Das Kinderbuch "Die kleine Sensenfrau" (Michael Stavarič) und seine tschechische Übersetzung. Ein Vergleich
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FILOZOFICKÁ FAKULTA Das Kinderbuch "Die kleine Sensenfrau" (Michael Stavarič) und seine tschechische Übersetzung. Ein Vergleich Magisterská diplomová práce BC. NADĚŽDA CHYTILOVÁ Vedoucí práce: Mgr. Martina Trombiková, Ph.D. Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky Program Překladatelství románských a germánských jazyků Brno 2021
Bibliografický záznam Autor: Bc. Naděžda Chytilová Filozofická fakulta Masarykova univerzita Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky Název práce: Das Kinderbuch "Die kleine Sensenfrau" (Michael Stavarič) und seine tschechische Übersetzung. Ein Vergleich Studijní program: Překladatelství románských a germánských jazyků Vedoucí práce: Mgr. Martina Trombiková, Ph.D. Rok: 2021 Počet stran: 76 Klíčová slova: Děvčátko s kosou, Michael Stavarič, Michaela Škultéty, literární překlad, komentovaný překlad, komparativní analýza 2
Bibliographic record Author: Bc. Naděžda Chytilová Faculty of Arts Masaryk University Department of German, Scandinavian and Netherland Studies Title of Thesis: The children's book "Die kleine Sensenfrau" and its czech translation. A comparative Analysis Degree Programme: Translation of Romance and Germanic Languages Supervisor: Mgr. Martina Trombiková, Ph.D. Year: 2021 Number of Pages: 76 Keywords: literary translations, comparative analysis, commented translation 3
Anotace Tato diplomová práce se zabývá analýzou německé knihy autora Michaela Stavariče „Die kleine Sensenfrau“ a jejím českým překladem od Michaely Škultéty. Teoretická část pojednává obecně o dětské literatuře a o překladu dětské literatury. V praktické části je zmíněn život a dílo Michaela Stavariče, následně je analyzovaná kniha popsána z obsahového a lingvistického hlediska. Další kapitola je věnována překladatelce analyzované knihy. Stěžejní kapitolou je potom samotná analýza zmíněné knihy a jejího překladu. Cílem analýzy je najít rozdíly a ukázat, jaký mohou mít vliv na pochopení příběhu. 4
Abstract This diploma thesis deals with the analysis of the German book by Michael Stavarič "Die kleine Sensenfrau" and its Czech translation by Michaela Škultéty. The theoretical part deals in general with children's literature and the translation of children's literature. The practical part mentions the life and work of Michael Stavarič, then the analysed book is described in terms of content and linguistics. The next chapter is devoted to the translator of the analysed book. The main chapter is then the analysis of the mentioned book and its translation. The aim of the analysis is to find the differences and show how they can affect the understanding of the story. 5
Erklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig verfasst habe und dass ich nur die im Literaturverzeichnis angegebenen Quellen benutzt habe. Brünn, den 20. Mai 2021 ....................................... Bc. Naděžda Chytilová 7
Danksagung An dieser Stelle bedanke ich mich bei meiner Betreuerin Mgr. Martina Trombiková, Ph.D. für ihre Hilfe, wertvollen Ratschläge und Motivation beim Verfassen meiner Diplomarbeit. Ein großer Dank geht auch an meinen Freund, meine Familie und Freunde, die mich während des ganzen Studiums unterstützt haben. Ich würde mich gerne auch bei Michael Stavarič für seine Hilfe und die Zusendung des Originalbuches herzlich bedanken. 9
Obsah Einleitung 11 1 Kinderliteratur 14 1.1 Charakteristik der Kinderliteratur .............................................................................14 1.2 Funktion der Kinderliteratur........................................................................................16 1.3 Inhaltsstruktur der Kinderliteratur ...........................................................................18 2 Übersetzung der Kinderliteratur 20 2.1 Übersetzung für Kinder als spezifische Disziplin .................................................20 2.2 Die Bedeutung der Übersetzung für Kinder ...........................................................20 2.3 Spezifische Aspekte der Übersetzung für Kinder .................................................22 2.4 Übersetzungsstrategien der Kinderliteratur ..........................................................25 3 Michael Stavarič 32 3.1 Leben des Autors ...............................................................................................................32 3.2 Werk des Autors ................................................................................................................34 4 Die kleine Sensenfrau 37 4.1 Inhalt des Werkes .............................................................................................................37 4.2 Das Werk aus linguistischer Sicht ..............................................................................43 5 Michaela Škultéty 44 6 Methodik der Analyse 45 7 Analyse der Übersetzung 46 8 Zusammenfassung 68 Literaturverzeichnis 71 10
Einleitung Kinderbücher sind ein bedeutender Bestandteil der Literatur. Früher wurde die Kinderliteratur an die Peripherie der verbalen Kunst verschoben und hatte zudem eine rein didaktische Funktion (vgl. Toman 1992). In gleicher Weise wurde dann auch die Übersetzung von Kinderliteratur angesehen (vgl. Lathey 2006). Heutzutage weisen die Kinderbücher und ihre Übersetzungen ein hohes künstlerisches Niveau auf und werden gleichwertig betrachtet. Jeder von uns hat bestimmt als Kind die bekannten Werke wie Robinson Crusoe, Gullivers Reisen, Don Quijote oder Der kleine Prinz gelesen. Diese Möglichkeit hatten wir gerade dank der Übersetzungen. Die übersetzten Bücher spielen eine große Rolle bei der Literatur für Kinder. Die Übersetzung von Kinderliteratur unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der Übersetzung der Literatur für Erwachsene. Es ist daher notwendig, dass man die spezifischen Aspekte und die charakteristischen Elemente der Kinderliteratur beachtet und bestimmte Übersetzungsstrategien dabei verwendet. In der vorliegenden Diplomarbeit werde ich mich mit der Analyse des Kinderbuchs Die kleine Sensenfrau von Michael Stavarič und mit seiner Übersetzung ins Tschechische von Michaela Škultéty beschäftigen. