Diskurs Kooperation oder Konflikt? - Berufsgewerkschaften im deutschen System der Arbeitsbeziehungen - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...

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August 2015

Expertisen und Dokumentationen
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik   Diskurs
                                     Kooperation oder Konflikt?
                                     Berufsgewerkschaften
                                     im deutschen System der
                                     Arbeitsbeziehungen

                                 © Fotos:dpa Picture Alliance; EdStock, ollo, luisrsphoto, querbeet/alle istock.com; franz massard/fotolia.com

                                                                                                                                                 I
II
Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und
Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Kooperation oder Konflikt?
Berufsgewerkschaften
im deutschen System der
Arbeitsbeziehungen

Berndt Keller
WISO
 Diskurs                                                                                      Friedrich-Ebert-Stiftung

           Inhaltsverzeichnis

           Tabellen- und Abbildungsverzeichnis                                                                            3

           Vorbemerkung                                                                                                   4

           1. Einleitung und Problemstellung                                                                              5
               1.1 Einleitung                                                                                             5
               1.2 Problemstellung                                                                                        6

           2. Bedingungen und Voraussetzungen                                                                             8
               2.1 Rekrutierung und Bindung von Mitgliedern                                                               8
               2.2 Aggregation und Vereinheitlichung von Interessen                                                      10
               2.3 Vertretung und Durchsetzung von Interessen                                                            12

           3. Ziele der Berufsgewerkschaften und Optionen der übrigen Akteure                                            13
               3.1 Generelle und spezifische Ziele                                                                       13
               3.2 Aktuelle Bezüge                                                                                       14
               3.3 Handlungsoptionen der anderen Akteure                                                                 16

           4. Aktuelle Entwicklungen und Konsequenzen                                                                    19
               4.1 Rechtliche und faktische Entwicklungen: Tarifeinheit vs. Tarifpluralität                              19
               4.2 Kritik                                                                                                21
               4.3 Beziehungen zwischen Verbänden – und ihre Gestaltung                                                  25

           5. Exkurs: Die Situation bei der Deutschen Bahn                                                               30

           6. Ausblick                                                                                                   33

           Literaturverzeichnis                                                                                          34

           Der Autor		                                                                                                   40

           Diese Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Fried­rich-Ebert-Stiftung
           veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind vom Autor in ­eigener Verant-
           wortung vorgenommen worden.

           Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
           Friedrich-Ebert-Stiftung | Godesberger Allee 149 | 53175 Bonn | Fax 0228 883 9205 | www.fes.de/wiso |
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Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1:       Mitgliederzahlen und Organisationsgrade von Berufsgewerkschaften   10

Tabelle 2:       Berufsgewerkschaften: Gründungsjahr und erste Tarifverträge        14

Abbildung 1: Mitglieder in DGB-Gewerkschaften von 1950 bis 2012                     15

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 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           Vorbemerkung

           „Deutschland einig Streikland?“ – so betitelte das   dann zurückführen? Ein Teil der Erklärung wird
           heute-journal des ZDF vor Kurzem einen Beitrag       sicherlich sein, dass sich die Konflikte in diesem
           zu den aktuellen Tarifkonflikten in Deutschland.     Jahr im Bereich der sogenannten gesellschaftlich
           Und in der Tat scheinen sich die Arbeitskämpfe       notwendigen Dienstleistungen konzentrierten, wo-
           in diesem Jahr zu häufen: So begaben sich die        von viele Menschen unmittelbar betroffen waren.
           von der GDL organisierten Lokführer_innen seit             Darüber hinaus wurde die steigende Einfluss-
           dem vergangenen Herbst neun Mal in den Aus-          nahme von Berufs- und Spartengewerkschaften
           stand. Mit der wesentlich größeren, zum DGB ge-      diskutiert. Auch der Gesetzgeber hat dies zum An-
           hörenden Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft         lass genommen zu handeln, was in dem im Mai
           (EVG) gelangte die Deutsche Bahn demgegen-           diesen Jahres verabschiedeten Tarifeinheitsgesetz
           über zwar auch nach zähen Verhandlungen, je-         seinen Ausdruck fand. Die diesbezügliche Debat-
           doch ohne größere Arbeitskämpfe zu einem Er-         te ist allerdings von ausgeprägten Kontroversen
           gebnis. Auch der sich über Wochen hinziehende        bestimmt und wird häufig von einer Reduzie-
           Tarifstreit zwischen kommunalen Arbeitgeber_in-      rung der Arbeitskämpfe auf persönliche Konflikte
           nen sowie der Vereinigten Dienstleistungsgewerk­     begleitet, weshalb ein sachlicher, auf wissen-
           schaft (ver.di), die v. a. eine höhere Eingruppie-   schaftlicher Ebene argumentierender Beitrag
           rung von in Kindertagesstätten tätigen Erzieher_     dringend geboten scheint.
           innen forderte, erhielt anhaltende mediale Auf-            Die vorliegende Studie von Prof. Berndt Keller
           merksamkeit. Und nicht zuletzt die Ankündigung       hat dies zum Anlass genommen, einen unvorein-
           der Deutschen Post, Tausende Stellen zu wesent-      genommenen Blick auf die Frage zu werfen, wel-
           lich schlechteren Konditionen in 49 neu ge­          chen faktischen Einfluss die zunehmenden Akti-
           gründete Regionalgesellschaften überführen zu        vitäten von Berufsgewerkschaften auf die Stabi­
           wollen, resultierte in einem mit harten Banda-       litätsbedingungen der Arbeitsbeziehungen sowie
           gen geführten Arbeitskampf zwischen der DPAG         Verhandlungsstrukturen und Ergebnisse der Tarif­
           und ver.di.                                          politik haben und welche Auswirkungen auf die
                Doch lässt sich aus dieser scheinbaren Häu-     Arbeitsbeziehungen zukünftig zu erwarten sind.
           fung von Tarifkonflikten auf eine sich wandelnde           Eine anregende Lektüre und weiterhin span-
           Streikkultur hierzulande, oder gar auf eine zuneh-   nende Diskussionen wünscht
           mende Konkurrenz zwischen Gewerkschaften
           schließen? Ein Blick über den nationalen Teller-                                          Matthias Klein
           rand hilft weiter: So zeigt sich, dass in Deutsch-        Referent Gewerkschaften & Mitbestimmung
           land nach wie vor wesentlich seltener gestreikt               Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
           wird als in den europäischen Nachbarländern.                             der Friedrich-Ebert-Stiftung
           Worauf lassen sich die gefühlten Dauerstreiks

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Wirtschafts- und Sozialpolitik
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1. Einleitung und Problemstellung

1.1 Einleitung
                                                                      – Die 1992 gegründete Unabhängige Flugbeglei-
Seit den frühen 2000er Jahren beobachten wir                            ter Organisation (UFO) ist seit 2002 gleichbe-
eine aufgrund vorgängiger Erfahrungen unerwar-                          rechtigter Tarifpartner und vertritt als Einzige
tete Zunahme des Einflusses von Berufs- und                             die Interessen von Flug­begleitern gegenüber Flug­
Sparten­gewerkschaften, die lange Zeit sogar In­                        gesellschaften (https://www.ufo-online aero).
sidern kaum bekannt waren. Diese Verbände sind                        – Die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) ent-
prominente Beispiele für eine „neue Unüber-                             stand 2003 durch den Zusammen­schluss vom
sichtlichkeit“ der Arbeitsbeziehun­gen, vor allem                       Verband deutscher Flugleiter (VdF) und Verband
der Tarifpolitik, in einzelnen Teilen privater                          Deutscher Flugsiche­   rungs-Techniker und -In­
Dienstleistungssektoren – und möglicherweise                            genieure (FTI). Ein von diesen Vorgängern mit
da­rüber hinaus. Die etablierten Verfah­   ren und                      der DAG geschlossener Kooperations­       vertrag
Akteure der Interessenvertretung verändern sich                         scheiterte 2002 wegen Unzufriedenheit mit der
durch die über­raschende Renaissance von Berufs-                        Vertretungspolitik der DAG bzw. ver.di (https://
verbänden, die nacheinander zu Berufsgewerk­                            www.gdf.de). Die GdF setzte 2003 ihre Unab-
schaften1 mutieren, nachdem sie erfolgreich                             hängigkeit bzw. Aner­    kennung durch und ist
Streiks organisiert und ihre Tariffähigkeit durch-                      derzeit die einzige Arbeit­nehmer­vertretung bei
gesetzt haben.                                                          der Deutschen Flugsicherung (DFS), mit der die-
       Die in diesem Kontext relevanten Gewerk-                         se regionalisierte Tarifverträge abschließt. Die
schaften sind:                                                          GdF steht nicht in einer Konkurrenz­beziehung
– Die 1969 gegründete Vereinigung Cockpit                               zu anderen Gewerkschaften und nimmt inso-
    (VC) „ist der Verband der Verkehrs­   flugzeug­                     fern neben UFO eine Sonderstellung im Rah-
   führer und Flugingenieure in Deutschland“                            men unserer Fragestellung ein. Im Übrigen
   (http://www.vcockpit.de). VC ging in den frü-                        führten Fluglotsen bzw. VdF bereits in den spä-
   hen 1970er Jahren eine Tarifgemeinschaft mit                         ten 1960er und frühen 1970er Jahren mit Er-
   der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG)                        folg streikähnliche Kampf­maß­nahmen durch
   ein, die für die Pilot_innen verhandelte. VC                         (Lange 1990).
   kündigte 1999 die Tarifgemeinschaft, als die                       – Der 1947 gegründete Marburger Bund (MB)
   DAG beschloss, sich der neu gegründeten Ver­                         (zusammenfassend Greef 2012) kooperierte bis
   einten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)                          2005 mehrere Jahrzehnte zunächst mit der
   ­anzuschließen (Keller 2004). VC war der erste                       DAG, später mit ver.di (https://www.marburger-
    Berufsverband, der durch einen Streik bei der                       bund.de). Als Maßnahmen der Privatisierung so-
    Lufthansa 2001 seine Anerkennung als Berufs­                        wie Ökonomisierung im Krankenhaus­        be­reich
    gewerkschaft durchsetzte bzw. einen eigenstän­                      zunahmen und im öffentlichen Dienst der
    digen Tarifvertrag schloss, der zunächst erheb-                     ­Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD)
    liche Entgeltsteigerungen zur Folge hatte.                           den Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) ab-

