Paraplegie - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
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paraplegie Das Magazin der Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung September 2012 / Nr. 143 / Standard Nur ein Ziel vor Augen: Gold! Marcel Hug hat sich für die Paralympics hohe Ziele gesteckt Ueli Maurer im Gespräch | Akutversorgung in Nottwil | Ein Tag mit Eveline Siegel
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Editorial Liebe Gönnerinnen und Gönner i n Goethes «Faust» findet sich der Satz: «Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.» Geschrieben vor mehr als 200 Jahren, fasst diese Aussage auch etwas ganz Wesentliches für die Mitarbeitenden der Schweizer Paraplegiker-Gruppe zusammen: Die Aufgabe nämlich, ein Werk nie als vollendet zu betrachten, sondern dessen kontinuierliche Weiterentwicklung aktiv anzugehen. Unter dem Schirm der 1975 von Guido A. Zäch gegründeten Schweizer Paraplegiker- Stiftung ist ein einzigartiges Leistungsnetz für die ganzheitliche Rehabilitation von querschnittgelähmten Menschen entstanden. Es hat Tausenden von Betroffenen geholfen, in ein selbstbestimmtes Leben zurückzufinden. Die erfreulichen Erfolge zielgerichteter Arbeit über bald vier Jahrzehnte sind Genugtuung; aber kein Anlass, sich mit dem bisher Erreichten zu begnügen und dieses nur noch zu verwalten. Alle, die heute Verantwortung tragen, sind vielmehr aufgefordert, die sich wandelnden Bedürfnisse der Patienten abzu- holen und neue Antworten in einem sich ständig verändernden Umfeld zu finden. Beides betrifft auch die Rekrutierung von neuen Mitgliedern der Gönner-Vereinigung. Um die jungen Menschen zu erreichen und für einen Solidaritätspakt zu gewinnen, müssen wir uns moderner Kommunikations-Instrumente bedienen. Die Erkenntnis, einen gemeinsamen Auftrag den neuen Anforderungen entsprechend weiterzuführen, bildet die Grundlage für die Zukunft. Wenn Innovationsgeist und Verän- derungswille bestimmende Faktoren unserer Tätigkeit sind, lassen sich die bevorstehenden Herausforderungen meistern. Gleichzeitig wissen die Gönner das «Ererbte» in guten Händen. Ihr Vertrauen ist unser Kapital. In diesem Bewusstsein will ich meine neue Aufgabe als Direktor der Schweizer Paraplegiker-Stiftung wahrnehmen. Joseph Hofstetter Direktor Schweizer Paraplegiker-Stiftung IMPRESSUM: Paraplegie. Das Magazin der Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, www.paraplegie.ch 36. Jahrgang. Ausgabe: September 2012 / Nr. 143, West | Erscheinungsweise: vierteljährlich in Deutsch, Französisch und Italienisch | Gesamtauflage: 1‘018‘000 Exemplare | Auflage West: 232‘000 Exemplare | Copyright: Abdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin und der Redaktion. Herausgeberin: Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, 6207 Nottwil, sps@paraplegie.ch | Verantwortlich: Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Unternehmenskommunikation, 6207 Nottwil | Redaktion: Roland Spengler (Leitung), Christine Zwygart. Bild: Walter Eggenberger, Beatrice Felder, Astrid Zimmermann-Boog, redaktion@paraplegie.ch | Layout: Regina Lips, Karin Distel | Anzeigen: Fachmedien Axel Springer Schweiz AG, 8021 Zürich, info@fachmedien.ch | Vorstufe/ Druck: Swissprinters AG, 4800 Zofingen. Paraplegie, September 2012 |3
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Inhalt 7 News 250 Hilfshunde hat der Verein «Le Copain» bisher ausgebildet und an Behinderte abgegeben. Jubiläumshund Inca begleitet neu SPS-Präsident Daniel Joggi. 12 Marcel Hug Er ist ein Modellathlet schlechthin – und momentan kaum zu schlagen. Der 26-jährige Thurgauer freut sich auf die Paralympics in London und hat ein klares Ziel: Gold holen. 18 Ueli Maurer Der Sportminister wird die Behindertensportler an den Paralympics besuchen. Im Gespräch erzählt der Zürcher, wie er seine Hemmungen gegenüber Rollstuhlfahrern überwunden hat. 22 Die ersten Stunden im SPZ as Leben kann sich von einer Sekunde auf die andere ändern. Ein D Unfall, der Transport ins Spital, diverse Untersuche – und dann die Diagnose: Querschnittlähmung. Die Akutversorgung eines Frisch verletzten kann den weiteren Verlauf beeinflussen. Was geht in Betroffenen vor? Wie reagieren Angehörige? Und was passiert in den ersten Stunden im Schweizer Paraplegiker-Zentrum? 28 Zeit haben, zuhören, begleiten Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum arbeiten zwei Seelsorgerinnen. Sie helfen Patienten wie auch Angehörigen bei Sinn- und Lebensfragen. 32 Mein Tag im Rollstuhl Eveline Siegel-Hegi schaut jeden Tag bei ihrem Pferd Bumby im Stall vorbei. Mit dem Irish Tinker geht die Aargauerin oft spazieren oder fährt Kutsche. 34 Finale Ansichten zum Thema Party- und Musik-Sommer von Martin Senn. Paraplegie, September 2012 |5
