Kürzlich entdeckte karaimische Übersetzungen der Hebräischen Bibel: Geschichte und Textbeziehung - Brill

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Kürzlich entdeckte karaimische Übersetzungen der Hebräischen Bibel: Geschichte und Textbeziehung - Brill
Vetus Testamentum (2021) 1–20
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Kürzlich entdeckte karaimische Übersetzungen der
Hebräischen Bibel: Geschichte und Textbeziehung

           Michał Németh | ORCID: 0000-0002-4720-7637
           Institut für Linguistik, Translatologie und Hungarologie,
           Jagiellonen-Universität, Krakau, Polen
           michal.nemeth@uj.edu.pl

           Published online: 30 July 2021

           Abstract

Recent research results have substantially broadened our knowledge regarding exist-
ing translations of the Hebrew Bible into Karaim. In the past few years numerous Bibli-
cal texts have been discovered that are among the oldest texts written in this moribund
language. In this paper, the author presents the oldest known Karaim texts as well as
recently discovered Karaim translations of the entire Tanakh and attempts to draw
some preliminary conclusions on the relationship between them. Namely, the textual
and stylistic similarities between Biblical manuscripts created separately in Karaim
communities located far from one another in the regions of Crimea, Lithuania, Vol-
hynia, and Galicia (including a considerable number of shared errores significativi)
highlight the close affinities between these manuscripts and suggest that a common
tradition of Bible translation must have existed among the Karaims. Moreover, the tex-
tual complexity and the use of sophisticated translation techniques and literary meth-
ods in the oldest known texts suggest that they could have been based on older texts or
on a well-established oral translating tradition.

           Keywords

Karaim language – Karaim philology – translations of the Hebrew Bible into Karaim

© Michał Németh, 2021 | doi:10.1163/15685330-bja10053
This is an open access article distributed under the terms of the CC BY-NC-ND 4.0 license.
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In den letzten Jahren wurden zahlreiche karaimische1 biblische Texte ent-
deckt. Jüngste Forschungen haben unser Wissen über die ältesten schriftli-
chen Aufzeichnungen des Karaimischen – hauptsächlich Übersetzungen des
Tanach – und die sprachliche Entwicklung dieser vom Untergang bedrohten
Sprache wesentlich verändert. Im Folgenden werden die wichtigsten bibli-
schen Manuskripte aus dieser Gruppe ausführlich vorgestellt und es wird
versucht, einige Schlussfolgerungen über die Beziehung zwischen ihnen
zu ziehen.

1        Einleitung

Eine Reihe von Gelehrten und geistlichen Führern der Karaimen behaupteten,
dass die Tradition der Übersetzung der Bibel in das Karaimische viel älter sei,
als dies philologisch dokumentiert ist. Der deutsche Hebraist und Theologe
Johann Buxtorf der Ältere (1564–1629) war der erste Gelehrte, der einer breite-
ren Öffentlichkeit bekannt machte, dass die Karaimen in ihrer religiösen Pra-
xis eine türkische Übersetzung der Bibel verwendeten und dass diese Texte in
hebräischer Schrift verfasst waren. Seine Erkenntnisse präsentierte er in der
zweiten Ausgabe seiner 1640 gedruckten Bibliotheca Rabbinica.2 Sein Bericht
ist von großem Wert, ungeachtet dessen, dass er nie irgendwelche schriftli-
chen Karaim-Quellen eingesehen hatte.3 Fast vier Jahrhunderte später erklärte
Šapšal, ein gelehrter geistlicher Führer der Karaimen, der Zugang zu einer gro-
ßen Sammlung von Manuskripten hatte, dass die gesamte Hebräische Bibel
bereits im 11. Jh. ins Karaimische übersetzt worden sei.4 Im Wortlaut schrieb
er, dass die Karaimen den Tanach in ihren „einheimischen Tschaltaj-Dialekt“
(родной чалтайскій діалектъ) übersetzten, und in einer Fußnote verglich er
den unklaren Begriff „Tschaltaj“ mit der tschagataischen Sprache.
   Die Meinung von Šapšal blieb jahrzehntelang unumstritten, doch die jüng-
sten Entdeckungen haben auf neue Aspekte aufmerksam gemacht. Im Jahr
2017 wurde eine paläographische Untersuchung von Ms. Evr I Bibl 143 durch-
geführt, die ergab, dass das Material des Manuskripts auf Ursprünge aus dem

1 Die Karaimen sind Anhänger des karäischen Judentums. Ihre Sprache ist Karaimisch, eine
  Sprache, die zum kiptschakisch-türkischen Zweig der Türksprachen gehört. Sie existierte
  in drei Hauptvarianten: Ostkaraimisch (in mehreren Varianten), Nordwest-Karaimisch und
  Südwest-Karaimisch (mit zwei leicht unterschiedlichen Varianten, die in Halitsch und Luzk
  gesprochen wurden).
2 Vgl. Buxtorf, De abbreviaturis hebraicis, 444–445.
3 Vgl. Szyszman, „Gustaf Peringers Mission“, 215.
4 Vgl. Šapšal, „Kratkij očerk“, 6.