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob die Hauptgedanken des Buches in die Übersetzung übertragen werden können und zudem die Ästhetik des Originaltextes beibehalten werden kann. Es wird untersucht, ob der übersetzte Text seine Funktion erfüllt und mit welchen Schwierigkeiten sich die Übersetzerin beschäftigen musste und ob sie viel Kreativität beweisen musste. Die Arbeit ist in den theoretischen und praktischen Teil eingeteilt. Im theoretischen Teil wird zuerst die Kinderliteratur zusammen mit ihrer Funktion und Inhaltsstruktur charakterisiert. Im nächsten Kapitel wird die Übersetzung von Kinderliteratur als spezifische Disziplin behandelt. Es wird hier die Bedeutung der Übersetzung für Kinder betont und weiter die spezifischen Aspekte der Übersetzung für Kinder und Übersetzungsstrategien der Kinderliteratur beschrieben. Im praktischen Teil wird zuerst Leben und Schaffen von Michael Stavarič vorgestellt. Weiter wird sein Werk Die kleine Sensenfrau aus inhaltlicher und linguistischer Sicht untersucht. Das nächste Kapitel ist der Übersetzerin Michaela Škultéty gewidmet. Der Schwerpunkt des praktischen Teils liegt auf der Analyse der Übersetzung. Die tschechische Übersetzung des Buches Die kleine Sensenfrau wird hier mit dem Originaltext verglichen. Der Zweck der Analyse ist eine kommentierte Übersetzung. Dies bedeutet, dass hier ein Kommentar zur Übersetzung von Michaela 11
Škultéty präsentiert wird, die den Text von Michael Stavarič ins Tschechische übersetzt hat. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um ein kurzes Buch von 32 Seiten handelt, besteht die einmalige Gelegenheit, dem Leser den gesamten Text vorzulegen und dabei ihn durch die gesamte Geschichte zu führen. Der Leser hat die Möglichkeit nicht nur die Entwicklung der Geschichte des Buches, sondern auch die Anzahl der für die Übersetzung wichtigen Stellen und die von der Übersetzerin gewählten Lösungen zu beobachten. 12
THEORETISCHER TEIL 13
1 Kinderliteratur 1.1 Charakteristik der Kinderliteratur Im ersten Kapitel dieser Diplomarbeit wird die Kinderliteratur charakterisiert. Wenn wir uns den aktuellen Forschungsstand ansehen, können wir feststellen, dass im tschechischen Umfeld sich zum Beispiel Toman (1992) mit diesem Thema befasst. Unter deutschen Autoren können wir Kübler (2002), Meibauer (2011) oder Erten (2011) erwähnen. Eine weitere wichtige Autorin im Bereich der Kinderliteratur ist Oittinen (2000). Im Allgemeinen lässt sich feststellen, dass Kinderliteratur für Kinder bestimmt ist, eine Vielzahl von Themen umfasst und aus den Geschichten oft eine Lehre zu ziehen ist. Ein wichtiger Teil der Kinderbücher sind Illustrationen, die die Geschichte mitgestalten. Kinderbücher werden von Kindern selbst oder von Erwachsenen gelesen. Daher ist es auch die Absicht vieler Kinderbücher, den erwachsenen Leser bis zu einem gewissen Grad anzusprechen. Dies gilt auch für das Buch Die kleine Sensenfrau, auf dessen Analyse ich in dieser Arbeit eingehen werde. Obwohl es ein Buch für Kinder ist, enthält es viele versteckte Bedeutungen und Symbole, die nur der erwachsene Leser verstehen kann. Im Folgenden wird gezeigt, wie Kinderliteratur (nicht nur) von den oben genannten Autoren charakterisiert wird und ob das Buch Die kleine Sensenfrau von Michael Stavarič in die geläufigen Definitionen der Kinderliteratur fällt. Laut Kübler (2002) umfasst Kinderliteratur zunächst alle geschriebenen und gedruckten Werke, die sich an Kinder richten. Gedruckte Texte entstehen nämlich erst seit der Erfindung des Buchdrucks, vornehmlich ab dem 16. Jahrhundert, doch erst im 18. Jahrhundert entwickelt sich ein breiter und sich ausdifferenzierender Literaturmarkt. Von Seiten der Leserinnen und Leser muss noch deren Lesefähigkeit hinzukommen, um die Bücher aufzunehmen. Sie entwickelt sich erst allmählich, teils schon mit der Reformation, vor allem aber mit der allmählichen Verbreitung der allgemeinen Schulpflicht im 18. Jahrhundert (vgl. Kübler 2002). In ähnlicher Weise versteht Meibauer (2011) unter Kinderliteratur „die gesamte (von Erwachsenen geschaffene) Literatur, die sich an Kinder und Jugendliche richtet“. Kinder- und Jugendliteratur wird einerseits als Unterkategorie der Allgemeinliteratur betrachtet, anderseits wird aber ihr Status als Teil der Hochliteratur in Frage gestellt. Gleichzeitig wird jedoch Kinderliteratur als relativ eigenständiges System gesehen, das ebenso nach Sprachen, Inhalten, literarischen Gattungen, Fiktionalität und Niveau differenziert werden kann (vgl. Pedrini 2014). 14
In seiner Arbeit führt Köprülü (2017) an, dass man laut Oittinen (2000) die Kinderliteratur als „Literatur, die für Kinder produziert und bestimmt wurde“ definieren kann. Beziehungsweise gilt als Kinderliteratur auch „Literatur, die von Kindern gelesen wird“. Wie bereits erwähnt wurde, Kinderbücher können entweder von Kindern selbst oder von Erwachsenen gelesen werden. Wenn das Kind noch nicht lesen kann, sind es die Erwachsenen, die ihm das Buch vorlesen. Im Fall des Buches Die kleine Sensenfrau ist es klar, dass ein schulpflichtiges Kind das Buch schon selbst lesen kann. Die kleineren können es mit dem Erwachsenen lesen und zudem ist es eine Gelegenheit für sie, neugierige Fragen zu stellen, über das Thema Tod zu sprechen und etwas Neues zu lernen. Weiter erwähnt Köprülü (2017) noch eine andere Definition von Erten (2011). Nach ihm umfasst die Kinderliteratur „alle mündlichen und schriftlichen Werke, die die Träume, die Emotionen und die Gedanken der Kindheit ansprechen“. Das Buch Die kleine Sensenfrau fällt in gewisser Weise in diese Definition, da sie sich mit dem Thema Tod befasst und gerade dieses Thema stärke Emotionen hervorruft. Gleichzeitig wird in der Geschichte das Thema Kindheit dargestellt, und zwar wie das Kind zu einer Frau herangewachsen ist. Heutzutage ist die Kinderliteratur ein gleichwertiger Bestandteil der nationalen Literatur. In der Vergangenheit wurde sie jedoch oft übersehen, isoliert oder an die Peripherie der verbalen Kunst verschoben. Der Grund für diese Position war ihr niedriges künstlerisches Niveau, ihre übermäßige und einseitige Betonung der utilitaristischen Bildungs- und Erziehungsabsicht. Diese Situation hielt bis ins 19. Jahrhundert an, als die Literatur für Kinder und Jugendliche insgesamt einen didaktischen und moralischen Charakter behielt (vgl. Toman 1992). Laut Lesnik-Oberstein (1999) stellt Literatur für Kinder / Kinderliteratur eine Kategorie von Büchern dar, deren Existenz vollständig von der vermuteten Beziehung zu einem bestimmten Lesepublikum, also Kindern, abhängt. Die Kinderliteratur möchte etwas Besonderes sein, sie beschäftigt sich offen und zielgerichtet mit Kindern und möchte sich mit ihnen verbinden. Toman (1992) beschreibt die Literatur für Kinder und Jugendliche als einen Bereich des literarischen Schaffens, der absichtlich für einen altersbegrenzten Kreis von kleinen Zuhörern und Lesern (bis zu 14 - 15 Jahren) bestimmt ist. Gleichzeitig bezeichnet er die Literatur für Kinder und Jugendliche als einen Bereich der Kunstliteratur, der ursprünglich für Erwachsene geschrieben wurde, aber von Kindern und Jugendlichen angenommen wird. Laut Mäkinen (2010) sind Bücher für Kinder und Jugendliche oft einfacher als Literatur für Erwachsene in Bezug auf den Plot, die 15
