Optimierung der Versorgung von Menschen mit Demenz - psychosoziale Intervention und palliative Unterstützung - opus4.kobv.de
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Optimierung der Versorgung von Menschen mit Demenz – psychosoziale Intervention und palliative Unterstützung Zentrum für Medizinische Versorgungsforschung, Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen Der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Erlangung des Doktorgrades Dr. rer. biol. hum. vorgelegt von André Kratzer
Als Dissertation genehmigt von der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Tag der mündlichen Prüfung: 05.05.2021 Vorsitzender des Promotionsorgans: Prof. Dr. med. Markus F. Neurath Gutachter: Prof. Dr. med. Elmar Gräßel Prof. Mark Stemmler, Ph.D.
Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung .................................................................................................................... 1 Abstract .................................................................................................................................... 3 1 Einleitung ......................................................................................................................... 5 1.1 Hintergrund und Ziele................................................................................................ 5 1.2 Methodik .................................................................................................................. 10 1.2.1 Methodik der Studie DemWG.......................................................................... 10 1.2.2 Methodik der Studie BayDem .......................................................................... 16 1.3 Ergebnisse ................................................................................................................ 18 1.4 Diskussion ............................................................................................................... 20 1.4.1 Diskussion der Ergebnisse und Implikationen ................................................. 20 1.4.2 Stärken und Limitationen ................................................................................. 22 1.4.3 Schlussfolgerungen .......................................................................................... 23 2 Originalpublikation (Studie DemWG) – Kratzer, Scheel et al. (2020) .......................... 25 3 Originalpublikation (Studie BayDem) – Kratzer, Karrer et al. (2020) .......................... 41 4 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 51 5 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................. 69 6 Publikationsverzeichnis von André Kratzer ................................................................... 70 7.1 Erstautorenschaften.................................................................................................. 70 7.2 Co-Autorenschaften ................................................................................................. 70 7 Danksagung .................................................................................................................... 72
Zusammenfassung Hintergrund und Ziele Demenz ist eine lebenslimitierende Erkrankung. Gleichwohl fehlen derzeit evidenzba- sierte Leitlinien für eine angemessene Palliativversorgung von Menschen mit Demenz. Ein Grund hierfür ist der Mangel an belastbaren empirischen Daten zu Menschen mit Demenz in der letzten Lebensphase. Ziel der vorliegenden Dissertation ist daher unter anderem, Symp- tombelastung, Inanspruchnahme des Gesundheitssystems sowie Todesumstände in dieser Zielgruppe mit Daten aus dem Bayerischen Demenz Survey (BayDem) zu untersuchen. Dar- über hinaus haben Menschen mit Demenz ein signifikant höheres Risiko für Krankenhausein- weisungen, welche wiederum starke negative Auswirkungen auf diese vulnerable Gruppe ha- ben. Nichtsdestotrotz gibt es bis dato keine wirksame nicht-pharmakologische Intervention zur Reduktion von Krankenhauseinweisungen. Um diese Forschungslücke zu schließen und einen Beitrag zur Optimierung der Demenzversorgung zu leisten, soll außerdem das Studien- protokoll der Studie DemWG sowie die auf evidenzbasierten Komponenten aufbauende komplexe psychosoziale Intervention dieser Studie detailliert erläutert werden. Methodik BayDem, eine multizentrische Längsschnittstudie in drei bayerischen Regionen (Erlangen, Dachau, Kronach), untersuchte die Versorgungssituation von Menschen mit Demenz. Daten wurden in standardisierten, persönlichen Interviews zu Studienbeginn sowie 6, 12, 18 und 36 Monate darauf erhoben. Für die vorliegende Fragestellung erfolgte ein 1:1- Propensity Score Matching zwischen verstorbenen und nicht-verstorbenen Menschen mit Demenz, um vergleichbare Gruppen zu erhalten. Die Studie DemWG ist eine prospektive, multizentrische, mixed-methods, cluster-randomisierte Interventionsstudie in ambulant betreuten Wohngemeinschaften (abWGs), die primäre und sekundäre Daten sowie quantita- tive und qualitative Forschungsansätze umfasst. Die Cluster-Randomisierung erfolgt stratifi- ziert nach Bundesland und Region (Stadt vs. Land). Die komplexe, psychosoziale Intervention beinhaltet drei Bausteine: A) Fortbildung des Pflege- und Betreuungspersonals; B) Fortbil- dung der Hausärzt*innen; C) Multimodale, nicht-pharmakologische, psychosoziale Gruppen- intervention MAKS-mk+, bestehend aus motorischen („m“) und kognitiven („k“) Übungen der evidenzbasierten MAKS-Therapie sowie Übungen zur Sturzprävention („+“) aus dem evidenzbasierten OTAGO Exercise Program. Die Datenerhebung erfolgt zu Studienbeginn, sowie 6, 12 und 18 Monate darauf mit standardisierten Instrumenten. 1
Ergebnisse In der Studie BayDem sind Menschen mit Demenz am häufigsten zuhause (36.2 %), im Krankenhaus (25.9 %) oder im Alten-/Pflegeheim (19.0 %) verstorben, jedoch nie im Rahmen einer Palliativversorgung. In den meisten Fällen starben Menschen mit Demenz an Komplikationen des respiratorischen Systems (13.8 %), an kardiovaskulären Komplikationen (12.1 %) oder einem Schlaganfall (12.1 %). Menschen mit Demenz in der letzten Lebensphase hatten zum letzten Befragungszeitpunkt im Vergleich zu nicht-verstorbenen Menschen mit Demenz signifikant stärker ausgeprägte körperliche Komorbiditäten (Charlson-Index: M = 2.75 vs. M = 1.80, p = .030) und wurden dementsprechend signifikant häufiger in einem Krankenhaus (46.6 % vs. 12.1 %, p < .001) oder in einer Notaufnahme (22.4 % vs. 3.4 %, p = .007) behandelt. Die Symptombelastung in Form von psychischen und Verhaltens- auffälligkeiten (BSPD) war bei Menschen in der letzten Lebensphase ebenfalls stark ausgeprägt (NPI: M = 31.67 vs. M = 24.78, p = .118). Ambulante Angebote wurden insgesamt eher selten genutzt. Da sich die Studie DemWG gegenwärtig