Prison-info - Bewältigung der Covid-19- Pandemie - Das Magazin zum Straf- und Massnahmenvollzug 2/2020 - Perspektive Angehörige und Justizvollzug
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prison-info Das Magazin zum Straf- und Massnahmenvollzug 2/2020 Bewältigung der Covid-19- Pandemie 4 – 30 Zweite Befragung des Die Gefängnisse abschaffen? Personals im Justizvollzug Pro und Contra 32 46
Straf- und Massnahmenvollzug prison-info 2/2020 43 Die Familien inhaftierter Straftäter leiden mit Die Angehörigenarbeit ist im Schweizer Justizvollzug nur ungenügend etabliert Der Europarat hat 2018 eine detaillierte Emp- Ein Blick auf die Praxis zeigt jedoch, dass die ihren Partner braucht, und den Einge- fehlung betreffend Kinder inhaftierter Eltern dem Einbezug der Angehörigen – wenn er wiesenen selbst, der auf diese Weise Gele- erlassen. Geschehen ist in der Schweiz seither überhaupt erfolgt – noch immer eine mar- genheit erhält, Verantwortung der Familie wenig, obschon Handlungsbedarf erkenn- ginale Rolle zukommt. Die Arbeit mit Ange- gegenüber zu zeigen. Das Leben ausserhalb bar ist. Der Verein «Perspektive Angehörige hörigen ist komplex und daher anspruchs- der Vollzugsanstalt steht nämlich nicht still, und Justizvollzug» will Bewegung in die Sa- voll und zeitintensiv, darüber hinaus ist der wenn der Familienvater eine Strafe verbüsst, che bringen und stösst beim Bund und bei Justizvollzug täterorientiert und dabei in auch nicht während einer Disziplinarstrafe. der Konferenz der Kantonalen Justiz- und erster Linie von Erwachsenen für Erwach- Ein Kindergeburtstag lässt sich bekannt- Polizeidirektoren (KKJPD) auf offene Ohren sene konzipiert. Kinder werden kaum be- lich nicht aufschieben und wenn Papa nicht – verlangt sind aber Taten. rücksichtigt, obschon auch sie betroffen zum Geburtstag gratulieren kann, weil er in sind; sie werden mitbestraft für Taten, die der Arrestzelle sitzt, leidet in erster Linie das Dominik Lehner ein Elternteil begangen hat – ein Kollateral- Kind darunter. Die Strafe soll im Freiheits- schaden, den die Strafjustiz mit sich bringt. entzug liegen, nicht in der Deprivation von Wie hoch die Anzahl solchermassen betrof- der Familie. Es gilt also zu prüfen, welche Art fener Angehöriger in der Schweiz ist, wurde der Kontaktaufnahme möglich ist, ob für bisher nicht erfasst. Zwar wird in vielen Ins- die Familie geeignete Transportmöglichkei- titutionen beim Eintritt nach dem sozialen ten für den Anstaltsbesuch bestehen, ob die Umfeld gefragt, diese Angaben fliessen aber Räume der Justizvollzugsanstalt auf Kinder bisher in keine statistische Erhebung ein. einschüchternd wirken, ob es ein Familienbe- suchszimmer gibt und wie die Benutzung der In der Zelle: sich selbst nicht verlieren technischen Möglichkeiten für die Kontakt- Gemäss der 2018 vom Europarat erlasse- aufnahme (Telefon, Video, etc.) geregelt ist. nen Empfehlung zu Kindern inhaftierter Eltern soll im «intramuralen» Teil die Tren- Motivierend und sinnstiftend nung von Eltern und ihren Kindern soweit Dass der Einbezug der Angehörigen einer Dominik Lehner, Präsident der Konkordatlichen wie möglich vermieden werden (z.B. durch inhaftierten Person ein nicht zu vernachläs- Fachkommission der Nordwest- und Innerschweiz alternative Vollzugsformen). Wo die Tren- sigender Bestandteil im Resozialisierungs- zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit von nung unvermeidbar ist, soll der Kontakt prozess eines Straftäters bildet und in der Straftätern, ist Vorstandsmitglied des Vereins erleichtert und unterstützt werden. Rasch Regel geeignet ist, einen wichtigen Beitrag «Perspektive Angehörige und Justizvollzug». wird deutlich, dass hier ein Paradigmen- zur Reintegration zu leisten, dürfte als un- wechsel angestrebt wird. Bisher wurde der bestritten gelten. Das Miteingebunden- Kontakt zur Familie sozusagen als Privileg Sein in das Familiengeschehen hat in der Das Gefängnis schränkt die Möglichkeiten betrachtet für gute Führung und Kollabo- Regel während des Vollzugs für den Insas- zur Wahrnehmung familiärer Rechte und ration. Neu soll der Eingewiesene proaktiv sen einen motivierenden und sinnstiften- Pflichten ein. Finanzielle Not durch Weg- dazu aufgefordert und darin unterstützt den Effekt und wirkt sich