Sprache und die psychologische Tiefe, und die Texte sind meist durch ein Happy End gekennzeichnet (vgl. Van Zijll Langhout 2017). Aus den oben genannten Definitionen ergibt sich, dass das Buch Die kleine Sensenfrau nicht unter die üblichen Definitionen der Kinderliteratur fällt. Obwohl das Buch hauptsächlich für Kinder gedacht ist, ist es ziemlich schwer, die Hauptgedanken des Buches zu verstehen. Aus sprachlicher Sicht ist das Buch auch nicht gerade einfach. Wie in allen seinen Büchern experimentiert Michael Stavarič auch in diesem Buch mit Sprache, und es kann nicht gesagt werden, dass es sich um ein typisches Kinderbuch handelt. Aus inhaltlicher und sprachlicher Sicht wird dieses Buch detailliert in dem vierten Kapitel dieser Diplomarbeit beschreibt. 1.2 Funktion der Kinderliteratur Genauso wie in der Literatur für Erwachsene, auch in der Kinderliteratur werden ähnliche literarische Typen und Genres, und in Bezug auf den Leser auch dieselben Grundfunktionen angewendet: ästhetisch, kognitiv und pädagogisch. In den Kinderbüchern entsprechen diese Funktionen eher der psychologischen Struktur der Persönlichkeit des Kindes, mit ihren Besonderheiten, Bedürfnissen und Möglichkeiten, wobei literarische Normen und Konventionen weniger akzeptiert werden (vgl. Toman 1992). Die Fachliteratur erwähnt jedoch auch andere wichtige nichtästhetische Funktionen. Zum Beispiel eine magische Funktion, die von einer signifikanten Aktualisierung des Rhythmus, der Verwendung von Zauberformeln und dem Auftreten von Motiven gekennzeichnet ist, die Naturkräfte, fantastische Figuren und magische Dinge symbolisieren. Ebenfalls wird eine physiologische Funktion erwähnt, die sich auf die Beherrschung der Aussprache schwieriger Klänge oder ihrer Gruppen konzentriert und mit der Sprachkultivierung verbunden ist (vgl. Toman 1992). In Stavaričs Büchern können wir genau diese Funktionen beobachten, d. h. magische und physiologische Funktion. Zum Beispiel das Buch Gaggalagu (2006) hängt inhaltlich mit der gerade erwähnten Sprachkultivierung zusammen. In diesem Buch befasst sich Stavarič mit der Tatsache, dass Tiere in verschiedenen Ländern verschiedene Sprachen sprechen. Das Buch BieBu (2009) beschäftigt sich mit Bienen und ihrer Rolle. Im Gegenteil, das Buch Die kleine Sensenfrau (2010) erfüllt in gewisser Weise auch eine magische Funktion, die sich beispielsweise an der Stelle beobachten lässt, an der die kleine Sensenfrau mit ihrer Sense dreht (man könnte sagen, sie zaubert sogar). Das Thema Tod kann auch als etwas Magisches, Abstraktes betrachtet werden. Im Allgemeinen können Stavaričs Kinderbücher daher als magische und tierische Märchen beschrieben werden. 16
Eine andere ist die ethische Funktion, die über die grundlegenden Normen der Beziehungen zwischen Menschen und die Pflichten des Kindes gegenüber sich selbst, anderen Kindern gleicher Alt und Erwachsenen lehrt. Diese Funktion fixiert im Bewusstsein des Kindes die Vorstellungen von den Werten wie Gut, Böse, Wahrhaftigkeit und Schönheit und schafft in ihm das notwendige moralische Gefühl, Denken und Handeln. Und zu guter Letzt die soziale Funktion, die im Geiste einer bestimmten Philosophie und Ideologie das soziale Bewusstsein des Kindes, seine Einstellung zur dargestellten sozialen Realität und deren Wissen, Verständnis und Bewertung beeinflusst (vgl. Toman 1992). In den siebziger Jahren herrschten in Kinderbüchern didaktische Tendenzen vor. Ziel war es herauszufinden, welche Bücher gut für Kinder (und damit für die Gesellschaft) sind. Die literarische Qualität der Werke war von zweitrangiger Bedeutung. In den späten siebziger Jahren wurde jedoch immer lauter über die Notwendigkeit diskutiert, sich von didaktisch motivierten Perspektiven auf Kinder- und Jugendliteratur zu distanzieren und diese Bücher genauso (und so ernst) wie jede andere Literatur zu erforschen (vgl. Segi Lukavská 2018). Die historische Entwicklung der Funktionen der Kinderliteratur behandelt Toman (1992). In seinem Werk erwähnt er, dass in der Vergangenheit eine Art harmonische Symbiose der Grundfunktionen der Kinderliteratur durch eine einseitige und eingeschränkte Präferenz für eine pädagogische oder kognitive Funktion deformiert wurde, und zwar genau auf Kosten der ästhetischen Funktion. Im Laufe der Zeit wurden Anstrengungen unternommen, um die Literatur künstlerischer zu machen. Der kindliche Adressat wurde immer tiefer verstanden und konsequenter respektiert, und die Verfahren und Mittel des wertvollen literarischen Schaffens für Erwachsene wurden angewendet. Zur Funktion der Kinderliteratur äußert sich auch Darton (1982) und behauptet, dass Kinderbücher offensichtlich geschaffen wurden, um Kindern ein spontanes Vergnügen zu bereiten. Die Funktion der Kinderbücher besteht also nicht darin, den Kindern in erster Linie etwas beizubringen, sei es wie man sich benehmen soll oder wann man still sein soll (vgl. Segi Lukavská 2018). Laut Theoretikern der Kinderliteratur ist das auffälligste Merkmal der Kinderliteratur, dass sie die Aufgabe hat, durch ihre Unterhaltung und Anziehungskraft mit den kindlichen Lesern zu sprechen, anstatt in erster Linie didaktische Botschaften zu vermitteln, die als belehrend, manipulativ, aufdringlich und dumm dargestellt werden. Dieser Meinung ist zum Beispiel Sheila Egoff. Sie schlägt vor, dass Kinderbücher den Lesern Freude, und nicht Belehrung bereiten sollen. Die Kinderbücher sollen von ewigen Kindereigenschaften wie Erstaunen, Einfachheit, 17