noch am Beginn befindet, liegen noch keine empirischen Ergebnisse vor. Diskussion Für eine adäquate, bedürfnisorientierte Palliativversorgung für Menschen mit Demenz müssen zwingend evidenzbasierte Leitlinien entwickelt werden. Dabei sollten die in der Studie BayDem beobachteten stark ausgeprägten psychischen und Verhaltensauffälligkeiten (BPSD) ebenso wie körperliche Komorbiditäten berücksichtigt werden. Ein besonderer Fokus sollte zudem auf die Entwicklung evidenzbasierter fachlicher Empfehlungen für den stationären Be- reich gelegt werden. Ergänzend hierzu wird angenommen, dass die in der Studie DemWG untersuchte innovative, psychosoziale Intervention einen Beitrag dazu leistet, Krankenhaus- einweisungen zu reduzieren und dazu beiträgt, BPSD bereits frühzeitig positiv zu beeinflus- sen. Ergebnisse hierzu stehen zum aktuellen Zeitpunkt noch aus. Nichtsdestotrotz ist die in- terne Validität der Studie DemWG durch die stratifizierte cluster-randomisierte Zuordnung zu Interventions- und Warte-Kontrollgruppe sowie die Verwendung einer standardisierten und manualisierten Intervention als hoch einzuschätzen. Die externe Validität sollte zudem auf- grund des „naturalistischen“ Versorgungssettings, der Rekrutierung in städtischen sowie länd- lichen Regionen in fast allen deutschen Bundesländern ebenfalls stark ausgeprägt sein. Durch die komplexe Intervention, die gleichzeitig mehrere Akteur*innen adressiert, sind allerdings weder die geschulten Wohngemeinschafts-Mitarbeiter*innen noch die Teilnehmenden ver- blindet. 2
Abstract Background and aims Dementia is a life-limiting disease. Nevertheless, there is currently a lack of evidence- based guidelines for appropriate palliative care for people with dementia. One reason for this is the lack of reliable empirical data on people with dementia at the end of life. The aim of the present dissertation is therefore to analyse, among other things, symptom burden, health ser- vices utilisation, and places and causes of death in in this target group using data from the Bavarian Dementia Survey (BayDem). In addition, the risk for hospitalisation is significantly higher for people with dementia. These hospital admissions often have negative effects on this vulnerable group. Nevertheless, there is currently no effective non-pharmacological interven- tion to reduce hospital admissions. In order to close this research gap and to contribute to the optimisation of dementia care, the present dissertation will explain in detail the study protocol of the DemWG study and the development of the complex psychosocial intervention which is based on evidence-based interventions. Methods BayDem was a multicentre longitudinal study in three Bavarian regions (Erlangen, Dachau, Kronach) on people with dementia. Data were collected in standardised, personal interviews at baseline and 6, 12, 18 and 36 months later. For the statistical analyses, a 1:1 propensity score matching between deceased and non-deceased people with dementia was car- ried out to obtain comparable groups. The DemWG study is a prospective, multicentre, mixed- method, cluster-randomised intervention study in shared-housing arrangements (SHAs) com- bining primary and secondary data analyses as well as quantitative and qualitative research methods. The cluster-randomisation is stratified by federal state and region (city vs. country). The complex non-pharmacological, psychosocial intervention consists of three components: A) Education of nursing staff in SHAs; B) Awareness Raising and Continuing Medical Edu- cation of general practitioners; C) Multicomponent, non-pharmacological, psychosocial group intervention MAKS-mk+, consisting of the moduls “m – motor training” and “k – cognitive training” of the evidence-based MAKS® therapy and exercises to strengthen muscles and bal- ance (“+”) of the OTAGO exercise program for fall prevention. Data are collected at baseline and 6, 12 and 18 months later with standardised instruments. 3
Results In the BayDem study, people with dementia most often died at home (36.2 %), in hos- pital (25.9 %) or in a nursing home (19.0 %), but never in palliative care. The most common causes of death were complications of the respiratory system (13.8%), cardiovascular compli- cations (12.1%), or stroke (12.1%). People with dementia at the end of life had significantly more pronounced physical comorbidities compared to non-deceased people with dementia (Charlson Index: M = 2.75 vs. M = 1.80, p = .030) and were therefore treated in a hospital (46.6 % vs. 12.1 %, p < .001) or in an emergency department (22.4 % vs. 3.4 %, p = .007) more frequently. The symptom burden in form of behavioural and psychological symptoms of dementia (BPSD) was also very pronounced in people with dementia at the end of life (NPI: M = 31.67 vs. M = 24.78, p = .118). The utilisation of outpatient health services was low. As the DemWG study is still in the recruitment phase, no empirical results are available yet. Discussion Evidence-based guidelines must be developed for palliative care, specifically adapted to the needs of people with dementia. In this context, the high incidence of BPSD and physical comorbidities observed in the BayDem study should be taken into account. A special focus should also be placed on developing evidence-based recommendations for the inpatient sector. In addition, the innovative, complex, psychosocial intervention examined in the DemWG study may contribute to reducing hospital admissions and positively influence BPSD at an early stage – results in this regard are currently still pending. Nonetheless, the internal validity of the DemWG study should be high due to the stratified cluster-randomised allocation to intervention and waiting control group and the use of a standardised and manualised interven- tion. The external validity should also be high due to the "naturalistic“ setting and recruitment in urban as well as rural regions in almost all German federal states. However, since a complex non-pharmacological intervention addressing multiple actors is investigated, neither the trained staff in SHAs nor the participants could be blinded. 4
