Das Gründungspotenzial von Geflüchteten - Selbstständigkeit als Weg zur Arbeitsmarktintegration? - Bibliothek der ...

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Das Gründungspotenzial von Geflüchteten - Selbstständigkeit als Weg zur Arbeitsmarktintegration? - Bibliothek der ...
René Leicht, Carina Hartmann, Ralf Philipp
FES diskurs

              Das Gründungspotenzial
              von Geflüchteten
              Selbstständigkeit als Weg zur
              Arbeitsmarktintegration?
Das Gründungspotenzial von Geflüchteten - Selbstständigkeit als Weg zur Arbeitsmarktintegration? - Bibliothek der ...
FES diskurs
Oktober 2021

Die Friedrich-Ebert-Stiftung
Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste politische
Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und
setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften verbunden.

Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch:
– politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft;
– Politikberatung;
– internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern;
– Begabtenförderung;
– das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek.

Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der
Friedrich-Ebert-Stiftung
Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung versteht sich als Zu-
kunftsradar und Ideenschmiede der Sozialen Demokratie. Sie verknüpft Analyse und Diskussion.
Die Abteilung bringt Expertise aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung und
Politik zusammen. Ihr Ziel ist es, politische und gewerkschaftliche Entscheidungsträger_innen zu
aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu beraten und progressive Impulse in die gesell-
schaftspolitische Debatte einzubringen.

FES diskurs
FES diskurse sind umfangreiche Analysen zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Auf Grund-
lage von empirischen Erkenntnissen sprechen sie wissenschaftlich fundierte Handlungsempfeh-
lungen für die Politik aus.

Über die Autor_innen
Carina Hartmann ist Kulturbetriebswirtin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin und
Doktorandin am Lehrstuhl für Mittelstandsforschung und Entrepreneurship der Universität
Mannheim. Ihre Forschungsinteressen umfassen die sozialen Kontexte von zugewanderten
Gründer_innen und unternehmerischer Diversität.
Dr. René Leicht ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Bis 2019 leitete er den Forschungsbereich
„Neue Selbständigkeit“ am Institut für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim. Als
Senior Advisor befasst er sich dort insbesondere mit Integrations- und Migrationsforschung im
Kontext von Existenzgründungen.
Ralf Philipp beschäftigt sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mittelstandsfor-
schung der Universität Mannheim mit der Dynamik und den neuen Formen selbstständiger
Erwerbsarbeit.

Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich
Dr. Robert Philipps hat bis Juni 2021 in der Abteilung Analyse, Planung und Beratung die Bereiche
Unternehmen/Mittelstand und Verbraucherpolitik geleitet.
Susan Javad ist in der Abteilung Analyse, Planung und Beratung für den Arbeitsbereich Migration
und Integration verantwortlich.
FES diskurs

René Leicht, Carina Hartmann, Ralf Philipp

Das Gründungspotenzial von Geflüchteten
Selbstständigkeit als Weg zur Arbeitsmarktintegration?

 3           VORWORT
 4           ZUSAMMENFASSUNG
 6     1	EINLEITUNG
 7     2	„REFUGEES – THE MOST UNLIKELY ENTREPRENEURS“
 7     2.1   Erklärung von Migrant and Refugee Entrepreneurship
 8     2.2   Hürden für Gründungsaktivitäten von Geflüchteten
 9     2.3   Chancen beruflicher Selbstständigkeit
 9     2.4   Zwischen Marginalität und sozialem Aufstieg

12     3	MIGRATIONSFORMEN UND IHRE BEDEUTUNG FÜR SELBSTSTÄNDIGKEIT
12     3.1   Entwicklung von Selbstständigen mit eigener Migrationserfahrung
13     3.2   Bedeutung von Selbstständigen mit Fluchterfahrung
19     3.3   Was macht Geflüchtete zu beruflich Selbständigen?