1   Zur Terminologie: Wir verwenden durchgängig den Begriff „Berufsverband“ für die Phasen vor, den Begriff „Berufsgewerkschaft“ für die
    Phase nach der faktischen Anerkennung als Tarifpartei.

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              löste (Greef 2010, Silvia 2013), wodurch sich            Wesentlich für Verlauf und Ergebnis der
              die Arbeitsbedin­gungen der Beschäftigten (vor     ­ arifverhandlungen ist die Frage, ob die Organisa­
                                                                 T
              allem Entgelte, aber auch Arbeitszeiten) weiter    tions­­domänen und damit der Vertretungsan-
              verschlech­ terten, setzte der MB schließlich      spruch der Gewerkschaften voneinander abge-
              2006 seine Unabhän­gigkeit als Tarifpartner per    grenzt sind oder sich über­lappen. Auf diesen auch
              Streik- und Protestmaßnahmen von (Assis-           für die Konflikt­haftigkeit entscheidenden Unter-
              tenz-)Ärzt_innen an Universitätskliniken und       schied gehen wir später ein. Ebenfalls von Be­
              kommunalen Krankenhäusern durch.                   deutung ist diese Konkurrenz in der später noch
           – Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer          detailliert zu behandelnden Auseinander­setzung
              (GDL) (zusammenfassend Kalass 2012) ist die        um Tarifeinheit versus Tarifpluralität.
              älteste, noch bestehende deutsche Gewerk­schaft          Wegen der unterschiedlichen Bedeutung,
              (http://www.GDL.de); sie setzte ihre Eigen­stän­   welche diese Verbände in den vergange­nen Jah-
              digkeit als Tarifpartei nach mehreren erfolglo-    ren für die Entwicklung ihrer sektorspezifischen
              sen Versuchen schließlich 2007/2008 in einem       Arbeitsbeziehungen, insbesondere Arbeits­      kon­
              längeren Arbeits­  kampf gegen die Deutsche        flik­te, hatten, befassen wir uns vor allem mit VC,
              Bahn sowie den Widerstand der anderen Bahn-        MB und GDL.
              gewerkschaften durch. In unserem Kontext ist
              wichtig, dass die GDL nicht nur die tarifpoliti-
              sche Vertretung der Lokführer_innen sondern        1.2 Problemstellung
              des gesamten Fahrpersonals, also auch von Zug-
              begleiter_innen, Bordgastronom_innen, Dispo-       Unsere forschungsleitenden Fragestellungen lau-
              nent_innen und Lokrangierführer_innen, ge-         ten: Verändert das Erstarken bzw. der Wandel von
              genüber Deutscher Bahn und Privatbahnen für        Berufsverbänden zu Berufsgewerkschaften die
              sich reklamiert.                                   etablierten Struk­ turen der Interessen­vertretung
           Ein organisatorisches Problem resultiert aus der      nachhaltig? Nimmt ihr Einfluss auf die Funk-
           Tatsache, dass zwei Dachverbände bestehen, der        tions-, insbeson­ dere die Stabilitäts­
                                                                                                       bedingungen
           allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB)           der Arbeitsbeziehungen und hier insbesondere
           sowie der spezielle DBB Beamtenbund und Tarif-        die Tarifpolitik, nicht nur kurz-, sondern auch
           union. Die Berufs­gewerkschaften sind – mit Aus-      langfristig zu­? Welche speziellen Konse­quenzen
           nahme der noch zu behandelnden Eisenbahn-             hat die nunmehr gegebene Gewerkschaftskon-
           und Verkehrsgewerkschaft (EVG) – nicht wie die        kurrenz für Verhand­lungs­strukturen und Ergeb-
           Industrie­ gewerk­schaften Mitglieder des DGB,        nisse der ­Tarifpolitik?
           sondern bleiben in der Mehrheit unabhängig                 Wir unterscheiden explizit mehrere Dimen-
           (MB, VC, GDF und UFO). Die GDL hingegen ist           sionen dieser allgemein formulierten Problem-
           Mitglied des DBB Beamtenbund und Tarif­union.         stellungen, die wir nicht wie andere Arbeiten in
           Durch diese organisatori­sche Trennung auf Dach-      Form weiterer detaillierter Fall­  studien (Lange
           verbandsebene wird die latente Konkurrenz zwi-        1990; Greef 2012; Kalass 2012) über einzelne Ver-
           schen Mitglieds­   verbänden manifest und erhält      bände, sondern in vergleichen­     der Perspektive
           eine andere Qualität als die zwischen DGB-            analysieren:
           Verbän­den, welche ebenfalls nach wie vor latent      – Wir befassen uns zunächst mit den organisato­
           gegeben, aber eher zu vermitteln ist (Bispinck/          ri­
                                                                      schen und organisations­  theoretischen Be­
           Dribbusch 2008). Ähnlich wie in einer Reihe an-          dingungen und Voraussetzungen (Kapitel 2).
           derer Länder (Akkerman 2008) kann die Konkur-            Die Handlungs- bzw. Organisa­     tionsfähigkeit
           renz zwischen Dach­verbänden zu einer Determi­           von Verbänden, welche ihre strategischen
           nante der Tarifpolitik werden.                           Op­tionen bestimmt, stellt ein grundlegendes,

      6
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                          WISO
                                                                                                           Diskurs

  komplexes Problem dar, dessen Dimensionen           – Weiter reichende Befunde und Konsequen­zen
  wir nachein­  ander behandeln (Traxler 1999;          folgen, wobei wir die Betrach­tungsweise von
  Traxler et al 2001; Kittel 2003).                     der explikativen auf die normative Ebene ver­
– Anschließend wechseln wir von der Mitglieds-          schie­ben; wir gehen vor allem ein auf das kon­
  zur Einflusslogik und analysie­   ren die mittel-     trovers diskutierte Problem Tarif­  einheit vs.
  und langfristigen Ziele dieser Verbände, wobei        Tarifpluralität sowie die Optionen zur Gestal-
  wir generelle und spezielle Ziele, aktuelle Bezü-     tung der zwischen­­verbandlichen Beziehungen
  ge sowie Handlungsoptionen der anderen Ak-            (Kapitel 4).
  teure unterscheiden (Kapitel 3).                    – Danach behandelt ein Exkurs die Situation bei
                                                        der Deutschen Bahn (Kapitel 5), wobei ihre
                                                        komplexe Kollektivverhandlungsstruktur im
                                                        Mittelpunkt aktueller Arbeitskonflikte steht.

