Nur Vertrauen hilft - Vom Kampf gegen Bandenkriminalität in Hanover Park, Kapstadt - SWR
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SWR2 Leben Nur Vertrauen hilft - Vom Kampf gegen Bandenkriminalität in Hanover Park, Kapstadt Von Thomas Kruchem Sendung vom: 06.01.2022, 15.05 Uhr Redaktion: Fabian Elsäßer Regie: Thomas Kruchem Produktion: SWR 2022 SWR2 Leben können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören – oder als Podcast nachhören: https://www.swr.de/~podcast/swr2/programm/podcast-swr2-tandem-100.xml Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Die SWR2 App für Android und iOS Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle Sendung stehen mindestens sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern, meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen … Kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app
Atmo 1 – Gesang „I have a dream” Sprecher: Da stehen sie nun – in Sonntagskleidung, eine Urkunde in der Hand, Tränen in den Augen: Kizhan, die in ihrem Alltag aus Drogen, Gewalt und Angst nie eine Schule abschloss; Craig und Shutley, die tief in die Umtriebe krimineller Gangs verstrickt waren. Digas: Atmo 2 – Unterricht bei Mr. Focus Sprecher: Drei Wochen lang haben sie Mr. Focus zugehört, haben diskutiert, gepaukt – und ihren traumatisierten Herzen Luft gemacht, auch mir gegenüber. OT 1 – Shutley (Englisch)/dar. Übersetzer (Schluchzt leicht) Mein Vater wurde letztes Jahr umgebracht – von seiner Gang. Sie haben ihm die Gurgel durchgeschnitten und den Schädel eingeschlagen. Weil er mit ihnen nichts mehr zu tun haben wollte, haben sie ihn umgebracht (schluchzt). OT 2 – Craig (Englisch)/dar. Übersetzer Ich habe gesehen, wie sie jemandem einen Hundeknochen in den Kopf stachen. Ich habe gesehen, wie sie zwei Frauen vergewaltigten, ihnen den Hals durchschnitten und sie in einen Müllcontainer warfen. Die meisten meiner Freunde sind tot. Einmal haben wir auf der Straße Fußball gespielt, als ich plötzlich Blitze vor meinen Füßen sah. Ich drehte mich um und sah, dass wir beschossen wurden. Drei meiner Freunde starben. Mich hat nur die Gnade Gottes gerettet. Mann, ich habe schon so viele Morde gesehen. OT 3 – Kizhan (Englisch)/dar. Übersetzerin Die Americans, die größte Gang in Hanover Park, beanspruchen unser Viertel als ihr Gebiet. Aber die anderen respektieren das nicht. Und wenn dann wieder Krieg herrscht, bist du gefangen in deiner Wohnung. Wie verrückt schießen die Gangster um sich; ständig hast du Angst, dass dich durchs Fenster eine Kugel trifft. Davon abgesehen verkaufen sie Drogen; und schon oft habe ich miterlebt, wie sie Leute ausraubten. Besonders ganz früh am Morgen lässt du dich besser nicht auf der Straße blicken. Da überfallen sie die Leute besonders gern. Sprecher: Kapstadt. Das Institut der Salesianer an der Somerset Road im Stadtzentrum. Ein gewaltiger schlossähnlicher Bau, errichtet 1910 für sozial gefährdete junge 2
Menschen. Innovative pädagogische Konzepte sollen ihnen Chancen eröffnen, doch noch zu einem guten Leben zu finden. So, wie es der italienische Priester Don Bosco anstrebte, der vor 150 Jahren in Turin den Salesianer-Orden begründete. Die Don Bosco-Salesianer betreuen heute zehntausende Jugendlichen in Südamerika, Südostasien und Afrika – finanziert vor allem von katholischen Hilfswerken wie dem deutschen Misereor. An der Somerset Road in Kapstadt lernen rund 300 Jugendliche. Die meisten stammen aus Hanover Park… Atmo 3 – Straßenszene in Hanover Park Sprecher: … einer Armensiedlung aus schäbig grauen Wohnkasernen. Hierher wurden unter der Apartheid so genannte „Farbige“ zwangsumgesiedelt; kaum jemand hat Arbeit; die meisten der 60.000 Bewohner leben von Renten und Kindergeld. Alkohol, Drogen, häusliche Gewalt und der Terror der Gangs sind allgegenwärtig. Als kürzlich die Zahl der Morde auf 60 an einem Wochenende stieg, ersetzte die Regierung die korrupte Polizei durch Soldaten. OT 4 – Tony Austen (Englisch)/dar. Übersetzer Unsere Schüler stammen aus völlig verarmten, marginalisierten Verhältnissen. Sie sind in der Schule gescheitert, weil sie da, wo sie leben, nicht lernen können. Viele sind in Heimen aufgewachsen oder bei den Großeltern. Vater und Mutter sind tot, geschieden, drogensüchtig. Irgendwann jedoch haben diese jungen Schulabbrecher oder jemand, der ihnen Gutes will, erkannt: Ohne Bildung und Ausbildung haben sie keine Chance im Leben. Sprecher: Tony Austen, pensioniert als Direktor einer öffentlichen Schule, stellt sich noch einmal einer Herausforderung. Der hoch gewachsene, drahtige Gentleman leitet die „Learn to live“-Schule, das größte Programm des Salesianer-Instituts. Eine Berufsschule für 14-18-Jährige, die am öffentlichen Schulsystem gescheitert sind – viele lernbehindert: durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft, Mangelernährung und häusliche Gewalt. Atmo 4 – Schulrundgang Sprecher: Vier Jahre lang würden die Schüler zu Elektrikern, Köchen, Schreinern und Friseuren ausgebildet, erklärt mir bei einem Rundgang durchs klosterähnliche Gebäude Jo da Silva, die Verwaltungsleiterin. Wichtig sei auch die Vermittlung von Alltagswissen. Die meisten Schüler hätten keinerlei Vorstellung von Hygiene und Finanzen; sie könnten nur mit Mühe lesen und schreiben. 3
OT 5 – Jo da Silva (Englisch)/dar. Übersetzerin Unsere Schüler sind vom konventionellen Schulsystem im Stich gelassen worden. Von einem System mit zu großen Klassen und überholten Lehrmethoden. Unser Konzept projektbasierten Lernens erzieht die Schüler zu selbständigem Denken. Da steht der Lehrer nicht als Guru an der Tafel, sondern er geht als beratender Moderator von Gruppe zu Gruppe, wo die Schüler Aufgaben des täglichen Lebens lösen. Im Teamwork erwerben sie quasi nebenbei Kenntnisse in Physik, Mathematik oder Geographie und präsentieren gemeinsam ihre Ergebnisse. Und plötzlich sehen wir, wie diese angeblich unfähigen Schüler aktiv kommunizieren; wie sie Konflikte bewältigen, Selbstbewusstsein aufbauen und selbständig Aufgaben erledigen. Sprecher: „Bildung und Erziehung sind nicht nur Vorbereitung auf das Leben. Sie sind bereits das Leben selbst“, zitiert Jo da Silva den US-Philosophen John Dewey, einen der Väter des projektbasierten Lernens. Atmo 5 – Gruppenunterricht bei Maxine Fraser Sprecher: In der dritten Klasse der „Learn to live“-Schule unterrichtet Maxine Fraser, die selbst in einem Armenviertel aufgewachsen ist. Heute, am Heritage Day, dem Tag des kulturellen Erbes in Südafrika, beschäftigt sich die Klasse mit der Frage: Sind wir stolz auf unser Land? Atmo 6 – Ablehnende Antwort der Schüler Sprecher: „Nein“ sagen nach der Gruppendiskussion fast alle. Atmo 7 – Antwort Natashka Sprecher: Wegen der Gangs und Morde überall – meint Natashka. Atmo 8 – Antwort Titus Sprecher: Wegen Überbevölkerung und Korruption hätten Arme wie er keine Chance, sagt Titus. Atmo 9 – Anweisung Maxine Fraser Sprecher: Morgen sollen die Gruppen Positives in Südafrikas Kultur identifizieren und Schautafeln dazu erarbeiten: mind maps. 4