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nEws Mehr Autonomie. Acht Ein Freund fürs leben behinderte Menschen haben vom Verein «Le Copain» einen Hilfshund erhalten. Der Verein «Le Copain» bildet seit 19 Jahren Hilfshunde für behinderte und kranke Menschen aus. Die Vierbeiner verstehen bis zu 50 Befehle und sind in der Lage, unterschied- lichste Aufgaben zu erledigen: beispielsweise Türen öffnen, Gegenstände vom Boden Ambulatorium in aufheben oder das Licht einschalten. An einer kleinen Feier in Nottwil überreichten die Verantwortlichen des Vereins den 250. Begleithund an Daniel Joggi, Präsident der Schweizer der Westschweiz Paraplegiker-Stiftung (SPS). «Das ist ein phantastisches Geschenk», bedankte sich der Tetraplegiker. Sein neuer Begleiter heisst Inca, ist ein Golden Retriever-Rüde und zweiein- Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) und halb Jahre alt. Insgesamt erhielten acht behinderte Menschen einen Hund. die Institution de Lavigny spannen für ein Pilot- Die SPS unterstützt «Le Copain» seit vielen Jahren. Der Verein übernimmt die Erziehung projekt zusammen. In den Räumlichkeiten der der Hunde, die in einer Gastfamilie aufwachsen. Mit 15 Monaten kommen die Vierbeiner «Site Plein Soleil» in Lausanne wurde ein Am- nach Granges VS ins Schweizerische Zentrum für die Ausbildung von Hilfshunden, wo sie bulatorium für querschnittgelähmte Menschen die verschiedenen Befehle und Aufgaben intensiv trainieren. «Unser Ziel ist es, behinderten eröffnet. Hier können Rollstuhlfahrer aus der Menschen dank des Hundes wieder eine gewisse Autonomie zu geben – und einen Freund Westschweiz neu zur Jahreskontrolle kommen fürs Leben», sagt Präsident Charles-Albert Antille. und erhalten wohnortsnah Hilfe bei gesund- heitlichen Problemen. Betreut werden sie von einem Team des Schweizer Paraplegiker-Zen- trums (SPZ) Nottwil, bestehend aus einem Arzt splitter und je einer Physio- sowie Ergotherapeutin. Sie Im Tessin gibt es einen neuen Rollstuhlclub. sind an fünf Tagen pro Monat in der Aussen- Er heisst «Gruppo Carrozzella Insuperabili» stelle tätig. Das Pilotprojekt läuft vorerst ein und wird von Walter Lisetto (Lugano) prä- Jahr. Die SPS erhofft sich davon eine noch bes- sidiert. Schweizweit sind es nun 27 Rollstuhl- sere Versorgung und Begleitung von Para- und clubs, die fast 11’000 Mitgliedern diverse Tetraplegikern in der Romandie. Dienstleistungen offerieren. Ratten mit durchtrenntem Rückenmark können ihre Hinterbeine, dank Elektrostimu- Ausgezeichnete Forscher lation und unterstütztem Lauftraining, wieder aus eigenem Antrieb bewegen. Dies ergaben Ein Team der Clinical Trial Unit des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) Nottwil neuste Studien unter der Leitung von Prof. wurde mit dem Forschungsförderpreis 2012 der DMGP (Deutschsprachige Medizi- Grégoire Courtine von der ETH Lausanne. nische Gesellschaft für Paraplegiologie) ausgezeichnet. Er gilt einer Studie, die den Die Forscher wollen die Methode nun für Verlauf des Knochenabbaus bei Menschen mit Querschnittlähmung untersucht. Menschen anwendbar machen. Entsprechende Erkenntnisse sind wichtig in der Entwicklung adäquater Therapien zur Reduktion der hohen Knochenbruchrate bei Querschnittgelähmten. Das Kontinenz- und Beckenbodenzentrum Den Schellenberg Preis für Forschung in Paraplegiologie erhielten Prof. Volker des SPZ Nottwil wurde als erste Einrichtung Dietz und Prof. Armin Curt. Sie teilen sich das Preisgeld von CHF 150’000 und ver- der Schweiz von der deutschen Kontinenz- wenden dieses für weitere Forschungsprojekte. Dietz war bis 2009 Direktor und gesellschaft zertifiziert. Menschen mit Quer- Chefarzt des Zentrums für Paraplegie Balgrist in Zürich, Curt ist sein Nachfolger. schnittlähmung leiden oft unter Blasen- und Darmfunktionsstörungen, deren Therapie spezialisierte KompetenzParaplegie, erfordert. September 2012 | 7
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namentlich nEws Edison Kasumaj (Stein am Rhein SH) und Patricia Keller (Waltenschwil AG) holten bei ihrem Debüt an einer Leichtathletik-EM der Elite-Behindertensportler gleich je einen Titel in der Klasse Sitting. Dank zwei weiteren Medaillen kam Kasumaj auf total drei Auszeichnungen, desgleichen Alexan- Premiere wie im dra Helbling (Ettiswil LU). Insgesamt holte die Schweizer Delegation 10 Medaillen. Bilderbuch Michelle Stillwell (Kanada) war die über- ragende Athletin an den Offenen Schweizer Rollstuhl-Leichtathletik-Meisterschaften. Sie fuhr zwei von vier neuen Weltrekorden und gewann, wie Shirley Reilly (USA) und Hannah Cockroft (Grossbritannien), je drei Rennen. Buntes Fest. Kinder und Erwachsene, Dominator im Feld der Männer war der Rollstuhlfahrer und Fussgänger waren bei der gelungenen Einweihung der Schweizer Marcel Hug mit vier Erfolgen. Er neuen Sport Arena Nottwil dabei. siegte, mit deutlichem Vorsprung, auch beim Rollstuhl-Marathon in Schenkon LU. Edith Wolf-Hunkeler (Dagmersellen LU) tat es ihm bei den Frauen gleich. Heinz Frei (Etziken SO) ist vom Internationa- len Paralympischen Komitee (IPC) für einen Sitz im Athletenrat nominiert worden. Er soll in diesem Gremium die Interessen der Hand- biker vertreten. Die Wahl findet demnächst in London statt. Karin Suter-Erath (Wettingen AG) und Sonja Häsler (Basel) drückten der EM im Rollstuhl-Badminton den Stempel auf. Die Schweizerinnen waren in drei Wettbewerben nie schlechter als Zweite. In Zahlen: Die rundum modernisierte Sport Arena Nottwil hat ihre Feuertaufe bestanden. Zweimal Gold und einmal Silber für Suter- Offiziell eröffnet wurde sie mit den Offenen Schweizer-Meisterschaften der Erath, dreimal Silber für Häsler. Rollstuhl-Leichtathleten, umrahmt von diversen anderen Attraktionen. Bei guten Bedingungen verfolgten die Besucher an zwei Tagen rund 180 Athleten aus Andreas Perez (Genf) bestritt als erster 25 Ländern aller Kontinente – und erlebten dabei spannende Wettkämpfe auf Schweizer einen Ironman-Triathlon für Topniveau. «Sport kann zu einem neuen, besseren Lebensgefühl verhelfen», Rollstuhlfahrer. In Brasilien brachte er den sagte Daniel Joggi, Präsident der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS), bei der Wettkampf – 3,8 km Schwimmen, 180 km stimmungsvollen Einweihungsfeier. Und Rollstuhlsportler Heinz Frei doppelte Handbike-, 42 km Rollstuhlfahren – in nach: «Ich appelliere an alle Athleten, mit gutem Beispiel voranzugehen und 16 Stunden und 35 