Nur Vertrauen hilft - Vom Kampf gegen Bandenkriminalität in Hanover Park, Kapstadt - SWR

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SWR2 Leben
Nur Vertrauen hilft - Vom Kampf gegen
Bandenkriminalität in Hanover Park, Kapstadt
Von Thomas Kruchem

Sendung vom: 06.01.2022, 15.05 Uhr
Redaktion: Fabian Elsäßer
Regie: Thomas Kruchem
Produktion: SWR 2022

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Atmo 1 – Gesang „I have a dream”

Sprecher:
Da stehen sie nun – in Sonntagskleidung, eine Urkunde in der Hand, Tränen in den
Augen: Kizhan, die in ihrem Alltag aus Drogen, Gewalt und Angst nie eine Schule
abschloss; Craig und Shutley, die tief in die Umtriebe krimineller Gangs verstrickt
waren.

Digas:
Atmo 2 – Unterricht bei Mr. Focus

Sprecher:
Drei Wochen lang haben sie Mr. Focus zugehört, haben diskutiert, gepaukt – und
ihren traumatisierten Herzen Luft gemacht, auch mir gegenüber.

OT 1 – Shutley (Englisch)/dar. Übersetzer

(Schluchzt leicht) Mein Vater wurde letztes Jahr umgebracht – von seiner Gang. Sie
haben ihm die Gurgel durchgeschnitten und den Schädel eingeschlagen. Weil er mit
ihnen nichts mehr zu tun haben wollte, haben sie ihn umgebracht (schluchzt).

OT 2 – Craig (Englisch)/dar. Übersetzer

Ich habe gesehen, wie sie jemandem einen Hundeknochen in den Kopf stachen. Ich
habe gesehen, wie sie zwei Frauen vergewaltigten, ihnen den Hals durchschnitten
und sie in einen Müllcontainer warfen. Die meisten meiner Freunde sind tot. Einmal
haben wir auf der Straße Fußball gespielt, als ich plötzlich Blitze vor meinen Füßen
sah. Ich drehte mich um und sah, dass wir beschossen wurden. Drei meiner Freunde
starben. Mich hat nur die Gnade Gottes gerettet. Mann, ich habe schon so viele
Morde gesehen.

OT 3 – Kizhan (Englisch)/dar. Übersetzerin

Die Americans, die größte Gang in Hanover Park, beanspruchen unser Viertel als ihr
Gebiet. Aber die anderen respektieren das nicht. Und wenn dann wieder Krieg
herrscht, bist du gefangen in deiner Wohnung. Wie verrückt schießen die Gangster
um sich; ständig hast du Angst, dass dich durchs Fenster eine Kugel trifft. Davon
abgesehen verkaufen sie Drogen; und schon oft habe ich miterlebt, wie sie Leute
ausraubten. Besonders ganz früh am Morgen lässt du dich besser nicht auf der
Straße blicken. Da überfallen sie die Leute besonders gern.

Sprecher:
Kapstadt. Das Institut der Salesianer an der Somerset Road im Stadtzentrum. Ein
gewaltiger schlossähnlicher Bau, errichtet 1910 für sozial gefährdete junge

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Menschen. Innovative pädagogische Konzepte sollen ihnen Chancen eröffnen, doch
noch zu einem guten Leben zu finden. So, wie es der italienische Priester Don Bosco
anstrebte, der vor 150 Jahren in Turin den Salesianer-Orden begründete. Die Don
Bosco-Salesianer betreuen heute zehntausende Jugendlichen in Südamerika,
Südostasien und Afrika – finanziert vor allem von katholischen Hilfswerken wie dem
deutschen Misereor. An der Somerset Road in Kapstadt lernen rund 300
Jugendliche. Die meisten stammen aus Hanover Park…

Atmo 3 – Straßenszene in Hanover Park

Sprecher:
… einer Armensiedlung aus schäbig grauen Wohnkasernen. Hierher wurden unter
der Apartheid so genannte „Farbige“ zwangsumgesiedelt; kaum jemand hat Arbeit;
die meisten der 60.000 Bewohner leben von Renten und Kindergeld. Alkohol,
Drogen, häusliche Gewalt und der Terror der Gangs sind allgegenwärtig. Als kürzlich
die Zahl der Morde auf 60 an einem Wochenende stieg, ersetzte die Regierung die
korrupte Polizei durch Soldaten.