OT 6 – Maxine Fraser (Englisch)/dar. Übersetzerin Wir zeigen unseren Schülern unterschiedliche Formen des mind mapping. So lernen sie, Themen mit all ihren Aspekten und Kausalzusammenhängen zu visualisieren, sie zeichnerisch darzustellen und ihr Wissen zu organisieren. Sprecher: Von einem Lernen ohne Bücher und Mitschreiben spricht Maxine Fraser. OT 7 – Maxine Fraser (Englisch)/dar. Übersetzerin Projektbasiertes Lernen konzentriert sich auf Themen und Probleme unserer Lebenswirklichkeit. Wir identifizieren solche Probleme und versuchen, sie zu lösen – analytisch, kreativ, in stetem Austausch mit anderen Schülern. So lernen wir auch, einander zu verstehen und zu respektieren. Wichtiger, als das anstehende Problem zu lösen, ist dabei, Techniken des Lernens und Denkens einzuüben. Die können wir dann überall im Arbeitsleben einsetzen. Sprecher: Und natürlich bei der handwerklichen Ausbildung: Atmo 10 – Schreinerwerkstatt Sprecher: In der Schreinerwerkstatt, wo Schüler mit Hobel, Säge und Stechbeitel Tassenhalter bauen; in der Küche, wo sie heute, einen Tag vor den Ferien, Testprotokolle sortieren. Während die anderen Abschlüsse der Schule offiziell noch nicht anerkannt sind, erwerben die Kochschüler ein international gültiges Diplom. Ihr Lehrer Romeo Kern, der vor 30 Jahren aus Konstanz nach Kapstadt auswanderte, besitzt eine Online-Kochschule. Und er ist weltweit so gut vernetzt, dass er Absolventen auch schon einen Job in Dubai vermittelt hat. Ohne regelmäßige Präsenz und höchste Konzentration jedoch gehe gar nichts, stellt der Kochlehrer klar. OT 8 – Romeo Kern (Deutsch) Man muss sie immer wieder motivieren. Mindestens einmal im Monat gibt‘s entweder einen Anschiss; oder es wird motiviert, weil kein Anschiss notwendig war. Ach, mein Beruf hier an der Schule ist auch so breit: Da musst du Psychologe sein, da musst du Lehrer sein, da musst du Koch sein, da muss du Papa sein, manchmal der Opa. Es kann manchmal sein, dass einer dasitzt – auch der Große da – und der heult. Warum heute jetzt? Habe ich was Falsches gesagt? Habe ich ihm weh gemacht? Und dann kommt jetzt raus: Der hat mit der Nachbarschaft gestritten. Die haben ihm sein Leben bedroht und alles Mögliche. Atmo 11 – endender Schulbetrieb 5
Sprecher: Am späten Nachmittag leert sich das Gebäude. Die Schüler fahren nach Hause. Für viele wohl die Hölle, denke ich und fröstele ein wenig angesichts der jetzt ins Auge springenden Strenge und Kargheit der Mauern und hohen Fenster. Wie viele verzweifelte Jugendliche sind diese abgetretenen Steinstufen hinaufgegangen? Wie viele Hände haben dieses gusseiserne Geländer umkrampft? Am Abend spreche ich lange mit Gabriel José Hamuy Blanco – aus Paraguay stammender gelernter Steuerberater, studierter Psychologe und Leiter des zweiten Zweigs der Salesianer-Schule: In einem Jahreskurs verbessern 18 bis 25-jährige Schulabbrecher ihre Chancen, im Arbeitsleben Fuß zu fassen: Pünktlichkeit, Finanzen und Buchhaltung, ordentliches Auftreten bei Vorstellungsgesprächen oder der Aufbau eines eigenen Kleinbetriebs stehen auf dem Lehrplan. 