                                                                                                          7
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 Diskurs                                                                                                               Friedrich-Ebert-Stiftung

           2. Bedingungen und Voraussetzungen

           Ausgangspunkt unserer Analyse sind die unter-                        zentralisierten und koordinierten wie dem der
           schiedlichen Organisationsprinzipien und ihre                        Bundesrepublik.
           Folgen. Bei Industriegewerkschaften sollen Krite-                         Obwohl das Industrieverbandsprinzip seit
           rien wie Beruf, Status, Qualifikation, Betriebszu-                   der Wiedergründung der Gewerk­schaften in der
           gehörigkeit, politische Einstellung oder Religion                    frühen Phase der Bundesrepublik dominierte, be-
           der Arbeit­nehmer_innen keine Bedeutung haben                        standen stets auch andere, u. a. Berufsgewerk-
           („ein Betrieb, eine Gewerk­        schaft“). Industrie­              schaften.2 Ihre Aktivitäten waren mehrere Jahr-
           gewerk­schaften erfassen im Gegensatz zu Berufs-                     zehnte selten und zumeist nicht unabhängig von
           oder Betriebsverbänden alle Beschäftigten ihrer                      denen der DGB-Gewerkschaften. Sie erregten da-
           Organisationsdomäne; sie sind in der Regel Ein-                      her weniger öffentliche Aufmerksamkeit als dies
           heits­gewerk­schaften, d. h. im Gegensatz etwa zu                    seit den frühen 2000er Jahren der Fall ist. Die
           den Richtungsgewerk­       schaften anderer Länder                   Konsequenzen dieses gegebenen „Koalitions­
           (wie Frankreich oder Italien) weltan­        schaulich/              pluralismus“ blie­ben im politischen Diskurs weit-
           ideologisch und (partei-)politisch grundsätzlich                     gehend unbeachtet und wurden in wissenschaft­
           unab­hän­gig und neutral                                             lichen Analysen kaum behandelt.
                 Falls dieses Organisationsprinzip in reiner                         Bei Existenz mehrerer gleich­berechtigter Ge-
           Form realisiert werden kann, besteht Konkurrenz                      werkschaften findet die Ausein­      ander­ setzung
           von Gewerkschaften, wie sie bereits in der Wei-                      nicht mehr nur zwischen den Tarifparteien statt
           marer Republik bestand und seit einigen Jahren                       als Konflikt um die Verteilung der gemeinsam
           wieder in stärkerem Maße auftritt, ex definitione                    erwirtschaf­teten Erträge, sondern wesentlich als
           nicht. Die Verbände und ihre Kollektivverhand-                       organisations­ politische Auseinandersetzung um
           lungen sind hochgradig zentralisiert und führen                      Mitglieder und Einfluss. Zusätzliche Konfliktli­
           zu vergleichsweise homogenen Abschlüssen. Flä-                       nien zwischen Gruppen von Arbeit­nehmer_innen
           chen- bzw. Verbands­        tarifverträge stellen das                werden virulent, wie aktuelle Beispiele zeigen.
           ­zen­trale Instrument der Regulie­rung dar. Bei Be-
            triebs- und Berufsgewerkschaften, wie sie u. a.                     2.1 Rekrutierung und Bindung von
            in den angelsächsischen Ländern vorkommen,                              Mitgliedern
            sind die Strukturen der Kollektiv­verhand­lungen
           dezen­  tralisier­
                            ter und ihre Abschlüsse heteroge-                   Das erste Teilproblem der Handlungs- und Orga-
           ner; Haus- und Firmen­tarifverträge dominieren.                      nisationsfähigkeit von Verbänden besteht in der
           Generell gilt aufgrund langjähriger Erfahrungen,                     Rekrutierung und Bindung von Mitgliedern. Die
           dass in dezentrali­   sierten, unkoor­  dinierten Col­               neuere Verbandsforschung bzw. die Neue Politi-
            lective Bargaining-Systemen mit mehr Arbeits­­                      sche Ökonomie betonen die Bedeu­      tung der
            kämpfen zu rechnen ist als in vergleichsweise                       ­Gruppengröße für die Organisationsfähigkeit von

           2   Dazu zählten die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) bis zum Zusammenschluss mit mehreren DGB-Organisationen zur Verein-
               ten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die Mitgliedsorganisationen des DBB, die im Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB) zusam­
               men­geschlos­senen Verbände, die Union der Leitenden Angestellten (ULA) oder der VAA – Führungskräfte Chemie.

      8
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                                 WISO
                                                                                                                                                  Diskurs

Interessen. Im Gegensatz zu den Annahmen der                                  Mitgliederzahlen sowie Organisationsgrade
älteren Pluralismustheorien argumentiert die                             sind häufig gewählte Indikatoren sowohl für die
Theorie des kollektiven Handelns wesentlich mit                          verbandsinterne Ressourcenausstattung als auch
der Gruppengröße (Olson 1968, 1985). Kleine,                             für die dadurch gegebene externe Verhandlungs­
homogene Gruppen sind aufgrund der wechsel-                              macht bzw. Durchsetzungsfähigkeit; sie zeigen
seitigen Abhängig­keiten ihrer Mitglieder leichter                       außerdem die politische Legitimation von Verbän-
zu organisieren als große. Ein zentrales Or­      ga­
                                                    ni­                  den an. Informationen zu Entwicklung und Stand
sations­problem von Verbänden resultiert aus der                         der Mitgliederzahlen stehen nur in begrenztem
Tatsache, dass von Teilen ihrer Leistun­gen (in un-                      Umfang zur Verfügung. Aus den veröffentlichten
seren Fällen vor allem die Ergebnisse von Tarif-                         Daten lässt sich ein Bruttoorganisationsgrad
verhandlungen oder berufs- und standespoli­          ti­                 ermit­teln.3 Er liegt bei allen Berufsgewerkschaften
schen Lobbying­aktivitäten) auch Nichtmitglieder                         relativ hoch, obwohl Dienst­leistungs­sektoren als
profitieren; auf­grund ihres Kollektivgut­charakters                     schwierig zu organisieren gelten, und zeigt eine
stellen sie für eigeninteressiert handelnde Indivi-                      weitgehende Aus­schöp­fung des Mit­glieder­poten­
duen keinen Anreiz zum Beitritt dar. Diese grund-                        zials der engen Organisationsdomäne bzw. eine
sätzliche Schwierigkeit der Organisierung kollek-                        hohe Attraktivität für die Beschäftigten an. Wei-
tiver Interessen ist bei garantierter Freiwilligkeit                     terhin sind die Mitgliederzahlen relativ stabil im
der Mitgliedschaft nicht durch den Einsatz                               Zeitverlauf, Mitgliederverluste treten im Gegen-
organisatori­scher Zwangs­mecha­nismen (wie Bei-                         satz zu Industrie­  verbänden kaum ein. Die Ver-
trittszwang im Sinne rechtlicher oder faktischer                         bandsangaben sind allerdings weniger valide als
Closed Shop- oder Union Shop-­Regelungen) zu                             die nicht genau zu ermittelnden Nettoorgani­sa­
­beheben.                                                                tions­grade dieser Berufsgruppen.4
        Die Lösung dieses Problems gelingt in kleinen                         Aus Verbandsperspektive handelt es sich um
 Gruppen eher und besser als in großen. Letztere                         eine für die rechtlich-institutionellen Rahmen­
 müssen zur Bewältigung von Problemen des                                bedingun­gen der Arbeitsbeziehungen ungewöhn-
 Trittbrett­fahrens („free-riding“) selektive Anreize                    liche – und für die Beteiligten ungewohnte –
 anbieten, um die Leistung individueller Beiträge                        Situa­tion eines Wettbewerbs um Mitglieder, der
 zur Errei­chung der gemein­samen Ziele zu garan-                        bei bereits über­durchschnittlich hohen gruppen­­
 tieren. Diese privaten Güter und Dienst­leistungen                      spezifischen Organisationsgraden stattfindet und
 (wie Rechtsschutz, Versicherungen, Informa­tions­                       sich, wie jüngere Erfah­rungen zeigen, durchaus
 dienste) können aus­schließlich die Verbandsmit-                        intensivieren kann. Aus individueller Sicht erwei-
 glieder in Anspruch nehmen.                                             tern sich die Optionen: Bei einem Monopol der
        Insofern ist im Sinne einer Lösung des grund-                    Industrie­gewerk­schaft besteht die einzige Alter-
 sätzlichen Rekrutierungsproblems die Existenz                           native zur Mitgliedschaft darin, nicht (oder nicht
 kleiner Verbän­de nicht überraschend. Nicht ihre                        mehr) organisiert zu sein – und damit nicht über
 absoluten Mitglieder­     zahlen, sondern ihre im                       die Voice-Option zwecks Artikulierung bzw.
 ­Vergleich zu Industrie­gewerk­schaf­ten überdurch­                     Durchset­zung eigener Interessen durch Beeinflus-
  schnittlich hohen Organisa­   tionsgrade sind wich-                    sung der verbandlichen Willens­bildung zu ver­
  tig – und werden bei einer Analyse in der Perspektive                  fügen (Hirschman 1974). Bei Konkurrenz von
  der Neuen Politischen Ökonomie nachvollziehbar.                        Gewerkschaften­hingegen existiert zusätzlich die

3    Organisationsgrade werden errechnet als Quotienten aus Gewerkschaftsmitgliedern und abhängig Beschäftigten mal 100. Die Unter-
     schiede zwischen Brutto- und Nettoorganisationsgraden ergeben sich dadurch, dass bei Ersteren alle Gewerkschaftsmitglieder Berück-
     sichtigung finden, bei Letzteren hingegen nur die betriebstätigen Mitglieder, d. h. Nichterwerbstätige (wie Arbeitslose, Rentner, Studie-
    rende) bleiben ausgeschlossen.
4   Die GDL ist die älteste, noch bestehende deutsche Gewerkschaft (zur Geschichte GDL 1992, Schroeder et al. 2008), der MB wurde 1947
    ­gegründet (zur Geschichte Rottschäfer/Preusker 1997), die Vereinigung Cockpit 1969, UFO 1992. Zur Erinnerung: Die ersten deutschen Ge-
     werkschaften waren berufsständische Verbände vergleichsweise gut qualifizierter Arbeit­nehmer_innen und keine Industriegewerkschaften.