OT 4 – Tony Austen (Englisch)/dar. Übersetzer

Unsere Schüler stammen aus völlig verarmten, marginalisierten Verhältnissen. Sie
sind in der Schule gescheitert, weil sie da, wo sie leben, nicht lernen können. Viele
sind in Heimen aufgewachsen oder bei den Großeltern. Vater und Mutter sind tot,
geschieden, drogensüchtig. Irgendwann jedoch haben diese jungen Schulabbrecher
oder jemand, der ihnen Gutes will, erkannt: Ohne Bildung und Ausbildung haben sie
keine Chance im Leben.

Sprecher:
Tony Austen, pensioniert als Direktor einer öffentlichen Schule, stellt sich noch
einmal einer Herausforderung. Der hoch gewachsene, drahtige Gentleman leitet die
„Learn to live“-Schule, das größte Programm des Salesianer-Instituts. Eine
Berufsschule für 14-18-Jährige, die am öffentlichen Schulsystem gescheitert sind –
viele lernbehindert: durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft,
Mangelernährung und häusliche Gewalt.

Atmo 4 – Schulrundgang

Sprecher:
Vier Jahre lang würden die Schüler zu Elektrikern, Köchen, Schreinern und Friseuren
ausgebildet, erklärt mir bei einem Rundgang durchs klosterähnliche Gebäude Jo da
Silva, die Verwaltungsleiterin. Wichtig sei auch die Vermittlung von Alltagswissen.
Die meisten Schüler hätten keinerlei Vorstellung von Hygiene und Finanzen; sie
könnten nur mit Mühe lesen und schreiben.

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OT 5 – Jo da Silva (Englisch)/dar. Übersetzerin

Unsere Schüler sind vom konventionellen Schulsystem im Stich gelassen worden.
Von einem System mit zu großen Klassen und überholten Lehrmethoden. Unser
Konzept projektbasierten Lernens erzieht die Schüler zu selbständigem Denken. Da
steht der Lehrer nicht als Guru an der Tafel, sondern er geht als beratender
Moderator von Gruppe zu Gruppe, wo die Schüler Aufgaben des täglichen Lebens
lösen. Im Teamwork erwerben sie quasi nebenbei Kenntnisse in Physik, Mathematik
oder Geographie und präsentieren gemeinsam ihre Ergebnisse. Und plötzlich sehen
wir, wie diese angeblich unfähigen Schüler aktiv kommunizieren; wie sie Konflikte
bewältigen, Selbstbewusstsein aufbauen und selbständig Aufgaben erledigen.

Sprecher:
„Bildung und Erziehung sind nicht nur Vorbereitung auf das Leben. Sie sind bereits
das Leben selbst“, zitiert Jo da Silva den US-Philosophen John Dewey, einen der
Väter des projektbasierten Lernens.

Atmo 5 – Gruppenunterricht bei Maxine Fraser

Sprecher:
In der dritten Klasse der „Learn to live“-Schule unterrichtet Maxine Fraser, die selbst
in einem Armenviertel aufgewachsen ist. Heute, am Heritage Day, dem Tag des
kulturellen Erbes in Südafrika, beschäftigt sich die Klasse mit der Frage: Sind wir
stolz auf unser Land?

Atmo 6 – Ablehnende Antwort der Schüler

Sprecher:
„Nein“ sagen nach der Gruppendiskussion fast alle.

Atmo 7 – Antwort Natashka

Sprecher:
Wegen der Gangs und Morde überall – meint Natashka.

Atmo 8 – Antwort Titus

Sprecher:
Wegen Überbevölkerung und Korruption hätten Arme wie er keine Chance, sagt
Titus.

Atmo 9 – Anweisung Maxine Fraser

Sprecher:
Morgen sollen die Gruppen Positives in Südafrikas Kultur identifizieren und
Schautafeln dazu erarbeiten: mind maps.

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OT 6 – Maxine Fraser (Englisch)/dar. Übersetzerin

Wir zeigen unseren Schülern unterschiedliche Formen des mind mapping. So lernen
sie, Themen mit all ihren Aspekten und Kausalzusammenhängen zu visualisieren, sie
zeichnerisch darzustellen und ihr Wissen zu organisieren.

Sprecher:
Von einem Lernen ohne Bücher und Mitschreiben spricht Maxine Fraser.