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15. Jh. zurückgeht.5 Früher glaubte man, es handle sich um ein relativ junges
krim-karaimisches Manuskript.6 Es enthält eine Übersetzung eines großen
Teils des Pentateuchs in einer (bisher nicht identifizierten) türkischen Sprache
und ist in hebräischer Schrift geschrieben. Auch wenn das Manuskript mit gro-
ßer Wahrscheinlichkeit von der Krim stammt, muss noch geklärt werden, ob es
wirklich zur Tradition der karaimischen Bibelübersetzungen gehört.
    Was die Sprache dieses Manuskripts betrifft, so argumentiert Jankow-
ski, dass es Gründe gibt, es als Tschagataisch zu klassifizieren,7 was mit der
Meinung von Šapšal übereinstimmt. Shapira wiederum argumentiert, dass
die Übersetzung innerhalb einer rabbinischen und nicht einer karäischen
Gemeinde angefertigt wurde.8 Unsere kurze Untersuchung ergab, dass es
viele grammatikalische und morphologische Unterschiede zwischen diesem
Text und dem verfügbaren karaimischen linguistischen Material gibt. Auch
inhaltlich lassen sich Unterschiede beobachten: Ein wichtiges gemeinsames
Merkmal der biblischen karaimischen Übersetzungen ist nämlich die Vermei-
dung von Anthropomorphismen in Gottesbeschreibungen. Ein gutes Beispiel
für diese Übersetzungstechnik, die in Ms. ADub.III.73 verwendet wird, ist der
Gebrauch von bolušluġu Tenrinin „Gottes Hilfe“ zur Übersetzung von BHeb.
   ִ ‫„ ֱא‬Gott“, die Ersetzung von BHeb. ‫„ ָפנִ ים‬Gesicht“ durch aqyl „Geist“, der
‫ֹלהים‬
Gebrauch von bujruq „Anweisung“ für BHeb. ‫„ ֶרגֶ ל‬Fuß“, BHeb. ‫„ ֶא ְצ ַּבע‬Finger“
oder BHeb. ‫„ ַּכף‬Hand“, usw. Eine Beschreibung dieses Phänomens wurde u.a.
von A. Zajączkowski9 und Polliack10 vorgelegt.
    Im Ms. Evr I Bibl 143 ist diese Übersetzungstechnik zwar auch angewandt,
aber viel weniger ausgeprägt. Wir finden z.B. BHeb. ‫ל־פנִ ים‬       ָ ‫„ ָפנִ ים ֶא‬von Ange-
sicht zu Angesicht“ (Ex 33,11) übersetzt als jüz jüzgä „von Angesicht zu Ange-
sicht“ (Evr I Bibl 143, 20 ro) oder BHeb. ‫„ וְ ַת ַחת ַרגְ ָליו‬und [es war] unter den
Füßen“ (Ex 24,10) als ajaġy tibinä „unter seinen Füßen“ (Evr I Bibl 143, 6 ro).
Es lassen sich aber auch Beispiele anführen, wo solche Anthropomorphismen
vermieden wurden, wie z.B. BHeb. ‫ת־אח ָֹרי ָּופנַ י לֹא יֵ ָראּו‬
                                                              ֲ ‫ית ֶא‬ָ ‫ת־כ ִפי וְ ָר ִא‬
                                                                                    ַ ‫וַ ֲה ִסר ִֹתי ֶא‬
„Und wenn ich meine Hand von dir tue, wirst du mir hintennach sehen; aber
mein Angesicht kann man nicht sehen“ (Ex 33,23) übersetzt als Da ketirgäjmän
bulutymny da körgäjsän artyndaġylarymny da alyndaġym körünmägäjlär „Und
ich will meine Wolke wegnehmen, und ihr werdet sehen, was hinter mir ist;
und was vor mir ist, wird nicht gesehen werden“ (Evr I Bibl 143, 20 vo). Auf den

5		    Vgl. Grishchenko, Edited Slavonic-Russian Pentateuch, 172.
6		    Vgl. Harkavy und Strack, Catalog der hebräischen Bibelhandschriften, 167–168.
7		    Vgl. Jankowski, „Translation of the Tanakh into Crimean Karaim“, 39–40.
8		    Vgl. Shapira, „An Unknown Jewish Community“, 289–293.
9		    Vgl. Zajączkowski, „Unikanie wyrażeń antropomorficznych“.
10		   Vgl. Polliack, Karaite Tradition of Arabic Bible Translation, 230–232.

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4                                                                                    Németh

ersten Blick scheint das Vorhandensein solcher Passagen die These zu unter-
stützen, dass diese Übersetzung von karäischen Türken stammt, aber es darf
nicht vergessen werden, dass die allegorische Auslegung der Heiligen Schrift
kein rein karäisches Phänomen war.
   Da es keine schlüssigen karaimischen Quellen gibt, die weiter zurückgehen
als in das 17. Jh., sind weitere linguistische Untersuchungen erforderlich, um
die Provenienz dieses Manuskripts festzustellen. Dennoch darf nicht völlig
außer Acht gelassen werden, dass die karaimische Tradition der Bibelüberset-
zung auf tschagataische Texte zurückgeht.
   Šapšals Ansicht wurde (teilweise) von Musaev geteilt. Ihm zufolge war der
Tanach bereits vom 11. bis zum 14. Jh. ins Karaimische übersetzt worden.11 Im
Gegenzug behaupteten A. Zajączkowski und W. Zajączkowski, dass die münd-
liche Tradition der Übersetzung der Bibel ins Karaimische bis ins 12. oder
sogar 11. Jh. zurückverfolgt werden kann.12 Gleichzeitig gehen Pritsak und
W. Zajączkowski davon aus, dass die ältesten schriftlichen Aufzeichnungen
aus dem 16. Jh. stammen und dass sie in Südwest-Karaimisch verfasst wurden,
während die ältesten Übersetzungen ins Nordwest-Karaimische in der ersten
Hälfte des 18. Jh. entstanden sind.13
   Leider haben die oben genannten Autoren ihre Behauptungen nicht weiter
begründet. Dank der jüngsten Entdeckungen in den Archiven lässt sich sagen,
dass die ältesten nordwest-karaimischen Übersetzungen des Pentateuchs tat-
sächlich aus der zweiten Hälfte des 17. Jh. stammen (siehe 2.3), aber wir haben
(noch?) keinen Beleg für irgendwelche biblischen karaimischen Texte aus dem
Südwest-Karaimischen im 16. Jh.
   Gustaf Peringer Lillieblad (1651–1710) ist der erste Gelehrte, der tatsächlich
eine karaimische Bibelstelle verzeichnete. Im Jahr 1691 zitierte er die ersten
drei Verse der Genesis in einen Brief an Hiob Ludolf (1624–1704). Der Brief
wurde von Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707) veröffentlicht,14 aber der Ver-
bleib der Originalkorrespondenz und des Originalmanuskripts ist unbekannt.
Das von Tentzel veröffentlichte linguistische Material wurde von Németh mit
seinen Nachdrucken und anderen Manuskripten aus dem 18. Jh. verglichen.15

