Gegenwart der Geschichte - Ebene 3 museum moderner kunst stiftung ludwig wien - Mumok

Die Seite wird erstellt Sibylle-Rose Seitz
 
WEITER LESEN
Gegenwart der Geschichte - Ebene 3 museum moderner kunst stiftung ludwig wien - Mumok
Gegenwart der Geschichte
Ebene 3

museum moderner kunst stiftung ludwig wien
Ebene

3

        2
        3
        4

        1
Gegenwart der Geschichte

Mittels der Medien Film, Fotografie und Malerei hinterfragen Dorit Margreiter,
Michael Part, Mathias Poledna und R. H. Quaytman die Darstellung von Geschichte
und unsere Beziehung zum frühen 20. Jahrhundert. Die Künstler*innen präsentieren
diese Medien, die unser Verständnis der Vergangenheit maßgeblich mitgeprägt
haben, in einer Form, durch die auch deren eigene Geschichte mitreflektiert wird.

Mathias Polednas 35-mm-Film Indifference, 2018, (1) zeigt eine Serie von kurzen
halluzinatorischen Sequenzen, die alle am Vorabend des Ersten Weltkriegs, kurz
vor dem Untergang des Habsburgerreichs, angesiedelt sind. Die Hauptfigur, ein
eleganter Offizier aristokratischer Herkunft, wird von Alain-Fabien Delon gespielt.
Sie ist keine historische Person, sondern ein Amalgam verschiedenster Charaktere
der zeitgenössischen Literatur sowie von Figuren aus Historienfilmen aus der Zeit
des Kalten Krieges. Der Vater des Schauspielers war bezeichnenderweise einer der
bekanntesten Filmschauspieler jener Zeit, sodass allein durch den Schauspieler
ein Moment des Wiedererkennens und der Vertrautheit entsteht. Der banale Alltag
der Figur, von Distanz und zusammenhanglosen Ereignissen geprägt, spielt in einer
Zeit, in der das Individuum zugleich traumatische Veränderungen erlebte: einerseits
durch die konfliktgeladene politische Situation in Europa, andererseits durch die
Modernisierungsprozesse und den technischen Fortschritt des frühen
20. Jahrhunderts.

In Indifference verschmilzt Poledna historische Detailliertheit mit einer Stimmung
der Mehrdeutigkeit. Gedreht wurde in Paris, die Orte, etwa der historische Garten
des Palais du Luxembourg, ähneln den historischen Kulissen des Habsburgerreichs.
Polednas hochstilisierte Bilder zitieren die vielfältigen Inszenierungsstrategien, die
die Malerei und die Literatur, den Historienfilm und das Autorenkino in den letzten
hundert Jahren geprägt haben. Für die Musikbegleitung arbeitete der Künstler mit
den gleichen Methoden der Nachsynchronisierung wie das Nachkriegskino – mit
Ausschnitten aus Werken von Josef und Johann Strauss oder aus den Symphonien
von Gustav Mahler. Musik und aufwendig inszenierte Bilder, Momente von Kitsch und
Melodramatik verbinden sich in Polednas historischen Szenen letztlich mit einem
Gefühl der Indifferenz.

Während Mathias Poledna die Inszenierung und die materiellen Bedingungen
filmischen Arbeitens als Grundlagen der Konstruktion von Geschichte thematisiert,
macht Dorit Margreiter das Medium der Repräsentation selbst zum Thema: In der
großformatigen Fotografie Experimental Noise No. 8, 2019, (2) scheinen undeutliche
helle Flecken auf der sonst tiefschwarzen Fläche auf. Es ist kein Sternenhimmel oder
sonst ein Motiv, das Margreiter fotografiert hätte, sondern die Visualisierung eines
fotografischen Filters. Digitalen Bildern wird damit ein künstliches Alter verliehen,
indem die technischen Unzulänglichkeiten und die physischen Spuren auf analogen
Fotografien nachgeahmt werden: Geschichte ist dem Medium eingeschrieben und
wird gleichsam durch dieses auch konstruiert.
Auch Michael Parts Arbeiten sind keine Fotografien im traditionellen Sinn.
Part setzt bei den chemischen und physikalischen Bedingungen fotografischer
Prozesse an. Seine Kompositionen Ohne Titel, 2017, (3) bestehen aus sich ver­
än­d­ernden lichtempfindlichen Substanzen. Es sind Bilder, die nichts abbil­den,
nicht abgeschlossene fotografische Prozesse ohne Apparat. Beim Silber­
gelatineverfahren, einer Technik aus der Frühzeit der Fotografie, wird Selen
eingesetzt, um Kontrast und Farbton zu steuern. Damit kann Part Effekte erzielen,
die den chemischen Prozess selbst abbilden und so die Frage stellen, was ein
fotografisches Bild grundlegend ausmacht, wie es sich verändert und wieweit
man es als historisches Dokument erhalten kann.