OT 7 – Maxine Fraser (Englisch)/dar. Übersetzerin

Projektbasiertes Lernen konzentriert sich auf Themen und Probleme unserer
Lebenswirklichkeit. Wir identifizieren solche Probleme und versuchen, sie zu lösen –
analytisch, kreativ, in stetem Austausch mit anderen Schülern. So lernen wir auch,
einander zu verstehen und zu respektieren. Wichtiger, als das anstehende Problem
zu lösen, ist dabei, Techniken des Lernens und Denkens einzuüben. Die können wir
dann überall im Arbeitsleben einsetzen.

Sprecher:
Und natürlich bei der handwerklichen Ausbildung:

Atmo 10 – Schreinerwerkstatt

Sprecher:
In der Schreinerwerkstatt, wo Schüler mit Hobel, Säge und Stechbeitel Tassenhalter
bauen; in der Küche, wo sie heute, einen Tag vor den Ferien, Testprotokolle
sortieren. Während die anderen Abschlüsse der Schule offiziell noch nicht anerkannt
sind, erwerben die Kochschüler ein international gültiges Diplom. Ihr Lehrer Romeo
Kern, der vor 30 Jahren aus Konstanz nach Kapstadt auswanderte, besitzt eine
Online-Kochschule. Und er ist weltweit so gut vernetzt, dass er Absolventen auch
schon einen Job in Dubai vermittelt hat. Ohne regelmäßige Präsenz und höchste
Konzentration jedoch gehe gar nichts, stellt der Kochlehrer klar.

OT 8 – Romeo Kern (Deutsch)
Man muss sie immer wieder motivieren. Mindestens einmal im Monat gibt‘s entweder
einen Anschiss; oder es wird motiviert, weil kein Anschiss notwendig war. Ach, mein
Beruf hier an der Schule ist auch so breit: Da musst du Psychologe sein, da musst du
Lehrer sein, da musst du Koch sein, da muss du Papa sein, manchmal der Opa. Es
kann manchmal sein, dass einer dasitzt – auch der Große da – und der heult. Warum
heute jetzt? Habe ich was Falsches gesagt? Habe ich ihm weh gemacht? Und dann
kommt jetzt raus: Der hat mit der Nachbarschaft gestritten. Die haben ihm sein Leben
bedroht und alles Mögliche.

Atmo 11 – endender Schulbetrieb

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Sprecher:
Am späten Nachmittag leert sich das Gebäude. Die Schüler fahren nach Hause. Für
viele wohl die Hölle, denke ich und fröstele ein wenig angesichts der jetzt ins Auge
springenden Strenge und Kargheit der Mauern und hohen Fenster. Wie viele
verzweifelte Jugendliche sind diese abgetretenen Steinstufen hinaufgegangen? Wie
viele Hände haben dieses gusseiserne Geländer umkrampft?

Am Abend spreche ich lange mit Gabriel José Hamuy Blanco – aus Paraguay
stammender gelernter Steuerberater, studierter Psychologe und Leiter des zweiten
Zweigs der Salesianer-Schule: In einem Jahreskurs verbessern 18 bis 25-jährige
Schulabbrecher ihre Chancen, im Arbeitsleben Fuß zu fassen: Pünktlichkeit,
Finanzen und Buchhaltung, ordentliches Auftreten bei Vorstellungsgesprächen oder
der Aufbau eines eigenen Kleinbetriebs stehen auf dem Lehrplan. 80 Prozent der
Teilnehmer sind Frauen – alleinstehende Mütter zumeist, die plötzlich Verantwortung
tragen für einen anderen Menschen.

Dessen ungeachtet kämen viele Schüler nur unregelmäßig, erzählt mir Hamuy
Blanco. Dies, obwohl sie Essens- und Fahrgeld bekommen – rund 200 Euro im
Monat. Oft aber nähmen ihnen Angehörige das Geld weg. Oder in den Straßen von
Hanover Park tobt wieder mal pure Gangstergewalt.

OT 9 – Gabriel José Hamuy Blanco (Englisch)/dar. Übersetzer

Vor zwei Wochen wurde, an einem Sonntagabend, der Führer einer Gang in Hanover
Park ermordet. Am Montagmorgen kamen dann unsere Schüler aus dem betroffenen
Viertel anderthalb Stunden später zum Unterricht. Weil sie wussten, dass die Gang
sich rächen würde, hatten sie Angst, einen Minibus zu besteigen. Die Standplätze
dieser Busse sind nämlich ein beliebter Ort für Schießereien.