1 Einleitung 1.1 Hintergrund und Ziele Demenz ist eine der Hauptursachen für Einschränkungen und den zunehmenden Ver- lust der Selbstständigkeit bei älteren Erwachsenen und betrifft dabei nicht nur Einzelpersonen, sondern gerade auch professionelle Pflege- und Betreuungskräfte, pflegende Angehörige sowie die Gesellschaft als Ganzes (World Health Organization, 2017). Weltweit sind derzeit rund 50 Millionen Menschen davon betroffen (Alzheimer's Disease International, 2019), allein in Deutschland etwa 1.7 Millionen (Bickel, 2018). Aktuelle Prognosen gehen darüber hinaus aufgrund der steigenden Lebenserwartung von einem Anstieg der Prävalenz in Deutschland auf etwa 3 Millionen und international auf rund 152 Millionen Menschen im Jahr 2050 aus (Alzheimer's Disease International, 2019; Bickel, 2018). Bei zunehmender Progredienz führt eine Demenz häufig zu Institutionalisierung, d. h. zu einem Übertritt in eine stationäre Pflegeeinrichtung (Hajek et al., 2015; Luppa et al., 2012). Allerdings legen aktuelle Forschungsergebnisse nahe, dass die Umwelt von Pflegebedürftigen so wohnlich und familienähnlich wie möglich sein sollte, um Verhaltensauffälligkeiten und Wohlbefinden positiv zu beeinflussen (Chaudhury, Cooke, Cowie & Razaghi, 2018). In den letzten Jahren haben sich deshalb weltweit verschiedene alternative Wohnform-Konzepte etabliert – „small scale living arrangements“ in den Niederlanden und in Belgien, „green hou- ses“ in den USA, „group homes“ in Japan, oder „ambulant betreute Wohngemeinschaften (abWGs)“ (engl. „shared-housing arrangements“) in Deutschland (Verbeek, van Rossum, Zwakhalen, Kempen & Hamers, 2009; Wolf-Ostermann, Worch, Meyer & Gräske, 2014). Wenngleich sich die verschiedenen Konzepte in ihrer individuellen Ausgestaltung unterschei- den, so sind sie dennoch alle definiert als kleine, wohnliche und familienähnliche Lebens- und Wohnstrukturen, mit personenzentrierter Pflege, welche die individuellen Bedürfnisse und Vorlieben der Bewohner*innen berücksichtigt und eine Tagesroutine rund um bedeutungs- volle gemeinsame Aktivitäten im täglichen Haushalt schafft, um größtmögliche Lebensnor- malität zu ermöglichen (Verbeek et al., 2009; Wolf-Ostermann et al., 2014). In Deutschland existieren derzeit rund 3100 abWGs, von denen die meisten (rund 690) in der deutschen Hauptstadt Berlin, dem Ursprung der deutschen abWG-Entwicklung, lokali- siert sind (Fischer et al., 2011; Klie et al., 2017; Rothgang et al., 2018). Eine abWG ist in der Regel eine große Wohnung in einem „gewöhnlichen“ Wohnhaus mit mehreren Einzelräumen 5
und mindestens einem Gemeinschaftsraum und einer Gemeinschaftsküche, in der Pflegebe- dürftige zusammen wohnen und ein ambulanter Pflegedienst eine 24-Stunden-Betreuung ge- währleistet (Gräske, Worch, Meyer & Wolf-Ostermann, 2013). Im Schnitt wohnen 8 Mie- ter*innen in einer abWG, wobei die Maximalgröße bundesweit in der Regel bei 12 Mie- ter*innen pro abWG liegt (Fischer et al., 2011; Gräske et al., 2013; Wolf-Ostermann, Schmidt, Domhoff & Preuß, 2016). Die Mieter*innen sind überwiegend Menschen mit Demenz, im Schnitt 80 Jahre alt und können prinzipiell bis zum Tod in der abWG bleiben (Gräske et al., 2013). Eine aktuelle Studie fand positive Auswirkungen dieser Wohnform auf Lebensqualität (quality of life, QoL) und psychische und Verhaltensauffälligkeiten (behavioural and psycho- logical symptoms, BPSD), wenngleich – in Übereinstimmung mit internationalen Befunden – keine Überlegenheit gegenüber spezialisierten Wohnbereichen in stationären Pflegeeinrich- tungen gefunden werden konnte (Verbeek et al., 2010; Wolf-Ostermann, Worch, Fischer, Wulff & Gräske, 2012b). Unabhängig von der jeweiligen Wohnform stellen Krankenhausaufenthalte für Men- schen mit Demenz im Allgemeinen ein großes Problem dar (Scheel et al., 2020). Eine für Alter, Geschlecht und körperliche Komorbiditäten adjustierte Metaanalyse kommt zu dem Schluss, dass Menschen mit Demenz ein 1.42-mal höheres Risiko für eine Krankenhausein- weisung haben, als Menschen ohne Demenz (Shepherd, Livingston, Chan & Sommerlad, 2019). Als häufigste Einweisungsgründe von Menschen mit Demenz werden neben höherem Alter, Multimorbidität, Polypharmazie und einer niedrigen allgemeinen Funktionsfähigkeit auch Stürze, Infektionen, Mangelernährung, Dehydrierung, chronische Erkrankungen (z. B. Herzinsuffizienz, chronische Lungenerkrankungen) und BPSD diskutiert (Andrieu et al., 2002; Bickel et al., 2018; Pinkert & Holle, 2012; Prince, Comas-Herrera, Knapp, Guerchet & Karagiannidou, 2016; Rudolph et al., 2010; Shepherd et al., 2019). Krankenhausaufenthalte führen bei Menschen mit Demenz häufig zu einer Verschlechterung des körperlichen und kog- nitiven Zustandes sowie zu einer Verstärkung von BPSD (Fogg, Griffiths, Meredith & Bridges, 2018; Hessler et al., 2018). Bei Menschen mit Demenz im Krankenhaus ist zudem das Risiko für Stürze, Dehydrierung, Mangelernährung, Delir, Infektionen, behandlungsbe- dingte Komplikationen, Tod im Krankenhaus, Übertritt ins Pflegeheim und lange Kranken- hausaufenthalte erhöht (Fogg et al., 2018; Hessler et al., 2018; Motzek, Werblow, Tesch, Marquardt & Schmitt, 2018; Wolf, Rhein, Geschke & Fellgiebel, 2019). Krankenhausaufent- halte sind dabei nicht nur belastend für Menschen mit Demenz, sondern gerade auch für deren pflegende Angehörige sowie das professionelle Pflegepersonal in Krankenhäusern (Hessler et 6
al., 2018; Teschauer, Hambloch & Wagner, 2017). Darüber hinaus stellen Krankenhausauf- enthalte von Menschen mit Demenz im Vergleich zu Menschen ohne Demenz aus gesund- heitsökonomischer Sicht eine größere Herausforderung dar, da die besonderen Bedürfnisse dieser Zielgruppe in der Pflege und Betreuung berücksichtigt werden müssen und das Risiko für Komplikationen deutlich erhöht ist (Bail et al., 2015; Bynum et al., 2004; Lin, Zhong, Fillit, Cohen & Neumann, 2017; Murman & Colenda, 2005). Trotz der beschriebenen negativen Konsequenzen sind Krankenhausaufenthalte bei be- stimmten Krankheitsbildern auch für Menschen mit Demenz häufig notwendig bzw. unum- gänglich, weshalb die Qualität der Pflege und Behandlung dieser Zielgruppe im Krankenhaus deutlich demenzspezifischer werden sollte (Prince et al., 2016; Scheel et al., 2020). Gleich- wohl zeigen aktuelle Studien, dass rund 20 % bis 28 % aller Krankenhauseinweisungen von Menschen mit Demenz auf Krankheiten bzw. Gesundheitszustände zurückzuführen sind, bei denen bei frühzeitiger und effektiver ambulanter Behandlung Krankenhausaufenthalte ver- meidbar gewesen wären – man spricht in diesem Zuge auch von sogenannten ambulatory care sensitive conditions (ACSCs) (Lin et al., 2017; Phelan, Borson, Grothaus, Balch & Larson, 2012; Wolf et al., 2019; World Health Organization, 2015). Laut World Alzheimer Report 2016 sollten gerade diese vermeidbaren Krankenhauseinweisungen aufgrund der weitreichen- den negativen Konsequenzen reduziert werden (Prince et al., 2016). Dennoch gibt es bis dato keine wirksame nicht-pharmakologische, psychosoziale In- tervention zur Verringerung von Krankenhauseinweisungen bei Menschen mit Demenz, wie zwei aktuelle systematische Übersichtsarbeiten zeigen (Packer, Ben Shlomo & Whiting, 2019; Phelan, Debnam, Anderson & Owens, 2015). Beide kommen deshalb zu dem Schluss, dass zukünftig weitere methodisch hochwertige Studien erforderlich sind, welche explizit auf die häufigsten Gründe für Krankenhauseinweisungen abzielen und Krankenhauseinweisungen als primäre Zielvariable untersuchen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt insbe- sondere die Fort- und Weiterbildung des gesamten medizinischen Personals im adäquaten Ma- nagement von ACSCs als effektives Mittel zur Reduktion vermeidbarer Krankenhauseinwei- sungen (World Health Organization, 2015). Um diese Forschungslücke zu schließen, untersucht die Studie DemWG die Reduktion von Krankenhauseinweisungen als primäre Zielvariable und adressiert mit ihrer – auf evidenz- basierten Komponenten aufbauenden – komplexen psychosozialen Intervention sowohl häu- fige Gründe für Krankenhauseinweisungen als auch die Fort- und Weiterbildung des medizi- nischen Personals hinsichtlich ACSCs: In Übereinstimmung mit der Literatur über häufige 7