11		   Vgl. Musaev, Grammatika karaimskogo jazyka, 8.
12		   Vgl. Zajączkowski, „Karaimische Literatur“, 793; idem, „Karaimische Übersetzungen“, 161.
13		   Vgl. Pritsak, „Karaimische“, 323; Zajączkowski, „Karaimische Übersetzungen“, 162.
14		   Vgl. Tentzel, Monatliche Unterredungen, 572–575.
15		   Vgl. Németh, „Gustaf Peringer’s Karaim Biblical Material“.

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2         Jüngste Entdeckungen

2.1     Allgemeine Anmerkungen
Zum Zeitpunkt des Abfassens dieses Artikels sind uns ca. 150 biblische Manu-
skripte und gedruckte Quellen in Karaimisch bekannt, die sich in verschiede-
nen Beständen befinden, darunter auch in Privatarchiven von karaimischen
Familien. Die ältesten dokumentierten ostkaraimischen Übersetzungen des
Tanach stammen aus der zweiten Hälfte des 17. Jh., die ältesten nordwest-
karaimischen Bibeltexte hingegen aus der ersten Hälfte des 18. Jh., während die
ersten südwest-karaimischen Übersetzungen auf das frühe 19. Jh. zurückgehen.
Es gibt keinen umfassenden Katalog biblischer karaimischer Texte, dennoch
wurden die wertvollsten östlichen karaimischen Quellen in einigen Werken
Jankowskis vorgestellt,16 während ein Verzeichnis aller bekannten westlichen
karaimischen Texte – mit einigen Ergänzungen zu Jankowskis Übersicht – in
Németh und Sulimowicz-Keruth vorgelegt wurde.17 Diese Werke geben einen
Überblick über die in der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur ver-
streuten Informationen und fassen die Ergebnisse der Archivierungsarbeiten
zusammen, die vom Autor in den Jahren 2012–2020 in enger Zusammenarbeit
mit Dr. Anna Sulimowicz-Keruth in polnischen Privatarchiven durchgeführt
wurden.

2.2      Der älteste Bibeltext in karaimischer Sprache: Ms. JSul.III.02
Die älteste bekannte Übersetzung biblischer Texte in das Karaimische wurde
in Warschau in Ms. JSul.III.02 entdeckt. Sie wurde nach 1648, aber nicht spä-
ter als 1687 verfasst, was sie zur ältesten ostkaraimischen Quelle überhaupt
und zu einem der wenigen existierenden karaimischen Texte aus dem 17. Jh.
macht – Poznański und Shapira erwähnen ein Krim-Manuskript von 1672,18
das die Propheten und Schriften enthielt. Vielleicht bildete es die Grundlage
für das Buch Nehemia in dem bekannten eupatorianischen Druck von 1841
(hrsg. von Tiriškan). Der Verbleib dieses Manuskripts ist jedoch unbekannt.
   Der Text ist vokalisiert. Heute beinhaltet er die Übersetzung der Vorderen
Propheten, d.h. das Buch Josua (5 ro–35 ro), das Buch der Richter (35 vo–70 ro),
die Bücher Samuel (73 ro–144 vo) und die Bücher der Könige (145 ro–221 vo)

16		   Vgl. Jankowski, „Translations of the Bible into Karaim“; idem, „Translation of the Tanakh
       into Crimean Karaim“; siehe auch seine Einleitung in: Jankowski et al., Crimean Karaim
       Bible, x–xx.
17		   Vgl. Németh und Sulimowicz-Keruth, „Emergence of the Karaim Bible“.
18		   Vgl. Poznański, „Karäische Kopisten“, 88; Shapira, „The Karaim Translation of the Book of
       Nehemia“.

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6                                                                                  Németh

sowie das Buch Rut (223 ro–226 vo; siehe die kritische Ausgabe von Németh19),
die Bücher Esther (223 ro–236 vo) und einen kurzen Abschnitt des Buches der
Sprichwörter (237 ro–244 vo). Aus einer hebräischen Anmerkung auf Folio 70 ro
erfährt man, dass sie ursprünglich auch die Bücher der Hinteren Propheten
sowie den gesamten Text der Ketuvim enthielt, aber das Schicksal der letzteren
Passagen ist unbekannt.
    Aus demselben Kommentar geht hervor, dass der Hauptteil des Manu-
skripts von Abraham ben Samuel kopiert wurde. Leider ist über die Biographie
des Kopisten so gut wie nichts bekannt. Die einzige vorhandene Information
ist ein Hinweis auf sein Todesjahr 1692/1693, der in der erwähnten Annotation
gefunden werden konnte.20
    Es gibt keine verfügbaren karaimischen Übersetzungen, deren Alter genau
bestimmt werden könnte und die älter als JSul.III.02 wären – daher kann die-
ser Text nicht mit älteren Quellen verglichen werden. Doch allein die Tatsache,
dass Abraham ben Samuel als Kopist (und nicht als Übersetzer) dieses Werkes
erwähnt wird, lässt vermuten, dass es frühere Übersetzungen gegeben haben
muss. Die sprachliche Kohärenz und Komplexität der Übersetzung sowie die
Verwendung ausgeklügelter Übersetzungstechniken und literarischer Mittel
legen nahe, dass die Übersetzung auf älteren Texten als Teil einer gut eta-
blierten Übersetzungstradition beruhte. Das Manuskript wurde von Németh
datiert und erschöpfend beschrieben.21