Lachen und Inbrunst charakterisiert werden und im weltweiten Bereich der Kinderbücher soll die Literatur bewahrt werden. Im Gegenteil sollen wir Soziologie und Pädagogik von der Literatur fernhalten (vgl. Lesnik-Oberstein 1999). 1.3 Inhaltsstruktur der Kinderliteratur Toman (1992) führt an, dass die Inhaltsstruktur der Literatur für Kinder und Jugendliche aus drei Grundkomponenten besteht: Volksliteratur, nicht intentionalen literarischen Werken und intentionalen literarischen Werken. Die Volksliteratur war im Mittelalter und in den frühen Tagen der nationalen Wiederbelebung die einzige Quelle ästhetischer Erziehung für unsere Kinder, da sie der Psyche und Mentalität des Kindes zugänglich war. Spezifisch für sie waren beispielsweise thematische Verständlichkeit, emotionale und ästhetische Wirkung, philosophische, ideologische und moralische Prinzipien und Normen, die durch jahrhundertelanges Wissen und Erfahrung der Volksgemeinschaft geprüft wurden. Die Volksliteratur spielte eine unersetzliche Rolle bei der Entstehung und Entwicklung wertvoller literarischer Schaffung für Kinder und Jugendliche, insbesondere im 19. Jahrhundert. Im Laufe der Zeit sind fast alle Folklore-Genres in die Kinderliteratur übergegangen. Ihr aktuelles Repertoire besteht hauptsächlich aus magischen und tierischen Märchen, Reimen, Abzählversen, Rätseln und Texten von Volksliedern (vgl. Toman 1992). Wie schon erwähnt wurde, können Stavaričs Kinderbücher zu den magischen und tierischen Märchen gezählt werden. Die nicht intentionale Literatur war ursprünglich nur für erwachsene Leser gedacht, wechselte jedoch allmählich zur Literatur für Jugendliche – entweder aufgrund der spontanen Wahl eines Kinderempfängers (Werke von H. CH. Andersen, K. Čapek, J. Vern, V. Hugo, A. Dumas, K. Maye) oder der pädagogischen Auswahl in der Schule (Werke wie Robinson Crusoe, Gullivers Reisen, Don Quijote, Der kleine Prinz) (vgl. Toman 1992). Die intentionale Literatur richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter von etwa drei bis fünfzehn Jahren. Ihre Besonderheit liegt in der Tatsache, dass der Autor in seinem Werk absichtlich den sogenannten Kinderaspekt anwendet, d. h. eine besondere Berücksichtigung der psychologischen und mentalen Voraussetzungen und Besonderheiten des Kinderadressaten in einem bestimmten Altersstadium seiner Entwicklung. Der Autor stellt das Leben und die Welt aus der Sicht des Kindes dar, führt einen partnerschaftlichen Dialog mit ihm, aber gleichzeitig mit einem gewissen Vorsprung und Weitsicht des Erwachsenen. So bringt er seinen Kinderleser in die Zone seiner engsten geistigen und sozialen Entwicklung, er zeigt ihm die Perspektive des 18
Erwachsenenalters (vgl. Toman 1992). Nach Ewers (2000) sollten zur intentionalen Kinder- und Jugendliteratur nur die Texte gezählt werden, „die von Kindern und Jugendlichen - auch, in erster Linie oder ausschließlich – in ihrer Freizeit, d. h. außerhalb des Schulunterrichts und auch nicht begleitend zu diesem, gelesen werden sollen – und zwar mehr oder weniger freiwillig.“ Obwohl das in dieser Arbeit analysierte Buch, also Die kleine Sensenfrau, für Kinder bestimmt ist und deshalb zu der intentionalen Literatur gezählt werden soll, kann es auch von Erwachsenen gelesen werden. Es geht nämlich darum, dass ein erwachsener Leser das Buch ganz anders verstehen kann als ein Kind. Ich würde es daher mit dem Buch Der kleine Prinz vergleichen. Dann könnte es man möglicherweise auch zu der nicht intentionalen Literatur zählen. 19
2 Übersetzung der Kinderliteratur 2.1 Übersetzung für Kinder als spezifische Disziplin Kinderliteratur wurde lange Zeit als marginal angesehen und hat eine periphere Position innerhalb des literarischen Polysystems eingenommen. Die Übersetzung von Kinderliteratur wurde dann in gleicher Weise vernachlässigt und als nicht akademisch würdig angesehen. Erst als die Gelehrten und Kritiker begannen, die Kinderliteratur als eigenständiges Genre zu schätzen, begann sich das Studium der Übersetzung dieser besonderen Art von Literatur zu entwickeln. Im Bereich der Übersetzungswissenschaft hat sich das kritische Interesse an der Übersetzung von Kinderliteratur und ihren spezifischen Herausforderungen erst in den letzten 30 Jahren entwickelt (vgl. Lathey 2006). 2.2 Die Bedeutung der Übersetzung für Kinder Trotz der Unterbewertung der Kinderliteratur besteht kein Zweifel daran, wie wichtig die Übersetzung für Kinder ist. Es spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte der Kinderliteratur und wir können uns dieses Genre ohne Übersetzungen kaum vorstellen. Ghesquiere (2006) behauptet, dass Übersetzungen den Status der Kinderliteratur erheblich verbessert und neue Initiativen gefördert haben, da sie durch die Konfrontation der Autoren mit den Besten aus anderen Ländern die Produktion von Literatur in der Landessprache stimulierten. Übersetzung war und bleibt ein Mittel, um Kreativität, neue Ideen und literarische Modelle zu teilen. Ghesquiere führt noch an, dass die übersetzten Klassiker der Kinderliteratur von einer großen Gruppe von Kindern genossen werden können. Daher spielen übersetzte Bücher eine Rolle bei der Entwicklung einer positiven Leseeinstellung und können sogar die widerstrebenderen Leser zum Lesen anregen. Dank der Übersetzung können Kinder auf der ganzen Welt die gleiche Freude am Lesen haben und ähnliche Ideale, Ziele und Hoffnungen schätzen (vgl. Lathey 2006). Xeni (2011) gibt fünf grundlegende Aspekte an, die die Übersetzung von Kinderliteratur nahezu unentbehrlich machen. Erstens geht es um den didaktischen/pädagogischen Aspekt. Es ist allgemein anerkannt, dass ein Kind die Welt und seine Umgebung am besten durch Literatur assimilieren kann, sei es Original- oder Übersetzungsliteratur. Die übersetzte Literatur bietet Kindern reichhaltige Möglichkeiten zur Erweiterung ihres textuellen und visuellen Wortschatzes, wodurch 20
ihre Lese- und Wahrnehmungsfähigkeiten im Allgemeinen verbessert werden können. Zweitens erwähnt sie den kulturellen/sozialen Aspekt. Die Literatur ist ein wichtiger Träger kultureller Inhalte und ein starkes „Medium“ für das Verständnis der Welt. Dank der Kinderliteratur können die Kinder andere Kulturen entdecken und so wird ein „interkulturelles Verständnis“ geschaffen. Mit ihrer internationalen Perspektive kann sich Kinderliteratur auf der ganzen Welt bewegen, sprachliche und kulturelle Grenzen überschreiten, globale Verbindungen herstellen und ein neues Leben der Weltliteratur geben. Drittens gibt es nach Xeni (2011) der psychologische Aspekt. Kinderliteratur und ihre Übersetzung in andere Sprachen stellen eine Welt dar, in der Kinder ihre Bedürfnisse erfüllen können, und unterstreichen eine weitere Rolle der Kinderliteratur, nämlich die Verbesserung des Wohlbefindens von Kindern. Dank der Bücher können sich Kinder mit Helden aus fremden Ländern identifizieren, die dieselben Bedürfnisse haben (z. B. das Bedürfnis um Ängste, Sorgen und Furcht zu überwinden, das Bedürfnis nach Humor usw.). Sie erleben glückliche Situationen und Sorgen mit ihnen, und wenn eine unangenehme Situation im Leben des Kindes auftritt, kann es sie mit weniger Schwierigkeiten bewältigen. Weiter erwähnt Xeni (2011) den kognitiven Aspekt. In kognitiver Hinsicht ist es für Kinder und junge Erwachsene einfacher, neue Informationen aufzunehmen, wenn diese innerhalb der Struktur einer Geschichte präsentiert werden. Das Kind aktiviert