet.                                             So eine richtige Schreibblockade – also, dass ich sage: Ich will schrei-
    mens-Brentano-Preis für Literatur gratulie-            vornherein genug Geld haben. Das verschärft                                                               ben, aber es geht nicht – hatte ich noch nicht. Wenn ich aufwache und
    ren, den Sie für Ihre Novelle „Die Schrift“            sich natürlich noch, wenn – wie momentan –            Wie hat sich das Schreiben von „Die Schrift“        partout nicht an dem gegenwärtigen Projekt weiterschreiben will,
    erhalten. Im Mittelpunkt der Erzählung steht           sämtliche Lesehonorare wegfallen. Außerdem            von Ihrem anderen Werk „Menschenfisch“              schreibe ich einfach irgendetwas anderes. Ich habe ein Dokument für
    der Ägyptologe Leo Buri, der von einer                 sind Preisjurys, genauso wie die Literaturkritik,     aus dem Jahr 2019 unterschieden?                    unsinnige Texte, da tippe ich dann etwas hinein. Manchmal kommen
    Schrift-Obsession erfasst ist und auf Abwe-            ein Teil des Resonanzraums von Literatur, den         Bei den Novellen hatte ich einen genaueren          sogar ganz witzige Sachen dabei heraus.
    ge gerät. Was hat Sie an dieser Thematik ge-           Texte bedürfen, um ein Eigenleben zu entwi-           Plan. Ich wollte für mich wesentliche Gefühlsla-
    reizt?                                                 ckeln.                                                gen angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse       Gibt es einen Charakter, der Sie schon seit langer Zeit verfolgt?
    Der Kern der Novelle ist die Idee einer Botschaft,                                                           gestalten: Ausgeliefert-Sein, die Herrschaft der    Haben Sie schon eine Idee für Ihr nächstes Werk?
    die für einen selbst unverständlich ist, aber nicht    An welchem Ort schreiben Sie am liebsten?             Dinge über die Menschen, Ersetzbarkeit. Au-         Es gibt schon ein nächstes Werk, ich muss es nur noch günstig un-
    für alle anderen. Dieses Motiv hat mich nicht          Am liebsten im Kaffeehaus (wie es sich für ei-        ßerdem habe ich mir bei den Novellen einen          terbringen. Es vergeht ja immer viel Zeit, bis etwas publiziert wird,
    mehr losgelassen. Vielleicht, weil es das – ziem-      nen Wiener gehört). Aber zur Not tut es auch          „altmodischeren“ Stil erlaubt. Sie sind blumiger    und ich höre in der Zwischenzeit nicht mit dem Schreiben auf.
    lich verbreitete – Gefühl verkörpert, alle anderen     der Schreibtisch.                                     als ich sonst schreibe, ziehen hier und da die
    wüssten Bescheid, nur man selbst versteht sich                                                               kunstvollere der einfachen Formulierung vor.        Lesen Sie gerne zur Vergnügung oder ist es mehr Arbeit für
    nicht und nicht die Welt.                              Wie lange haben Sie an der Novelle gear-              Sie sind wie die alte Literatur, die ich mag, die   Sie? Wenn ja, was lesen Sie besonders gerne?
                                                           beitet?                                               Novellen von Zweig oder Schnitzler oder die         Lesen ist für mich eines der größten Vergnügen. Natürlich achte ich
    Wie notwendig finden Sie Literaturpreise?              Die Novelle ist ja Teil einer Trilogie – der Essig-   Erzählungen von Turgenjew, Gogol und Dosto-         als Schriftsteller vielleicht mehr als andere darauf, wie ein Text ge-
    Im Englischen gibt es den Ausdruck „loaded             gassen-Trilogie – und ich habe die Novellen un-       jewski. „Menschenfisch“ ist sprachlich stärker      macht ist. Die englischsprachige Literatur mag ich sehr, Raymond
    question“. Eine Welt ohne Literaturpreise ist          mittelbar hintereinander geschrieben. Dann las-       an amerikanischer Literatur (Carver, Salinger)      Carver, J. D. Salinger, David Foster Wallace, Kazuo Ishiguro. Gerade
6   INTERVIEW                                             MIT SIMON SAILER                                                                                            7