somit positiv auf fall eines Einkommens, psychische Beein- werden, seine Verantwortung der Familie den Vollzugsverlauf und die Legalbewäh- trächtigungen durch die räumliche Tren- gegenüber zu jedem Zeitpunkt – ausdrück- rung aus. Nach der Entlassung sorgt ein nung von der Familie und Stigmatisierung lich auch aus der Arrestzelle heraus (!) – stabiler Kreis aus Angehörigen oft für eine können die inhaftierte Person und dessen nach den gegebenen Möglichkeiten wahr- erste materielle Unterstützung, vor allem Angehörige stark belasten. Auf die Frage, zunehmen. aber auch für ein unterstützendes, vertrau- was ihnen in Haft Halt gebe, nennen die Das ist für die ohnehin schon mit vielen tes und wertschätzendes Beziehungsnetz, meisten Befragten ihre Familien. Gefange- unterschiedlichen Aufgaben befrachteten das den Entlassenen psychisch durch die ne haben gestützt auf das Strafgesetzbuch Justizvollzugsanstalten neu und generiert Wiedereingliederungsphase begleitet. Wo (StGB) das Recht, Kontakte gegen aussen zu einen zusätzlichen Aufwand. Es lohnt sich kein sozialer Empfangsraum vorhanden ist, pflegen; dies bildet einen Teil des Resozia- aber und zwar für alle Seiten: für die Kin- empfiehlt es sich, die inhaftierte Person lisierungsauftrags. der, die ihren Vater brauchen, die Partnerin,
44 prison-info 2/2020 Straf- und Massnahmenvollzug während des Justizvollzugs möglichst darin gründet. Der Verein hat sich u.a. gestützt ◼ extramurale spezialisierte Beratungsstel- zu unterstützen, einen solchen zu schaffen. auf die Empfehlung des Europarats zu len, die bei Bedarf Fach- und Sachhilfe zur Natürlich werden Grundrechte des Einge- Kindern inhaftierter Eltern die Förderung Unterstützung von betroffenen Angehö- wiesenen – allen voran die persönliche Frei- und Professionalisierung der intra- und rigen leisten (vgl. REPR Relais Enfants Pa- heit – durch eine Inhaftierung eingeschränkt, extramuralen Angehörigenarbeit zur Auf- rents Romands); dafür besteht ja auch eine gesetzliche und gabe gemacht. Im Zentrum steht die Wis- ◼ die statistische Erfassung der betroffenen verfassungsmässige Grundlage. Gemäss Art. sensvermittlung, die Vernetzung sowie Angehörigen, insbesondere der betroffe- 74 StGB dürfen jedoch die Rechte des Einge- die Beratung von Behörden und Anstalten nen Kinder; wiesenen nur so weit beschränkt werden, als hinsichtlich einer wirkungsvollen Angehö- ◼ die Forschung zur Wirkung des Einbezugs der Freiheitsentzug und das Zusammenleben rigenarbeit. «Perspektive Angehörige und und der Unterstützung von Angehörigen in der Vollzugseinrichtung es erfordern. Nach Justizvollzug» steht dafür ein, dass Ange- inhaftierter Personen. Art. 75 StGB hat der Strafvollzug den allgemei- hörige – seien dies nun Kinder, Partnerin- nen Lebensverhältnissen soweit als möglich nen oder Partner, Eltern, Geschwister oder Es ist ein Prozess in Gang gekommen zu entsprechen. Somit sollten auch die legi- andere nahestehende Personen – möglichst Der Bundesrat hat am 19. Dezember 2018 timen Rechte der Angehörigen auf Kontakt keinen Nachteil erleiden durch die Inhaf- einen Bericht zu den Massnahmen zum zum inhaftierten Familienmitglied durch tierung des angehörigen Straftäters, also Schliessen von Lücken bei der Umsetzung den Vollzug einer Strafe oder Massnahme so nicht mitbestraft werden für Taten, die sie der Kinderrechtskonvention verabschiedet. wenig wie möglich beeinträchtigt werden. nicht begangen haben. Darin wird unter anderem das Bundesamt Verschiedene internationale und nationale Sie sollen von spezialisierten Unterstüt- für Justiz (BJ) beauftragt, eine qualitati- Bestimmungen haben direkt oder indirekt zungs- und Beratungsangeboten profitieren ve Studie zur Beziehungspflege zwischen Auswirkungen auf die Rechte von Angehö- können und wenn möglich in den Resozia- Kindern und ihrem inhaftierten Elternteil rigen inhaftierter Personen. International lisierungsprozess miteinbezogen werden. zu erstellen. Das BJ hat diese Studie Ende gehören dazu namentlich die Nelson-Man- Unter Einbezug der Perspektive von betrof- November 2020 in einem Einladungsver- dela-Regeln der UNO und die Europäischen fenen Angehörigen, insbesondere derjenigen fahren ausgeschrieben. Zugleich wurde der Strafvollzugsgrundsätze. der Kinder, sowie im Hinblick