Minuten hinter sich. andere zu motivieren.» Prominentester unter zahlreichen Ehrengästen war Bun- desrat Ueli Maurer. Wie Aktive, Trainer und Funktionäre aus dem In- und Ausland Ursula Schwaller (Düdingen FR), Handbike- zeigte sich der Sportminister von der Infrastruktur begeistert: «Jede Eröffnung Doppelweltmeisterin, und weitere Natio- einer Sportanlage, die höchste internationale Standards erfüllt, ist ein grosses nalkader-Mitglieder bekamen die seltene Plus.» Denn die Schweiz verfüge über zu wenig davon. Abschliessend segnete Gelegenheit zu ausgiebigen Tests im Wind- Pfarrer Josef Hochstrasser (Oberentfelden AG) die multifunktionale Wettkampf- kanal der RUAG (Emmen LU). Im Vorfeld stätte – damit sie unter einem guten Stern stehe: «Kraft, Freude, Fairness und der Paralympics wurden dort Materialien, Gesundheit erfülle all jene, die sich hier sportlich messen.» Ausrüstung sowie Position der Athleten auf Aerodynamik geprüft. Vereinzelt ergab sich eine Verbesserung der Windschlüpfrigkeit von rund 10%, was fallweise bis zu einer Minute an Zeitgewinn heissen kann. Paraplegie, September 2012 |9
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Luftiges Abenteuer agenda 2012 Der neu eröffnete Swiss Seilpark in Fiesch VS bietet eine Attraktion für Menschen im Rollstuhl. Einer der 31. august – 2. september insgesamt sechs Parcours ist nämlich so konstruiert, Schweizer Meisterschaft Rollstuhl-Tennis dass sie sich selber von Baum zu Baum hangeln Wohlen AG können. Möglich macht dies ein umgebauter Gleit- schirmsitz mit einer speziellen Beinpolsterung, die 15. September vor Verletzungen schützt. Eingehängt in die Seile Swiss Handbike-Day können Para- und Tetraplegiker das Erlebnis eines SPZ Nottwil Baumwipfel-Pfades ganz ohne Rollstuhl geniessen – Nationales Rollstuhlrennen dieser bleibt am Boden. Hinter der Idee steckt der Schweizer Meisterschaft Handbike Integrationsgedanke, dass Fussgänger und Rollstuhl- (Junioren) fahrer den Seilpark gemeinsam nutzen. Oder wie Steinen SZ Initiant Claudio Rossetti sagt: «Spass und Erlebnis Foto: Christian Pfammatter sollen keine Schranken kennen.» Entwickelt hat 19. / 20. September er die Vorrichtung zusammen mit der Schweizer 12. Kongress eHealthCare.ch Paraplegiker-Vereinigung (SPV), dem Dachverband GZI Nottwil der Rollstuhlfahrer. Mehr Infos unter www.sport-ferienresort.ch, 8. November Bereich Sport. Pflegesymposium, SPZ Nottwil Erlebnis pur. Der spezielle Sitz ermöglicht Rollstuhlfahrern das Abheben. 14. November Lesung von Felicitas Hoppe neuer direktor im amt Bibliothek, GZI Nottwil Joseph Hofstetter (Sursee LU) hat am 1. August das Amt des Direktors der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) übernommen. Der 51-jährige Jurist 15. November löste Daniel Joggi (Trélex VD) ab, der weiterhin Präsident des Stiftungsrates Vernissage Kunst-Ausstellung bleibt. In seiner neuen Funktion kann Hofstetter unter anderem auf die Erfah- (Bilder, Skulpturen usw.) von rung von 12 Jahren Tätigkeit für diverse Organisationen innerhalb der Victor Bisquolm, SPZ Nottwil Schweizer Paraplegiker-Gruppe (SPG) bauen. Die Aufgaben des SPS-Direktors umfassen das Führen der Stiftung und der ihr zugewiesenen Supportbereiche, 17. November die Koordination der Zusammenarbeit zwischen Stiftung, Tochter- und Part- Weihnachts-Markt, SPZ Nottwil nergesellschaften sowie die Leitung der Direktorenkonferenz. Zudem vertritt Hofstetter die Interessen der gemeinnützigen Institution nach aussen. Avantgarde So individuell wie Sie! © Ottobock · OK2583-M_CH_DE-01-1201 Besuchen Sie unsere Webseite und erfahren Sie mehr: www.ottobock.ch Wünschen Sie Unterlagen zum Avantgarde oder eine Adresse eines Fachhändlers in Ihrer Nähe? Rufen Sie uns an unter Tel. 041 455 61 71. www.ottobock.ch · suisse@ottobock.com · T 041 455 61 71 OK2583_210x94,5-M_CH_DE-01-1201.indd 1 01.02.12 15:00
ParalyMPics «Marcel hug ist ein ausnahmetalent» Ein Thurgauer startet durch. Marcel Hug ist ein Schweizer Hoffnungsträger bei den Paralympics in London. Dem 26-Jährigen gelingt im Moment fast alles. Beste Voraussetzungen also, um sein Ziel zu erreichen: eine Gold-Medaille. Text: Christine Zwygart | Bilder: Walter Eggenberger, Thomas Studhalter, Astrid Zimmermann-Boog s ein Markenzeichen: der silberne Helm. Sein Spitzname: «Swiss Silver Bullet», was so viel bedeutet wie Schweizer Silber- drei grösseren Brüdern auf dem Bauernhof seiner Eltern in Pfyn TG. «Ich bin in der Natur aufgewachsen und fühle mich draussen noch ersten Runden auf der Bahn drehte. Er fand schnell Freude an den Wettkämpfen, denn «die Sportart war mir bekannt, weil ich mal Geschoss. Doch eigentlich müsste er anders heute am wohlsten.» Ganz selbstverständlich eine Geschichte in einem Heftli darüber gele- heissen. Gold-Rakete vielleicht, oder Gold- half er als Bub bei der Kartoffelernte mit, nahm sen hatte». junge. Denn eines ist gewiss – wenn Marcel Eier aus und sammelte Äpfel vom Boden auf – Als Marcel zehn Jahre alt war, lernte er Nach- Hug mit seinem Rennrollstuhl über die Bahn so gut das mit seiner Behinderung eben ging. wuchstrainer Paul Odermatt kennen. Der flitzt, fährt er nicht selten auf Goldkurs. So hält Damit die Geschwister beim Spielen nicht Coach erkannte früh, dass der Junge im Sport der 26-jährige Thurgauer den Weltrekord über immer im Vorteil waren, kauften die Eltern weit kommen könnte: «Marcel war sehr auf- 800, 1500, 5000 und 10’000 Meter. «Ich mag zusätzlich noch einen alten Rollstuhl. «Meine merksam, interessierte sich und fragte viel.» die Dynamik der Rennen und geniesse den Brüder setzten sich dann da rein, und so Bis heute