Sprecher:
Die tägliche Fahrerei der Schüler dauert mindestens zwei, drei Stunden. Zuhause
haben sie kein eigenes Zimmer; nachts lärmen Erwachsene; das Baby der
Schwester weint. Da schlafen sie halt im Unterricht. Und:

OT 10 – Gabriel José Hamuy Blanco (Englisch)/dar. Übersetzer

Sie sind oft krank, was mich nicht überrascht: Diese jungen Menschen wohnen in
miserablen Verhältnissen: kaum Sonnenlicht, feuchte Wände jahrein, jahraus. Ideale
Voraussetzungen für Atemwegs- und Lungenerkrankungen. Einige leiden an
chronischen Lungeninfektionen, zum Teil Tuberkulose; sie sind oft im Krankenhaus
oder müssen daheim im Bett liegen. Als Folge chronischer Mangelernährung sind
viele auch körperlich und geistig nicht voll entwickelt; sie haben – jung wie sie sind –
schon zu hohen Blutdruck; ihr Immunsystem ist im Keller.

Atmo 12 – leises Straßengeräusch mit Musik aus Café

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Sprecher:
Viele Schüler seien körperlich wie seelisch völlig wundgerieben, erklärt mir in ihrem
Büro Keagan Blight, die 26-jährige Sozialarbeiterin des Instituts. Wie ihre Kollegin,
die 24-jährige Beschäftigungstherapeutin Hanna Nassen, hat sie schon während des
Studiums schwerste Fälle bearbeitet und entsprechend viel Erfahrung gesammelt.
Keagan Blight muss zum Beispiel dann eingreifen, wenn ein Schüler seinen
psychischen Schmerz während des Unterrichts hinausschreit.

OT 11 – Keagan Blight (Englisch)/dar. Übersetzerin

Wutausbrüche im Unterricht sind ein großes Problem in unserem Schulbetrieb. Viele
Schüler kommen zutiefst traumatisiert hierher, können aber ihre Gefühle nicht
verbalisieren. Das Gefühl, nicht verstanden zu werden, führt dann zu Frustration und
Wutausbrüchen im Unterricht. Aus kleinstem Anlass explodiert so ein Jugendlicher;
und anschließend kann er nicht einmal sagen warum. Die meisten unserer Schüler
fühlen sich halt ständig bedroht; ihr Existenzmodus ist fast immer der des
Überlebenskampfes: „Ich muss mich wehren, ich muss mich wehren“ geht es ihnen
wie eine Endlosschleife durch den Kopf „Ich muss im Unterricht nicht in erster Linie
lernen, sondern über das nachdenken, was ich gestern Abend erlebt habe: über die
Gewalt zwischen meinen Eltern oder über den Mord, den ich gestern auf dem Weg
nach Hause gesehen habe.“

Sprecher:
Beschäftigungstherapeutin Hanna Nassen zeigt Schülern in Gruppensitzungen, wie
sie sich erfolgreich bewerben und im Job Pünktlichkeit zeigen,
Verantwortungsbewusstsein, Loyalität. Hanna Nassen‘s zweiter Job ist es, Klinken zu
putzen – bei Bau- und Elektrounternehmen, bei Hotels, Cafés und Restaurants:
„Haben Sie für diesen Schüler vielleicht ein unbezahltes Praktikum und, sollte er
einschlagen, einen Arbeitsplatz?“ Gestern hat Hanna Nassen eine Schülerin zum
Vorstellungsgespräch in einem Restaurant begleitet.

OT 13 – Hanna Nassen (Englisch)/dar. Übersetzerin

Begeistert erzählte sie von ihren Erlebnissen im Radisson Blu-Hotel und was sie dort
alles gelernt hatte. Als dann das ganze Vorstellungsgespräch unglaublich perfekt
verlief, überkam mich plötzlich ein tiefes Glücksgefühl: All unsere mühsame Arbeit
seit vergangenem März hatte sich gelohnt. Das hat mir dieses eine
Vorstellungsgespräch bewiesen.