80 Prozent der Teilnehmer sind Frauen – alleinstehende Mütter zumeist, die plötzlich Verantwortung tragen für einen anderen Menschen. Dessen ungeachtet kämen viele Schüler nur unregelmäßig, erzählt mir Hamuy Blanco. Dies, obwohl sie Essens- und Fahrgeld bekommen – rund 200 Euro im Monat. Oft aber nähmen ihnen Angehörige das Geld weg. Oder in den Straßen von Hanover Park tobt wieder mal pure Gangstergewalt. OT 9 – Gabriel José Hamuy Blanco (Englisch)/dar. Übersetzer Vor zwei Wochen wurde, an einem Sonntagabend, der Führer einer Gang in Hanover Park ermordet. Am Montagmorgen kamen dann unsere Schüler aus dem betroffenen Viertel anderthalb Stunden später zum Unterricht. Weil sie wussten, dass die Gang sich rächen würde, hatten sie Angst, einen Minibus zu besteigen. Die Standplätze dieser Busse sind nämlich ein beliebter Ort für Schießereien. Sprecher: Die tägliche Fahrerei der Schüler dauert mindestens zwei, drei Stunden. Zuhause haben sie kein eigenes Zimmer; nachts lärmen Erwachsene; das Baby der Schwester weint. Da schlafen sie halt im Unterricht. Und: OT 10 – Gabriel José Hamuy Blanco (Englisch)/dar. Übersetzer Sie sind oft krank, was mich nicht überrascht: Diese jungen Menschen wohnen in miserablen Verhältnissen: kaum Sonnenlicht, feuchte Wände jahrein, jahraus. Ideale Voraussetzungen für Atemwegs- und Lungenerkrankungen. Einige leiden an chronischen Lungeninfektionen, zum Teil Tuberkulose; sie sind oft im Krankenhaus oder müssen daheim im Bett liegen. Als Folge chronischer Mangelernährung sind viele auch körperlich und geistig nicht voll entwickelt; sie haben – jung wie sie sind – schon zu hohen Blutdruck; ihr Immunsystem ist im Keller. Atmo 12 – leises Straßengeräusch mit Musik aus Café 6
Sprecher: Viele Schüler seien körperlich wie seelisch völlig wundgerieben, erklärt mir in ihrem Büro Keagan Blight, die 26-jährige Sozialarbeiterin des Instituts. Wie ihre Kollegin, die 24-jährige Beschäftigungstherapeutin Hanna Nassen, hat sie schon während des Studiums schwerste Fälle bearbeitet und entsprechend viel Erfahrung gesammelt. Keagan Blight muss zum Beispiel dann eingreifen, wenn ein Schüler seinen psychischen Schmerz während des Unterrichts hinausschreit. OT 11 – Keagan Blight (Englisch)/dar. Übersetzerin Wutausbrüche im Unterricht sind ein großes Problem in unserem Schulbetrieb. Viele Schüler kommen zutiefst traumatisiert hierher, können aber ihre Gefühle nicht verbalisieren. Das Gefühl, nicht verstanden zu werden, führt dann zu Frustration und Wutausbrüchen im Unterricht. Aus kleinstem Anlass explodiert so ein Jugendlicher; und anschließend kann er nicht einmal sagen warum. Die meisten unserer Schüler fühlen sich halt ständig bedroht; ihr Existenzmodus ist fast immer der des Überlebenskampfes: „Ich muss mich wehren, ich muss mich wehren“ geht es ihnen wie eine Endlosschleife durch den Kopf „Ich muss im Unterricht nicht in erster Linie lernen, sondern über das nachdenken, was ich gestern Abend erlebt habe: über die Gewalt zwischen meinen Eltern oder über den Mord, den ich gestern auf dem Weg nach Hause gesehen habe.“ Sprecher: Beschäftigungstherapeutin Hanna Nassen zeigt Schülern in Gruppensitzungen, wie sie sich erfolgreich bewerben und im Job Pünktlichkeit zeigen, Verantwortungsbewusstsein, Loyalität. Hanna Nassen‘s zweiter Job ist es, Klinken zu putzen – bei Bau- und Elektrounternehmen, bei Hotels, Cafés und Restaurants: „Haben Sie für diesen Schüler vielleicht ein unbezahltes Praktikum und, sollte er einschlagen, einen Arbeitsplatz?“ Gestern hat Hanna Nassen eine Schülerin zum Vorstellungsgespräch in einem Restaurant begleitet. OT 13 – Hanna Nassen (Englisch)/dar. Übersetzerin Begeistert erzählte sie von ihren Erlebnissen im Radisson Blu-Hotel und was sie dort alles gelernt hatte. Als dann das ganze Vorstellungsgespräch unglaublich perfekt verlief, überkam mich plötzlich ein tiefes Glücksgefühl: All unsere mühsame Arbeit seit vergangenem März hatte sich gelohnt. Das hat mir dieses eine Vorstellungsgespräch bewiesen. Atmo 13 – Atmo Somerset Road am Abend Sprecher: Nach dem Gespräch sitze ich im Club Havanna auf der anderen Seite der Somerset Road. Vor dem Eingang parkt ein junger Mann seinen knallroten Ferrari; ein anderer junger Mann durchwühlt den grünen Mülleimer nach Essbarem. Atmo 14 – Unterricht bei Mr. Focus 7