sei seine Bereitschaft ungebrochen, Rausch der Geschwindigkeit», sagt Hug. Mit kämpften wir auf Augenhöhe gegeneinander», auch in härtesten Momenten alles zu geben. über 30 Kilometern pro Stunde treibt er die erzählt Marcel. Die zwei, drei Stufen im Schul- Längst hat sich Hug zum Vorbild der Nach- Räder im Wettkampf vorwärts, einzig ange- haus waren anfangs, als der Bub noch mit wuchsfahrer gemausert. Und Odermatt amtet trieben durch die Kraft seiner Arme. Kein Schienen und an Krücken gehen konnte, kein heute als persönlicher Trainer, begleitet und Wunder, imponiert sein Oberkörper mit ath- Problem. «Doch mit der Zeit wurde das zu um- berät ihn – und betont: «Marcel ist ein Ausnah- letischen Formen, breiten Schultern und mus- ständlich.» Später baute ihm der Schulhaus- metalent.» kelbepackten Oberarmen. Er ist parat für die Abwart für den Rollstuhl eine Rampe. «Ich war Paralympics in London: «Ich möchte eine gut integriert und erwartete auch keine Son- Pionier in der Sportschule Gold-Medaille gewinnen. Und ich werde in derbehandlung.» Der Spitzenathlet wohnt dort, wo er trainiert: jedem Rennen darum kämpfen.» Damit der Bub den Umgang mit dem Rollstuhl in Nottwil. Hier lebt er gemeinsam mit Bruder erlernen konnte, besuchte er in den Ferien ein Patric und dessen Freundin in einer geräumi- Ein alter Rollstuhl für die Brüder Lager. «Dabei lernte ich den Rollstuhlsport gen Wohnung. «Das ist praktisch und erleich- Marcel Hug kam mit offenem Rücken (Spina kennen und durfte einen alten Rennrollstuhl tert den Alltag», sagt der Rollstuhlfahrer. Vor- bifida) zur Welt, seinen ersten Rollstuhl erhielt ausprobieren.» Marcel Hug erinnert sich noch mittags erledigt er meistens administrative er mit sieben Jahren. Er erinnert sich gerne genau an das eigenartige Gefährt – eine Art Aufgaben, betreut seine Homepage oder zurück an seine Kindheit, an die Zeit mit den Kiste auf vier Rädern – mit dem er damals die versendet bestellte Fan-Shirts. «Haushalten 12 | Paraplegie, September 2012
Fokussieren. Vor dem Rennen wärmt sich Marcel auf der Rolle auf, hört fetzigen Rock dazu (grosses Bild). Der Athlet mit Coach Paul Odermatt (r.) und Krafttrainer Peter de Regt (oben). Bei den Zuschauern ist Hug der Star, gibt Autogramme (Mitte) und nimmt Gratulationen entgegen (unten). Paraplegie, September 2012 | 13
gehört definitiv nicht zu seinen Lieblingsbe- feraten. Durch die Auszeichnung «Behinder- Entspannen. Daheim in Nottwil kochen Marcel und Bruder Patric schäftigungen», frotzelt Patric. Seinen kleinen tensportler des Jahres 2011» ist der Thurgauer ein paar Spiegeleier (l.). Seine Bruder beschreibt er als zielstrebig. «Im Sport nun zwar einem breiteren Publikum bekannt, Fan-Shirts verschickt der Sportler wohlverstanden, nicht im Kochen.» Über- doch rein finanziell gesehen habe ihm dies eigenhändig (r.). Auf dem Sofa im Wohnzimmer lässt sich gut haupt sei der Sport bei Marcel allgegenwärtig nicht viel gebracht. «Ich bin immer noch auf arbeiten – so betreut Hug beispiels- und beherrsche seinen Lebensinhalt. der Suche nach einem Auto-Sponsor.» weise seine Homepage selber. Hug war der erste Rollstuhlfahrer, der die Na- tionale Elite Sportschule Thurgau und später Der 12-Jahres-Plan das Sportler-KV in Luzern besuchte. Bei seinen Um 11.30 Uhr beginnt das erste von jeweils Mitschülern kam er gut an: «Sie zollten mir drei Trainings pro Tag. In der Turnhalle des Respekt und anerkannten meine Leistungen.» Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) Nott- Nach der Abschlussprüfung sammelte der aus- wil absolviert Marcel Hug einen Parcours, flitzt gebildete Kaufmann während eines Jahres im Slalom an Stangen vorbei, jongliert für erste Berufserfahrungen bei der Guezlifabrik mehr Geschicklichkeit, stählt mit Medizin- Hug AG («Wir sind nicht miteinander ver- bällen die Rumpfmuskulatur. «Pro Woche trai- wandt»), und im Januar 2010 machte Marcel niere ich 25 bis 30 Stunden intensiv, dazu kom- seinen Traum wahr: Berufssportler. Seither men fünf bis sechs Trainingslager pro Jahr», konzentriert er sich voll und ganz auf seine erzählt er. Am Nachmittag gehts draussen weiter auf der Leichtathletikbahn, am Abend «Ich trainiere 25 bis ebenso. «Wenn wir um 19.30 Uhr fertig sind, folgen Besprechungen mit dem Trainer.» Coach Odermatt räumt seinem Schützling 30 Stunden pro Woche» für die Paralympics gute Chancen ein, eine Medaille zu gewinnen: «Marcel hat eine her- ausragende Persönlichkeit, denkt in Rennen Karriere. Geht das finanziell? «Doch, doch, ich taktisch mit, kann enorm gut fokussieren.» komme über die Runde», meint er und doppelt Wenn am Tag X alles stimme, müsste er über nach: «Übrigens – ich beziehe keine IV-Rente.» 800, 1500, 5000 Meter oder im Marathon aufs Seinen Lebensunterhalt verdient sich der Ath- Podest fahren. Seit zwölf Jahren arbeiten die let mit Beiträgen von persönlichen Sponsoren beiden auf diesen Moment hin; mit dem Ziel, und dem Sportverband, Preisgeldern und Re- in London Gold zu holen. 14 | Paraplegie, September 2012