23     4	UNDERDOGS – UND DOCH ERFOLGREICH?
23     4.1   Alter und Geschlecht
26     4.2   Qualifikationen
26     4.3   Märkte: Wirtschaftsbereiche und regionales Umfeld
29     4.4   Unternehmensgröße: Arbeitgeber_innen und Soloselbstständige
30     4.5   Einkommen

32     5	GRÜNDUNGSINTENTIONEN UND -HEMMNISSE VON NEUZUGEWANDERTEN
          MIT FLUCHTERFAHRUNG
32     5.1   Selbstständigkeitsorientierung: Gründungsintentionen und Gründungsaktivitäten
37     5.2   Hürden im Gründungsprozess

39     6     FAZIT UND AUSBLICK

42           Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
43           Literaturverzeichnis
Friedrich-Ebert-Stiftung   2
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten                                            FES diskurs                   3

VORWORT

Selbstständigkeit spielt auf dem deutschen Arbeitsmarkt           Worten: Viele wollen gründen, aber deutlich weniger tun es
mit rund zehn Prozent der Erwerbstätigen nur eine unterge-        am Ende auch.
ordnete Rolle. Auch zeigen die Zahlen unterschiedlicher Er-           Positiv vermerkt werden muss gleichzeitig, dass diejenigen,
hebungen, dass in Deutschland vergleichsweise zurückhal-          die ihre Gründungsneigung dann doch umsetzen, nicht selten
tend gegründet wird und die Gründungsbereitschaft in den          mehr erwirtschaften können, als Geflüchtete in abhängiger
vergangenen Jahren zurückging. Eine Vielzahl an politischen       Beschäftigung verdienen. Selbstständigkeit und Gründung
Initiativen hat immer wieder versucht, diese Zurückhaltung        „lohnen“ sich also dann meist doch. Zusätzlich schaffen Grün-
aufzuweichen und die Gründungsquote zu steigern, was bis          der_innen mit Fluchthintergrund im Durchschnitt mehr Ar-
zum Einsetzen der Corona-Pandemie auch langsam gelang.            beitsplätze als Gründende, die freiwillig nach Deutschland
Die Ratio hierbei war und ist: Man verspricht sich von einem      gekommen sind. Sie leisten damit einen aktiven Beitrag zum
Mehr an Gründungen eine gesteigerte wirtschaftliche Dyna-         Funktionieren des deutschen Arbeitsmarkts und zur Siche-
mik insgesamt mit positiven Effekten für Wachstum, Innovati-      rung der Sozialsysteme. Und das ist ein Gewinn für alle!
on und Beschäftigung und damit auch für die eigenständige             Politisch Gestaltenden sei abschließend noch auf den
Existenzsicherung der Arbeitsmarktteilnehmenden im Ganzen.        Weg gegeben, dass es eine Vielzahl von Hebeln gibt, die Um-
     Viele der Menschen, die im Zuge der Fluchtmigration ab       setzungslücke zwischen Gründungsneigung und tatsächli-
2013, und dann vor allem ab 2015, nach Deutschland kamen,         cher Unternehmensgründung zu verkleinern. Gerade auch
waren in ihren Heimatländern selbstständig bzw. kamen aus         geflüchtete Frauen sollten dabei mehr – wie insgesamt beim
Ländern, in denen Selbstständigkeit und Unternehmensgrün-         Thema Arbeitsmarktintegration – vom Rand in den Fokus
dungen sehr viel häufiger anzutreffen sind, als in der deut-      aufrücken.
schen Gesellschaft. Dazu kommt, dass sie nicht immer die              Die vorliegende Studie versteht sich als ein Beitrag zur
Voraussetzungen für eine schnelle und optimale Integration        intensiven Debatte um gelingende Arbeitsmarktintegration
in den deutschen Arbeitsmarkt mitbringen. Wären hier              geflüchteter Menschen. Dass diese im Interesse aller in die-
Selbstständigkeit und eine Unternehmensgründung nicht             sem Land Lebenden ist, steht außer Frage. Selbstständigkeit
eine naheliegende Option gerade für diese Zielgruppe?             und Unternehmensgründungen sind hier eine wichtige Fa-
     Vor diesem Hintergrund erklären sich nun die Forschungs-     cette, die es politisch noch besser zu ermöglichen gilt. Wir
fragen, die dieser Studie zugrunde liegen. Sie möchte zum         freuen uns, wenn die Studienergebnisse dazu ermutigen.
einen Auskunft über das Gründungspotenzial unter Geflüch-
teten geben. Zum anderen diskutiert die Studie Selbststän-
digkeit über eine Unternehmensgründung für diese Personen-        DR. ROBERT PHILIPPS
gruppe als einen interessanten Weg gelingender Arbeits-           SUSAN JAVAD
marktintegration. Das Forschungs- und Autor_innen-Team der        Abteilung Analyse, Planung und Beratung
Universität Mannheim hat hierfür sowohl wissenschaftliche         Friedrich-Ebert-Stiftung
Literatur zur Thematik als auch einen großen, eigens für die
Studie zusammengestellten und erhobenen Datenschatz
ausgewertet und zeichnet so ein differenziertes Bild der Lage.
     Ohne dem Fazit der Studie jetzt viel vorwegnehmen zu
wollen, kann festgehalten werden: Selbstständigkeit über
eine Unternehmensgründung ist für Geflüchtete vorausset-
zungsreich und es klafft hier eine signifikante Umsetzungslücke
zwischen bekundeter Gründungsneigung bzw. -intention
und der tatsächlichen Unternehmensgründung. In anderen
Friedrich-Ebert-Stiftung                                                                      4