Sprecher: Am nächsten Morgen sitze ich endlich im Kurs „Waves of Change“, „Wellen des Wandels“, von Mister Focus: Ein kompakter, schwarzgekleideter Mann wie ein Bodybuilder, Boxergesicht mit überraschend freundlichen Augen, dass krause lange Haar zusammengebunden. Wie ein Champion im Ring tänzelt er hin und her zwischen den Tischen, an denen fast ausschließlich junge Männer sitzen – Tattoos, Narben in vielen Gesichtern, Furchen und erstumpfte Augen wie bei weit älteren Männern. Der Zampano in Schwarz klopft dort auf eine Schulter, verteilt dort einen Anschiss; erklärt eindringlich, als ginge es um Leben und Tod – laut wie ein Unteroffizier auf dem Kasernenhof. Ein bizarres Schauspiel – denke ich für einen Moment. Doch dann sehe ich, dass die jungen Männer wie gebannt an den Lippen des Zampanos hängen. Keiner quatscht mit dem Tischnachbarn, keiner döst vor sich hin. Mr. Focus weiß offenbar, was er tut. „Sprich mit den jungen Leuten“, sagt er zu mir. Und gleich baut ein zwei Meter großer Mann mit verträumten Augen seine drei Zentner vor meinem Mikrofon auf. George heiße er, sagt er, und Mister Focus habe sein Leben gerettet. OT 14 – George (Englisch)/dar. Übersetzer In meiner Gang hatte ich den Job, Ausschau zu halten nach feindlichen Eindringlingen. Und natürlich hatte ich eine Pistole, um unser Territorium und meine Freunde zu verteidigen. Fast jeden Tag musste ich schießen. Eines Tages wurde ich dann selbst angeschossen und überlebte gerade so. Was bringt es mir eigentlich, Gangster zu sein? – fragte ich mich dann im Krankenhaus. Es endet doch fast immer damit, dass du entweder stirbst oder im Gefängnis landest. Sprecher: In einer Ecke sitzt ein muskulöser junger Mann mit melancholischem Gesichtsausdruck, der immer wieder wegschaut, wenn ich ihn anblicke – was Mr. Focus‘ Adleraugen natürlich bemerken. „Come on, Lincoln“, sagt er und legt ihm den Arm um die Schultern. Er habe einen Mann erstochen, sagt Lincoln stockend, und dafür fünf Jahre gesessen. OT 16 – Lincoln (Englisch)/dar. Übersetzer Mit der Zeit verblasst die Erinnerung. Aber sie ist immer noch da; und manchmal wache ich nachts auf, weil ich wieder das Blut gesehen habe. Ich kann es nicht vergessen. Atmo 15 – Fußballspielen im Hintergrund Sprecher: Und auch die andere Gang werde Lincolns Tat nicht vergessen, sagt Mr. Focus ernst, als wir zur Pause auf der Mauer des Schulgartens sitzen – während die jungen Männer Fußball spielen. 8
Sprecher: Sein Kurs helfe 20- bis 35-Jährigen, die schon ganz unten angekommen seien, erklärt mir Mister Focus, der eigentlich Abraham Lottering heißt: Gefängnisinsassen, Obdachlosen, Junkies, Gang-Aussteigern. Die meisten wollen fliehen – vor all dem, was sie bedroht in Hanover Park. Sie wollen, wenn es geht, Seeleute werden – auf Fischkuttern und später vielleicht auf Kreuzfahrtschiffen. OT 17 – Mr. Focus (Englisch)/dar. Übersetzer Es ist der einzige Weg für sie zu entkommen. Diese jungen Männer müssen Abstand gewinnen zu ihrem Umfeld, zu ihren sogenannten Freunden. Viele unserer Klienten kommen direkt aus dem Gefängnis. Gehen Sie jetzt zurück, sitzen sie nach drei, vier Monaten wieder. Die Arbeit