Atmo 13 – Atmo Somerset Road am Abend

Sprecher:
Nach dem Gespräch sitze ich im Club Havanna auf der anderen Seite der Somerset
Road. Vor dem Eingang parkt ein junger Mann seinen knallroten Ferrari; ein anderer
junger Mann durchwühlt den grünen Mülleimer nach Essbarem.

Atmo 14 – Unterricht bei Mr. Focus

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Sprecher:
Am nächsten Morgen sitze ich endlich im Kurs „Waves of Change“, „Wellen des
Wandels“, von Mister Focus: Ein kompakter, schwarzgekleideter Mann wie ein
Bodybuilder, Boxergesicht mit überraschend freundlichen Augen, dass krause lange
Haar zusammengebunden. Wie ein Champion im Ring tänzelt er hin und her
zwischen den Tischen, an denen fast ausschließlich junge Männer sitzen – Tattoos,
Narben in vielen Gesichtern, Furchen und erstumpfte Augen wie bei weit älteren
Männern. Der Zampano in Schwarz klopft dort auf eine Schulter, verteilt dort einen
Anschiss; erklärt eindringlich, als ginge es um Leben und Tod – laut wie ein
Unteroffizier auf dem Kasernenhof. Ein bizarres Schauspiel – denke ich für einen
Moment. Doch dann sehe ich, dass die jungen Männer wie gebannt an den Lippen
des Zampanos hängen. Keiner quatscht mit dem Tischnachbarn, keiner döst vor sich
hin. Mr. Focus weiß offenbar, was er tut. „Sprich mit den jungen Leuten“, sagt er zu
mir. Und gleich baut ein zwei Meter großer Mann mit verträumten Augen seine drei
Zentner vor meinem Mikrofon auf. George heiße er, sagt er, und Mister Focus habe
sein Leben gerettet.

OT 14 – George (Englisch)/dar. Übersetzer

In meiner Gang hatte ich den Job, Ausschau zu halten nach feindlichen
Eindringlingen. Und natürlich hatte ich eine Pistole, um unser Territorium und meine
Freunde zu verteidigen. Fast jeden Tag musste ich schießen. Eines Tages wurde ich
dann selbst angeschossen und überlebte gerade so. Was bringt es mir eigentlich,
Gangster zu sein? – fragte ich mich dann im Krankenhaus. Es endet doch fast immer
damit, dass du entweder stirbst oder im Gefängnis landest.

Sprecher:
In einer Ecke sitzt ein muskulöser junger Mann mit melancholischem
Gesichtsausdruck, der immer wieder wegschaut, wenn ich ihn anblicke – was Mr.
Focus‘ Adleraugen natürlich bemerken. „Come on, Lincoln“, sagt er und legt ihm den
Arm um die Schultern. Er habe einen Mann erstochen, sagt Lincoln stockend, und
dafür fünf Jahre gesessen.

OT 16 – Lincoln (Englisch)/dar. Übersetzer

Mit der Zeit verblasst die Erinnerung. Aber sie ist immer noch da; und manchmal
wache ich nachts auf, weil ich wieder das Blut gesehen habe. Ich kann es nicht
vergessen.

Atmo 15 – Fußballspielen im Hintergrund

Sprecher:
Und auch die andere Gang werde Lincolns Tat nicht vergessen, sagt Mr. Focus
ernst, als wir zur Pause auf der Mauer des Schulgartens sitzen – während die jungen
Männer Fußball spielen.

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Sprecher:
Sein Kurs helfe 20- bis 35-Jährigen, die schon ganz unten angekommen seien,
erklärt mir Mister Focus, der eigentlich Abraham Lottering heißt: Gefängnisinsassen,
Obdachlosen, Junkies, Gang-Aussteigern. Die meisten wollen fliehen – vor all dem,
was sie bedroht in Hanover Park. Sie wollen, wenn es geht, Seeleute werden – auf
Fischkuttern und später vielleicht auf Kreuzfahrtschiffen.

OT 17 – Mr. Focus (Englisch)/dar. Übersetzer

Es ist der einzige Weg für sie zu entkommen. Diese jungen Männer müssen Abstand
gewinnen zu ihrem Umfeld, zu ihren sogenannten Freunden. Viele unserer Klienten
kommen direkt aus dem Gefängnis. Gehen Sie jetzt zurück, sitzen sie nach drei, vier
Monaten wieder. Die Arbeit auf dem Meer ist für sie der wohl einzige Weg, all dem zu
entkommen. Außerdem hat diese Arbeit eine therapeutische Funktion: Du befindest
dich im direkten Kontakt mit den Gewalten der Natur. Du kannst in ruhigen Stunden
dein Leben neu ausrichten: Wohin soll meine Reise gehen?