                                                                                                                                                 9
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 Diskurs                                                                                                                        Friedrich-Ebert-Stiftung

            Tabelle 1:

            Mitgliederzahlen und Organisationsgrade von Berufsgewerkschaften

            Verband                                            Mitgliederzahlen     Organisationsgrade
            Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF)                     3.800          sehr hoch (80 %) bei Fluglotsen; unbekannt bei Vorfeldlotsen
            Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL)            34.000          80 % der Triebwagenführer sowie > 60 % des Zugpersonals
            Marburger Bund (MB)                                    114.200          70 % bundesweit
            Unabhängige Flugbegleiterorganisation (UFO)             10.000          über alle Fluggesellschaften ca. 25 %
            Vereinigung Cockpit (VC)                                 9.300          > 80 % bei den meisten Fluggesellschaften

            Quelle: GdF: www.gdf.de; GDL: www.gdl.de; Marburger Bund: www.marburger-bund.de; UFO: Hensche 2007: 1032;
                    Vereinigung Cockpit: www.vcockpit.de; Schroeder/Greef 2014: 137.

           Möglichkeit eines Wechsels der Mitgliedschaft.                          2.2 Aggregation und Vereinheitlichung
           Dabei handelt es sich stets um bereits bestehende                           von Interessen
           Gewerk­schaften und nicht um Neugründungen.
                Die im Vergleich zu Industrie­gewerkschaften                       Das zweite Teilproblem der Handlungs- und Or-
           häufig faktisch niedrigeren Mitglieds­beiträge der                      ganisationsfähigkeit von Verbän­     den besteht in
           Berufsgewerkschaften können die individuelle,                           der Aggregation und Vereinheitlichung von (Mit-
           vor allem instrumentell orientierte Entscheidung                        glieder-)Interessen. Industriegewerkschaften sind
           über einen Verbands­wechsel beeinflussen. Unter­                        „umfassende (große) Verbände“, Berufsgewerkschaf­
           schied­liche Kosten einer Mitgliedschaft gehen                          ten hin­gegen „spezielle (kleine) Verbände“ (Olson
           ebenso in das individu­elle Kosten-/Nutzen­kalkül                       1985). Erstere haben mehr Schwierig­      keiten als
           ein wie Unterschiede in den Verbandsleistungen                          Letztere, die aufgrund ihrer deutlich höheren Mit­
           im Sinne eines größeren und/oder besseren Ange-                         glieder­zahlen heterogene­ren Interessen nicht nur
           bots privater Güter bzw. der Existenz selektiver                        zu aggregieren, sondern zu vereinheitlichen (u. a.
           Anreize (Olson 1968, 1985). (Kleine) Berufs- kön-                       Qualifi­zierte vs. Unqualifizierte, Männer vs. Frau-
           nen eher als (große) Industriegewerk­schaften ih-                       en, Vollzeit- vs. Teilzeitbeschäftigte). Bei den zur
           ren Mitgliedern eine Palette gruppen­spezifischer                       Formulierung einer kohärenten Verbands­poli­tik
           bzw. sogar arbeitsplatz­   bezogener Verbands­leis­                     erforderlichen Abstimmungs- und Ko­or­dinations­
           tun­gen anbieten (allgemein Kahmann 2015, zum                           pro­zessen finden die Interessen hochgradig orga-
           MB Bandelow 2007).                                                      nisierter Gruppen (etwa die männ­licher Fachar-
                Diese Situation, dass alternative Verbände                         beiter) in den Verbandsgremien in stärkerem
           bestehen, ist für die Bundesrepublik aufgrund der                       Maße Berücksich­tigung als andere, die schwächer
           Dominanz des Industrieverbandsprinzips eher                             organisiert sind und daher eher aus­gefiltert wer-
           untypisch. Sie wird in unserem Kontext in be­                           den, d. h. keine Berück­   sichtigung finden (etwa
           sonderem Maße relevant, wenn Gewerkschaften                             die Un­qualifizierter oder von Arbeitnehmer_in-
           (vor allem die GDL) versuchen, ihre Machtbasis                          nen in atypischen Beschäf­tigungs­ver­hältnissen).
           bzw. Organisationsdomäne zulasten anderer Ge-                                Industrie- sind im Gegensatz zu Berufsgewerk-
           werkschaften zu erweitern. Diese Experimente                            schaften darauf ange­  wiesen, zur Sicherung ihrer
           betreffen auch die Abwerbung von Mitgliedern                            Aktionsfähigkeit einen internen Ausgleich von
           der Konkurrenzorgani­sation, die vor allem durch                        Verhandlungsmacht zwischen (arbeitskampf-)star-
           den Hinweis auf den Abschluss eigener günstige-                         ken und schwachen Mitglieder­gruppen herzustel-
           rer Tarifverträge erfolgt.                                              len. Erstere setzen eigene Forderungen in gerin­

    10
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                              WISO
                                                                                                                                               Diskurs

gerem Maße durch als sie es in eigenständig-auto-                       analytischer, nicht in normativer Perspektive
nomen Verhandlungen könnten, unterstützen                               zwischen inklusiver und exklusiver Solidarität
aber Letztere und tragen dadurch zu einer gewis-                        (Fichter/Zeuner 2002; Zeuner 2004), die aus
sen Verallgemeinerung von Partikular­interessen                         organisations­strukturellen Gründen unterschied-
bei. Insofern handelt es sich um eine Art „Stell-                       liche Hand­lungslogiken haben:
vertreterkonflikt“ im Gegensatz zu vergleichba-                         – Industriegewerkschaften müssen inklusive
ren Konstellationen der Interessenartikulation                             ­Solidarität zwischen ihren Mitgliedergruppen
durch Berufsgewerk­schaften. Das verbandsinter-                             herstellen und dabei erhebliche Probleme der
ne Gleichgewicht, welches Organisa­    tions­macht                          Vereinheitli­chung bzw. Mediatisierung hetero-
begründet, ist stets labil und muss vor und wäh-                            gener (Gruppen-)Interessen nicht nur in Kauf
rend der Tarifverhandlungen mit den Arbeitge-                               nehmen, sondern lösen; die verbandsinternen
ber_innen immer wieder hergestellt bzw. neu aus-                            Willensbildungsprozesse und Mechanismen
tariert werden.5                                                            haben eine gewisse Nivellierung hoher grup-
     Dieser Zusammenhang bzw. diese Funktions-                              penspezifischer Forderungen zur Folge.
logik lassen sich (in der Tradition Durk­heims) als                     – Berufsgewerkschaften hingegen, bei denen die
Solidarität bezeichnen, welche durch kollektive                             reine Größe weniger relevant für die Vertre-
Aktion Konkurrenz mindern oder eliminieren                                  tungswirksamkeit ist, können sich exklusive
und Identität sowie Selbstverständnis des Verban-                           Solidarität zugunsten der spezifi­schen arbeits-
des prägen soll. Anders formuliert: Gewerkschaf-                            und sozialpolitischen Belange ihres vergleichs-
ten müssen – wie alle anderen Organisatio­nen,                              weise homoge­   nen Klientels „leisten“, ohne
einschl. Verbände – stets ihre Organisations- bzw.                          besondere Rücksicht auf die Durch­setzung der
Repräsentations­domänen festlegen und ggfs. an-                             Interessen anderer Gruppen nehmen zu müs-
ders ausrichten. Dieses Problem löst sich keines­                           sen.6 Im Rahmen ihrer gruppen­      spezifischen
falls automatisch bzw. lautet nicht ob, sondern                            Politik können sie auf Markt­orientierung und
wie sie konkret die Zugangs­beschrän­­kungen bzw.                          „Leistungs­ kriterien“ bzw. Forderungen nach
Grenzen zwischen Gleichen oder Mitgliedern                                 „mehr Leistungs­gerechtigkeit“ zugunsten ihrer
und Ungleichen oder Nichtmitgliedern definie-                              Mitglieder („Gerechtigkeit statt Gleichmache-
ren bzw. organisieren; das Ziel ist, Kontrolle über                        rei“) abstellen. Im Erfolgsfall erweitern sie das
den Arbeitsmarkt durch Zugangsbeschränkungen                               ohnehin gegebene Ausmaß der Entgelt­         diffe­
zu erreichen. „Die Grenzziehungen der gewerk-                              renzierung bzw. vergrößern die Unterschiede
schaftlichen Inklusion sind auch die Grenzen der                           in den Arbeitsbedingungen.
Exklusion. Die wahrgenommenen gemeinsamen                               Das latent stets vorhandene Problem einer „Ent-
Interessen der Mitglieder einer bestimmten Ge-                          solidarisierung“ von Mit­gliedern ist im Fall in­
werkschaft […] werden teilweise auch im Gegen-                          klusiver Solidarität schwieriger zu lösen. Mit
satz zu denen der Arbeitnehmer außerhalb be-                            dem Zusammen­schluss von Industrie- zu Multi­
stimmt. Indem sie Arbeitnehmer abspalten, ha-                           branchen­gewerkschaften wächst mit den Mitglie-
ben die Gewerkschaften traditionell Solidarität                         derzahlen quasi automatisch das Ausmaß der
gespalten“ (Hyman 2001: 170).                                           Interessen­ heterogenität. In dieselbe Richtung
     Im nächsten, auf diese Differenzierung be­                         wirken weitere Änderungen relevanter Umwelt­
zogenen Schritt der Analyse unter­scheiden wir in                       bedingungen (wie Privatisierungs­maßnahmen in