                           ZUSAMMENFASSUNG

                           Strategien zur beruflichen Integration von Geflüchteten be-
                           schreiben unterschiedliche Wege zu Arbeit und Einkommen,
                           aber der Mainstream an Maßnahmen fokussiert auf die Ein-
                           gliederung durch eine lohnabhängige Beschäftigung. Dabei
                           rückt in den Hintergrund, dass immer mehr Zugewanderte
                           als Selbstständige arbeiten und sich ihren Arbeitsplatz selbst
                           erschaffen. Wenig bekannt ist, inwieweit eine Unternehmens-
                           gründung auch für geflüchtete Menschen eine erfolgver-
                           sprechende Option darstellt. Supranationale Organisationen
                           (z. B. EU, OECD, UN) empfehlen die Förderung von „Migrant
                           and Refugee Entrepreneurship“, wobei sie jedoch die unter-
                           schiedlichen Ausgangslagen, Chancen und Hürden von Ein-
                           gewanderten mit und ohne Fluchterfahrung kaum themati-
                           sieren. Im vorliegenden Beitrag wird deshalb untersucht,
                           welches Gründungspotenzial Geflüchtete besitzen und zu
                           welchen Ergebnissen der Schritt in die Selbstständigkeit führt.
                           Dahinter steht auch die Frage, welche Implikationen unter-
                           schiedliche Zuwanderungsmotive (vor allem Flucht, Arbeits-
                           migration, Familiennachzug, Studium) für den Umfang und
                           die Struktur beruflicher Selbstständigkeit haben.
                                Unter allen Zugewanderten waren im Jahr 2019 rund
                           700.000 beruflich selbstständig. Dies sind neun Prozent aller
                           erwerbstätigen Zugewanderten und entspricht einer Selbst-
                           ständigenquote, die nur knapp unterhalb der von Herkunfts-
                           deutschen liegt (zehn Prozent). Rückblickend ist ein Zehntel
                           (68.000) dieser Selbstständigen einst aufgrund von „Flucht,
                           Verfolgung oder Asyl“ zugezogen.1 Darunter sind jedoch
                           wenige (ca. 5.000), die im Zuge der großen Fluchtbewegung
                           seit 2013 kamen. Das wiederum ist nachvollziehbar, da der
                           Planungs- und Handlungsspielraum von neu zugewanderten
                           Geflüchteten durch Unwägbarkeiten, das Bleiberecht, obliga-
                           torische Integrationskurse und diverse Auflagen und Restrik-
                           tionen weit mehr als bei anderen Neuzugewanderten einge-
                           schränkt ist. Während von den Erwerbstätigen, die seit 2013
                           freiwillig nach Deutschland kamen (z. B. wegen Arbeit, Famili-
                           ennachzug oder Studium), mindestens fünf Prozent selbst-
                           ständig sind, ist dies bei den in dieser Zeit hierher Geflüchteten
                           nur bei zwei Prozent der Fall. Aber auch unter den Personen

                           1 Unter den rund 11 Millionen Zugewanderten im erwerbsfähigen Alter
                           stellen die Personen mit Fluchterfahrung einen Anteil von 14 Prozent.
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten                                                    FES diskurs                         5