    lese ich allerdings die „Aufzeichnungen eines         In welches Genre würden Sie „Die Schrift“              der Dynamik der eigenen Erfahrung und Lektüre
    Psychopathen“ von Wenedikt Jerofejew in deut-         einordnen?                                             leiten lassen. Literarische Vorbilder in dem Sinn,
    scher Übersetzung.                                    Ich tue mir schwer mit Genres, eigentlich versu-       dass ich so schreiben will wie dieser Autor oder
                                                          che ich, nicht in Genres zu denken.                    jene Autorin, gibt es nicht. Wenn mir eine Wen-
    Die Illustrationen von Jorghi Poll haben Ihr                                                                 dung oder ein literarisches Verfahren gefällt, be-
    Buch von anderen hervorgehoben und er-                In Ihrer Erzählung wird die Glaubwürdigkeit            diene ich mich. Was es aber schon gibt, sind Au-
    gänzen den Text hervorragend. Wie kamen               des Erzählers ständig in Frage gestellt. Er            toren und Autorinnen, die mir gezeigt haben,
    Sie auf diese Idee und wie sah die Zusam-             gibt nur die Erzählung seines Freundes Pe-             was man machen kann ohne gleich „unten
    menarbeit mit dem Illustrator aus?                    ters wieder, dessen Glaubwürdigkeit eben-              durch“ zu sein: Thomas Bernhard mit seinen
    Die Texte zu illustrieren war eine Idee des Ver-      falls mehrmals in Zweifel gezogen wird. Wie            Tiraden und Wiederholungen, Franz Kafka und
    lags. Ich hätte mich das auch nicht vorzuschla-       viel Glaubwürdigkeit sollte der Leser dem Er-          Samuel Beckett mit ihren langen, sich winden-
    gen getraut. So etwas ist ja doch eine ziemlich       zähler schenken?                                       den Dialogen, Marlen Haushofer, bei der die
    aufwändige Sache. Aber es hat mich natürlich          Letztlich muss man ihm doch alles glauben. Der         Handlung fest steht, Raymond Carver und J. D.
    extrem gefreut und war mit ein Grund, die Er-         Erzähler ist zwar unverlässlich, aber nur, weil er     Salinger, bei denen das Eigentliche gar nicht be-
    zählungen bei Edition Atelier herauszubringen.        selbst nicht alles weiß. Er ist aber sehr glaub-       schrieben wird, nur das Rundherum.
    Irgendwie passen diese mittellangen Texte und         würdig in seinem Versuch, aus dem Vorhande-
    Illustrationen hervorragend zusammen, ich habe        nen die Wahrheit zu konstruieren. Er versucht          Warum sollte man Ihr Buch gelesen haben?
    da im Hinterkopf zum Beispiel die von Alfred          gewissermaßen, hinter die Gerüchte zu sehen.           Im besten Fall, weil man nicht anders kann.
    Kubin mit Feder illustrierten Novellen von Dos-
    tojewski. Ein bisschen Feedback habe ich Jorghi       Welches Buch sollte Ihrer Meinung nach je-
    Poll schon gegeben, aber im Grunde hat er ein-        der einmal gelesen haben und wer sind Ihre
    fach sein Ding gemacht. Das finde ich auch            literarischen Vorbilder?
    richtig. Es ist ja viel interessanter zu sehen, was   Es klingt vielleicht ein bisschen forsch, aber je-
    jemand anderem zu dem Text einfällt.                  der soll lesen, was er oder sie lesen will, sich von   Herr Sailer: Wir danken für das Gespräch!
8   LESEPROBE                                         VON SIMON SAILER                                                                                                                                                              9