5    Ein „klassisches“ Beispiel stammt aus dem öffentlichen Dienst, wo ein Transfer von Verhandlungs­macht von den durchsetzungsfähigen
    Gruppen, wie Müllwerker_innen und Bus- oder Bahnfahrer_innen, auf die in dieser Hinsicht schwachen Gruppen, u. a. Mitarbeiter_in-
    nen der Stadtverwaltungen, stattfand. Der ÖTV gelang es trotz gewisser Konflikte über viele Jahre, in den einzelnen Tarifrunden die
    differieren­den Interessen ihrer Mitgliedergruppen auszutarieren bzw. Verhandlungsmacht umzuverteilen.
6    In einer offiziellen Verlautbarung der VC liest sich dieser Zusammenhang folgender­maßen: „Die Erfahrungen der letzten 30 Jahre in der
    Luftfahrttarifpolitik haben gezeigt, dass sich die Großgewerkschaften zunehmend von den Funktions- und Führungseliten in ihren
    ­Tarifbereichen entsolidarisiert haben. Berufsgruppenbezogene Tarifpolitik war dem Prinzip der Nivellierung auf dem kleinsten ge­
     meinsamen Nenner gewichen. Dies ging insbesondere zu Lasten der Entwicklung der Cockpitarbeits­bedingungen“ (Tarp 2008: 402).

                                                                                                                                              11
WISO
 Diskurs                                                                                                                   Friedrich-Ebert-Stiftung

           den Krankenhaus- und Verkehrssektoren, Inter­                            Störpotenzial von Produzent_innen korreliert die
           natio­nalisierung der Wirtschaft oder Erweite­rung                       Betroffenheit von Konsument_innen im Sinne
           der Politikfelder bzw. des Themenspektrums).                             von Dritt- bzw. Fernwirkungen, auf die wir später
           Derartige Komplexitäts­    steige­
                                            rungen stellen die                      eingehen.
           „allgemeinen“ Gewerkschaften vor neuartige                                     Die Funktions- sind häufig auch Qualifika­
           Probleme, u. a. in Hinblick auf ihre politische Le-                      tionseliten, was aber entgegen häufig geäußerten
           gitimität, auf die sie in ihren inner­verbandlichen                      Vermutun­gen nicht immer der Fall sein muss.8
           Willensbildungs­prozessen reagieren müssen, de-                         Sämtliche behandelten Beschäf­       tigtengruppen
           nen sie aber kaum gerecht werden können. Zu-                            ­gehören jedoch zu den Funktions­eliten. In öko-
           dem wird für diese großen Gruppen die Herstel-                           nomischer Perspektive sichert ihre – zumindest
           lung inklusiver Solidarität schwieriger infolge                          nicht kurzfristig zu behebende – Knappheit am
           isolierter Aktionen kleiner Berufsgewerk­schaften,                       Arbeitsmarkt ihnen erheblichen Einfluss bzw.
           die sich nicht länger in „solidarisches“ Verbands-                       Durchsetzungsfähigkeit ihrer Interessen. Auch
           handeln einbinden lassen.                                                ihr Ersatz durch externe „Streikbrecher_innen“
                                                                                    scheidet im Gegen­satz zu anderen Branchen aus.
                                                                                          In einer anderen Terminologie der Sozialwis-
           2.3 Vertretung und Durchsetzung von 		                                   senschaft haben diese Funktions­eliten aufgrund
               Interessen                                                           ihrer Positionie­rung in Schlüsselposi­ tionen er-
                                                                                    hebliche Markt- und Primär­macht. Infolge ihres
            Das dritte Teilproblem der Handlungs- bzw. Orga-                        Zusammenschlusses zu Verbänden verfügen sie
            nisationsfähigkeit von Verbänden besteht in der                         über eine weitere notwendige, kollektive Voraus-
            externen Vertretung und Durchsetzung von In­                            setzung, nämlich über Organisa­tions­­­macht. Die
            teressen. Als Voraus­setzung für verbandsmäßige                         Verbände können diese Ressourcen zur Durchset-
            Repräsen­ tation gesell­
                                   schaftlichen Interesses gilt                     zung ihrer gruppen­   spezifi­
                                                                                                                 schen Interessen nut-
           die Organisations- und Konfliktfähigkeit eines                           zen, was sie seit den 2000er Jahren unter verän-
           ­gesellschaftlichen Bedürfnis­ses. „Konfliktfähigkeit                    derten Rahmenbedingungen auch tatsächlich
            beruht auf der Fähigkeit einer Gruppe bzw. der ihr                      tun. Die Aktivie­rung dieses Droh­potenzials bzw.
            entspre­chenden Funktionsgruppen, kollektiv die                         die zur Interessendurchsetzung notwendige Mo­
            Leistung zu verweigern bzw. eine system­relevante                       bilisie­
                                                                                           rung ihrer Mitglieder gelingt kleinen
           Leistungsverweigerung glaubhaft anzu­       drohen“                      Berufsgewerkschaften aufgrund der geringen
                                                                                    ­
           (Offe 1974: 276). Kleine Verbände verfügen über                          Gruppen­größe bzw. der dichten und schnellen,
           hohes Konflikt- und Störpotenzial, wenn ihre                             formalen wie informellen Kommunikationsmög-
           Mitglieder in Schlüssel­  positionen von Produk­                         lichkeiten sowohl zwi­schen den Mitgliedern als
           tions­prozessen oder -ketten tätig sind und daher                        auch zwischen Verbandsführung und Mitglie­
           nicht – oder zumindest nicht kurzfristig und                             dern eher und besser als großen Gruppen wie In-
           nicht vollständig – ersetzt werden können.7 Diese                        dustriegewerkschaften. Die Organisationsform
            Handlungsoptionen basieren auf der gruppen-                             spezifischer Interessen spielt also eine wesent­
            spezifischen Position auf Arbeits­   märkten und                        liche Rolle in der Tarifpolitik.
            werden über Produkt­märkte vermittelt. Mit dem

           7   „Die Piloten haben eine strategische fachliche Stellung bei den Fluggesellschaften. Die Fluglinien können ohne sie nicht betrieben wer-
               den, und die Investitionen in ihre Ausbildung sind umfangreich, so dass ein Ersatz während Streiks eigentlich unmöglich ist“ (Johnson
               2002: 22). Eine Studie über Fluglotsen kommt zu folgendem Schluss: „Durch die Kontrolle über stark spezialisierte Funktionen in einer
               Schlüsselrolle des Luftverkehrs erreichte die Gruppe sehr hohe Konfliktfähigkeit. Sie konnte in allen […] Phasen der Auseinandersetzung
               ihr großes Störpotential ausnutzen und durch wesent­liche Beeinträchtigung des Luftverkehrs über die betroffene Bevölkerung starken
               Druck auf die Bundesregierung ausüben“ (Lange 1990: 144).
           8   Dieser prima facie überraschende Sachverhalt lässt sich am Beispiel der Lokführer_innen belegen, die neben einem mittleren Bildungs-
               abschluss nur eine mehrmonatige Ausbildungszeit zu absolvieren haben (Schmidt 2008; Schroeder et al 2011).