auf die best- Verein «Perspektive Angehörige und Justiz- Kinder geniessen besonderen Schutz. Die mögliche Resozialisierung und die damit ver- vollzug» angefragt, in der entsprechenden Rechte der Kinder von inhaftierten Personen bundene Rückfallprävention will der Verein Begleitgruppe mitzuwirken. Der Schlussbe- werden in der bereits erwähnten Empfehlung ein Bewusstsein (Awareness) dafür schaffen, richt soll im Mai 2022 vorliegen. Auch bei des Europarats festgehalten sowie im UNO- dass Angehörige von inhaftierten Personen der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Übereinkommen über die Rechte des Kindes systematisch intra- als auch extramural ge- Polizeidirektoren (KKJPD) steht das Thema und in den Empfehlungen zur Umsetzung der bührend Beachtung finden. auf der Traktandenliste. Es scheint also ein UN Kinderrechtskonvention vom Ausschuss Prozess in Gang gekommen zu sein. Vorbe- für die Rechte des Kindes (zweiter, dritter Wirkungsvolle Angehörigenarbeit erfor- hältlich einiger löblicher Ausnahmen sind und vierter Staatenbericht der Schweiz, 2015). dert: wir noch weit entfernt vom geforderten Trotz der nationalen und internationalen ◼ die generelle Berücksichtigung der Situ- Paradigmenwechsel vom Privileg der Kon- Vorgaben und des Rechts des Eingewiesenen ation der Angehörigen, deren Familien- taktpflege hin zur proaktiven Förderung der nach Art. 84 StGB, Beziehungen zur Aussen- mitglied sich im Justizvollzug befindet; Verantwortungsübernahme für die familiä- welt zu pflegen, fehlt es jedoch bisher in der ◼ die Ausrichtung der schweizerischen Ge- re Kontaktpflege sowie von der Schaffung Schweiz an einer koordinierten Strategie, setzgebung und Praxis des Justizvollzugs eines flächendeckenden, spezialisierten wie die Situation der Angehörigen einer in- auf die praxisnahen Empfehlungen des Beratungs- und Unterstützungsangebots haftierten Person verbessert werden und wie Europarats zu Kindern inhaftierter Eltern; für Familien von inhaftierten Personen in der systematische Einbezug der Angehörigen ◼ die proaktive Unterstützung inhaftierter der Schweiz. in den Justizvollzug verstärkt werden kann. Personen, ihrer Rolle als Vater, Mutter, Partner, Partnerin etc. auch während des Die Angehörigenarbeit professionalisieren Justizvollzugs statt sie mit unnötigen Ein- 2018 wurde der gemeinnützige Verein «Per- schränkungen davon abzuhalten, ihrer spektive Angehörige und Justizvollzug» ge- Verantwortung nachzukommen;
Straf- und Massnahmenvollzug prison-info 2/2020 45 Die Justizvollzugsanstalten sollten im Interesse aller den Kontakt zwi- schen den Inhaftierten und ihren Angehörigen erleichtern und unterstüt- zen (Bild: Besuchszimmer «Pollicino» in der Strafanstalt La Stampa). Foto: Peter Schulthess (2018) Links • Weitere Informationen über die Arbeit mit Angehörigen von straffälligen Personen sind auf der Website des Vereins «Perspektive Angehörige und Justizvollzug» (www.angehoerigenarbeit.ch) abrufbar. • Die subjektive Bedeutung von Familie für Inhaftierte, in: Neue Zeitschrift für Kriminologie und Kriminalpolitik 1/2020. Die Zeitschrift kann beim Helbing Lichtenhahn Verlag (www.helbing.ch) bestellt werden. • Die Empfehlung des Europarats zu Kindern inhaftierter Eltern ist auf der Website des Europarates (www.coe.int) abrufbar. • Die Nelson-Mandela-Regeln («Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen») sind auf der Website der UNO (www. un.org) abrufbar. • Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze sind auf der Website des Europarates (www.coe.int) auf Französisch (Règles pénitentiaires européennes) und Englisch (European Prison Rules) abrufbar. • Das UNO-Übereinkommen über die Rechte des Kindes (0.107) ist in der Systematischen Sammlung (www.admin.ch) abrufbar.
prison-info Blick in die Vergangenheit. Abstandsregeln und Isolierung der Ge- fangenen waren früher üblich und dienten dazu, die Kommunika- tion unter den Gefangenen zu unterbinden. Nicht bekannt ist, ob diese disziplinarischen Massnahmen als «Nebenwirkung» auch die Die letzte Seite eine oder andere Grippewelle oder sonstige Ansteckungen in den Anstalten verhinderten. Bild: Spazieren mit Abstand in der Straf- anstalt Lenzburg anfangs der 1920er Jahre.
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