Ursachen und mögliche Interventionen zur Reduktion von Krankenhauseinweisungen (Packer et al., 2019; Phelan et al., 2015; Shepherd et al., 2019) adressiert die nicht-pharmakologische psychosoziale Gruppenintervention MAKS-mk+ (Baustein C der komplexen Intervention) ex- plizit BPSD und Stürze. Daneben werden von MAKS-mk+ auch kognitive Fähigkeiten auf- grund ihrer Assoziation mit dem Sturzrisiko (Amboni, Barone & Hausdorff, 2013; Kearney, Harwood, Gladman, Lincoln & Masud, 2013) sowie die Lebensqualität, die als primäres Ziel in der Betreuung von Menschen mit Demenz gilt (Gibson, Carter, Helmes & Edberg, 2010), angesprochen. MAKS-mk+ besteht aus den motorischen („m“) und kognitiven („k“) Modulen der evidenzbasierten MAKS-Therapie (Graessel et al., 2011; Straubmeier et al., 2017) sowie aus Übungen zur Sturzprävention (+), abgeleitet aus dem evidenzbasierten OTAGO Exercise Program (Robertson, Campbell, Gardner & Devlin, 2002; Thomas, Mackintosh & Halbert, 2010). Vergangene Studien konnten zeigen, dass die MAKS-Therapie bei Menschen mit leich- ter bis moderater Demenz oder leichten kognitiven Beeinträchtigungen (MCI) alltagsprakti- sche sowie kognitive Fähigkeiten stabilisieren und BPSD reduzieren kann (Graessel et al., 2011; Luttenberger, Donath, Uter & Graessel, 2012; Straubmeier et al., 2017). Ergänzend kann das OTAGO Exercise Program das Sturzrisiko bei älteren Erwachsenen im Allgemeinen ver- ringern (Robertson et al., 2002; Thomas et al., 2010). In Übereinstimmung mit Empfehlungen der WHO (World Health Organization, 2015) fokussieren zwei weitere Bausteine der kom- plexen Intervention auf die Fort- und Weiterbildung von Pflege- und Betreuungskräften (Bau- stein A) und Hausärzt*innen (Baustein B) im Management von ACSCs. Da MCI nach einem aktuellen Review von Inui, Ito, Kato und Sead-J Study Group (2017) in vielen Fällen eine Vorstufe zur Demenz darstellt (Konversionsrate von MCI zu Demenz im 5-Jahres-Follow-up: 72 %), werden in der Studie DemWG nicht nur Menschen mit Demenz, sondern auch Menschen mit MCI eingeschlossen. Um einen wesentlichen Beitrag zur Optimierung der Versorgung von Menschen mit Demenz zu leisten, beschreibt die vorliegende kumulative Dissertation im Folgenden das Stu- dienprotokoll der Studie DemWG sowie den Prozess der Entwicklung sowie die Ausgestal- tung der auf evidenzbasierten Komponenten aufbauenden komplexen psychosozialen Inter- vention. Hochwertige Studienprotokolle (engl. Study Protocols) sind von großer Wichtigkeit für die Wissenschaft, wie zahlreiche internationale Journal Editors, Gutachter*innen sowie Wissenschaftler*innen in den letzten Jahren betont haben (Chan et al., 2013a; Chan et al., 2013b). Zum einen erleichtern sie eine adäquate Bewertung wissenschaftlicher, ethischer und 8
sicherheitsrelevanter Aspekte vor Beginn einer Studie, zum anderen ermöglichen sie eine voll- ständige Bewertung der Konsistenz der Studiendurchführung sowie der Ergebnisberichterstat- tung nach Abschluss der Studie (Chan et al., 2013a; Chan et al., 2013b). Darüber hinaus erhö- hen sie die Transparenz wissenschaftlicher Forschung und erleichtern die Replizierbarkeit der durchgeführten Interventionen, da jene in einem Studienprotokoll tiefergehender beschrieben werden können, als in klassischen Ergebnispublikationen. Damit kann die vorliegende Disser- tation einen elementaren Beitrag zur Weiterentwicklung der nicht-pharmakologischen, psychosozialen Interventionen bei Demenz leisten. Nichtsdestotrotz ist die Demenz in jedem Falle auch als lebenslimitierende Erkrankung zu betrachten, da bis dato keine kurative Behandlung existiert (Diehl-Schmid et al., 2018). Die mediane Überlebenszeit nach Beginn der ersten Symptome schwankt zwischen 3.3 und 11.7 Jahren, wobei die meisten Studien Überlebenszeiten von 7 bis 10 Jahren fanden (Todd, Barr, Roberts & Passmore, 2013). Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass im Median etwa 1.3 bis 3.1 Jahre zwischen Beginn der ersten Symptome und der Diagnosestellung vergehen (Chrisp, Thomas, Goddard & Owens, 2011; Feldman, Wilcock, Thuné-Boyle & Iliffe, 2017; Speechly, Bridges‐Webb & Passmore, 2008; Wolff et al., 2020), beträgt die Zeit von Diagnosestellung bis zum Tod im Median lediglich 3.2 bis 6.6 Jahre (Todd et al., 2013). Die primären, unmit- telbaren Todesursachen sind meist mit der Demenz assoziierte Komplikationen wie Kachexie, Dehydrierung, kardiovaskuläre Komplikationen sowie Komplikationen des respiratorischen Systems, insbesondere eine Pneumonie (Koopmans, van der Sterren & van der Steen, 2007). Gerade in der letzten Lebensphase ist die Symptomlast von Menschen mit Demenz sehr hoch und umfasst neben kognitiven Einschränkungen auch körperlich-neurologische Be- einträchtigungen sowie BPSD (Diehl-Schmid et al., 2018; Gill, Gahbauer, Han & Allore, 2010; Pinzon et al., 2013). Eine adäquate Palliativversorgung ist für diese Zielgruppe also zwingend erforderlich (van der Steen et al., 2014). Dennoch existieren hierfür bis dato keine evidenzbasierten Empfehlungen bzw. Leitlinien (Diehl-Schmid et al., 2018; Pinzon et al., 2013; van der Steen, 2010; Zieschang, Oster, Pfisterer & Schneider, 2012). Erste Ratschläge gibt lediglich das auf einer Expert*innenbefragung basierende „White Paper“ der European Association for Palliative Care (van der Steen et al., 2014). Dieser Zustand kann dadurch er- klärt werden, dass der Fokus der Palliativversorgung in Deutschland (Diehl-Schmid et al., 2018; Zieschang et al., 2012) sowie international (van der Steen, 2010; van der Steen et al., 2014) bisher vor allem auf Menschen mit Tumorerkrankungen lag. Im Zuge der Erweiterung der WHO Definition von „Palliative Care“ (Sepulveda, Marlin, Yoshida & Ullrich, 2002) gab 9