2.3     Übersetzungen von Simcha ben Chananel aus dem 18. Jh.
Die ältesten datierbaren westkaraimischen Bibeltexte wurden nach unse-
rem heutigen Kenntnisstand von Simcha von Kukizów ben Chananel von
Derażne kopiert, der wahrscheinlich um 1670 in Trakai geboren wurde. Er
fungierte höchstwahrscheinlich ab 1709 als Hazzan in Kukizów und blieb bis
zu seinem Tod im Amt. Er verstarb am Sabbat des Parascha Zaw des Jahres
5483 A.M. (d.h. höchstwahrscheinlich am 27. März 1723). Alle biographischen
Fakten, die bisher ans Licht kamen, sind in Németh und Sulimowicz-Keruth
zusammengefasst.22
   Zwei biblische Manuskripte, die von Simcha ben Chananel geschaffen
wurden, sind bekannt: Das erste, ADub.III.73, der älteste datierbare biblische
Text auf West-Karaimisch, wurde 2014 in Warschau entdeckt. Es wurde 1720

19		   Vgl. Németh, „A Crimean Karaim Handwritten Translation“.
20		   Vgl. Németh, „A Crimean Karaim Handwritten Translation“, 164.
21		   Vgl. Németh, „A Crimean Karaim Handwritten Translation“.
22		   Vgl. Németh und Sulimowicz-Keruth, „Emergence of the Karaim Bible“.

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im Mittel-Nordwest-Karaimischen, d.h. in Simchas einheimischem Dialekt,
geschrieben und besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist eine Übersetzung
der Thora (Folios 1 ro–343 ro), die von Németh kritisch bearbeitet und mit den
meisten der verfügbaren westlichen und östlichen karaimischen Übersetzun-
gen verglichen wurde.23 Der zweite Teil enthält eine Übersetzung des Buches
Rut (344 ro–349 vo; kritisch bearbeitet von Németh24), des Buches der Klagelie-
der (350 ro–360 ro), des Predigerbuches (360 vo–374 vo) und des Buches Esther
(375 ro–388 vo).25
   Aus dem Kolophon auf den Blättern 342 vo–343 ro erfährt man, dass der Text
der Thora zwischen dem 25. März und dem 31. Mai 1720 kopiert wurde, was
darauf hinweist, dass der karaimische Text der Thora in weniger als 70 Tagen
geschrieben wurde. Die Kolophone, die die Übersetzung der Bücher Exodus,
Levitikus, Numeri und Deuteronomium auf den Blättern 157 vo, 207 vo, 278 vo
und 342 vo abschließen, machen deutlich, dass der Text der Thora vom Kopi-
sten selbst übersetzt wurde. Es gibt zwar im Manuskript keine spezifischen
Informationen darüber, ob er auch der Übersetzer der vier Bücher der Ketu-
vim war, die auf den Blättern 344 ro–388 vo kopiert wurden, aber dies scheint
sehr wahrscheinlich, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass aus JSul.I.11
(28 ro), einem 1878 kopierten Manuskript, hervorgeht, dass er der Übersetzer
des Buches der Klagelieder war. (Dies ist auch ein weiteres Beispiel dafür, wie
wichtig die Rolle von Simchas Übersetzungen noch im späten 19. Jh. war.) Dar-
über hinaus weiß man aus zahlreichen karaimischen Gebetbüchern des 18.
und 19. Jh., dass ihm der Titel ‫„ המתרגם‬der Übersetzer“, oder ‫המתרגם האלהי‬
‫„ והתורני‬der göttliche Übersetzer und ha-Torani“ zuerkannt wurde.26
   Das zweite bekannte Manuskript von Simcha wurde erstmals von Kowalski
als Übersetzung der Thora in das Nordwest-Karaimische erwähnt, die „1723 in
Derażne kopiert wurde“.27 Kowalskis Bericht war etwas rätselhaft angesichts
der Tatsache, dass die karaimische Gemeinschaft von Derażne während des
Chmelnyzkyj-Aufstandes (1648–1649) zerstört wurde und es keine überzeu-
genden historischen Beweise dafür gibt, dass die Gemeinschaft im 18. Jh.

23		   Vgl. Németh, The Western Karaim Torah.
24		   Vgl. Németh, „An Early North-Western Karaim Bible Translation from 1720, Part 2“.
25		   Für eine Beschreibung ihrer Sprache und ihrer Bedeutung für die historisch-linguistische
       und allgemeinsprachliche Forschung vgl. Németh, „An Early North-Western Karaim Bible
       Translation from 1720, Part 1“; idem, „An Early North-Western Karaim Bible Translation
       from 1720, Part 2“; idem, „An Early North-Western Karaim Bible Translation from 1720,
       Part 3“.
26		   Vgl. Németh, Middle Western Karaim, 38–39.
27		   Kowalski, Karaimische Texte, 289.