dann beim Lesen kognitive Fähigkeiten wie Denken, Analysieren, Vergleichen, usw. Der letzte Aspekt ist der akademische Aspekt. Der Beitrag der Übersetzung von Kinderliteratur liegt jedoch nicht nur in den Auswirkungen, die Bücher auf Kinder haben, sondern auch in den Auswirkungen auf Kinderliteratur und Übersetzung als solche, da die Übersetzung von Kinderliteratur neue Übersetzungstechniken und neue Themen mit sich gebracht hat. Die Rolle der Übersetzung, wie sie in den fünf oben dargestellten Aspekten zu sehen ist, unterstreicht die Bedeutung der Kinderliteratur und der Übersetzung der Kinderliteratur und stellt sowohl das Lernen als auch die kognitive Entwicklung und das Wohlergehen von Kindern und jungen Erwachsenen in den Mittelpunkt. In diesem Abschnitt wurde auch die Rolle der Übersetzung als Disziplinarbereich, der viel zur Interdisziplinarität (Bildung, Kognition, Kultur, Psychologie usw.) beiträgt, und des Übersetzers als Schlüsselakteurs im Übersetzungsprozess aufgezeigt (vgl. Xeni 2011). 21
2.3 Spezifische Aspekte der Übersetzung für Kinder Bei der Übersetzung von Kinderliteratur sind einige der Probleme, auf die Übersetzer stoßen, identisch mit denen beim Übersetzen für Erwachsene, andere Probleme sind bei der Übersetzung dieses speziellen Literaturbereichs einzigartig. Die besonderen Herausforderungen bei der Übersetzung von Kinderliteratur ergeben sich nach Frimmelová (2010) hauptsächlich aus folgenden Fakten. Erstens geht es darum, dass das primäre Publikum (Kinder) besondere Merkmale und Bedürfnisse hat. Zweitens ist es die Existenz einer doppelten Leserschaft - Kinderliteratur ist nicht nur Teil des literarischen, sondern auch des Bildungssystems. Drittens erwähnt sie, dass Bücher für Kinder den geltenden Normen der Gesellschaft unterliegen und weitaus stärker zensuranfällig als Erwachsenenliteratur sind. Sie führt noch an, dass Änderungen und Anpassungen innerhalb von Übersetzungen üblich sind, um den Einschränkungen für die Übersetzung von Kinderliteratur zu entsprechen. Zuletzt gibt Frimmelová an, dass Kinderbücher oft illustriert werden und vorgelesen werden sollen, was eine zusätzliche Dimension schafft, die der Übersetzer berücksichtigen muss. Lathey (2006) erwähnt zwei grundlegende Aspekte, die das Übersetzen für Kinder vom Übersetzen für Erwachsene unterscheiden. Erstens ist es die soziale Stellung der Kinder und der daraus resultierende Status der für sie verfassten Literatur und zweitens die Entwicklungsaspekte der Kindheit, die die einzigartigen Eigenschaften eines erfolgreichen Schreibens für Kinder bestimmen. 2.3.1 Ambivalenz in der Übersetzung der Kinderliteratur Eines der Merkmale der Kinderliteratur ist, dass die Bücher ein doppeltes Publikum haben, Kinder und Erwachsene. Manchmal wird ein Buch, das ursprünglich für Erwachsene gedacht war, zu einer Geschichte, die für Kinder geschrieben wurde, und umgekehrt. Die Erwachsenen sind die Produzenten und die Kinder die Konsumenten von Kinderliteratur. Bei der Übersetzung der Kinderbücher wird die Situation noch komplizierter (vgl. Oittinen 2006). Es ist nicht nur der Kinderleser, den der Übersetzer im Sinn hat, wenn er sich dem Text nähert, sondern auch versteckte erwachsene Leser, deren Anforderungen der Übersetzer erfüllen muss (vgl. Frimmelová 2010). In ähnlicher Weise stellt Lesnik-Obersteinová (1999) die Frage: Was bedeutet es, ein Buch "für" Kinder zu schreiben? Wenn das Buch ursprünglich für Kinder geschrieben wurde, ist es dann immer noch ein Kinderbuch, wenn es später von (nur) Erwachsenen gelesen wird? Obwohl Übersetzer für Kinder übersetzen müssen, sind es die Erwachsenen, die die Bücher auswählen, die übersetzt werden müssen. Es sind die Erwachsenen, die sie übersetzen und die Übersetzungen für Kinder kaufen. Es sind auch die Erwachsenen, die normalerweise die Bücher laut lesen (vgl. Oittinen 2006). 22
Darüber hinaus kann sich das Publikum von Kinderbüchern in der Übersetzung ändern: Viele Klassiker von Kindern sind zu Büchern für Erwachsene geworden und umgekehrt (vgl. Oittinen 2006). Zu den ambivalenten Texten gehören zum Beispiel Winnie-the-Pooh, der kleine Prinz, Gullivers Reisen und vor allem Alice im Wunderland. Obwohl die Textmerkmale den Strukturen der Kindersprache folgen, wird die Ambivalenz erreicht, indem die Funktionen und die Hierarchie der Elemente geändert werden, d. h. Ironie, Anspielungen, Metaphern, Intertextualität, verhüllte Bedeutungen und Parodie (vgl. Frimmelová 2010). Frimmelová (2010) führt an, dass die Aufmerksamkeit des Übersetzers zunächst auf den jungen Leser und auf der Übertragung eines Textes für Kinder der Ausgangsprache auf einen Text für Kinder der Zielsprache gerichtet sein sollte. Sie bemerkt, dass das vollständige Weglassen ambivalenter Elemente (durch Löschen, Transformieren oder Hinzufügen von Erklärungen) zum Verlust von Merkmalen führen kann, die den literarischen Text einzigartig machen. Erwachsene werden das Buch nicht mehr genießen, wenn sie es vorlesen, der Text kann seine sprachliche Qualität verlieren. Um mehrere Ebenen im Text beizubehalten (die konventionelle, vom Kinderleser realisierte Ebene und die andere Ebene, die nur für Erwachsene verständlich ist), ist eine der größten Herausforderungen für Übersetzer der Kinderliteratur. 2.3.2 Normen in der Übersetzung der Kinderliteratur Die Übersetzung von Literatur erfolgt nach bestimmten Normen, und die Kinderliteratur wird von ihnen viel mehr als jedes andere literarische Genre bestimmt. Laut Puurtinen (1995) wird eine Übersetzung von den didaktischen, ideologischen, moralischen, ethischen und religiösen Normen beeinflusst, die in einer bestimmten Zeit und Kultur entscheidend sind. Puurtinen stellt sich solche Übersetzungen gegenüber, die das Lesen für die Kinder schwieriger gestalten. Es ist nicht möglich, dass Kinder mit geringen Leseerfahrungen und begrenzter Welterkenntnis die Bedeutung seltsamer und fremder Elemente verstehen können. Der Übersetzer soll die Lesbarkeit des Ausgangstextes ohne irgendeine Änderung an den Zieltext übertragen. Ohne Berücksichtigung der sprachlichen und literarischen Normen kann es zu einer Übersetzung führen, die bei Kindern nicht beliebt und von Erwachsenen abgelehnt wird (vgl. Köprülü 2017). Ein Konzept von Normen in der Übersetzung der Kinderliteratur hat auch Shavit (2009) vorgestellt. Sie betrachtet die Übersetzung als Übertragung von Texten nicht nur von einer Sprache in eine andere, sondern auch von einem System zu einem 23