es zwar einen deutlichen Zuwachs an Studien zur Palliativversorgung von bspw. Menschen mit chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD; Lorenz et al., 2008) oder Menschen mit Herzinsuffizienz (Diop, Rudolph, Zimmerman, Richter & Skarf, 2017). An empirischen Daten zur Versorgungssituation von Menschen mit Demenz in der letzten Lebensphase man- gelt es dennoch weiterhin (Diehl-Schmid et al., 2018; Pinzon et al., 2013; van der Steen, 2010). Die vorliegende Dissertation behandelt deshalb, neben der Entwicklung der innovati- ven, nicht-pharmakologischen, psychosozialen Intervention für Menschen mit Demenz in der Studie DemWG, auch die Symptomlast, Versorgungssituation und Todesumstände von Men- schen mit Demenz in der letzten Lebensphase aus dem Bayerischen Demenz Survey (BayDem), um praktische Implikationen für eine adäquate Palliativversorgung bei Menschen mit Demenz abzuleiten. Damit folgt die vorliegende kumulative Dissertation den Empfehlungen „treat cogni- tive symptoms […] individualise dementia care […] manage neuropsychiatric symptoms […] consider end of life […]“ (Livingston et al., 2017, S. 2673) der „Lancet Commission on De- mentia Prevention, Intervention, and Care“: Während die Publikation im Rahmen der Studie DemWG explizit auf die Behandlung kognitiver und neuropsychiatrischer Symptome (BPSD) sowie die Individualisierung der Pflege abzielt, so untersucht die Publikation im Rahmen der Studie BayDem den wichtigen Aspekt der letzten Lebensphase von Menschen mit Demenz. Darüber hinaus orientiert sich die vorliegende Dissertation am Konzept der „evidenz- basierten Versorgungsforschung“ nach Gräßel et al. (2015). Dieses umfasst zum einen die Analyse bestehender Defizite in der Versorgungssituation und der daraus folgenden Formu- lierung von Versorgungszielen – wie in der Publikation im Rahmen von BayDem geschehen. Zum anderen umfasst das Konzept auch die Entwicklung neuer Maßnahmen sowie die Evalu- ation der Wirksamkeit im Alltag des realen Versorgungssystems in empirischen Studien mit methodisch hochwertigem Studiendesign – wie in der Publikation im Rahmen von DemWG. 1.2 Methodik 1.2.1 Methodik der Studie DemWG 1.2.1.1 Studiendesign und Studienpopulation. Um die Auswirkung einer komplexen psychosozialen Intervention auf Krankenhauseinweisungen sowie BPSD, Stürze, kognitive Fähigkeiten und Lebensqualität zu untersuchen, wird gemäß der Leitlinie „Developing and evaluating complex interventions“ des UK Medical Research Council (MRC; Craig et al., 2008; Moore et al., 2015) eine mixed-methods Studie durchgeführt. Diese umfasst sowohl 10
primäre und sekundäre Analysen als auch quantitative und qualitative Ansätze. Der Hauptteil der Studie besteht aus einer prospektiven, multizentrischen, mixed-methods, cluster-randomi- sierten, längsschnittlichen Interventionsstudie mit einem Wartelisten-Kontrollgruppen- Design. Eingeschlossen werden Mieter*innen von abWGs mit MCI, d.h. einem Summenwert kleiner 24 im Montreal Cognitive Assessment (MoCA; Luis, Keegan & Mullan, 2009; O’Caoimh, Timmons & Molloy, 2016), oder mit einer leichten bis moderaten Demenz, d.h. einem Summenwert von 10 bis 23 im Mini-Mental-Status-Test (MMST; Creavin et al., 2016; Tombaugh & McIntyre, 1992). Ausgeschlossen werden Menschen, die mindestens eines der folgenden Merkmale aufwiesen: schwere Demenz; gehörlos; erblindet; kognitive Beeinträch- tigungen aufgrund von anderen Erkrankungen wie z. B. Schizophrenie oder Korsakow-Syn- drom; dauerhaft immobil/bettlägerig; keine deutschsprachige verbale Kommunikation mög- lich; mehr als ein Schlaganfall in der Vergangenheit; mindestens eine schwere depressive Epi- sode in der Vergangenheit. Die randomisierte Zuordnung aller abWGs (Cluster) zu Interven- tions- und Kontrollgruppe vor der Baseline-Datenerhebung erfolgt stratifiziert nach Bundes- land und Setting (ländlich vs. urban). Diese wird extern durch den Kooperationspartner Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen (KKSB) mit Hilfe eines Computersystems durchgeführt. Alle abWGs werden über ihre Zuteilung informiert bevor mindestens zwei Per- sonen aus jeder abWG (meistens Pflege- oder Betreuungskräfte, gelegentlich ehrenamtliche Helfer*innen) in einem 4-Stunden-Training zu den Themen Studienablauf, Datenerhebung sowie Screening geschult werden. Nur abWGs der Interventionsgruppe erhalten zusätzlich ein 4-Stunden-Training zur Implementierung der multimodalen, nicht-pharmakologischen, psychosozialen Gruppenintervention MAKS-mk+ (Baustein C der komplexen Intervention). Im Anschluss daran erhalten diese abWGs während der 6-monatigen Interventionsphase die Komponenten A und B (Fortbildung der Pflege- und Betreuungskräfte und Hausärzt*innen), während sie Baustein C (MAKS-mk+) selbst durchführen. Die Kontrollgruppen-abWGs er- halten im gleichen Zeitraum keine projektspezifische Interventionsanleitung, sondern verfah- ren weiter wie bisher („treatment as usual“). Aus ethischen Gründen erhalten jedoch alle Kon- trollgruppen-abWGs – falls gewünscht – 12 Monate nach der Baseline-Datenerhebung eben- falls die komplexe Intervention und das damit verbundene 4-Stunden-Training zur Implemen- tierung von Baustein C (MAKS-mk+). Die Follow-up-Dauer beträgt 18 Monate mit insgesamt 4 quantitativen Datenerhebungen: Baseline-Datenerhebung sowie nach 6, 12 und 18 Monaten. Ergänzend zu den quantitativen Datenerhebungen werden gemäß Empfehlungen des MRC 11
(Campbell et al., 2000; Moore et al., 2015) qualitative Methoden, d. h. Expert*innen-Inter- views sowie Fokusgruppen, während und nach der Implementierung der komplexen Interven- tion zur Prozessevaluation durchgeführt. Darüber hinaus wird eine retrospektive Panelstudie durchgeführt. In dieser erfolgt eine Schätzung der finanziellen Kosten von Krankenhausein- weisungen in der Zielgruppe Menschen mit Demenz und MCI aus – von den Primärdaten unabhängigen – Sekundärdaten. Diese umfassen anonymisierte Krankenkassendaten aus den Jahren 2018 bis 2020 von gesetzlich Versicherten der AOK Rheinland/Hamburg oder AOK Bremen mit Demenz oder MCI, die ambulante Pflegeleistungen gemäß § 38a SGB XI in An- spruch genommen haben und daher Mieter*innen von abWGs sind. Die daraus ermittelten durchschnittlichen Kosten ermöglichen eine Einschätzung des maximalen „Einsparpotentials“ durch eine Verringerung von Krankenhauseinweisungen. Zu Beginn wurde das Votum der Ethikkommission der Universität Bremen eingeholt (Ref. 2019-18 – 06-3). Am 24.09.2019 hat diese ihr positives Votum zur Studie DemWG gegeben und das Vorhaben uneingeschränkt genehmigt. 