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weiter bestand. Eine Zusammenfassung dieser jahrhundertelangen Diskus-
sion wurde kürzlich von Németh vorgelegt.28
   Das Schicksal dieses Manuskripts war, bevor es 2019 in einer Privatsamm-
lung in Krakau identifiziert wurde (es erhielt die Zugangsnummer TKow.01),
lange Zeit unbekannt. Eine Analyse ergab, dass es von Simcha ben Chananel
kopiert wurde und dass ein großer Teil des Manuskripts vokalisiert ist. Laut
einer im Manuskript gefundenen Anmerkung des Kopisten beendete er die
Kopie am ersten Tag des Paraschas Wayeschew im Monat Kislew 5483 A.M., d.h.
höchstwahrscheinlich am 7. Dezember 1722 n.Chr. Daher lässt sich sagen, dass
die Übersetzung 1722 in Kukizów kopiert wurde, und nicht 1723 in Derażne.
Diese Daten wurden wahrscheinlich deshalb falsch interpretiert, weil das Jahr
5483 A.M. mit den Jahren 1722 und 1723 n.Chr. übereinstimmt und weil Simcha
sich im Manuskript als „Simcha, der Sohn von Chananel von Derażne“ bezeich-
nete, in Wirklichkeit aber war es Chananel, der „von Derażne“ war, und nicht
der Kopist.
   Die beiden Manuskripte sind einander ähnlich. Es lassen sich zwar eine
Reihe von Unterschieden zwischen ihnen finden, doch diese sind nicht
besonders signifikant, sodass man diese beiden Manuskripte mit Recht als
Texte behandeln kann, die aus derselben Quelle stammen. Gleichwohl kön-
nen sie nicht als Schwestermanuskripte betrachtet werden; die Entstehung
von TKow.01 war nicht das Ergebnis einer sklavisch genauen Kopie von ADub.
III.73. Simcha ben Chananel ergänzte den Originaltext der Hebräischen Bibel
oft mit seinen eigenen interpretativen Ergänzungen, und beide Texte enthal-
ten interpretative Ergänzungen zum hebräischen Originaltext, die jeweils ein-
zigartig sind – besonders in den poetischen Passagen.
   Da es sich bei diesen beiden Manuskripten um die nachweislich ältesten
karaimischen Übersetzungen der Thora handelt, lässt sich nicht mit ausrei-
chender Genauigkeit feststellen, ob Simcha ben Chananel in seinem Werk
andere karaimische Übersetzungen verwendet hat. Ein kurzer Vergleich die-
ser beiden Quellen mit Evr I Bibl 143 zeigt erhebliche Diskrepanzen: Simchas
Übersetzungen sind viel aufwendiger, während der Wortlaut und die Struktur
des Textes deutliche Unterschiede aufweisen.
   Tatsächlich aber reicht Peringers Bericht allein schon aus, um die Existenz
von karaimischen Übersetzungen zu vermuten, die älter als 1720 sind und für
Simcha bei seiner Arbeit hilfreich hätten sein können. Es ist zudem beachtens-
wert, dass das oben erwähnte Buch Rut in Ms. JSul.III.02 eine große Anzahl
von textlichen Ähnlichkeiten mit dem im zweiten Teil von Simchas Werk,

28		   Vgl. Németh, „An Early North-Western Karaim Text“, 84–85.

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Kürzlich entdeckte karaimische Übersetzungen                                            9

dem kopierten Buch Rut, aufweist.29 Und schließlich ist es auch sehr unwahr-
scheinlich, dass Simcha ben Chananel, ein religiöses Oberhaupt und aktiver
Teilnehmer an wissenschaftlichen und theologischen Auseinandersetzungen,
sich nicht der vorhandenen biblischen Quellen bewusst war.

2.4       Neu entdeckte westkaraimische Texte aus dem späten 18. und 19. Jh.
Was die westkaraimischen Quellen anbelangt, so sind Handschriften, die noch
im 18. Jh. und, im Falle der südwest-karaimischen Texte, um die Wende zum 19.
Jh. kopiert wurden, linguistisch sehr wertvoll. Sie sind eine wichtige Quelle des
Wissens über die phonologischen, phonetischen und morphologischen Ver-
änderungen, die vor 1800 im westlichen Karaim stattgefunden haben. In den
letzten Jahren wurden mehrere Übersetzungen einzelner biblischer Bücher
entdeckt, die wahrscheinlich in diese Zeit fallen, auch wenn ihr genaues Alter
schwer zu bestimmen ist. Hier sollte das Buch Esther erwähnt werden, das im
Manuskript JSul.III.65 (5 ro–12 ro, 13 vo–16 vo) gefunden wurde. Dessen paläo-
graphischen und sprachlichen Merkmale lassen den Schluss zu, dass der Text
höchstwahrscheinlich im späten 18. Jh. in Halitsch verfasst wurde. (Wenn dies
zutrifft, wäre dies der älteste bekannte Text aus Halitsch.) Es ist in Form von
handschriftlichen Ergänzungen erhalten geblieben, die zusammen mit dem
vierten Band des 1737 gedruckten Siddur gebunden wurden. Eine weitere
Quelle aus dieser Gruppe ist Ms. F305–41. Bei diesem Manuskript handelt es
sich um eine Sammlung religiöser Werke, die teilweise im 18. Jh. kopiert wur-
den (1 ro–65 vo), darunter eine Auswahl aus den Büchern aus den Neviʾim für
Pesach (30 ro–47 vo), eine Übersetzung des Buches der Klagelieder (48 ro–55 vo)
und Auszüge aus dem Buch Hosea (48 ro–55 vo).
   Im 19. Jh. nahm die Zahl der westlichen karaimischen Bibelübersetzungen
beträchtlich zu, was zu einem großen Teil auf die bemerkenswerten Leistungen
zweier Kopisten zurückzuführen war: Jeschua Josef Mordkowicz (1802–1884)
und Zevulun ben Ananja Rojecki (geboren zwischen 1842 und 1844, gestor-
ben 1923). Beide gehörten der intellektuellen Elite an und übten die Aufgaben
eines Hazzans aus. Jeschua Josef war 19 Jahre alt, als er der Junior-Hazzan in
Kukizów wurde. In den 1830er Jahren kehrte er in seine Heimatstadt Halitsch
zurück. Dort wurde er 1866 zum Hazzan ernannt und führte dieses Amt bis
zu seinem Tod 1884 aus. Neben Bibelübersetzungen bereitete er auch zahl-
reiche Peschatim anderer religiöser Werke vor.30 Zevulun Rojecki wiederum
wurde zwischen 1842 und 1844 geboren, höchstwahrscheinlich in der Stadt