                                                               Leo hätte sich über die Sache nicht         arbeitete und auch, dass er einer alten Schrift     würde zu ihm herüberschielen. Er legte den Brief zur Seite und tat,
    Textauszug aus
                                                      weiter gewundert, wenn der Inhalt des Briefes        nicht widerstehen konnte. Beides war kein           als vertiefe er sich in seine Arbeit. Ganz so, als wäre der Brief eine
    DIE SCHRIFT                                       nicht so eigenartig gewesen wäre. Eine Anrede        Geheimnis.                                          bereits vergessene Nebensache. Nachdem er zwanzig Minuten
                                                      fehlte, und es stand nur ein Satz:                           Leo überlegte, ob er sich Verstärkung       dahingewerkelt hatte, unfähig sich recht zu konzentrieren, ging er
    Eines Morgens fand Leo auf seinem Schreib-                                                             holen sollte, jemanden ins Vertrauen ziehen. Er     auf die Toilette und wählte Peters Nummer.
    tisch eine Nachricht. Der Brief lag ohne Kuvert   Bin in den Besitz einer alten Schrift gelangt, die   wunderte sich, dass das Treffen so spät ange-                »Hallo, alter Ägypter«, meldete sich Peter.
    auf dem Tisch, war ungefaltet und vom Druck       Sie interessieren muss. Kommen Sie nach Ihrer        setzt war. So könnte er den ganzen Tag nutzen,               »Hallo, Peter«, flüsterte Leo und räusperte sich.
    noch warm. Leo fragte Kerstin Stummer, die        Arbeit zum Donaukanal.                               um Vorkehrungen zu treffen. Vielleicht wurde                 »Bist du krank?«
    Archivarin und die Einzige, die um diese Zeit                                                          er beobachtet und der Deal würde platzen,                    »Ich bin auf der Toilette und kann nicht frei sprechen.«
    schon arbeitete, ob sie etwas über das Schrei-    Keine Unterschrift. Leo faltete das Blatt zwei-      wenn er das Haus früher verließe als sonst. Leo              »Du klingst gehetzt.«
    ben wisse. Sie sagte, der Zettel sei hinterlegt   mal sorgfältig und steckte es in die Sakkotasche.    überlegte, die Polizei einzuschalten, aber                   »Ich brauche deine Hilfe, Peter, zumindest deinen Rat.«
    worden, aber von wem könne sie nicht sagen.       Der Befehlston gefiel ihm nicht. Offenbar            bislang war nichts Illegales geschehen. Außer       Peter erklärte sich zu allem bereit.
            Wie das möglich sei, wollte Leo wissen.   wollte ihm jemand etwas verkaufen, ein Dieb          es handelte sich tatsächlich um ein Angebot                  »Auf meinem Schreibtisch«, sagte Leo, »lag diesen Morgen
    »Es war doch vor Ihnen niemand hier, und          vielleicht, ein Grabräuber. Aber warum wendete       zum Verkauf eines gestohlenen Schriftstücks.        ein Brief. Jemand bietet mir eine ›alte Schrift‹ an. Ich soll nach der
    gestern bin ich als Letzter gegangen.«            sich der oder die Unbekannte an ihn? Er ver-         Aber bewies der Brief das bereits?                  Arbeit zum Donaukanal kommen.«
            »Der Brief lag auf dem Platz, als ich     diente wenig. Jedenfalls wusste, wer immer                   Da fiel ihm Peter ein, den er hin und                »Sonst nichts?«
    kam«, sagte Kerstin.                              den Brief geschrieben hatte, wie lange Leo           wieder traf. Leo hatte das Gefühl, die Archivarin            »Keine Anhaltspunkte, keine Anrede, keine Unterschrift.«
10   LESEPROBE                                         VON SIMON SAILER                                  DER PREISTRÄGER                                                                    11

     Peter gab zu, dass es seltsam war.                        »Punkt vier, ja.«
             »Soll ich die Polizei verständigen?«              »Dann gehst du zum Donaukanal, und
             »Wo am Donaukanal ist der Treff­          zwar zu dieser Stelle gegenüber der Urania.«
     punkt?«                                           Peter schnalzte ein paar Mal schnell und leise
             »Steht dort nicht.«                       mit der Zunge. »Ich werde im Café Urania                            Simon Sailer wurde 1984 in Wien geboren, wo er nach Aufenthalten
             »Dann folgt dir jemand von der Arbeit.«   sitzen und mir die Sache ansehen. Wenn etwas                        in Berlin, Prag und Paris auch wieder lebt. Er studierte Philosophie
             »Meinst du?« Leo sah sich um.             schiefgeht, gibst du mir ein Signal und ich                         an der Universität Wien und der Sorbonne (Paris) sowie Arts and
             »Sonst könnten sie dich nicht finden.«    verständige die Polizei.«                                           Science an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Seit 2017
             »Du glaubst, es sind mehrere?«                    »Was für ein Signal?«                                       erscheinen seine Texte in Literaturzeitschriften (unter anderem in
             »Das habe ich nur so gesagt.«                     »Du streckst dich einfach«, schlug                          „Bella Triste“, „Konzepte“ und „entwürfe“) sowie in Anthologien. Es
             »Peter, bist du noch dran?«               Peter vor. »Als wärst du müde und verspannt,                        folgten erste Auszeichnungen und Festivalteilnahmen. 2019 er­
             »Warte, ich denke.«                       die Arme hoch über den Kopf, damit ich es gut                       schien sein Debütroman „Menschenfisch“ (Müry Salzmann Verlag).
     Leo wartete.                                      sehe.«                                                              Ein Auszug daraus wurde vorab mit dem Literaturpreis der Stadt­
             »Wir machen es so«, sagte Peter                   Leo willigte ein, fragte noch, ob alles                     gemeinde Pliberk/Bleiburg ausgezeichnet. 2020 erschien die
     schließlich. »Du machst einfach deine Arbeit      gut gehen würde. Peter beruhigte ihn, er müsse                      Erzählung „Die Schrift“ (Edition Atelier), 2021 „Das Salzfass“ (eben­
     wie immer und verlässt das Haus wie immer.        sich keine Sorgen machen, er werde vorher die                       falls Edition Atelier), der zweite Band der sogenannten „Essig­
     Das ist um vier, nicht?«                          Gegend erkunden, es bestehe keine Gefahr.                           gassen-Trilogie“.
12   DER LAUDATOR                                                                 13