1.2.1.2 Stichprobengrößenschätzung. Vor Beginn der Studie wurde auf Basis vorhe- riger Erfahrungen des Autor*innen-Teams (Gräske et al., 2013; Wolf-Ostermann, Gräske, Meyer, Worch & Dierich, 2012a; Wolf-Ostermann et al., 2016) eine a priori Poweranalyse mit einem Alpha-Fehler von 5 %, einer statistischen Power von 80 % und einem Intra-Class Correlation Coefficient (ICC) von 0.017 (abgeleitet aus den Daten von Wolf-Ostermann et al., 2012a) berechnet. Da die Studie DemWG auf eine 5 %-Reduktion der in der Kontrollgruppe zu erwarteten Krankenhauseinweisungen von 9.4 % (Wolf-Ostermann et al., 2012a) abzielt, ist eine Gesamtstichprobe von 840 Mieter*innen aus 120 abWGs nötig (zu gleichen Teilen in Interventions- und Kontrollgruppe, basierend auf der Annahme von 7 Teilnehmer*innen pro abWG). Wenngleich in abWGs im Schnitt 8 bis maximal 12 Mieter*innen leben (Fischer et al., 2011; Gräske et al., 2013; Wolf-Ostermann et al., 2016), darf angenommen werden, dass nicht alle für die Studie geeignet sind bzw. teilnehmen möchten. Darüber hinaus zeigen Er- gebnisse der Studie von Wolf-Ostermann et al. (2012a), dass etwa 30 % der Mieter*innen ihre Teilnahme an der Studie abbrechen. Deshalb soll eine Überrekrutierung von 50 % mit einer Gesamtstichprobe von 1260 Teilnehmenden aus 180 abWGs erfolgen. 1.2.1.3 Rekrutierungsstrategien. Potentiell geeignete abWGs werden durch Einträge in verschiedenen Informationssystemen oder Datenbanken identifiziert und anschließend schriftlich über die Studie DemWG informiert. Darüber hinaus werden Informationen auch zu den jeweiligen zuständigen Landesministerien und -behörden sowie lokalen Alzheimer- 12
Gesellschaften und Pflegestützpunkten mit der Bitte um Weiterleitung gesandt. Nach dem Er- halt der schriftlichen Informationen wird mit allen interessierten abWGs ein Telefoninterview geführt, um abschätzen zu können, ob eine Teilnahme mit den jeweils in der abWG wohnenden Mieter*innen möglich ist. Mit allen teilnahmebereiten und geeigneten abWGs wird ein Kooperationsvertrag geschlossen. 1.2.1.4 Intervention. Die Entwicklung der komplexen Intervention erfolgte gemäß den Empfehlungen des MRC (Craig et al., 2008). Nach dem Aufbau eines theoretischen Modells, basierend auf der Evidenz in der Literatur, wurden qualitative Expert*innen-Interviews sowie Fokusgruppen mit professionellen Pflege- und Betreuungskräften, Betreiber*innen von abWGs, Hausärzt*innen sowie weiteren Expert*innen im Bereich abWGs sowie Versorgungs- forschung durchgeführt. In diesen wurden relevante und notwendige Komponenten der Inter- vention sowie mögliche Hürden und Hindernisse für die potentiell teilnehmenden abWGs identifiziert und anschließend in der Entwicklung der Intervention berücksichtigt. Anschlie- ßend erfolgten verschiedene Pre-Tests hinsichtlich der Akzeptanz sowie Durchführbarkeit der Intervention sowie weitere qualitative Fokusgruppen und Expert*innen-Interviews zur Finali- sierung der komplexen Intervention. Die finale komplexe Intervention der Studie DemWG besteht aus drei Bausteinen: A) Fortbildung von Pflege- und Betreuungskräften sowie allen weiteren aktiv in abWGs Mitarbeitenden durch eine Informationsbroschüre; B) Sensibilisie- rung und Fortbildung von Hausärzt*innen durch einen CME-zertifizierten Fortbildungsartikel mit Fortbildungspunkten in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift (Scheel et al., 2020); C) Die multimodale, nicht-pharmakologische, psychosoziale Gruppenintervention MAKS-mk+ für Menschen mit Demenz und MCI, bestehend aus dem motorischen („m“) und kognitiven („k“) Modul der evidenzbasierten MAKS-Therapie (Graessel et al., 2011; Straubmeier et al., 2017), ergänzt durch Übungen zur Sturzprävention („+“) aus dem evidenzbasierten OTAGO Exercise Program (Robertson et al., 2002; Thomas et al., 2010). 1.2.1.5 Datenerhebung. Sowohl das Screening aller Mieter*innen der jeweiligen abWG als auch die Datenerhebung (zu Studienbeginn sowie nach 6, 12 und 18 Monaten) bei den Teilnehmenden wird jeweils durch – von der Studienzentrale geschulten – Mitarbeitenden in den abWGs mit Hilfe von Papier-Fragebögen durchgeführt. Anschließend werden alle aus- gefüllten Fragebögen an das Data Monitoring Committee des KKSB weitergeleitet und dort verarbeitet. 1.2.1.6 Erhebungsinstrumente. Die primäre Zielvariable Krankenhauseinweisungen wird durch die Pflege-Dokumentation der ambulanten Pflegedienste in abWGs erhoben. Es 13
werden sowohl geplante als auch akute Krankenhauseinweisungen erfasst. Neben der Anzahl an Einweisungen werden auch für jeden Krankenhausaufenthalt die Dauer, der Grund sowie der Entlasscode erhoben. Als sekundäre Zielvariablen werden BPSD sowie Agitation, Stürze, kognitive Fähigkeiten und Lebensqualität erhoben. Die Erfassung von BPSD erfolgt mit der deutschsprachigen Version des Neuropsychiatric Inventory – Nursing Home Version (NPI-NH; Reuther, Dichter, Bartholomeyczik, Nordheim & Halek, 2016; Wood et al., 2000). Die Validität und Reliabilität dieses weit verbreiteten Fremdbeurteilungsinstruments konnte in verschiedenen Studien belegt werden (Canevelli et al., 2013; Lai, 2014; Reuther et al., 2016; Zuidema et al., 2011). Ergänzend dazu wird Agitation mit einer forward-backward Überset- zung des Cohen-Mansfield Agitation Inventory – Short Form (CMAI-SF; Werner, Cohen- Mansfield, Korknay & Braun, 1994) gemessen. Der CMAI-SF ist ein Fremdbeurteilungs- instrument und erfasst 14 agitierte Verhaltensweisen des international weit verbreiteten, vali- den und reliablen 29-Item-CMAI (Cohen-Mansfield, Marx & Rosenthal, 1989; Rabinowitz et al., 2005; Zuidema et al., 2011). Die Häufigkeit von Stürzen sowie die jeweiligen assoziierten Folgen (keine Behandlung; ambulante medizinische Behandlung; stationäre Behandlung) wird anhand der Pflege-Dokumentation erhoben. Kognitive Fähigkeiten werden mit Hilfe der deutschsprachigen Version des Mini-Mental-Status-Tests (MMST; Folstein, Folstein & McHugh, 1975; Kessler, Markowitsch & Denzler, 1990) erfasst. Der MMST ist das weltweit am häufigsten eingesetzte Screening-Verfahren bei Demenz (Creavin et al., 2016; Tsoi, Chan, Hirai, Wong & Kwok, 2015). Die Reliabilität und Validität wurde in verschiedenen Studien nachgewiesen (Creavin et al., 2016; Tombaugh & McIntyre, 1992; Tsoi et al., 2015). Aller- dings hat der MMST eine geringe Sensitivität beim Screening von Menschen mit MCI (Damian et al., 2011; Freitas, Simões, Alves & Santana, 2013; Luis et al., 2009; Nasreddine et al., 2005), weshalb ausschließlich im Screeningprozess bei Menschen mit einem MMST- Summenwert von größer 23 in einem zweiten Schritt mit Hilfe des Montreal Cognitive Asses- sment (MoCA; Nasreddine et al., 2005) auf MCI, d.h. ein MoCA-Summenwert kleiner 24 (Luis et al., 2009; O'Caoimh et al., 2016), getestet wird. Eine weitere sekundäre Zielvariable ist die Lebensqualität, die mit der deutschen 37-Item-Version des demenzspezifischen Fremd- beurteilungsinstrument QUALIDEM gemessen wird (Dichter, Schwab, Meyer, Bartholomeyczik & Halek, 2016; Ettema, Droes, de Lange, Mellenbergh & Ribbe, 2007b). Die Reliabilität und Validität konnte in verschiedenen Studien bestätigt werden (Dichter, Bartholomeyczik, Nordheim, Achterberg & Halek, 2011; Dichter et al., 2016; Ettema, Droes, de Lange, Mellenbergh & Ribbe, 2007a; Ettema et al., 2007b; Gräske et al., 2014; Hüsken, 14