    12
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                   WISO
                                                                                                                                    Diskurs

3. Ziele der Berufsgewerkschaften und Optionen der übrigen Akteure

Nach den organisatorischen Bedingungen und                        und -bereitschaft mehr oder weniger spektakulär
organisationstheoretischen Vor­aus­setzungen einer                gegenüber Arbeitgeber_innen und Öffentlichkeit.
Renaissance von Berufsgewerkschaften behan-                       Aufgrund ihrer Mitgliedschaft in früheren Tarif­
deln wir ihre mittel- und langfristigen Ziele sowie               gemein­schaften sowie deren Ausschüssen verfü-
die Handlungsoptionen der anderen Akteure,                        gen sie über umfang­reiche Verhandlungs­erfahrun­
d. h. der Industriegewerkschaften und Arbeitge-                   gen, die sie nunmehr zu nutzen wissen; schließ-
ber_innen. Oder, in der Terminologie der Ver-                     lich wissen sie um ihre Einflussmöglichkeiten.
bandsforschung: Nach den Dimensionen der                               Sie nehmen in diesen Prozessen nahezu den
Mitgliedslogik wenden wir uns der Einflusslogik                   Charakter von „business unions“10 angelsächsi-
zu (zuerst Child et al. 1973). Wir verschie­ben – in              schen Typs an und werden in ihren Organizatio-
Anbetracht hoher und stabiler Organisations­                      nal Domains zu Konkurren­tinnen der Industrie-
grade – den Schwer­   punkt der Analyse von der                   gewerkschaften. Sie sind nicht nur Nutzen­
intern-vertikalen zur extern-horizontalen Struk-                  maximiererinnen ihrer Mitglieder im strikt öko-
turdimension – auf Ziele und Ergebnisse der                       nomischen Sinn (in Bezug auf Einkommen,
­Interessendurchsetzung.                                          Arbeitszeiten), sondern verfolgen auch eigenstän-
                                                                  dige organisatorische Ziele (wie Anerkennung als
                                                                  Verhandlungspartnerinnen und Überleben des
3.1 Generelle und spezifische Ziele                               eigenen Verbands).
                                                                       Durch den erstmaligen Abschluss eines auto-
In analytischer Perspektive besteht das vorran­                   nomen Spartentarifvertrages („funk­tionsgruppen­
gige Ziel der Berufsgewerkschaften zunächst im                    spezifischer Tarifvertrag“) erreichen diese Verbän-
Abschluss autonom-eigenständiger Tarifverträge                    de eine deutliche Aufwertung ihres Status durch
für ihr Klientel und nicht – oder in organisations-               die offizielle Anerkennung ihrer Unabhängigkeit
politischer Perspektive zumindest nicht aus-                      bzw. Eigenstän­digkeit. Hinter diesen einmal er-
schließlich – in möglichst weitgehenden Verbes-                   reichten Stand der Profilierung sowohl gegen­über
serungen einzelner Arbeitsbedingungen (vor al-                    konkurrie­renden Gewerkschaften als auch Arbeit­
lem der Entgelte und Arbeitszeiten) im Rahmen                     geber_innen sowie der Legitimierung gegenüber
geltender Kollektiv­verträge.                                     der Öffent­lichkeit führt kein Weg mehr zurück.
     Zuerst beenden sie nach längeren Überle-                     Die auf die ersten gruppenspezifischen Abschlüs-
gungen und verbandsinternen Diskussio­nen die                     se folgenden Verträge von VC, MB und GDL bele-
seit Jahren bestehenden, eingespielten Verhand-                   gen diesen Sachverhalt.
lungs- bzw. Tarifgemein­  schaften mit Industrie­                      Diese substanzielle Veränderung des Status
gewerkschaften.9 Nach Vollzug dieser Trennun-                     hat nicht nur symboli­schen Charakter und bleibt
gen insistieren sie auf separaten Verhandlungen                   bestehen, zumal diese Verbände ihre Streik­
für die von ihnen vertretenen kleinen Gruppen,                    fähigkeit nicht nur im Sinne einer Streik­drohung
die aus­ nahmslos in Schlüssel­   positionen tätig                behaupten bzw. durch Warnstreiks andeuten,
sind; sie demonstrie­  ren ihre Konflikt­ fähigkeit               sondern auch durch Streiks wiederholt und

 9 VC mit DAG bzw. ver.di, GdF mit ver.di, MB mit ver.di, GDL mit Transnet und Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamten und
   ­Anwärter (GDBA).
10 Im Gegensatz zu Industrie- oder Multibranchengewerkschaften kleine, auf das einzelne Unternehmen bezogene Gewerkschaften, die
    homogene, vor allem ökonomische, Interessen ganz bestimmter Arbeitnehmer_innengruppen vertreten und nicht politisch sondern
    wie Unternehmen handeln.

                                                                                                                                   13
WISO
 Diskurs                                                                                                                 Friedrich-Ebert-Stiftung

             Tabelle 2:

             Berufsgewerkschaften: Gründungsjahr und erste Tarifverträge

                               Verband                                       Gründungsjahr                         Erster Tarifvertrag
                               Cockpit                                           1969                                     2001
                                 GDL                                             1867                                     2007
                                 GdF                                          1952 / 2004                                 2004
                                 MB                                              1947                                     2006
                                 UFO                                             1992                                     2002

              Quelle: Lesch 2010a, 1; Greef/Speth 2013: 13; Bispinck 2015.

           ­ irkungsvoll gegenüber Arbeit­
           w                                  geber_innen und                           ge bezieht sich nicht auf die bloße Existenz, son-
           Öffentlichkeit demonstrie­    ren. Ihr neuer Status                          dern auf die aktuellen Aktionen der Berufsge-
           einer Berufsgewerkschaft unter­
           ­                                     scheidet sich                          werkschaften.
           wesentlich vom alten eines ausschließlich auf
           ­                                                                                 Die in der öffentlichen Diskussion vorge-
           Lobbying und Aktivitäten im Ver­bund mit an­                                 brachten Erklärungsversuche verweisen generell
           deren Gewerkschaften ausge­      rich­
                                                teten Standes-                          auf „Integrationsdefizite“ berufsspezifischer und
           bzw. Berufs­verbandes. In organisationspolitischer                           qualifizierter Interessen bzw. ein „Versagen der
           Sicht ist ihr strate­   gisches Ziel nicht nur der                           DGB-Organisa­tionen mit ihrem Allein­vertre­tungs­­
           Bestands­siche­­­­rung, sondern sogar der Statusauf-                         anspruch“ (Viering 2008, 34), vor allem auf den
           wertung auf Dauer erreicht; aus der Perspektive                              Übergang von Industrie- zu Multibranchen­         ge­
           der Industrie­gewerkschaften hingegen etabliert                              werk­ schaften, konkret auf die Gründung von
           sich die Konkurrenz­organisation dauerhaft. Da-                              ver.di.11 Diese Annahmen besagen, dass die Be-
           mit entfällt zugleich der Anlass des machtpoli­                              rücksichtigung spezifischer Gruppen­      interessen
           tischen Grundsatzkonflikts über die Anerken-                                 mit zunehmen­     der Verbandsgröße und damit
           nung, was spätere interessenpolitische Konflikte                             wachsender „Anonymität“ schwieriger wird.12
           in einzelnen Tarifrunden nicht ausschließt.                                  Ge­legentlich mutiert diese Vermutung zum
                                                                                        „ver.di bashing“ und wird mehr oder weniger ex-
                                                                                        plizit als deren strategisches Versäumnis bezeich-
           3.2 Aktuelle Bezüge                                                          net, auf gruppen­spezifische Interes­sen stärker ein-
                                                                                        zugehen (Sachverstän­digenrat 2010: Ziffer 501).
           Eine wesentliche Frage ist noch nicht beantwor-                                   Eine gewisse Plausibilität eines Zusammen-
           tet: Warum haben die Berufsgewerk­schaften, die                              hangs zwischen der ver.di-Gründung (2001) und
           aus­nahmslos auf eine lange Geschichte zurück-                               dem Erstarken bzw. den Arbeitskämpfen zunächst
           blicken können, nicht schon (wesentlich) früher                              der VC Cockpit (2001), später des MB (2006) jen-
           als in den 2000er Jahren „Standesbewusstsein“                                seits einer rein zeitlichen Koinzidenz mag gege-
           entwickelt und ihre Durchsetzungs­fähigkeit de-                              ben sein. Für größere Gewerk­schaften, die durch
           monstriert bzw. auf ihre offensichtlich vorhan­-                             Zusammen­schlüsse definitionsgemäß entstehen,
           de­nen Machtressourcen zurückgegriffen? Die Fra-                             nimmt die Schwierigkeit zu, mehr und hetero­

           11 Vgl. Müller et al. (2002: 105ff.); Schroeder et al. (2008: 38, 60); Greef/Speth (2013: 17); Silvia (2013: 164f.).
           12 Müller/Wilke (2008: 32; ähnlich 2006: 324f.) vertreten die These, „dass Mitgliedergruppen nicht einfach aus opportunistischen Gründen
              den bestehenden Solidarzusammenhang verlassen, sondern weil die in deutschen Tarifwerken ausgeprägte Nivellierungstendenz durch
              das Eingehen von Sanie­rungstarifverträgen aus ihrer Perspektive eine dramatische Verschärfung erfährt“.