anderen, insbesondere vom System der Erwachsenen zum System der Kinder. Shavit sagt, dass Kinderliteratur eine periphere Position innerhalb des literarischen Polysystems einnimmt und deshalb sich der Übersetzer der Kinderliteratur im Vergleich mit den Übersetzern der Erwachsenenliteratur viel Freiheit in Bezug auf den Text erlauben kann. Dem Übersetzer wird ermöglicht, den Text auf unterschiedliche Weise zu manipulieren (z. B. ändern, vergrößern oder kürzen, löschen oder zufügen). Alle diese Übersetzungsprozesse sind jedoch nur zulässig, wenn sich der Übersetzer an zwei Grundprinzipien hält, auf denen die Übersetzung für Kinder basiert. Das erste Prinzip besteht darin, dass der Text so angepasst werden soll, um ihn angemessen und nützlich für das Kind zu machen. Zudem soll der Text dem entsprechen, was die Gesellschaft als pädagogisch gut für ein Kind erachtet. Mit dem zweiten Prinzip ist gemeint, dass Handlung, Charakterisierung und Sprache sollen dem Grad des Verständnisses und der Lesefähigkeit entsprechen, über die die Kinder nach vorherrschenden gesellschaftlichen Wahrnehmungen verfügen sollen (vgl. Shavit 2009). Das hierarchische Verhältnis der beiden Normen hat sich in der Geschichte geändert. Früher, als die Funktion der Kinderliteratur hauptsächlich didaktisch war, war das erste Prinzip vorherrschend. Heutzutage ist das Prinzip der Anpassung des Textes an das Verständnisniveau des Kindes wichtiger, obwohl das erste Prinzip immer noch einen gewissen Einfluss auf den Charakter von Übersetzungen hat (vgl. Shavit 2009). Manchmal können sich die zwei Normen widersprechen. „Beispielsweise kann davon ausgegangen werden, dass ein Kind einen mit dem Tod verbundenen Text verstehen kann, und gleichzeitig der Text als schädlich für sein geistiges Wohlergehen angesehen werden kann. In einer solchen Situation könnte der übersetzte Text einen Aspekt vollständig zugunsten eines anderen streichen oder möglicherweise sogar widersprüchliche Merkmale enthalten, da der Übersetzer zwischen den beiden Prinzipien zögerte“1 (vgl. Shavit 2009). Dennoch ergänzen sich die Normen normalerweise und beeinflussen die Entscheidungen der Textauswahl sowie den Grad der zulässigen Manipulation. Und damit der übersetzte Text für Kinder akzeptiert werden kann, muss die endgültige 1 Im Original: „For example, it might be assumed that a child is able to understand a text involved with death, and yet at the same time the text may be regarded as harmful to his mental welfare. In such a situation, the translated text might totally delete one aspect in favor of another, or perhaps even include contradictory features, because the translator hesitated between the two principles.” (deutsche Übersetzung von Naděžda Chytilová) 24
Übersetzung diesen beiden Normen entsprechen oder sie zumindest nicht verletzen (vgl. Shavit 2009). 2.4 Übersetzungsstrategien der Kinderliteratur 2.4.1 Der Grad der Komplexität des Textes Der Komplexitätsgrad des Textes soll dem Verständnis der Kinder entsprechen. Während in der Literatur für Erwachsene die Komplexität erforderlich ist, dominiert in der Kinderliteratur immer noch die Einfachheit und Simplifizierung. Dieses Konzept basiert auf der Voraussetzung, dass Kinder nicht in der Lage sind, lange Texte zu lesen, dass sie Schwierigkeiten haben, lange, komplizierte Sätze zu verstehen, und dass ihre Kenntnisse der Muttersprache sowie der Wortschatz begrenzt sind. Die begrenzte Komplexität bestimmt dann nicht nur die Themen und die Charakterisierung des Textes, sondern auch die zulässigen Strukturen. Damit der übersetzte Text dieser Norm entspricht, können die Übersetzer die Beziehungen zwischen Elementen und Funktionen entfernen oder ändern. Sie dürfen Elemente löschen, die ihnen zu kompliziert sind, und andererseits können sie andere Elemente hinzufügen (vgl. Shavit, 2006). Laut Kolehmainen & Stahl (2005) ist eine der Hauptmethoden zur Reduzierung der Komplexität von Text die Simplifizierung. Simplifizierung oder Vereinfachung bedeutet, dass die Sprache in Übersetzungen (lexikalisch, syntaktisch und/oder stilistisch) einfacher ist als die Sprache, die in Originaltexten der Zielsprache verwendet wird (vgl. van Zijll Langhout 2017). Die lexikalische Vereinfachung wird hauptsächlich durch die Verwendung einer allgemein einfachen Lexik und eines einfachen Registers demonstriert (kürzere und einfachere Wörter aus dem Alltag, begrenzter Wortschatz, Standardsatz von Phrasen und Redewendungen sowie konkrete statt abstrakten Wörtern). Die syntaktische Vereinfachung wird durch leichte und einfache Strukturen dargestellt, lange Sätze werden in kürzere aufgeteilt und hauptsächlich werden koordinierende Konjunktionen verwendet. Außerdem werden bestimmte Ausdrücke, Teile von Sätzen oder ganze Sätze manchmal weggelassen, um komplizierte Formen im Allgemeinen zu vermeiden. Die stilistische Vereinfachung zeichnet sich durch einfache informelle Sprache (sogar ein gewisses Maß an Umgangssprache ist akzeptabel), direkte Rede und Dialoge aus. Der informelle Ton ist für Kinder natürlicher und kann dazu beitragen, wie die Charaktere wahrgenommen werden. Die direkte Rede ist für Kinder, wie sie sie aus dem Alltag kennen, leicht verständlich. Es macht den Text dynamischer und lebendiger und porträtiert die Charaktere (vgl. Frimmelová 2010). 25
2.4.2 Anpassung des kulturellen Kontexts Für einen Leser steht der Zieltext bei der Übersetzung im Vordergrund des Interesses. Dem Leser einer amerikanischen Detektivgeschichte ist es egal, was alles getan werden musste, bevor er sie auf Tschechisch lesen konnte. Für ihn ist es wichtig, das Buch als Detektivgeschichte aus Amerika zu lesen. Ein Übersetzer, der viele Informationen von einer Kultur in eine andere überträgt, muss als Teilnehmer an der Kommunikation und deren Mitschöpfer die Kommunikationssituation des Empfängers berücksichtigen, d. h. die Umgebung der Zielkultur. Der Zieltext muss dem Usus der Empfangskultur entsprechen, er muss der Kommunikationssituation in der Zielkultur angemessen sein (vgl. Fišer 2009). Der Übersetzungsprozess als solcher ist als ein Akt der Veränderung und des Umschreibens angesehen, bei dem Probleme durch unterschiedliche Strategien wie Einbürgerung (engl. Domestication) und Verfremdung (engl. Foreignization) gelöst werden. Bei der Einbürgerung passt der Übersetzer den Text an sprachliche und kulturelle Werte an die Zielkultur an. Im Gegenteil, bei der Verfremdung bleiben einige signifikante Spuren des Originaltextes erhalten (vgl. Oittinen 2006). Die Einbürgerung ist anders gesagt eine Strategie der Anpassung des kulturellen Kontexts. Diese Strategie wird verwendet, um mit dem begrenzten Wissen und Verständnis anderer Kulturen, Sprachen und Regionen, die junge Leser haben, umzugehen. Es basiert