Reuther, Halek, Holle & Dichter, 2019). Über die primären und sekundären Zielvariablen hin- aus werden soziodemographische Daten, das Vorliegen einer klinisch bestätigten Demenz- Diagnose, Infektionen, Medikation, Impfungen, soziale Kontakte, die Teilnahme an der Inter- vention MAKS-mk+ sowie Teilnahme an weiteren soziale Aktivitäten mit Hilfe der Pflege- Dokumentation erfasst. Des Weiteren werden körperliche Komorbiditäten mit dem aktuali- sierten Charlson-Index (Quan et al., 2011), die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems mit dem Fragebogen zur Inanspruchnahme medizinischer und nicht-medizinischer Versorgungs- leistungen im Alter (FIMA; Seidl et al., 2015), der Ernährungsstatus mit der deutschen Ver- sion des Mini Nutritional Assessment – Short Form (MNA-SF; Guigoz, 2006; Kaiser et al., 2009; Vellas et al., 2006), die Flüssigkeitszufuhr mit einer selbst-entwickelten Rating-Skala („weniger als 3 Gläser/Tassen“, „3 bis 5 Gläser/Tassen“, „mehr als 5 Gläser/Tassen“) und Einschränkungen in Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) mit der deutschen Version des Barthel-Index (Heuschmann et al., 2005; Mahoney & Barthel, 1965) erfasst. Darüber hinaus werden zur Datenerhebung nach sechs Monaten auch Daten zu Struktur und Konzept jeder teilnehmenden abWG mit einem selbst entwickelten Fragebogen erhoben. 1.2.1.7 Statistische Analyse. Die Datenauswertung erfolgt durch die Studienzentrale in Erlangen sowie Bremen in Zusammenarbeit mit dem KKSB (verantwortlich für die Primärda- tenanalyse) und dem SOCIUM Forschungszentrum der Universität Bremen (verantwortlich für die Sekundärdatenanalyse) voraussichtlich mit den beiden Programmen „IBM SPSS Sta- tistics“ und „SAS“. In Übereinstimmung mit internationalen Leitlinien ist die primäre Aus- wertungsstrategie „intention to treat (ITT)“ (Kabisch, Ruckes, Seibert-Grafe & Blettner, 2011; Moher et al., 2010). Zusätzlich werden zur Überprüfung der Robustheit der Studienergebnisse Analysen nach dem „per protocol (PP)“-Prinzip durchgeführt. Die Analyse der quantitativen Primärdaten erfolgt durch multivariate Analysen gemäß dem Allgemeinen Linearen Modell (ALM), z. B. Varianzanalysen (ANOVAs), Kovarianzanalysen (ANCOVAs) oder Regressi- onsanalysen. Darüber hinaus werden explorative Subgruppenanalysen sowie für potentiell konfundierende Variablen adjustierte Analysen durchgeführt. Qualitative Primärdaten, d. h. Transkripte aus Expert*innen-Interviews und Fokusgruppen, werden anhand der zusammen- fassenden qualitativen Inhaltsanalyse, z. B. nach Mayring (2010), ausgewertet. Die Analyse der anonymisierten Krankenkassendaten (Sekundärdaten) erfolgt durch Gewichtung der Ge- samtsumme an Kosten von Krankenhauseinweisungen über die Versichertenstruktur nach Al- ter und Geschlecht im Vergleich zur Bevölkerung in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2019). 15
1.2.2 Methodik der Studie BayDem 1.2.2.1 Studiendesign und Studienpopulation. Um die Symptombelastung, die Inan- spruchnahme von Versorgungsleistungen des Gesundheitssystems sowie die Todesumstände von Menschen mit Demenz in der letzten Lebensphase zu untersuchen, wurde der „Bayerische Demenz Survey (BayDem)“, eine multizentrische Längsschnittstudie in drei Regionen in Bayern, durchgeführt. Die Regionen Dachau, Erlangen sowie Kronach wurden gezielt ausge- wählt, da sie Gebiete mit unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklungen sowie unterschiedli- chen demographischen und sozioökonomischen Parametern darstellen (Kolominsky-Rabas, Gräßel & Chilla, 2020). Zudem wurde darauf geachtet, durch Einbezug der Städte sowie der umgebenden Landkreise urbane sowie ländliche Räume abzubilden. Vor Beginn der Studie wurde das Votum der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) eingeholt (Ref. 141_12B). Mit dem Schreiben vom 07.01.2015 hat diese ihr positives Votum zur Studie BayDem gegeben und das Vorhaben uneingeschränkt genehemigt. Eingeschlossen wurden Menschen mit Demenz gemäß ICD-10, F00-F03 (Dilling, Mombour & Schmidt, 2011), die von pflegenden Angehörigen im häuslichen Umfeld versorgt wurden, wie auch die Angehörigen selbst. Die vorliegende Dissertation fokussiert jedoch ausschließlich auf die Zielgruppe der Menschen mit Demenz. Ausgeschlossen wurden Personen mit schwerwiegenden psychiatrische Nebendiagnosen wie z.B. Schizophrenie, Depression oder Suchterkrankungen sowie Personen, die zum Zeitpunkt der Ersterhebung in einem Pflegeheim wohnhaft waren oder keine Pflegeperson im Umfeld vorhanden war. 1.2.2.2 Rekrutierungsstrategien. Um eine breite Rekrutierungsbasis zu erzielen, wurde zunächst eine Kooperationsstruktur aus regionalen, für die Versorgung von Menschen mit Demenz zuständigen Akteur*innen aufgebaut. Die anschließende Rekrutierung der Teilnehmenden erfolgte vor Ort über verschiedene Einrichtungen wie Beratungsstellen, niedergelassenen Ärzt*innen sowie Therapeut*innen, medizinischen Versorgungszentren, Pflegediensten, Gedächtnisambulanzen, Krankenhäuser und ehrenamtliche Dienste. Die Aufklärung der Teilnehmenden erfolgte vor Ort durch geschulte Kooperationspartner*innen mit Hilfe eines standardisierten Aufklärungsformulars. Schriftliche Einverständniser- klärungen wurden von den Teilnehmenden oder – falls erforderlich – von deren gesetzlichen Vertreter*innen eingeholt. 1.2.2.3 Datenerhebung. Die Datenerhebung erfolgte durch – von der Studienzentrale geschulten – Interviewer*innen, sodass eine einheitliche Erhebung an allen drei Standorten 16
gewährleistet werden konnte. Die Daten wurden in den Jahren 2015 bis 2017 in Form von standardisierten Interviews im häuslichen Umfeld gemäß den internationalen Standards nach dem International Consortium for Health Outcomes Measurement (2017) bei Studien- einschluss (t0), nach 6 Monaten (t6), 12 Monaten (t12), 24 Monaten (t24) sowie 36 Monaten (t36) erhoben. 