    14
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                                                          WISO
                                                                                                                                                                           Diskurs

genere Gruppeninteressen in ihre (Tarif-)Politi-                                   Plausibler erscheint die Annahme, dass ein
ken zu integrieren. Beschäftigten­gruppen, die be-                            Zusammenhang besteht mit den seit den frühen/
reits über eigene Organisations­   erfah­rung verfü-                          mittleren 1990er Jahren deutlich rückläufigen
gen und sich, wie erwähnt, in Schlüsselpositio-                               Mitglieder­ zahlen bzw. Organisa­  tionsgraden der
nen von Produktions­prozessen befinden, können                                Industriegewerkschaften sowie der dadurch be-
versuchen, von dieser Situation zu profitieren.                               dingten Abnahme ihrer externen Verhandlungs-
     Dieser Begründungsversuch über Zusam-                                    macht bzw. internen Bindungskraft. Im Gegen-
menschlüsse von Gewerkschaften, die eine Erklä-                               satz zu diesen Entwicklungen bleiben die Mitglie-
rung gewissermaßen nach dem Schema oszillie-                                  derzahlen der Berufs­  gewerkschaften stabil oder
render Röhren liefern soll, trifft allerdings im Fall                         nehmen sogar leicht zu. Weiterhin war früher bei
von Transnet bzw. GDBA und GDL definitiv nicht                                einigen Verbänden (wie der GDL) der Anteil der
zu, da die (Betriebs-)Gewerkschaft der Eisenbah-                              nicht streikberechtigten Beamten an den Mitglie­
ner Deutschlands (GdED), die Vorgänger­organi­                                dern erheblich höher. Daher konnte die seit der
sa­
  tion von Transnet (Transport, Service, Netze),                              Liberalisie­rung von Teilen des öffentlichen Diens-
sich trotz ursprünglich anderer Absichten ver.di                              tes offensichtlich gegebene Verhandlungs­macht
bewusst nicht anschloss (Keller 2004), sondern                                früher nicht – oder nur begrenzt – eingesetzt wer-
selbst­
      ständig blieb (http://www.transnet.org/                                 den, ohne erhebliche rechtliche Sanktionen durch
TRANSNET/wir); die GDL setzte 2007/2008 ihre                                  die zuständigen Gerichte befürchten zu müssen.
Unabhängigkeit durch (Hoffmann/Schmidt 2008).                                 Insofern haben sich die Gelegenheitsfenster für
Außerdem bleibt bei dieser allgemein gehaltenen                               diese Organisationen zugunsten eigenständig-
Erklärung einer zeitlich parallelen Entwicklung                               autonomer Aktionen verändert.
größerer und kleinerer Verbände un­geklärt, wa­                                    Schließlich ist der Einfluss von Deregu­   lie­
rum andere Zusammenschlüsse von Gewerkschaf­                                  rungs­- und Privatisierungsmaßnahmen zwar nicht
ten, wie der zur IG BCE, nicht zu ähnlichen Kon-                              eindeutig zu belegen; mehrere der behandel­     ten
sequenzen in deren Organisations­      domänen ge-                            Branchen waren allerdings in den 1990er Jahren
führt haben.                                                                  von derartigen Maß­     nahmen direkt betroffen

 Abbildung 1:

 Mitglieder in DGB-Gewerkschaften von 1950 bis 2012

                             12.000                                                                                                     45

                                                                                                                                        40
                             10.000
                                                                                                                                        35
                                                                                                                                               Organisationsgrad (in %)
  Mitgliedschaft (in Tsd.)

                              8.000                                                                                                     30

                                                                                                                                        25
                              6.000
                                                                                                                                        20

                              4.000                                                                                                      15

                                                                                                                                        10
                              2.000
                                                                                                                                         5

                                 0                                                                                                       0
                                      1950
                                      1952
                                      1954
                                      1956
                                      1958
                                      1960
                                      1962
                                      1964
                                      1966
                                      1968
                                      1970
                                      1972
                                      1974
                                      1976
                                      1978
                                      1980
                                      1982
                                      1984
                                      1986
                                      1988
                                      1990
                                      1992
                                      1994
                                      1996
                                      1998
                                      2000
                                      2002
                                      2004
                                      2006
                                      2008
                                      2010
                                      2012

                                                   Mitglieder                           Organisationsgrad

  Quelle: Schroeder, Wolfgang; Greef, Samuel (2014): Struktur und Entwicklung des deutschen Gewerkschaftsmodells, in: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.):
          Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, 2.Aufl. Wiesbaden, 130.

                                                                                                                                                                          15
WISO
 Diskurs                                                                                         Friedrich-Ebert-Stiftung

           (Richter-Steinke 2011; Kalass 2012; Kahmann            1993). Inzwischen finden sowohl formal als auch
           2015). Daher gilt: „Das Phänomen der Sparten­          inhaltlich getrennte Verhandlungen statt, die zu-
           gewerk­schaften ist [...] eine Folge der Neugestal­    nehmend zu unter­schiedlichen Ergebnissen füh-
           tung der Rahmen­bedingungen auf den Produkt-           ren (Keller 2010).
           märkten. Spartengewerk­      schaften konzentrieren         Diese Entwicklungen haben deutliche Verän-
           sich in Deutschland auf Unternehmen des Ver-           derungen der etablierten, branchen­    spezifischen
           kehrs- und Gesundheitssektors (Luftverkehr,            Kollektivverhandlungen sowie Verschlechterun-
           Bahn, Krankenhäuser), treten also folglich auf         gen der Arbeitsbedingungen (u. a. Verdichtung
           Produktmärkten auf, auf denen lange Zeit mono-         und Flexibilisierung) und einen massiven Abbau
           polartige Strukturen herrschten“ (Monopolkom-          von Arbeitsplätzen zur Folge (als Fallstudie zur
           mission 2010: Par. 127).                               Bahn Nickel et al. 2008). Die erheblichen, von
                 Die aktuelle Diskussion konzentriert sich –      den Arbeitgeber_innen initiierten Veränderungen
           erstaunlicherweise oder nicht – auf die Aktionen       der Umwelt­bedin­gungen in Richtung auf stärkere
           der Berufsgewerkschaften. Dabei sind auch Ar-          „Vermarktlichung“ der Arbeitsbedingungen wir-
           beitgeber_innen und ihre Verbände (mit-)verant-        ken auf die Arbeit­ nehmer_innenverbände bzw.
           wortlich für die eingetretene Situation verband­       deren Handlungsalternativen zurück, führen zur
           lichen Wett­bewerbs; sie sind daher in die Analyse     latenten Bedrohung einzelner Segmente ihrer Or-
           einzubeziehen, obwohl die organisatorischen Ver­       ganizational Domains sowie zu Unzufriedenheit
           änderun­  gen auf den ersten Blick ausschließlich      bei ihren Mitgliedern; weiterhin fördern sie ein
           aufseiten der Arbeitnehmer_innen stattfinden (ähn­     „Klima“, in dem For­  derungen prinzipi­  eller Art
           lich Bispinck/ Dribbusch 2008, Gall 2008). Die in      auf­gestellt und durchgesetzt werden.
           den vergangenen Jahrzehnten durch­        geführten         Anders formuliert: Die Berufs­verbände nutzen
           Maßnahmen der Reorganisation und Restruktu­            die Optionen der sich ihnen bietenden, günsti-
           rie­rung (u. a. Privatisierun­g und Ökonomisierung     gen sektor­spezifischen „Gelegenheitsstruk­turen“
           im Bereich von Krankenhäusern oder Ratio­        na­   zur Heraus­for­derung der Repräsentations­mono­
           lisierung bei der Deutschen Bahn) führen zu            pole von Industriegewerk­schaften und zur Verän-
           mehr Wettbewerb und erheblichem Kostendruck,           derung der traditionell beste­ henden Strukturen
           der durch domi­     nie­rende und durchsetzungs­       von Kollektivverhandlungen in ihrem Sinne.
           fähige Shareholder-Interes­sen an Gewinn­stei­ge­
           rungen in sämtlichen Geschäftsfeldern verstärkt
           wird. Außer­dem nimmt aufgrund dieses Wandels          3.3 Handlungsoptionen der anderen
           die Interessenhetero­    genität auch aufseiten der        Akteure
           Arbeit­geber_innen bzw. des Manage­­      ments zu.
           Hinzu kommen in einigen Fällen die günstigen           Die Akteure beider Seiten sind im Umgang mit
           Ertrags- bzw. Gewinn­situatio­nen der Unterneh-        dieser für sie neuartigen Konstellation von Rah-
           men nach vorherigen, deutlichen Zugeständnis-          menbedingungen und Interessen unerfahren,
           sen der Arbeit­nehmer_innen (etwa im Rahmen            was sich u. a. in bis dato langwierigen Sondie-
           betrieblicher Bünd­   nisse zur Sicherung von Ar­      rungsgesprächen und Absagen an offizielle Ver­
           beits­plätzen bei der Deutschen Bahn) sowie die        hand­ lun­­
                                                                           gen seitens der Arbeitgeber_innen, in-
           erheblichen Steigerungen der Vor­stands­gehälter       nerverbandlichen Konflikten und widersprüchli-
           sowie die nicht hinreichend publizierten Verein-       chen Äußerungen gegenüber der Öffentlichkeit,
           barungen von Bonuszahlungen.                           in der Einschaltung von Moderator_innen, Feh-
                 Vor ihrer Privatisierung Mitte der 1990er Jah-   len auf freiwilliger Basis geschlossener Schlich­
           ren übernahmen die ehemaligen Bundesvermö-             tungsverein­barun­gen mit geregel­tem Einlassungs­
           gen Bundesbahn und Bundespost in sogenannten           zwang, wiederholter öffentlicher Unterbreitung
           Nebenverhandlungen die Abschlüsse der Haupt-           von Ultimaten, Rück­nahme eingegangener Kon-
           verhandlungen des öffentlichen Dienstes mit we­        zessionen, martialischer Rhetorik sowie einer
           nigen bereichs­   spezifischen Änderungen (Keller      Personifi­
                                                                           zierung des kollektiven Konflikts auf