ParalyMPics In den letzten Monaten intensivierte Marcel Wettkampfstimmung zu versetzen und mich nicht zu sagen. Marcel will kein Aufsehen um Hug sein Krafttraining von zwei auf drei Mal zu konzentrieren.» sich machen, wirkt im Gespräch stets beschei- pro Woche, dazu kommt ein mentaler Aufbau. Die Fan-Gemeinde von Marcel Hug wächst mit den. So gesehen passt der silberne Helm eben «Im entscheidenden Moment ist es wichtig, jedem öffentlichen Auftritt. Der junge Mann doch perfekt zu ihm, mitsamt dem Spitz- auch im Kopf parat zu sein.» Sein Vater wird ist sympathisch, aufgeschlossen, ohne Staral- namen «Swiss Silver Bullet». Ein bisschen tief- ihn nach London begleiten, tageweise kom- lüren. Sein Herzenswunsch: «Mal ohne Renn- stapeln – aber im entscheidenden Moment men die Brüder dazu. Mit im Gepäck hat der rollstuhl in der Welt herumreisen.» Ans Meer Vollgas geben und auf die Überholspur wech- Athlet auf alle Fälle den MP3-Player mit seiner oder durch die USA. Er ist kein Mann der gros- seln. Und am Schluss doch als Goldjunge über Musiksammlung. Rockig-fetzige Songs fürs sen Worte, wirkt bisweilen gar zurückhaltend. die Ziellinie fahren. Training, meditative Stücke unmittelbar vor Vor allem wenns um sein Privatleben geht. «Ja, den Rennen. «Das hilft mir, mich ganz in ich bin in festen Händen». Mehr gebe es dazu Paraplegie, September 2012 | 15
ParalyMPics Anekdoten über Zufall, Zeremonie und Zeitnot Edith wolF-hunkElEr Bild: Eddy Risch 25 schweizer dabei Alter 40 Jahre Die Paralympics 2012 finden vom 29. August bis 9. September in London statt. Unter rund 4200 Teil- Wohnort Dagmersellen LU nehmern aus 150 Nationen – neuer Rekord – wer- Beruf Sportlerin und Mutter den in 20 Sportarten mehr als 500 Medaillensätze Behinderung Paraplegikerin seit vergeben. Die Schweiz stellt 25 Athleten (davon einem Autounfall im 19 im Rollstuhl) in sieben Disziplinen. 2008 gab es Februar 1994 elf Medaillen. Erfolge an Paralympics Das Swiss Paralympic Team 2012 2004 in Athen: Silber über 1500 und Sitting. Bogenschiessen: Magali Comte (Onex GE), 5000 Meter Philippe Horner (Archamps / F). – Leichtathletik: 2008 in Peking: Gold im Marathon Beat Bösch (Nottwil LU), Heinz Frei (Etziken und Bronze über 1500 Meter SO), Sandra Graf (Gais AR), Alexandra Helbling (Azmoos SG), Marcel Hug (Nottwil LU), Patricia Kel- ler (Waltenschwil AG), Bojan Mitic (Hochdorf LU), Manuela Schär (Kriens LU), Edith Wolf-Hunkeler Von der Pechmarie zur goldmarie (Dagmersellen LU). – Handbike: Jean-Marc Berset «Mit Paralympics verbinde ich starke Emotionen – vor allem (Bulle FR), Tobias Fankhauser (Hölstein BL), Heinz mit den Wettkämpfen in Peking 2008. Damals stürzte ich im Frei, Sandra Graf, Ursula Schwaller (Düdingen FR), Lukas Weber (Zürich). – Schiessen: Paul Schnider Rennen über 5000 Meter bei einer Massenkarambolage schwer. (Mels SG). – Tennis: Yann Avanthey (Champéry VS), Ich realisiert gar nicht, was da passierte, sondern lang einfach Daniel Dalla Pellegrina (Ennenda GL). – Tischtennis: plötzlich am Boden und dachte: NEIN! In mir war eine grosse Silvio Keller (Wallbach AG). Leere. Erst später merkte ich, dass ich Schürfungen und Quet- Standing. Leichtathletik: Christoph Bausch (Pfäf- schungen erlitten hatte. Mit Massagen, Salben und Medikamen- fikon SZ), Philipp Handler (Embrach ZH), Chri- ten versuchten die Betreuer ihr Bestes – und so startete ich ein stoph Sommer (Utzenstorf BE). – Rad: Annina Schillig (Steyr / Oe), Sara Tretola (Biberist SO). paar Tage später am Marathon. Ich habe bei einem Rennen selten Blinde. Schwimmen: Chantal Cavin (Bern). so gelitten und mit mir gehadert. Doch ich gab nicht auf, kämpfte, Delegationsleitung: Ruedi Spitzli (Chef), Christof holte auf. Und überholt gar; am Schluss gings um Sekunden. Baer, Roger Getzmann (Teamchefs), Matthias Und ich fuhr als Erste über die Ziellinie. Bei mir brach das totale Strupler (Arzt), Therese Müller (Administration), Gefühlschaos aus, ich war geschockt und glücklich zugleich. Urs Huwyler (Medien). Und dann wollte ich nur noch heim. Paralympics im TV: Diverse TV-Sender berichten re- Diesen Sommer begleiten mich mein Mann Mark und unsere gelmässig über die Wettkämpfe. Permanente Live- Tochter Elin an die Paralympics, denn der Sport ist bei uns Berichterstattung unter: http://www.youtube.com/ mittlerweile ein Familienprojekt. Und das haben wir vergangenen user/ParalympicSportTV Januar in Australiens Metropole Sydney geübt: Ich ging morgens Starkes Engagement der SPS ins Training, und irgendwo auf der fünf Kilometer langen Strecke Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) för- traf ich dann plötzlich auf Mark und Elin. Ich wusste nie, wann dert den Breiten- und Spitzensport für Menschen und wo. Das war so berührend. Den sportlichen Ehrgeiz habe ich mit Behinderung seit Jahren. Sie unterstützt die als Mami zwar nicht verloren, dennoch könnte ich mir nicht Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) bzw. vorstellen, ohne die beiden nach London zu reisen.» deren Abteilung Rollstuhlsport Schweiz. Weiter ist die SPS Premium Partner von Swiss Paralympic und Mitglied der gleichnamigen Stiftung. 16 | Paraplegie, September 2012
anstandsdame für rasierklinge «Ich habe vor gut zehn Jahren mit einem Ritual begonnen: Vor grossen Sport-Events lasse ich mir einen kleinen Kinnbart wachsen. Abrasiert wird die Haarpracht immer unmittelbar nach dem letzten Einsatz, noch in den Garderoben des Stadions. Als abergläubisch würde ich mich nicht bezeichnen, dennoch gehört diese Prozedur mittlerweile fix dazu. So auch an den Paralympics 2008 in Peking. Mein letztes Rennen stand kurz bevor, und ich machte mich auf den Weg in die Katakomben des Stadions. Mit dabei hatte ich eine Tasche mit Schuhen, Kleidern und einer Rasierklinge. christoPh soMMEr Wie bei einer Flughafenkontrolle durchleuchteten uniformierte Beamte Alter 39 Jahre Wohnort Utzenstorf BE mein Gepäck, entdeckten das ‹Messerli› – und dann ging’s los! Aufgeregtes Beruf Betriebsdisponent Geschrei, grimmige Gesichter, immer mehr Beamte formierten sich um Behinderung Linker Unterarm meine Tasche. Ich sprach Englisch, sie nur Chinesisch. amputiert seit einem Ein einheimischer Athlet half mir schliesslich beim Übersetzen. Doch so Unfall 1979 leicht liessen sich die Kontrolleure nicht überzeugen. Die Rasierklinge wurde konfisziert, in eine Tüte gesteckt, diese versiegelt und einer Dame Erfolge an Paralympics 2000 in Sydney: 6. Rang über zum Aufbewahren überreicht. Ich bekam das Messerli tatsächlich erst nach 5000 Meter (Diplom) dem Rennen wieder, als ich die Arena mit ihren 90’000 Zuschauern bereits 2004 in Athen: Neuer Schweizer Rekord verlassen hatte und in der Garderobe stand. Dort rasierte ich mir dann über 5000 Meter, 6. Rang (Diplom) genüsslich den Bart ab – und freute mich über meine Saisonbestzeit über 2008 in Peking: Saisonbestleistung über 5000 Meter.» 