1.2.2.4 Erhebungsinstrumente. Soziodemographische Daten wie Alter, Geschlecht, höchster Schulabschluss oder Wohnort wurden mit Hilfe eines selbst konzipierten Fragebogens erhoben. Angehörige gaben zudem Auskünfte über Sterbeorte und Todesursachen. Kognitive Fähigkeiten wurden mit dem Mini-Mental-Status-Test (MMST; Folstein et al., 1975; Kessler et al., 1990) erhoben, alltagspraktische Fähigkeiten mit dem Alzheimer’s Disease Cooperative Study Group – Activities of Daily Living Inventory (ADCS- ADL; Galasko et al., 1997). Die Symptombelastung in Form von psychischen und Verhaltensauffälligkeiten (BPSD) wie Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Aggression, Depression, Angst, Hochstimmung, Apathie, Enthemmung, Reizbarkeit, abweichendes motorisches Verhalten, Schlafstörungen und Appetitstörungen wurde mit Hilfe des Neuropsychiatric Inventory (NPI, Cummings et al., 1994) erhoben. Körperliche Komorbiditäten wurden mit Hilfe des Charlson-Indexes (Charlson, Pompei, Ales & MacKenzie, 1987) erfasst. Dieser Index gewichtet verschiedene körperliche Komorbiditäten mit einem Punktwert, der sich auf das 1-Jahres-Mortalitätsrisiko bezieht. Anschließend werden die einzelnen Punktwerte zu einem Summenwert aufaddiert. Die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems wurde mit Hilfe des Instruments Resource Utilization in Dementia (RUD; Wimo et al., 2013) erhoben. Alle verwendeten Erhebungsinstrumente sind für den Einsatz bei Menschen mit Demenz validiert und international weit verbreitet (Bentvelzen, Aerts, Seeher, Wesson & Brodaty, 2017; Chen et al., 2017; Creavin et al., 2016; de Groot, Beckerman, Lankhorst & Bouter, 2003; Desai, Grossberg & Sheth, 2004; Frenkel, Jongerius, Mandjes‐van Uitert, van Munster & de Rooij, 2014; Kaufer et al., 2000; Tsoi et al., 2015; Wimo et al., 2013). Gesicherte deutsche Übersetzungen liegen für alle Erhebungsinstrumente vor (Kessler et al., 1990; Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID), 2018a, 2018b; Pschyrembel Online, 2018; Wimo et al., 2013). Es fehlen jedoch spezielle Validierungsstudien sowie Normierungen der deutschsprachigen Versionen mit Ausnahme des MMST (Albrecht, Pendergrass, Becker, Hautzinger & Pfeiffer, 2018; Kessler et al., 1990). 17
1.2.2.5 Statistische Analyse. Vor den statistischen Analysen wurde ein 1:1-Propensity Score Matching von verstorbenen und nicht-verstorbenen Menschen mit Demenz hinsichtlich zentraler individueller soziodemographischer Daten, der Ausprägung der Demenz nach ICD- 10 (Dilling et al., 2011) sowie der Follow-up-Dauer durchgeführt (Bacher, 2002; Kuss, Blettner & Börgermann, 2016): Um vergleichbare Gruppen zu erhalten, wurde mit Hilfe des Algorithmus „random order, nearest available pair matching method“ (Bacher, 2002; Smith, 1997) für jede verstorbene Person randomisiert eine nicht-verstorbene Person mit gleichem oder sehr ähnlichen Propensity Score (Schwellenwert der Distanz: 0.5) als „statistischer Zwilling“ gesucht. Der Propensity Score selbst ist die teilnehmerspezifische Wahrschein- lichkeit für die Gruppenzugehörigkeit und wurde in der vorliegenden Studie auf Basis einer logistischen Regression mit der Gruppierungsvariable (verstorben vs. nicht-verstorben) als abhängige Variable und den interessierenden Matching-Variablen Alter, Geschlecht, kognitive und alltagspraktische Fähigkeiten (MMST und ADCS-ADL) sowie der Follow-up- Dauer als unabhängige Variablen berechnet. Da die beiden Gruppen nach dem Matching nicht mehr unabhängig voneinander sind, wurden gemäß der Empfehlungen von Austin (2008, 2011) und Kuss et al. (2016) statistische Verfahren für verbundene Stichproben verwendet: für Gruppenvergleiche bei kategorialen Variablen McNemar-Tests, bei intervallskalierten Variablen t-Tests. Ergänzend dazu wurden die Effektstärkemaße Odds Ratio (OR) bzw. Cohen’s d angegeben. Für die Gruppenvergleiche wurde für jeden verstorbenen Menschen mit Demenz jeweils der letzte verfügbare Wert herangezogen, um das Voranschreiten der Demenz zu berücksichtigen und eine valide Aussage über die letzte Lebensphase treffen zu können. Entsprechend wurde von nicht-verstorbenen Menschen mit Demenz ebenfalls der – aufgrund des Matchings vergleichbare – letzte verfügbare Wert verwendet. Als statistisches Signifi- kanzniveau wurde a priori 5 % festgelegt. Die Daten wurden mittels der Software „IBM SPSS Statistics, Version 21“ (IBM – International Business Machines Corporation, Armonk, New York, USA) analysiert. 1.3 Ergebnisse Von den aus der BayDem-Gesamtstichprobe von N = 364 befragten Menschen mit Demenz sind 77 innerhalb des Beobachtungszeitraums von drei Jahren verstorben (Mortalitätsrate von 21.2 %). Für 58 davon konnten „statistische Zwillinge“ gefunden werden, sodass für die statistischen Analysen eine Stichprobe von n = 116 (2 mal 58) resultierte. Das gelungene Matching zeigte sich darin, dass zur Baseline-Datenerhebung in der Analysestichprobe von n = 116 keine Unterschiede zwischen verstorbenen und nicht- 18
verstorbenenen bestanden (siehe Tabelle 1 in der Originalpublikation Kratzer, Karrer et al., 2020). Die Demenz war in beiden Gruppen im Schnitt moderat ausgeprägt (verstorben: M = 14.03, SD = 8.19 vs. nicht-verstorben: M = 14.85, SD = 6.73). Im Median vergingen zwischen Diagnosestellung und Tod 2 Jahre und 4 Monate, zwischen Diagnosestellung und Studieneinschluss sechs Monate. Am häufigsten sind Menschen mit Demenz zuhause (36.2 %), im Krankenhaus (25.9 %) oder im Alten-/Pflegeheim (19.0 %) verstorben, jedoch in keinem Fall auf einer Palliativstation, in einem Hospiz oder im Rahmen einer spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV). Von 19.0 % lagen keine Angaben zum Sterbeort vor. In den meisten Fällen starben Menschen mit Demenz an Komplikationen des respiratorischen Systems (13.8 %), an kardiovaskulären Komplikationen (12.1 %) oder einem Schlaganfall (12.1 %), vereinzelt an Nierenversagen (5.2 %), Krebs (3.4 %) oder anderen Todesursachen wie multiplem Organversagen (1.7 %), inneren Blutungen (3.4 %) oder den Folgen einer Darm-OP (1.7 %). Für knapp die Hälfte der Stichprobe (46.5 %) lagen keine Informationen diesbezüglich vor. Menschen mit Demenz in der letzten Lebensphase hatten zum letzten Befragungszeitpunkt im Vergleich zu nicht-verstorbenen Menschen mit Demenz signifikant stärker ausgeprägte körperliche Komorbiditäten (Charlson-Index: M = 2.75, SD = 2.86 vs. M = 1.80, SD = 1.34, p = .030 1, Cohen’s d = 0.425, 95 %-KI [0.057, 0.793]) und wurden dementsprechend signifikant häufiger in ein Krankenhaus eingewiesen (46.6 % vs. 12.1 %, p < .001 2, OR = 6.250, 95 %-KI [2.158, 24.710]) oder in einer Notaufnahme (22.4 % vs. 3.4 %, p = .007 3, OR = 6.500, 95 %-KI [1.472, 59.329]) behandelt. Ambulante Angebote wurden mit Ausnahme von Hausärzt*innen (75.9 % vs. 84.5 %, p = .238 4, OR = 0.500, 95 %-KI [0.154, 1.439]) oder ambulanter Pflege (51.7 % vs. 32.8 %, p = .082 5, OR = 2.031, 95 %-KI [0.979, 4.751]) mit Nutzungsraten von 0 % bis 22.0 % (medizinische und therapeutische Leistungen, z. B. Psycholog*in, Psychiater*in, Physio- therapeut*in) bzw. 1.7 bis 17.2 % (professionelle Unterstützungsangebote, z. B. Tagespflege, Betreuungsdienste, Hauswirtschaftliche Hilfe) vergleichsweise selten in Anspruch genommmen. Insgesamt fanden sich keine signifikanten Unterschiede in der Inanspruchnahme ambulanter Angebote (siehe Tabelle 2 in der Originalpublikation Kratzer, 1 p-Wert für den t-Test für verbundene Stichproben. 2 p-Wert für den McNemar-Test. 3 p-Wert für den McNemar-Test. 4 p-Wert für den McNemar-Test. 5 p-Wert für den McNemar-Test. 19
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