    16
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                        WISO
                                                                                                                                         Diskurs

Unzulänglich­keiten und Charakter­eigenschaften                            Industriegewerkschaften verfügen über fol-
der Verhandlungs­führer_innen der anderen Seite                      gende Optionen:
widerspiegelt.13                                                     – Sie bemühen sich zunächst, das organisatori-
      Die Handelnden entwickeln sich zu „strate­                        sche Erstarken der Berufs­      gewerk­schaften ­zu
gischen Akteuren“ in Anbetracht der – u. a. durch                       verhindern und, falls dieses Vorhaben nicht
Privatisie­rungs­maßnahmen eingetretenen – Um­                          gelingt, einen Modus Vivendi zu finden; dieser
weltveränderun­gen unter­schiedliche Optionen                           Versuch kann durch pragmatisch orientierte
mit dem Ziel, die neuen Unsicherheitszonen zu-                          Kooperation in zentralen Politikfeldern, vor
mindest in den Kernbereichen ihrer Organisa­                            ­allem in der Tarifpolitik, erfolgen.
tionsdomänen zu kon­trollieren und/oder zu ab-                       – Weiterhin versuchen sie, Mitglieder der kon-
sorbieren. Für ­   Industrie- oder Multibranchen­                        kurrierenden Organisa­     tion abzuwerben bzw.
gewerk­  schaften bedeutet der zunehmende Ein-                           durch Veränderungen in der eigenen Interes-
fluss einiger Berufs­gewerkschaften zunächst eine                        sen-, ins­beson­dere Tarifpolitik zu (re-)integrie-
Herausforderung, später in Einzelfällen eine la-                         ren.14 Wie eine „flexiblere“ und/oder differen­
tente Bedrohung nicht sämtlicher, aber einzelner                        zierende, auf jeden Fall dezentralisierte Ver-
Segmente ihrer Organisa­tions­­domäne und damit                         bandspolitik im Einzelfall konkret gestaltet
deren Bestands­stabilität bzw. -sicherung. Er stellt                    werden kann (etwa durch Einführung gruppen-
ihr etabliertes, nahezu hegemoniales und bis dato                       spezifischer Sonderregelungen wie „Fenstern“ in
recht effek­ tives Monopol der Interessen­  vertre­                     Flächen­  tarifverträgen), lässt sich nicht gene-
tung in diesen Segmenten infrage, verschärft die                        rell, sondern lediglich unter Berücksichtigung
latente Konkur­   renz um aktuelle wie potenzielle                      der Branchenbedingungen angeben.
Mitglieder – und damit um wichtige Ressourcen                        Die Mitgliedslogik von Industriegewerkschaften
wie Mitglieds­beiträge sowie Macht – und schafft                     basiert, wie darge­stellt, auf der Voraussetzung einer
neue Konfliktpotenziale bzw. -felder.                                gewissen Vereinheitlichung, welche die spezifi-
      Diese ambivalente Situation der Unsicher-                      schen Interessen einzelner Gruppen nicht (allzu)
heit innerhalb und zwi­schen Organisatio­nen ist                     dominant werden lässt. Eine weitgehende Aus­
unter den Rahmenbedingungen abnehmender                              differenzierung der Organisationsstrukturen, et­
Mitglieder­ zahlen bzw. Organisationsgrade und                       wa in Form der Entwicklung einer komplexen
dadurch knapperen, aber kritischen Verbands­                         Matrixstruktur mit zwei gleichberechtigten
ressourcen besonders problematisch. Als Reakti-                      Dimen­sionen, wie ver.di sie wählte (Keller 2004,
on auf diese Abhängigkeit erfordert sie risikorei-                   Waddington et al. 2005), mit dem Ziel einer
che Veränderungen vormals etablierter, standar­                      besse­ren Passung zwischen Verbandspolitik und
di­sierter Verfahren, zumal das strategische Han-                    Partikularinteressen einzelner Gruppen, reicht
deln der konkurrierenden Verbände auf­grund der                      zur Problembewäl­tigung nicht aus. Im Rahmen
prinzipiell begrenzten Rationalität nur bedingt zu                   der Mitgliedslogik geht es um Verbesse­rung der
prognostizieren ist. Auf jeden Fall ändern sich die                  „Pass­genauigkeit“ zwischen der notwendigerwei-
Austauschbeziehungen zwischen den Verbänden,                         se „nivellierenden“ Verbands-, ins­besondere Ta-
die notwendigen Lernprozesse der korporativen                        rifpolitik, um eine stärkere Berücksichti­gung von
Akteure benötigen Zeit.                                              Parti­kular­interessen einzelner Gruppen (Nivellie-
                                                                     rung vs. Differenzierung) zu ermög­lichen.

13 Nahezu legendär waren die monatelang andauernden, von beiden Seiten öffentlich geführten Auseinandersetzungen mit sehr persön­
   lichen Angriffen zwischen dem GDL-Vorsitzenden, Manfred Schell, und dem Chef der Deutschen Bahn, Hartmut Mehdorn, in den
   Jahren 2007 und 2008 (vgl. zur Selbsteinschätzung und Beispielen von Verbalinjurien Schell 2009: 171f., 181).
14 Eine Abwerbung von Mitgliedern sowie vor allem von Hauptamtlichen versuchte ver.di im Falle von UFO mit gewissem Erfolg, was eine
   Schwächung von UFO zur Folge hat (Bsirske 2008: 416). Insofern sind die Tendenzen einer Partikularisierung der Interessenverbände
   keinesfalls so unum­kehrbar, wie es prima facie den Anschein hat. Im Übrigen können Abwerbeversuche bzw. -kam­pagnen in meh­re­re
   Richtungen vorkommen, u. a. von Transnet oder ver.di zur GDL (Schell 2009: 159, 186). Sowohl individuelle Übertritte als auch mehr
   oder weniger organisierte Abwerbungen können eine Rolle spielen.

                                                                                                                                        17
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