Sprecher:
Mister Focus erklärt den Möchtegern-Seeleuten unverblümt, wie strikt die
Befehlsketten an Bord sind, wie hart die Arbeit, wie karg die Heuer. Er hilft Ihnen,
sich einen Ausweis zu beschaffen, ein Bankkonto und das Seefahrtbuch, das jeden
Job auf einem Schiff dokumentiert. Und: Nur, wer absolut clean ist von Drogen,
bekommt das notwendige medizinische Attest.

Als Mister Focus im Unterricht mal wieder über die Gangs herzieht, frage ich etwas
provokant, ob er Verhältnisse in den gang towns wirklich so genau kenne. Er stamme
doch als Lehrer aus ganz anderen Verhältnissen.

Atmo 16 – Mr. Focus spricht Englisch

Sprecher:
„Nein, Thomas”, antwortet Mr. Focus. Auch er habe auf der Straße gelebt. Drei Jahre
habe er aus Mülltonnen gegessen und nachts gefroren, sobald er sich bewegte.

Atmo 17 – Mr. Focus spricht Englisch

Sprecher:
Kapstadt sei ein teuflischer Ort, ruft der Mann in Schwarz heftig gestikulierend. Die
Reichen kümmerten sich nur um die Reichen; sie seien zutiefst böse. Die Armen
müssten aus eigener Kraft überleben. Und:

OT 18 – Mr. Focus (Englisch)/dar. Übersetzer

Diese Schule ist der einzige Ort in der westlichen Kapprovinz, der den jungen Leuten
hier realistische Wege zeigt, Träume zu verwirklichen – und keine Irrwege, die doch
bloß in die Sackgasse führen. Mit den Zeugnissen, die diese Schule ausstellt,
können die Schüler auf der ganzen Welt Arbeit finden. Umso wichtiger ist es, dass
wir ihnen keinen Scheißdreck erzählen, sondern offen und ehrlich mit ihnen

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umgehen. Dann verstehen sie, dass wir ihre vielleicht letzte Chance sind.

Atmo 18 – Unterricht bei Mr. Focus

Sprecher:
„Der Mann hat recht“, sagte leise Craig – jener schmächtige junge Mann, der
gesehen hat, wie Gangster vergewaltigte und abgestochene Frauen in Müllcontainer
warfen.

OT 19 – Craig (Englisch)/dar. Übersetzer

Mister Focus hat mir die Freude am Leben zurückgegeben. Zwei Monate hatte ich
depressiv in der Drogen-Reha gehockt und gegrübelt: Wie soll ich Arbeit finden und
mich ernähren? Dann bin ich eines Nachts am Hafen spazieren gegangen und habe
diesen netten Kerl kennengelernt: „Warum versuchst Du es nicht bei den
Salesianern?“ sagte er um vier Uhr früh auf den Docks. Und ein paar Stunden später
brachte er mich zu Mister Focus. Als der dann sagte „Komm am 30. September“,
hatte ich endlich etwas, auf das ich hinleben konnte.

Atmo 19 – Gesang „I have a dream”

Sprecher:
Wenige Tage später, bei der Abschlussfeier des Kurses, singen sie von ihrem Traum
– Tränen in den Augen. Einige Eltern sind gekommen. Lincoln, der wegen
Totschlags verurteilt wurde, hat seine Frau mitgebracht und seine drei Kinder.

Atmo 20 – Sprechender Ex-Kursteilnehmer

Sprecher:
Stolz erzählt der Teilnehmer eines früheren Kurses, dass er heute als Vollmatrose
auf einem Kutter arbeitet.

Atmo 21 – Sprechender Kursteilnehmer

Sprecher:
Und einigen, die sich bedanken, bricht die Stimme, als sie Mr. Focus mit Blumen
überhäufen…

Atmo 22 – Gesang mit Trommeln/Weich unter Spr. einblenden

Sprecher:
…und ihn noch ein, zwei Stunden lang feiern: Mr. Focus und das Salesianer-Institut
haben einmal mehr jungen Menschen, die sich verloren glaubten, die Chance auf ein
gutes Leben eröffnet.

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