5000 Meter, 7. Rang (Diplom) Eine Militärübung mit umwegen Heinz Frei 1984 hEinZ FrEi «Wir haben an den Paralympics auf und neben der Rennbahn Alter 54 Jahre immer wieder witzige, nervige und auch aussergewöhnliche Wohnort Etziken SO Sachen erlebt. Zum Beispiel 1984 in England: Als der Startschuss Beruf Sportreferent und Coach für die 4-mal-100-Meter-Staffel fiel, spurteten alle vier Sportler Behinderung Seit einem Unfall bei aus Jordanien gemeinsam los. Das gab ein Durcheinander! Oder einem Berglauf im Jahr 1978 Paraplegiker 1988 in Seoul, wo im 14-stöckigen Hochhaus nur ein einziger Lift zur Verfügung stand. Dafür war aussen an der Fassade eine Erfolge an Paralympics steile Rampe angebracht, über die wir auch in unsere Zimmer 14 Gold-Medaillen sowie 18 mal Silber im 12. Stock gelangen konnten. So gab es vor dem Zubettgehen und Bronze an 13 Paralympics (7 mal im Sommer, 6 mal im Winter). hie und da ein Extra-Training. In guter Erinnerung sind mir die Spiele in Barcelona 1992, wo ich den Marathon gewinnen konnte. Damals unterschätzten mich meine Gegner und liessen mich zwei Kilometer vor dem Ziel davonziehen – ich hielt das Tempo durch. Wenn wir uns heute an einem Wettkampf sehen, lachen wir herzhaft über diese Überrumpelungs-Aktion. Als anstrengend empfand ich die Paralympics in Atlanta 1996, denn die Wertschätzung gegenüber Behindertensportlern war kaum da. Die Männer, die uns vom Hotel ins Stadion fahren sollten, waren vom Militär und absolvierten eine Art Übung. Blöd nur, dass der halbstündige Weg volle drei Stunden dauerte, da sie das Stadion nicht fanden. Einige Athleten bangten, ob sie es überhaupt rechtzeitig an die Rennen schaffen würden. Alles in allem erlebte ich vor vier Jahren in Peking mein persönliches Highlight. Mit 50 Jahren noch immer vorne mitfahren zu können, war ein Privileg. Ich verletzte mich während meiner Karriere nie schwer und habe zu meinem Körper stets Sorge getragen. Das hat viel mit Disziplin und Selbstverantwortung zu tun – und das hat mich der Sport gelehrt.» Paraplegie, September 2012 | 17
«der behindertensport fristet ein Mauerblümchen- dasein – zu unrecht» Sein Besuch an der Eröffnung der Sport Arena in Nottwil ist typisch: Ueli Maurer steht regelmässig bei Wettkämpfen in den Zuschauerreihen und feuert Rollstuhl- sportler an. Der 61-jährige Bundesrat über abgebaute Hemmschwellen, alpine Sommerträume und politische Fouls. Interview: Christine Zwygart | Bilder: Astrid Zimmermann-Boog d ie Paralympics beginnen bald. Sind Sie in London mit dabei? Natürlich! Sogar mehrere Bundesräte werden den Athleten einen Besuch abstatten. Schein- bar hat es sich herumgesprochen, dass da gute Wettkämpfe zu sehen sind. Für welche Sportart interessieren Sie sich besonders? Leider fallen die Paralympics in die Vorberei- tungszeit der Herbstsession. Somit kann ich keine einzelnen Rennen oder Wettkämpfe aussuchen, sondern muss dann nach London reisen, wenn es die Agenda zulässt. Welchen Stellenwert besitzt der Behin- dertensport heute in der Schweiz? Wenn wir ehrlich sind: Er fristet ein Mauer- blümchen-Dasein – zu Unrecht. Der Behin- dertensport verfügt zwar über eine grosse Insider-Familie, aber von aussen nimmt man ihn zu wenig wahr. Es fehlt die Publizität. Ge- winnt ein Rollstuhlfahrer eine Medaille, ist das den meisten Medien höchstens eine Kurz- meldung wert. Dabei sind die Leistungen, die da vollbracht werden, aussergewöhnlich. Deshalb nehme ich auch immer wieder an Veranstaltungen teil und versuche so, Hemm- schwellen abzubauen. Zu Besuch in Nottwil. Anlässlich der Sport Arena-Eröffnung unterhält sich Ueli Maurer mit Rollstuhlsportler Heinz Frei (ganz oben), probiert einen Segway aus (oben) und besichtigt das Klinik-Areal (rechts). 18 | Paraplegie, September 2012
ParalyMPics Hatten Sie selber Berührungsängste? Klettern. Ich kenne die Thematik dadurch hats viele Junge, die mit Enthusiasmus mit- Am Anfang war auch ich gehemmt im Um- ein bisschen. Und im Schweizer Paraplegiker- machen. Alles in allem ist da ein tolles Team gang mit Behinderten. Was soll ich sagen? Zentrum war ich schon mehrmals als Besu- am Start. Was soll ich machen? Muss ich irgendwie hel- cher. fen? Da gab es sehr viele Fragezeichen. Doch Was tut Ihr Departement für den je öfter man sich trifft, desto unkomplizierter Wer ist Ihr Lieblings-Athlet im Behinder- Behindertensport? und lockerer wird der Umgang. tensport? Der Behindertensport ist nicht bei uns, son- Heinz Frei hat die Szene geprägt und reisst dern im Bundesamt für Sozialversicherungen Gibt es in Ihrem persönlichen Umfeld mich auch heute noch mit. Bei den Frauen angegliedert; aber natürlich pflegen wir durch auch Rollstuhlfahrer? ist Edith Hunkeler das Aushängeschild. das Bundesamt für Sport einen engen Kon- Ja, in meinem Bekanntenkreis passierten ein Marcel Hug erkenne ich bei den Rennen im- takt. In den letzten Jahren haben wir uns be- paar tragische Unfälle beim Skifahren und mer an seinem silbernen Helm. Und dann müht, den Behindertensport auf die gleiche Persönlich Ueli Maurer wurde am 1. Dezember 1950 in Wetzikon ZH geboren. Er absolvierte eine Kaufmännische Lehre und übernahm mit 23 Jahren die Geschäftsleitung der Landi Hinwil-Bauma. Von 1994 bis 2008 führte Maurer den Zürcher Bauernver- band. Seine politische Laufbahn startete in den 70er-Jahren als SVP-Gemeinderat in Hinwil. 1983 wurde er in den Zürcher Kan- tonsrat, 1991 in den Nationalrat gewählt. Von 1996 bis 2008 amtete er als Präsident der SVP Schweiz. Am 10. Dezember 2008 wählte ihn die Vereinigte Bundesversamm- lung in den Bundesrat. Maurer ist verhei- ratet und Vater von sechs Kindern. Paraplegie, September 2012 | 19