                    Thomas Ballhausen wurde 1975 in Wien geboren und ist Autor,
                    Kulturphilosoph sowie Literaturwissenschaftler. Er studierte
                    Vergleichende Literaturwissenschaft, Deutsche Philologie, Philo-
                    sophie und Sprachkunst in Wien. Neben seiner internationalen
                    Tätigkeit als Vortragender, Herausgeber und Kurator arbeitet er
                    als Lehrbeauftragter, u. a. an der Universität Mozarteum Salzburg,
                    sowie als stellvertretender Chefredakteur der Fachzeitschrift
                    „Zukunft“. Seine aktuellen Arbeits- und Forschungsschwerpunkte
                    umfassen Texttheorie, Critical Heritage Studies, medienübergrei-
                    fende Quellenkunde sowie Literatur und/als Künstlerische For-
                    schung. Er hat zahlreiche selbständige literarische und wissen-
                    schaftliche Publikationen veröffentlicht, so etwa „Signaturen der
                    Erinnerung. Über die Arbeit am Archiv“ (2015), „Gespensterspra-
                    che. Notizen zur Geschichtsphilosophie“ (2016), „Mit verstellter
                    Stimme“ (2017), „Das Mädchen Parzival“ (2019) und zuletzt
                    „Transient. Lyric Essay“ (2020).
14   BISHERIGE PREISTRÄGERINNEN UND PREISTRÄGER                                                                                                                                              15

     2020 LYRIK
                                                                                                                                              2000 LYRIK
     Levin Westermann, bezüglich der schatten
                                                    2013 ERZÄHLUNG                              2007 ROMAN                                    Oswald Egger, Herde der Rede / Der Rede Dreh
     2019 ROMAN                                     Philipp Schönthaler, Nach oben ist das      Clemens Meyer, Als wir träumten               Hendrik Rost, Fliegende Schatten
     Gianna Molinari, Hier ist noch alles möglich   Leben offen
                                                                                                2006 ESSAY                                    1999 ROMAN
     2018 ESSAY                                     2012 LYRIK                                  Stefan Weidner, Mohammedanische               Norbert Niemann, Wie man’s nimmt
     Philipp Stadelmaier, Die mittleren Regionen.   Alexander Gumz, ausrücken mit modellen      Versuchungen
     Über Terror und Meinung                                                                                                                  1998 ESSAY
                                                    2011 ROMAN                                  2005 ERZÄHLUNG                                Benjamin Korn, Kunst, Macht und Moral
     2017 ERZÄHLUNG                                 Wolfgang Herrndorf, Tschick                 Anna Katharina Hahn, Kavaliersdelikt
     Jan Snela, Milchgesicht.                                                                                                                 1997 ERZÄHLUNG
     Ein Bestiarium der Liebe                       2010 ESSAY                                  2004 LYRIK                                    Daniel Zahno, Doktor Turban
                                                    Sven Hillenkamp, Das Ende der Liebe.        Raphael Urweider, Das Gegenteil von Fleisch
     2016 LYRIK                                     Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit                                                 1996 LYRIK
     Thilo Krause, Um die Dinge ganz zu lassen                                                  2003 ROMAN                                    Barbara Köhler, Blue Box
                                                    2009 ERZÄHLUNG                              Andreas Maier, Klausen                        Jörg Schieke, Die Rosen zitieren die Adern
     2015 ROMAN                                     Andreas Stichmann, Jackie in Silber
     Saskia Hennig von Lange, Zurück zum Feuer      Felicia Zeller, Einsam lehnen am            2002 ESSAY                                    1995 ROMAN
                                                    Bekannten                                   Doron Rabinovici, Credo und Credit            Gabriele Kögl, Das Mensch
     2014 ESSAY
     Maximilian Probst, Der Drahtesel.              2008 LYRIK                                  2001 ERZÄHLUNG                                1993 ERZÄHLUNG
     Die letzte humane Technik                      Ann Cotten, Fremdwörterbuchsonette          Sabine Peters, Nimmersatt                     Günter Coufal, Am Fenster
16   IMPRESSUM

     Herausgeber
     Stadt Heidelberg

     Redaktion
     Claudia Kramatschek

     Layout und Satz
     Referat des Oberbürgermeisters

     Druckerei
     Neumann Druck Heidelberg

     Bildnachweis
     Prof. Dr. Eckart Würzner: © Julian Beekmann
     Simon Sailer: © Sarah Kanawin
     Thomas Ballhausen: © Chris Saupper

     Textnachweis
     Textauszug Die Schrift © Edition Atelier Wien, 2020

     Weitere Informationen
     www.heidelberg.de/kulturamt
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