29		   Vgl. Németh, „A Crimean Karaim Handwritten Translation“, 205–206.
30		   Vgl. Németh, Middle Western Karaim, 21.

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Naujamiestis. Er wurde in Panevėžys zum Hazzan gewählt, wahrscheinlich
Mitte der 1890er Jahre, und amtierte bis zu seinem Tod 1923.31
   Die meisten Werke von Mordkowicz wurden in polnischem Privatbesitz
entdeckt, während sich die Übersetzungen von Rojecki in der Sammlung von
karaimischen Quellen der Wroblewski-Bibliothek der Litauischen Akademie
der Wissenschaften in Vilnius befinden. Die Übersetzungen von Rojecki blie-
ben auch in der wissenschaftlichen Literatur unbeschrieben. Unter anderem
waren die beiden die einzigen Kopisten, die Kopien des gesamten Tanach schu-
fen. Dank ihrer Bemühungen erhielten beide westkaraimischen Dialekte die
volle textliche Abdeckung (Mordkowicz sprach Südwest-, Rojecki Nordwest-
Karaimisch). Zum Vergleich sei angemerkt, dass der gesamte Tanach bis dahin
in das Ostkaraimische übersetzt worden war, siehe Manuskript BSMS 288 aus
dem 18. Jh., das die gesamte Hebräische Bibel mit Ausnahme der Chronikbü-
cher enthält.32 Die einzige (angeblich) ostkaraimische Übersetzung der Chro-
nikbücher wurde von Sklare erwähnt und wird in der Universitätsbibliothek
Edinburgh aufbewahrt.33
   Wichtig ist, dass die Werke Mordkowiczs und Rojeckis nachweislich auf
vorhandenen Übersetzungen beruhten. Es sind nicht nur die offensichtlichen
textlichen Parallelen, die diese Behauptung erlauben, sondern auch die Kopi-
sten selbst haben auf diese Tatsache hingewiesen. Zum Beispiel finden sich in
dem von Mordkowicz kopierten Manuskript JSul.III.01 zahlreiche Anmerkun-
gen, in denen der Kopist Simcha ben Chananels Übersetzung als Alternative
zu der von ihm vorgeschlagenen zitiert, siehe z.B. JSul.III.01 (folio 93 vo).
   Angesichts der Tatsache, dass Mordkowicz eine lange Karriere als produk-
tiver Kopist hinter sich hat, weist sein Werk einige sprachliche Besonderhei-
ten auf. In seinen frühen Werken sind die originalen vorderen Labialvokale
ö, ü weitgehend erhalten, obwohl sich diese Vokale im Südwest-Karaimischen
etwa ab der zweiten Hälfte des 18. Jh. zu e, i entwickelten.34 Die oben erwähnte
Ms. JSul.III.01, eine Übersetzung der Thora und der Haftara, ist ein gutes Bei-
spiel für einen Text, der archaische linguistische Merkmale aufweist.35 Es
gibt jedoch noch eine andere Gruppe von biblischen Texten, die er kopierte
und die höchstwahrscheinlich aus der zweiten Hälfte des 19. Jh. stammen

31		   Für weitere Informationen zur Biografie beider Personen vgl. Németh und Sulimowicz-
       Keruth, Emergence of the Karaim Bible.
32		   Vgl. Jankowski et al., Crimean Karaim Bible.
33		   Vgl. Sklare, „A Guide to Collections“, 914.
34		   Vgl. Németh, Middle Western Karaim, 67–76.
35		   Vgl. Németh, „A Historical Phonology of Western Karaim“, 264; Cegiołka, „A South-
       Western Karaim Bible Translation“.

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Kürzlich entdeckte karaimische Übersetzungen                                                 11

und bei denen die vorderen Labiale ö, ü überwiegend nicht erhalten geblie-
ben sind. Dazu gehören ADub.III.82 (Thora, Haftara), ADub.III.83 (Hintere
Propheten, Kleine Propheten), ADub.III.84 (Schriften, außer den Chronik-
büchern), TKow.02 (Vordere Propheten, Chronikbücher), TKow.03 (Schrif-
ten, außer Chronikbücher) und TKow.04, die zusammen eine vollständige
Übersetzung des gesamten Tanach darstellen. Die drei letztgenannten Quel-
len wurden 2019 und 2020 in Krakau entdeckt und enthalten u.a. die einzige
existierende Übersetzung der Vorderen Propheten und der Chronikbücher in
Südwest-Karaimisch. Aufgrund dieser Entdeckung können wir mit Sicherheit
sagen, dass der gesamte Tanach spätestens Mitte des 19. Jh. in das Südwest-
Karaimische übersetzt wurde.
   Auch Rojeckis Übersetzungen, die in Litauen in der zweiten Hälfte des 19.
Jh. angefertigt wurden, basierten weitgehend auf älteren Texten. Interessant
ist jedoch, dass er in seinen Texten zumindest einige der Fehlübersetzungen
korrigierte, die in anderen west- und ostkaraimischen Übersetzungen ständig
wiederholt worden waren. Ein gutes Beispiel ist die Auslegung von Gen 2,8, in
der Hebr. ‫„ ִמ ֶק ֶדם‬ostwärts“ irgendwann mit Hebr. ‫„ ֻמ ְק ָדם‬früher, früh“ verwech-
selt worden war. Dieser Fehler fand schließlich Eingang in die meisten uns
bekannten Übersetzungen.36
   Auf der Grundlage der in der Wroblewski-Bibliothek der Litauischen Aka-
demie der Wissenschaften durchgeführten Archivrecherchen können wir
schließen, dass die Zusammenstellung des gesamten Tanach Rojecki zuge-
schrieben werden kann, so etwa die folgenden Texte: Mss. F305-02 (Genesis,
Haftara), F305-74 (Genesis, Exodus), F305-03 (Exodus), F305-130 (Exodus,
Levitikus), F305-04 (Levitikus), F305-05 (Numeri), F305-129 (Numeri), F305-06
(Deuteronomium), F305-128 (Deuteronomium), F305-01 (Thora, Vordere Pro-
pheten), F305-90 (Hintere Propheten, Kleine Propheten, Psalmen, Sprichwör-
ter, Hiob, Fünf Megillot), F305-34 (Jonah), F305-42 (Psalmen, Sprichwörter),
F305-79 (Psalmen, Sprichwörter, Rut, Hohelied, Prediger), F305-75 (Psalmen,
Sprichwörter, Hohelied, Prediger), F305-07 (Fünf Megillot, Daniel, Esra und
Nehemia, Chronikbücher), and F305-91 (Daniel, Esra und Nehemia, Chronik-
bücher) – alle oben genannten Quellen stammen höchstwahrscheinlich aus
dem späten 19. oder der Wende zum 20. Jh.
   Von allen in Luzk kopierten südwest-karaimischen Texten sind die ältesten
bekannten Mss. JSul.I.04 und JSul.I.50.06. Ersterer ist eine Übersetzung des