R. H. Quaytman unterwirft ihr gesamtes künstlerisches Werk einem übergeordneten
System: Es folgt genauen Regeln hinsichtlich Format und Trägermaterial und ist
wie ein Buch strukturiert, wobei jede Bildergruppe ein Kapitel in diesem Buch
darstellt – dessen Ausgang noch offen ist. Ein „Kapitel“ reagiert immer auf seinen
jeweiligen Ausstellungsort, indem Elemente von Recherchen zu lokalen historischen,
architektonischen und personellen Kontexten einbezogen werden. Voyelle, Chapter
26 (4) entstand 2013 für eine Ausstellung des mumok und bezieht sich auf die
historische Figur der österreichischen Kaiserin Elisabeth. Hauptsujet ist ein Foto
ihrer Totenmaske, angefertigt nach ihrer Ermordung 1898. Sie dient Quaytman
als Ausgangspunkt, aus dem sich von Bild zu Bild neue Variationen ergeben. Der
Totenmaske wird ein Schleier aus Diamantstaub übergelegt, das Bild von der
öffentlichkeitsscheuen Kaiserin damit gleichzeitig unsichtbar und sichtbar gemacht.
Dieses „Verschwinden“ greift Quaytman auch mit Das Lied des gelben Domino auf,
das den Titel eines unter Pseudonym geschriebenen Gedichts Elisabeths zitiert.

Quaytmans thematische Anregung aus dem Wiener Kontext erfährt im Chapter 26
zugleich eine genealogische Verschiebung: François Clouet malte im 16. Jahrhundert
das Porträt einer anderen Elisabeth – der Erzherzogin von Österreich, Königin von
Frankreich. Von Clouets Bildnis zeigt Quaytman lediglich den aufwendig gemalten
Spitzenkragen, der die Gesetze der Perspektive zu ignorieren scheint. Bereits 1962
hatte sich der Ethnologe Claude Lévi-Strauss in seiner Schrift Das wilde Denken
(La pensée sauvage) der Deformation dieses Kragens gewidmet. Dieser sei dennoch
als vollständige Form „lesbar“, weil er im Kontext des gesamten „Ereignisses“ und
der sozialen Struktur des Bildes verortet sei. Unter Bezugnahme auf Lévi-Strauss
kontextualisiert Quaytman den Kragen im Chapter 26 neu und spitzt dadurch ihre
Auseinandersetzung mit der Bedeutung symbolischer, ökonomischer und zeitlicher
Zusammenhänge weiter zu.
Impressum                            Ausstellung                                Begleitheft

mumok                                Enjoy                                      Gegenwart der Geschichte
Museum moderner Kunst                Die mumok Sammlung im Wandel
Stiftung Ludwig Wien                                                            Herausgegeben von Jörg Wolfert
                                     Gegenwart der Geschichte                   für die Kunstvermittlung mumok
MuseumsQuartier                      Kurator: Matthias Michalka                 Text: Matthias Michalka, Jörg Wolfert
Museumsplatz 1                                                                  Redaktion: Jörg Wolfert
A-1070 Wien                          19. Juni 2021 bis 18. April 2022           Lektorat: Eva Luise Kühn
www.mumok.at                                                                    Grafische Gestaltung: Olaf Osten
                                     Gefördert durch die Peter und Irene
Generaldirektorin: Karola Kraus      Ludwig Stiftung                            Umschlag: Mathias Poledna,
Wirtschaftliche Geschäftsführerin:                                              Filmstill aus: Indifference, 2018
Cornelia Lamprechter                 Kurator*innen: Manuela Ammer,              © Mathias Poledna
                                     Heike Eipeldauer, Rainer Fuchs,
                                     Naoko Kaltschmidt, Matthias Michalka       © mumok 2021
                                     Ausstellungsorganisation: Claudia Dohr,
                                     Lisa Schwarz, Dagmar Steyrer
                                     Restauratorische Betreuung: Christina
                                     Hierl, Kathrine Ruppen, Karin Steiner
                                     Ausstellungsaufbau: Tina Fabijanic,
                                     Wolfgang Moser, Valerian Moucka,
                                     Gregor Neuwirth, Andreas Petz, Helmut
                                     Raidl, Lovis Zimmer, museum standards
                                     Audiovisuelle Technik: Wolfgang Konrad,
                                     Michael Krupica, museum standards
                                     Presse: Marie-Claire Gagnon, Katja
                                     Kulidzhanova, Katharina Murschetz
                                     Marketing: Maria Fillafer, Anna Weiss
                                     Sponsoring, Fundraising und
                                     Veranstaltungen: Katharina Grünbichler,
                                     Karin Kirste, Cornelia Stellwag-Carion
                                     Kunstvermittlung: Mercede Ameri,
                                     Stefanie Fischer, Astrid Frieser,
                                     Stefanie Gersch, Helene Heiß, Benedikt
                                     Hochwartner, Maria Huber, Ivan Jurica,
                                     Ümit Mares-Altinok, Mikki Muhr, Stefan
                                     Müller, Patrick Puls, Christine Schelle,
                                     Jörg Wolfert
Die mumok Sammlung im Wandel
                  19. Juni 2021 bis 18. April 2022

          Ebene 4 Revue Moderne
               3 Gegenwart der Geschichte
               2 Figur und Skulptur
               0 (Anti-)Pop
              –2 Abstraktion. Natur. Körper
              –2 Re/Aktionen
              –4 Die Grenzen unserer Welt
Sie können auch lesen