auf dem Meer ist für sie der wohl einzige Weg, all dem zu entkommen. Außerdem hat diese Arbeit eine therapeutische Funktion: Du befindest dich im direkten Kontakt mit den Gewalten der Natur. Du kannst in ruhigen Stunden dein Leben neu ausrichten: Wohin soll meine Reise gehen? Sprecher: Mister Focus erklärt den Möchtegern-Seeleuten unverblümt, wie strikt die Befehlsketten an Bord sind, wie hart die Arbeit, wie karg die Heuer. Er hilft Ihnen, sich einen Ausweis zu beschaffen, ein Bankkonto und das Seefahrtbuch, das jeden Job auf einem Schiff dokumentiert. Und: Nur, wer absolut clean ist von Drogen, bekommt das notwendige medizinische Attest. Als Mister Focus im Unterricht mal wieder über die Gangs herzieht, frage ich etwas provokant, ob er Verhältnisse in den gang towns wirklich so genau kenne. Er stamme doch als Lehrer aus ganz anderen Verhältnissen. Atmo 16 – Mr. Focus spricht Englisch Sprecher: „Nein, Thomas”, antwortet Mr. Focus. Auch er habe auf der Straße gelebt. Drei Jahre habe er aus Mülltonnen gegessen und nachts gefroren, sobald er sich bewegte. Atmo 17 – Mr. Focus spricht Englisch Sprecher: Kapstadt sei ein teuflischer Ort, ruft der Mann in Schwarz heftig gestikulierend. Die Reichen kümmerten sich nur um die Reichen; sie seien zutiefst böse. Die Armen müssten aus eigener Kraft überleben. Und: OT 18 – Mr. Focus (Englisch)/dar. Übersetzer Diese Schule ist der einzige Ort in der westlichen Kapprovinz, der den jungen Leuten hier realistische Wege zeigt, Träume zu verwirklichen – und keine Irrwege, die doch bloß in die Sackgasse führen. Mit den Zeugnissen, die diese Schule ausstellt, können die Schüler auf der ganzen Welt Arbeit finden. Umso wichtiger ist es, dass wir ihnen keinen Scheißdreck erzählen, sondern offen und ehrlich mit ihnen 9
umgehen. Dann verstehen sie, dass wir ihre vielleicht letzte Chance sind. Atmo 18 – Unterricht bei Mr. Focus Sprecher: „Der Mann hat recht“, sagte leise Craig – jener schmächtige junge Mann, der gesehen hat, wie Gangster vergewaltigte und abgestochene Frauen in Müllcontainer warfen. OT 19 – Craig (Englisch)/dar. Übersetzer Mister Focus hat mir die Freude am Leben zurückgegeben. Zwei Monate hatte ich depressiv in der Drogen-Reha gehockt und gegrübelt: Wie soll ich Arbeit finden und mich ernähren? Dann bin ich eines Nachts am Hafen spazieren gegangen und habe diesen netten Kerl kennengelernt: „Warum versuchst Du es nicht bei den Salesianern?“ sagte er um vier Uhr früh auf den Docks. Und ein paar Stunden später brachte er mich zu Mister Focus. Als der dann sagte „Komm am 30. September“, hatte ich endlich etwas, auf das ich hinleben konnte. Atmo 19 – Gesang „I have a dream” Sprecher: Wenige Tage später, bei der Abschlussfeier des Kurses, singen sie von ihrem Traum – Tränen in den Augen. Einige Eltern sind gekommen. Lincoln, der wegen Totschlags verurteilt wurde, hat seine Frau mitgebracht und seine drei Kinder. Atmo 20 – Sprechender Ex-Kursteilnehmer Sprecher: Stolz erzählt der Teilnehmer eines früheren Kurses, dass er heute als Vollmatrose auf einem Kutter arbeitet. Atmo 21 – Sprechender Kursteilnehmer Sprecher: Und einigen, die sich bedanken, bricht die Stimme, als sie Mr. Focus mit Blumen überhäufen… Atmo 22 – Gesang mit Trommeln/Weich unter Spr. einblenden Sprecher: …und ihn noch ein, zwei Stunden lang feiern: Mr. Focus und das Salesianer-Institut haben einmal mehr jungen Menschen, die sich verloren glaubten, die Chance auf ein gutes Leben eröffnet. 10
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