Verheerende Folgen: Eisenmangel bei Schulkindern Heute Endlich wieder gute Noten für Nora lt – bestel www.guteSchulnoten.ch n Morge rt! Badewannen-Lifte e gelief lay01_para_drduenner.indd 1 20.07.12 10:40 Endlich wieder SITZLIFT Freude beim Baden! Rigert kennt keine Hindernisse - Mietkauf zinslos möglich - Auch mit Akkubetrieb - Schnelle und saubere Installation - Alle Funktionsteile aus Edelstahl Prospekte anfordern (gebührenfrei): Das Original vom 0800-80 8018 WA N N E N L I F T- SPEZIALISTEN Postfach · CH-8952 Schlieren · www.idumo.ch PLATTFORMLIFT VERTIKALLIFT Beratung & Service in Ihrer Nähe: Hauptsitz: Bern, Solothurn, Rigert AG · Treppenlifte Baselland & -stadt: 033 345 22 42 Eichlihalde 1 · 6405 Immensee HÖGG Liftsysteme AG Ostschweiz: 041 854 20 10 Tel +41 (0)41 854 20 10 CH-9620 Lichtensteig Westschweiz: 021 793 18 56 Fax +41 (0)41 854 20 11 Telefon 071 987 66 80 Tessin: 091 604 54 59 info@rigert.ch · www.rigert.ch Treppenlifte Bitte senden Sie uns Ihre Gratisdokumentation: Rollstuhllifte m Sitzlifte m Plattformlifte m Vertikallifte Vorname / Name: Sitzlifte Strasse: PLZ / Ort: Aufzüge Telefon: PA 12 www.hoegglift.ch Treppenlifte · www.rigert.ch
Im Zeitmessturm. Bundesrat Maurer mit Ruedi Spitzli, Leiter Rollstuhlsport Schweiz, und Thomas Troger, Direktor Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (v. l.). Stufe wie den «Fussgänger-Sport» zu stellen. Und zwar so unkompliziert wie möglich, indem wir im Sportzentrum Magglingen ver- mehrt Trainingsmöglichkeiten für Behin- derte anbieten. Sie sind immer wieder an Handbike- Was für Parallelen gibt es zwischen Sport sich bringen. Und zwar punkto Emotionen, Rennen anzutreffen. Politische Pflicht oder und Politik? Fairness und Gesundheit. persönliches Interesse? Sieg und Niederlage gehören bei beiden dazu. Beides. Ich besuche nicht nur die grossen, po- Wer verliert, muss die Situation analysieren, Können das die Schweizer – sich präsen- pulären Veranstaltungen, sondern schaue mir Änderungen vornehmen und es beim nächs- tieren? Wir machen uns doch eher klein. auch Randsportarten an – dazu gehört bei- ten Mal besser machen. Das funktioniert im Diese Frage stelle ich mir fast jeden Tag – und spielsweise ein Match der Schweizer Fussbal- Sport wie auch in der Politik. Und: In der Po- ich schwanke. Der Funke ist definitiv noch lerinnen, aber auch ein Handbike-Rennen. litik fährt besser, wer Niederlagen sportlich nicht auf die Schweizer übergesprungen. Und Wie die Rollstuhlfahrer da agieren, ist hoch statt persönlich nimmt. wenn er dies nicht tut, dann müssen wir faszinierend und spannend. Die fahren mit in ein, zwei Jahren die Gnade haben, die einem Affenzahn und mit nur fünf Zentimeter Fairness? Übung abzubrechen. Aber es wäre eine riesige Abstand hintereinander her. Als passionierter In der Politik sind die Fouls nicht so offen- Chance, wenn wir das hinbekämen. Velofahrer weiss ich, was das bedeutet … sichtlich, Intrigen laufen im Geheimen. Und ganz entscheidend: Im Sport verhängt ein Was wünschen Sie sich für den Sind Sie selber schon mal mit einem Schiedsrichter wenn nötig Strafen bis hin Schweizer Sport? Handbike gefahren? zu Sperren. In der Politik spielen die Medien Wir brauchen eine möglichst breite Sportbe- Ja, ich habe das mal ausprobiert. Ich wäre mit manchmal Schiedsrichter – aber da gehts wegung in der Bevölkerung und vor allem bei diesem Gefährt aber keine fünf Kilometer alles andere als unparteiisch zu und her. der Jugend. Jeder, der Sport treibt, hat dabei weit gekommen. Die Position der Arme war positive Erlebnisse. Man gehört zu einem sehr ungewöhnlich, und ich brauchte Mus- Ihre Sportbegeisterung zeigt sich auch Team, man hat sich bewegt, der Kopf ist frei. keln, die sonst nie im Einsatz sind. Da merkte im persönlichen Engagement für die Und je mehr Menschen diese Erfahrung ma- ich erst richtig, welche Leistung dahinter- Olympiakandidatur 2022 in Davos und chen, desto mehr greift das Phänomen um steckt. St. Moritz. Haben wir eine Chance? sich. Es braucht dazu den Spitzensport, der die Ja. Aber da steht nicht der Sportgedanke im breite Masse mobilisiert. Im Gegenzug sind Wie steht es um Ihre persönliche Fitness? Vordergrund. Die kleine Schweiz muss sich wir auf den Breitensport angewiesen, weil dar- Danke, nicht schlecht. Ich nehme pro Jahr an wieder mal als leistungsstarkes Land zeigen. aus Spitzensportler hervorgehen. Ich wünsche zwei bis drei Grossanlässen teil. Auf dem Pro- Olympische Spiele sind eine gute Gelegenheit, mir einfach viele Leute, die sich bewegen. gramm sind heuer der Gigathlon sowie der um sich zu präsentieren. Und zwar mit einem Wasalauf. Ich möchte aufs Finsteraarhorn – kreativen, zukunftsorientierten Projekt. Ich Ein Tipp für alle Stubenhocker? eine hochalpine Tour auf über 4000 Meter ist bin überzeugt, dass sich der Wintersport Ein Beispiel: Ich konnte meinen Chauffeur für mich