36		   Vgl. ADub.III.73, TKow.01, BSMS 288, JSul.III.01, Gaster Hebräisch MS 170, Tiriškan und
       ADub.III.82. In Rojeckis F305–01 wurde dieser Fehler korrigiert (3 ro) – und auch in der
       von Kowalski zitierten Quelle; vgl. Kowalski, Karaimische Texte, 48.

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1814 von Jaakov ben Jitzchak Gugel kopierten Buches Hiob (in Hebräisch und
Karaimisch), das archaische phonologische Merkmale aufweist. Das Manu-
skript JSul.I.50.06 wiederum ist eine Übersetzung des Buches Esther und eine
kurze Sammlung religiöser Gedichte, die von einer unbekannten Person um
1815 verfasst wurde. Die Sprache der Gedichte weist keine archaischen Merk-
male auf. Darüber hinaus ist uns eine weitere, größere Gruppe von Texten aus
dem 19. Jh. bekannt, die höchstwahrscheinlich aus Luzk stammen; aber es sind
weitere Untersuchungen erforderlich, um diese Hypothese zu bestätigen.37

3         Ertrag

Die oben genannten archivalischen Entdeckungen haben unser Wissen über
verschiedene Aspekte des literarischen Schaffens im Karaimischen erheblich
erweitert.
   Erstens sind diese Manuskripte aufgrund ihres archaischen Charakters eine
unschätzbare Informationsquelle für die historisch-linguistische Forschung.
Vor allem erlauben sie grammatikalische und phonologische Phänomene zu
dokumentieren, die bisher nicht beschrieben wurden, da die meisten gram-
matikalischen Beschreibungen, die vor diesen Entdeckungen veröffentlicht
wurden, auf Quellen aus der Zeit vor dem 19. Jh. zurückgehen. So konnte bei-
spielsweise ein besserer Einblick in die Entwicklung der Vokalharmonie im
Mittel-Nordwest-Karaimischen gewonnen und zum ersten Mal die Verwen-
dung des -p edi- Plusquamperfekts, des -a-d- kontinuativ Präsens und des -a
jez- Approximativs beschrieben werden.38 Die Texte bilden eine ideale Grund-
lage auch für die lexikographische Analyse, da der Kontext, in dem die Lexeme
erscheinen, genau definiert ist, während die Manuskripte mit größter Sorgfalt
von professionellen Kalligraphen kopiert wurden.
   Zweitens stellen diese Quellen eine solide Grundlage für eine viel genauere
Beschreibung der karaimischen Tradition der Übersetzung der Hebräischen
Bibel dar. Die Entdeckung verschiedener Übersetzungen derselben bibli-
schen Bücher – einschließlich derer, die in verschiedenen karaimischen
Dialekten, in verschiedenen Zeitabschnitten und in weit voneinander ent-
fernten Gemeinschaften entstanden sind – bietet ein breites Spektrum an

37		   Vgl. Németh und Sulimowicz-Keruth, Emergence of the Karaim Bible.
38		   Vgl. Németh, „A Historical Phonology … Evolution of Consonant Harmony“; idem, „A
       Historical Morphology … -p edi Past Tense“; idem, „A Historical Morphology … -a-d- Con-
       tinuative“; idem, „A Historical Morphology … -a jez- ~ -a ez- Approximative“.

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Kürzlich entdeckte karaimische Übersetzungen                                                13

Forschungsmöglichkeiten. Die beträchtliche Anzahl von Ähnlichkeiten zwi-
schen JSul.III.02 (17. Jh., Krim), ADub.III.73 (18. Jh., Kukizów), BSMS 288 (18. Jh.,
Krim), JSul.III.01 (frühes 19. Jh., Halitsch) und F305-01 (spätes 19. Jh., Litauen)
ist bereits ein ausreichender Beweis dafür, dass es eine gemeinsame karaimi-
sche Schule für Bibelübersetzungen gegeben haben muss.39 Zum Vergleich:
Der Krymchak Targum des Buches Rut, herausgegeben und kommentiert von
Ianbay und Erdal,40 unterscheidet sich erheblich von den karaimischen Tex-
ten, die wir analysieren konnten.
   Nicht zuletzt sind diese Quellen kulturell äußerst wertvoll. Die Karaimen
sind Anhänger einer Religion, die auf einer wörtlichen Auslegung der Heiligen
Schrift beruht. Viele Jahrzehnte lang gab es jedoch keine gedruckte Ausgabe
des Tanach, die sie in der religiösen Praxis verwenden konnten. Die vorhande-
nen Übersetzungen wurden in hebräischer Schrift geschrieben oder gedruckt,
aber aufgrund des allmählichen Aussterbens ihrer Kultur haben die meisten
Mitglieder der karaimischen Gemeinschaften die Fähigkeit verloren, die
hebräische Schrift zu lesen und hatten daher keinen Zugang zum Inhalt ihrer
Quellen. Dieser Prozess begann in den 1920er und 1930er Jahren und gewann
nach dem Zweiten Weltkrieg rasch an Dynamik. Vor diesem Hintergrund sollte
die Aufgabe der Vorbereitung kritischer Ausgaben dieser Texte daher nicht nur
als Forschungsaufgabe verstanden werden, sondern auch als Chance zur Wie-
derherstellung einer grundlegenden Komponente der karaimischen Identität.