auf der Voraussetzung, dass es für Kinder schwierig sein wird, fremde Namen, Lebensmittel oder Orte zu assimilieren und dass sie einen Text ablehnen können, der eine unbekannte Kultur widerspiegelt. Daher übersetzt der Übersetzer die kulturellen Merkmale der Originalkultur in den Kontext der Zielkultur und erzeugt die Illusion, dass der Text in der Kultur des Lesers geschrieben wurde (vgl. Lathey 2006). Der Begriff kulturelle Kontextanpassung wurde erstmals von Göte Klingberg verwendet. Nach Klinberg (1986) wird in der Regel die Kinderliteratur unter besonderer Berücksichtigung der (vermeintlichen) Interessen, Bedürfnisse, Reaktionen, Wissen, Lesefähigkeiten und so weiter der beabsichtigten Leser produziert. Die Betrachtung dieser Art eines Autors oder Verlegers und deren Ergebnisse bezeichnet er als Adaption. Der Übersetzer soll in dem Zieltext die gleiche funktionale Äquivalenz gewährleisten, also denselben Grad an Anpassung bewahren. Klinberg argumentiert, dass im Rahmen der Anpassung Löschungen, Ergänzungen, Erläuterungen, Modifikationen, Purifikationen, Modernisierungen oder Lokalisierungen (eine Art von Einbürgerung) erreicht werden können, so dass der Ausgangstext auf ein Land, eine Sprache oder eine Zeit übertragen werden kann, zu der der Zielspracheleser vertraut ist. Für die Beibehaltung von Informationen wie 26
Namen, Jahre und Orte, wie im Original vorgestellt, verwendet er den Begriff Anti- Lokalisierung. Der Grund für eine kulturelle Kontextadaption ist, dass Lese- bzw. Zuhörerkinder aufgrund fehlender Erfahrung die seltsamen Tatsachen und fremden Dingen (wie z. B. Personen- und Ortsnamen, Maßeinheiten etc.) in Büchern nicht verstehen können (vgl. Köprülü 2017). Einbürgerung ist kein automatisches Produkt einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Ortes oder einer bestimmten Situation, aber wir können aus verschiedenen Gründen diese Strategie benutzen: aufgrund von politischem Druck, Zensur oder unterschiedlichen moralischen Werten. Wir können auch für Kinder, Kulturen, Minderheiten, politische Ideen, religiöse Überzeugungen usw. einbürgern. Alles kann eingebürgert werden: Namen, Umgebung, Genres, historische Ereignisse, kulturelle oder religiöse Riten und Überzeugungen. Darüber hinaus können wir einbürgern, indem wir bestimmte Bücher für die Übersetzung auswählen, während bestimmte Arten von Büchern oder Bücher aus bestimmten Kulturen nicht übersetzt werden. Es gibt auch verschiedene Möglichkeiten zur Einbürgerung, z. B. das Kürzen von Büchern oder das Erstellen neuer Versionen für ein anderes Medium, beispielsweise als Harry Potter in einen Film verwandelt wurde (vgl. Oittinen 2006). Mehrere Wissenschaftler missbilligen jedoch die Einbürgerung als eine Methode, die die Kinderliteratur denaturiert und pädagogisiert. Sie sind der Meinung, dass Kinder in der Lage sein sollten, das Fremde in den übersetzten Texten zu finden und zu lernen, die Unterschiede, das Anderssein und das Fremde zu tolerieren (vgl. Oittinen 2006). Laut O’Sullivan (2006) bleiben bei Verwendung dieser Strategie so viele Fremdelemente wie möglich in der Übersetzung erhalten, und der Leser ist sich ständig bewusst, dass der Text ein Produkt einer anderen Kultur ist, und er liest ihn in Übersetzung. Einer von den Kritikern ist Venuti (1995), der die Strategie der Verfremdung auch unterstützt. Seiner Ansicht nach gibt es verschiedene Begründungen dafür, warum die Verfremdung im Gegensatz zur Einbürgerung bevorzugt werden sollte. Venuti findet die Einbürgerung rassistisch und meint, dass neue Ideen, Gattungen und kulturelle Werte durch die Verfremdung gewonnen werden können (vgl. Köprülü 2017). Dagegen argumentiert Oittinen (2006), dass der Kinderleser unwillig sein kann, den übersetzten Text zu lesen und kann ihn zu seltsam finden. Deshalb stellt Oittinen die Frage – Wie wird dies die zukünftigen Lesegewohnheiten des Kindes beeinflussen und was ist es dann der Sinn der Übersetzung? Darüber hinaus handeln Übersetzer beim Interpretieren und Umschreiben von Geschichten für zukünftige Leser auf der Grundlage ihrer eigenen Kinderbilder, was bedeutet, dass Übersetzer letztendlich immer bis zu einem gewissen Grad einbürgern (Oittinen 2006). 27
Wie später in der Analyse des Buches Die kleine Sensenfrau und seiner Übersetzung gezeigt wird, wird bei der Übersetzung dieses Buches die Strategie der Verfremdung verwendet, weil die Autorin sich bemüht hat, Stavaričs originellen Stil und seinen spielerischen Umgang mit Sprache beizubehalten. Wir können dies hauptsächlich auf lexikalischer Ebene beobachten, wo einige Wörter auf akzeptablere und verständlichere Weise ins Tschechische übersetzt worden sein könnten. An einer Stelle erscheint im Buch den Namen einer Stadt, der die Übersetzerin in geeigneter Weise ins Tschechische übersetzt hat und damit im Gegenteil die Strategie der Einbürgerung verwendet hat. Daher stimme ich hier der oben genannten Ansicht zu, dass die Übersetzer immer bis zu einem gewissen Grad einbürgern. Die Werke von Michael Stavarič werden oft in die tschechische Sprache übersetzt und man kann deshalb unterschiedliche Ansätze verschiedener Übersetzer beobachten. Das Werk Die kleine Sensenfrau enthält wenig Text und deshalb ist es nicht klar, welche Übersetzungsstrategie in der Übersetzung vorherrscht. Jedoch zum Beispiel bei der Übersetzung des Romans stillborn ist die Strategie der Einbürgerung an vielen Stellen offensichtlich. Die Übersetzerin hat den Text an das tschechische Milieu angepasst, zum Beispiel wenn sie die ganze Geschichte des Buches von Wien nach Prag verlegt hat. 2.4.3 Umgang mit Tabus Tabus in der Kinderliteratur können als Themen definiert werden, die als nicht für Kinder geeignet angesehen werden. Daher sollten solche Themen vermieden werden (vgl. Frimmelová 2010). Stolt (2006) erklärt, dass ein solches Phänomen im Grunde unter zwei Aspekten entsteht. Erstens ist es die Norm der moralischen Akzeptanz basierend darauf, was die Gesellschaft als gut für Kinder annimmt. Zweitens sind es die kulturellen und ideologischen Unterschiede zwischen den Kontexten, aus denen Kinderliteraturen stammen. In diesem Zusammenhang stellt Reiss (2000) fest, dass Übersetzungen von Kinderbüchern natürlich von Kindern gelesen werden sollen. Diese Beziehung zu Kindern liefert ein Kriterium für ihre Bewertung. Aber wenn eine Weltklasse-Geschichte wie Don Quijote, Gullivers Reise, Robinson Crusoe oder Pinocchio für Kinder übersetzt ist, muss die Version in der Zielsprache für ihre spezielle Lesegruppe "überarbeitet" oder "angepasst" werden (vgl. Hawel 2019). Frimmelová (2010) gibt die Themen an, die in der Kinderliteratur traditionell vermieden werden: Darstellung von Gewalt (z. B. Mord), Rassenprobleme und Konflikte, religiöse Fragen - politische Referenzen, Tod, Sexualität und sexuelle 28