auch eine sportliche Leistung. Viel- durch die Klimaerwärmung verändern wird. motivieren, gemeinsam mit mir auf die Lang- leicht kommt noch ein Bike-Rennen dazu. Ich Die Schweiz könnte zum Beispiel aufzeigen, lauf-Loipe zu kommen, statt auf mich zu war- brauch den Druck, an einem Anlass teilzuneh- wie das Leben im Gebirge in 30 Jahren aus- ten. Oder anders gesagt: Am besten gehts, men. Nur so schaffe ich es, zu trainieren statt sieht, wie die Leute mit der neuen Situation wenn man nicht alleine trainiert. Wichtig ist, immer im Büro zu sitzen. Der Ehrgeiz treibt umgehen. Erst an zweiter Stelle stehen für sich nicht zu überschätzen. Klein beginnen mich dann an; wenn ich mitmache, möchte ich mich dann der Sport und die Spiele, die und sich stetig steigern. Dann machts Spass nicht als Letzter über die Ziellinie. positive Impulse für die Gesellschaft mit und kommts gut. Paraplegie, September 2012 | 21
Reportage Erwachen. Die ersten lichten Momente auf einer Intensivpflege- station können ganz schön verwirrend sein. Wo bin ich? Was ist passiert? Wer sind diese Menschen? 22 | Paraplegie, September 2012
Reportage Zurück ins Leben Das Schicksal schlägt plötzlich zu. Jedes Jahr erleiden in der Schweiz rund 200 Menschen nach einem Unfall eine Querschnittlähmung. Die ersten Stunden und Minuten sind entscheidend: Wird das Richtige getan, lassen sich weitere Schäden vermeiden. Dazu brauchts Spezialisten – bei Rettung, Behandlung und Betreuung. Paraplegie, September 2012 | 23
Reportage Die Rettungskette. 1 Bei Verdacht auf Rückenverletzung überlässt man die Rettung besser den Profis. 2 Im SPZ warten bereits Spezialisten aller Disziplinen und nehmen den Patienten in Empfang. 3 Im Schockraum erfolgt die Übergabe des Patienten. 4 Ein CT-Bild zeigt, dass Wirbel gebrochen sind. 5 Ein Patient wird im Computertomographen (CT) Text: Christine Zwygart | Bilder: Walter Eggenberger, Astrid Zimmermann-Boog untersucht. T öne, die sich langsam zu Buchstaben und Worten formieren. Lichtstrahlen, die das Bewusstsein kitzeln. Berührungen, die den Durch das Absaugen von Luft schmiegt sich das Material an den Körper des Verletzten. «Er ist dann wie einbetoniert und kann sich nicht 1 Körper ins Hier und Jetzt zurückholen wollen. mehr bewegen.» «Wo bin ich? Was mache ich hier? Was wird Ivo Breitenmoser nimmt Anteil am Schicksal mit mir gemacht?» Der Moment des Erwa seiner Patienten: «Häufig sind junge Men chens auf der Intensivstation einer Klinik ist schen betroffen. Gleitschirmflieger, Kletterer, ein einschneidendes Erlebnis. Vielleicht weiss Snowboarder.» Sie erzählen dem Notarzt ihre der Patient, wieso er hier liegt. Vielleicht fehlen Geschichte, schildern, wie es zum Unfall kam. diese Erinnerungen – Ärzte und Angehörige «Querschnittgelähmte haben bei der Bergung müssen ihm die Ereignisse schildern, bis der oft einen wachen Geist und glasklaren Ver Betroffene weiss: «Ich bin in Nottwil, im stand.» Mit dem Helikopter bringt der Notarzt Foto: Rega Schweizer Paraplegiker-Zentrum. Mit Diag seine Patienten in eine der schweizweit elf nose Querschnittlähmung.» Kliniken, die für die Aufnahme von frisch 2 Manchmal genügt ein Ausrutscher auf einer verletzten Querschnittgelähmten ausgerüs Treppe. Ein missglückter Sprung mit dem tet sind. Snowboard. Oder eine Unachtsamkeit beim Autofahren. Und plötzlich sind da Rettungs Von der Bahre in den Operationssaal sanitäter, Helikopter, Ärzte, Untersuchungen, Oberarzt Hans Georg Koch arbeitet seit über 20 Ergebnisse, Eingriffe. Der Betroffene kämpft Jahren im Schweizer Paraplegiker-Zentrum mit tausend Fragen und sucht nach Antworten: (SPZ) Nottwil. Ist er auf Pikett, trägt er ein Da ist die Angst vor der Zukunft. Die Hoffnung Diensttelefon mit sich. Notärzte, die einen auf Besserung. Die Verzweiflung ob der Diag Frischverletzten einliefern wollen, werden di nose. rekt mit ihm verbunden. «Wir müssen wissen, ob nebst der Querschnittlähmung noch andere Vom Unfallort in die Spezialklinik Verletzungen vorhanden sind», erklärt Koch. 5 Eine korrekte Rettung ist für den weiteren Ver Derweilen kommt im SPZ eine Notrufkette in lauf einer Querschnittlähmung entscheidend. Gang: Die Zentrale bietet Radiologen, Paraple Ivo Breitenmoser ist Notarzt bei der Schweize giologen und Anästhesisten auf, alarmiert Mit rischen Rettungsflugwacht Rega und weiss, arbeitende des Labors, der Operationssäle so worauf es ankommt. «Wichtig ist, dass wir die wie der Intensivpflegestation. Wenn der Pati Wirbelsäule nicht drehen oder stauchen.» Die ent eintrifft, stehen alle Fachpersonen parat. Bergung erfordert Fachwissen und das richtige Gemeinsam mit den Rega-Leuten bringt das Material. Noch vor dem Umlagern überprüft SPZ-Team den Patienten in den so genannten der Arzt die Atmung des Patienten. «Das Herz Schockraum. Hier erfolgt der mündliche Rap eines Tetraplegikers schlägt oft langsamer, und port des Notarztes, von jetzt an übernehmen sein Kreislauf ist unbeständig», erklärt Brei die Klinikärzte die Verantwortung. «Nebst den tenmoser. Er verabreicht Medikamente, um Vitalwerten überprüfen wir als erstes Sensi den Patienten zu stabilisieren und Schmerzen bilität und Motorik, um die Lähmungshöhe zu zu lindern. Erst dann wird der Verunfallte mit ermitteln», erklärt Koch. Wichtig ist dem einer speziellen Trage und Griffen, die die Oberarzt, dass der Patient weiss, wer die Wirbelsäule fixieren, angehoben und auf eine Spezialisten um ihn herum sind und was sie Vakuummatratze umgebettet. Deren Vorteil: machen. «Das schafft Vertrauen.» 24 | Paraplegie, September 2012
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