          Dank

Dieses Projekt wurde vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des
Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 (Fördervereinbarung
Nr. 802645) gefördert.

          Abkürzungen

BHeb. = Bibelhebräisch | Ms. = Manuskript | Mss. = Manuskripte

39		   Vgl. dagegen die Meinung von Omeljan Pritsak: „Es gibt keine einheitliche Tradition der
       Bibelübersetzung; daher viele Fassungen einzelner Bibelbücher [...]“ (Pritsak, „Karaimi-
       sche“, 323).
40		   Vgl. Ianbay und Erdal, „Krimchak Translation“.

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         Bibliographie

         Primärquellen
Der erste Bestandteil der Signaturen ist stets ein Verweis auf das Archiv, in dem sich
das jeweilige Manuskript befindet:

ADub = Privatarchiv des Aleksander Dubiński (1924–2002), Warschau, Polen
F305 = Wroblewski-Bibliothek der Litauischen Akademie der Wissenschaften, Vilnius,
   Litauen (Karaimische Sammlung)
JSul = Privatarchiv des Józef Sulimowicz (1913–1973), Warschau, Polen
TKow = Privatarchiv des Tadeusz Kowalski (1889–1948), Krakau/Warschau, Polen

Der Inhalt der Quellen, die in den oben genannten Sammlungen aufbewahrt werden,
wurde in der vorliegenden Arbeit ausführlich beschrieben, weshalb sie in diesem
Abschnitt nicht noch einmal aufgezählt werden. Die handschriftlichen Objekte, die
in anderen als den oben genannten Beständen aufbewahrt werden, sind nachstehend
aufgeführt:

BSMS 288 = Eine Übersetzung fast des gesamten Tanach (ohne Chronikbücher) in das
   Ostkaraimische. Im 18. Jh. in vier Bänden vervielfältigt. Aufbewahrt in der Universi-
   tätsbibliothek Cambridge. 620 Folios.
Evr I Bibl 143 = Eine Übersetzung der Bücher Exodus (ab Ex 21,11), Levitikus und
   Numeri (bis Num 28,15), die im 15. Jh. in einer türkischen Sprache abgeschrieben
   wurden. Aufbewahrt in der Russischen Nationalbibliothek in Sankt Petersburg. Ver-
   fügbar auf der Website der Nationalbibliothek von Israel: http://web.nli.org.il/sites/
   NLI/English/digitallibrary/pages/viewer.aspx?presentorid=MANUSCRIPTS&doci
   d=PNX_MANUSCRIPTS000151708-1#|FL38639157 (Zugriff am 8. Oktober 2017). 105
   Folios.
Gaster Hebrew MS 170 = Eine ostkaraimische Übersetzung eines großen Teils der Thora
   (Gen 1,1–Dtn 32,51) und der Klagelieder (Thr 4,11–5,22). Anfang des 19. Jh. kopiert.
   Aufbewahrt in der John-Rylands-Bibliothek der Bibliothek der Universität Manche-
   ster: https://luna.manchester.ac.uk/luna/servlet/s/a0jk2m (Zugriff am 4. Oktober
   2019). 265 Folios.
Siddur (1737) = Afedah Jeraqa, Shabetaj Jeraqa [= ‫שבתי ירקא‬, ‫( ]אפדה ירקא‬Hrsgg.). 1737–
   1742. ‫סדר התפלות למנהג קהלות הקראים‬. Bd. 1–4. Kale. [vgl. Walfish (2011: 452; Pos.z.
   5325)].
Tiriškan (1841) = Tiriškan, Mordechai, Hrsg. ‫ ספר תרגום תורה בלשון טטר‬Sefer Targum
   Torah bi-lešon Ṭaṭar. Bd. 1–4. Gözleve [= Eupatoria], 1841.

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         Sekundärliteratur
Buxtorf, Johannes. De abbreviaturis hebraicis. Liber novus & copiosus: Cui accesserunt
   operis talmudici brevis recensio, cum ejusdem librorum & capitum Indice. Item Biblio-
   theca Rabbinica nova, ordine Alphabetico disposita. Editione hac Secunda omnia
   caʃtigatoria & locupletoria. Basileæ: Impensis Ludovici Regis, 1640.
Cegiołka, Dorota. „A South-Western Karaim Bible Translation of the Book of Genesis in
   Manuscript no. JSul.III.01“. Almanach Karaimski 8 (2019): 9–33.
Grishchenko, Aleksandr. The Edited Slavonic-Russian Pentateuch from the Fifteenth
   Century: The Preliminary Results of the Linguistic and Textological Study. Moskva:
   Drevlechranilišče, 2018.
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          Illustrationen

Facs. 1     Ms. ADub.III.73 (Kukizów, 1720 n.Chr.), folio 101 recto

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Kürzlich entdeckte karaimische Übersetzungen                                           19

Facs. 2     Ms. JSul.III.01 (Halitsch, Mitte des 19. Jh.), folio 2 recto

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Facs. 3   Ms. JSul.III.02 (Krim, nach 1648, nicht später als 1687), folio 36 verso

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