Aktivität jeglicher Art, skatologische Referenzen, Scheidung, Geisteskrankheit, Alkoholismus und andere Abhängigkeiten, Selbstmord, Sterbehilfe, Vulgarismus. Die übersetzte Kinderliteratur kann zu Störungen führen, was Moral, Ideologien und soziale Bräuche betrifft, insbesondere wenn die Ausgangs- und Zielkultur unterschiedlich sind oder wenig gemeinsam haben. Eine dieser Störungen wird durch die Verletzung von Tabus in Kinderbüchern verursacht, was als Grund angesehen wird, warum solche Bücher bei Kindern und in großem Umfang beliebt sind und anschließend zunehmend verkauft werden. Das Dreieck von Autor, Übersetzer und Herausgeber ist sich der Tabus bewusst, die in dem Text vorkommen. Wenn die Zensur ihre Aufgabe nicht erfüllt, die Veröffentlichung des Tabus zu verhindern oder zumindest es in akzeptabler Weise zu modifizieren, damit der Text veröffentlicht werden kann, muss der Übersetzer diese Rolle übernehmen. Als Vermittler soll er die implizierten Lücken auf allen Ebenen zwischen den Texten überbrücken, mit denen er sich befasst. Dann soll er die unangemessenen Themen behandeln, wenn der Text, mit dem er sich befasst, ursprünglich für Erwachsene geschrieben und jetzt für Kinder gedacht wurde (vgl. Hawel 2019). Die Tabus sind in jeder Kultur und jeder Sprache unterschiedlich, deshalb muss der Übersetzer bestimmte Strategien auf der kulturellen und / oder sprachlichen Ebene berücksichtigen. In dieser Hinsicht geben viele Wissenschaftler bestimmte Strategien an. Pyles und Algeo (1982) schlagen vor, das Tabu durch den sogenannten Euphemismus zu ersetzen. Klingberg (1986) präsentiert neun Formen der Anpassung des kulturellen Kontexts: zusätzliche Erklärung, Umformulierung, erklärende Übersetzung, Erklärung außerhalb des Textes, Vereinfachung, Löschung, Lokalisierung, Substitution eines Äquivalents in der Kultur der Zielsprache und Substitution eines groben Äquivalents in der Kultur der Zielsprache (vgl. Hawel 2019). Nach Shavit (2006) gibt es Strategien wie Löschung, Manipulierung oder Änderung, und Abkürzung. Die erste beinhaltet das Löschen unerwünschter Szenen, wenn sie die grundlegende Handlung oder Charakterisierung nicht beschädigen. Bekannte Auslassungen dieser Art findet man in vielen Übersetzungen von Brüder Grimms Aschenputtel. In der Originalversion kommt es zu einer Verstümmelung von Zehen und Fersen, und die Augen der Schwestern werden herausgepickt. In der übersetzten Version wurden diese Szenen einfach weggelassen. Ein anderes Beispiel ist die Szene in Gullivers Reisen, in der Gulliver verdächtigt wird, eine Liebesbeziehung mit der Königin zu haben. Da eine solche Szene das Tabu der sexuellen Aktivität verletzen würde, wurde sie von allen Übersetzern weggelassen. Manchmal ist es jedoch nicht möglich, unerwünschte Szenen zu löschen, da diese für die Entwicklung der Handlung von entscheidender Bedeutung sein können. Solche Elemente werden häufig in ein für das Publikum geeignetes Format geändert. Diese Methode findet sich 29
wieder in Übersetzungen von Gullivers Reisen. Da die Szene, in der Gulliver den Palast durch Urinieren rettet, wichtig für die Handlung ist, haben die Übersetzer sie so verändert, dass er Wasser ins Feuer wirft oder es ausbläst (vgl. Frimmelová 2010). Das in dieser Arbeit analysierte Buch Die kleine Sensenfrau beschäftigt sich mit dem Thema Tod, das als Tabu bezeichnet wird. Sowohl im Originaltext als auch in der Übersetzung wird der Tod jedoch nicht ausgesprochen behandelt. Der Tod wird erst am Anfang des Buches erwähnt, dann ist dieses Thema eher in unterschiedlichen Bedeutungen verborgen und an einigen Stellen werden sowohl im Originaltext als auch in der Übersetzung Euphemismen verwendet. Wie das Thema Tod in dem Buch zum Ausdruck kommt, wird in Kapitel 4.1.2 im praktischen Teil dieser Arbeit ausführlicher erörtert. 30
PRAKTISCHER TEIL 31
3 Michael Stavarič 3.1 Leben des Autors Michael Stavarič ist ein österreichisch-tschechischer Schriftsteller, Übersetzer und Träger vieler Auszeichnungen und Preise, zum Beispiel des Adelbert-von-Chamisso- Preises 2012 (vgl. Schwenkter und Heinle 2018). Er wurde im Jahr 1972 in Tschechien geboren und schon im Alter von 7 Jahren emigrierte er mit seinen Eltern nach Österreich. Damit er sich schnell integrieren konnte, musste er möglichst schnell die deutsche Sprache lernen. Als Kind erreichte er ziemlich schnell ein gewisses Sprachniveau, brauchte aber noch Zeit, um akzentfrei und mit entsprechendem Wortschatz zu sprechen. Er war das einzige zweisprachige Kind in der Klasse und hatte deshalb einen Sonderstatus bei den Lehrern. Er interessierte sich immer für Sprachen, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass er nach dem Abitur ein Bohemistik- und Publizistikstudium an der Universität Wien begann. Obwohl seine Eltern immer zu Hause tschechisch gesprochen haben, hat er nie richtig tschechisch schreiben gelernt, was unter anderem auch ein Grund für das Bohemistikstudium war. An der Universität konnte er die tschechische Literatur lesen, was für ihn eine prägende Erfahrung war, weil er die tschechischen Autoren gern hatte. Die deutsche Sprache ist für ihn jedoch inzwischen eindeutig die Hauptsprache geworden und heutzutage beherrscht er Deutsch besser als seine eigene Muttersprache. Er spricht kein fehler- und akzentfreies Tschechisch mehr (vgl. Cornejo 2010). Was sein Interesse am Schreiben betrifft, wollte Stavarič schon im Alter von 12 Jahren Schriftsteller werden. Seit seinem 15. Lebensjahr hat er schon Gedichte auf Deutsch geschrieben und publiziert. Später versuchte er auch Gedichte auf Tschechisch zu schreiben, fand sie aber schlechter als die deutschen Gedichte (vgl. Cornejo 2010). Die Zweisprachigkeit hatte ihn auf jeden Fall stark beeinflusst. Einerseits hat er allgemein ein gutes Sprachgefühl, anderseits kann er sozusagen zwischen zwei Sprachen im Kopf „herumschalten“ (vgl. Cornejo 2010). Wie er mit eigenen Worten erklärt: „Man übersetzt eine Zeit lang sehr viel im Kopf und überlegt sich dann, was Wörter im Tschechischen bedeuten, wenn man sie übersetzt, was für zusätzliche Bedeutungen sie im Deutschen bekommen. Man beschäftigt sich wesentlich mehr auf einer lexikalisch-syntaktischen Ebene mit beiden Sprachen oder mit einer Sprache, in der man dann arbeitet und schreibt, als ein Muttersprachler, der nur deutsch schon immer geschrieben hat.“ (Stavarič 2009). 32
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