mit Fluchtbiografie, die schon 10 bis 20 Jahre in Deutschland         here Kohorten zeigt sich einerseits, dass Selbstständige mit
sind, ist das Niveau unternehmerischer Aktivitäten noch ge-           Fluchterfahrung überproportional im arbeits- und wettbewerbs­
ring. Erst mit noch längerem Aufenthalt (und damit auch aus-          intensiven Handel und Gastgewerbe und weniger in wissens­
gestattet mit mehr Wissen und passenden rechtlichen Vo-               intensiven Dienstleistungen angesiedelt sind. Andererseits
raussetzungen) steigen die Selbstständigenquoten Geflüch-             erzielen Geflüchtete, wenn sie selbstständig sind, im Durch-
teter spürbar an. Sie übertreffen dann sogar die Quoten der-          schnitt höhere Einkommen als ihre abhängig beschäftigten
jenigen, deren Migration nicht erzwungen war. Den erst spät           Pendants, was weniger für prekäre Verhältnisse, sondern für
Gründenden ist es zu verdanken, dass die Selbstständigen-             Chancen zum sozialen Aufstieg spricht. Zudem stellen die
quote von Geflüchteten im Durchschnitt insgesamt acht Pro-            Unternehmen der ehemals Geflüchteten häufiger als andere
zent erreicht und damit nur einen Prozentpunkt unter derje-           Gruppen noch zusätzlich Arbeitsplätze bereit, und sie erfüllen
nigen aller Zugewanderten liegt.                                      sogar etwas öfter als die von Personen deutscher Herkunft
    Das heißt, das Gründungspotenzial von Geflüchteten wird           geführten Einzelunternehmen eine Arbeitgeberfunktion.
mittelbar durch die Dauer des Aufenthalts bestimmt, denn                  Zusammengenommen erscheint es also gerechtfertigt,
erst mit der Zeit können institutionelle Barrieren im Zugang          Geflüchtete bei der Überwindung ungleich höherer Grün-
zu Selbstständigkeit überwunden werden. Gleichzeitig steigen          dungshürden und der Entwicklung selbstständigkeitsrelevan-
die Chancen zum Erwerb gründungsrelevanter Ressourcen,                ter Ressourcen zu unterstützen, auch wenn sich die Erfolge
darunter Deutschkenntnisse, systemrelevantes Wissen, Er-              auf individueller und gesellschaftlicher Ebene erst längerfris-
kenntnisse über Märkte sowie Beziehungen zu Lieferant_innen           tig zeigen. An erforderlichen Ambitionen zur Gründung
und Kund_innen. Geflüchtete brauchen jedoch nicht nur einen           mangelt es Geflüchteten nicht. Sie sind sogar stark ausge-
längeren Anlauf für den Sprung in die Selbstständigkeit als           prägt, wie eine Befragung von Neuzugewanderten zeigt.
andere Zuwanderungsgruppen. Ihre Chancen werden zudem                 Rund die Hälfte aller Asylsuchenden äußert starke Intentionen,
gemindert, da sie im Durchschnitt betrachtet schlechter ge-           in Deutschland irgendwann ein eigenes Unternehmen zu
bildet sind als freiwillig Zugezogene. Im deutschen Kontext ist       gründen, und diese Ambitionen nehmen in den ersten Jah-
das besonders relevant, denn der Zugang zu Selbstständig-             ren nach Ankunft sogar tendenziell zu. 2
keit ist in vielen Berufen durch Bildungszertifikate institutionell
reguliert und beschränkt (Handwerk, freie Berufe).
    Diejenigen jedoch, die – ob anerkannt oder nicht – prin-
zipiell über höhere Qualifikationen und damit auch über mehr
Wissen verfügen, sind mit doppelt so hoher Wahrscheinlich-
keit selbstständig als die Geringqualifizierten – u. a. auch weil
es bislang noch immer große Hürden bei der Anerkennung
von im Ausland erworbenen Qualifikationen in Deutschland
gibt. Bei gleicher Bildung und unter Kontrolle weiterer Einfluss-
faktoren wie Alter, Geschlecht und Haushaltskontext machen
sich Geflüchtete jedoch genauso oft selbstständig wie andere
Zuwanderungsgruppen und sogar häufiger als Personen, die
im Familiennachzug zugezogen sind. 2
    Ob die Gründungsaktivitäten von Geflüchteten auch inte-
                                                                      2 Letzteres ist teils auch im Kontext des Umstands zu sehen, dass im
grationspolitisch sinnvoll sind, kann u. a. anhand des Profils
                                                                      Familiennachzug vor allem Frauen (rund 60 Prozent) kamen und die
der Selbstständigen und dem wirtschaftlichen Beitrag ihrer            Selbstständigenquoten von Frauen in allen Gruppen (unabhängig von
Unternehmen beurteilt werden: In der Retrospektive auf frü-           Herkunft und Zuwanderungsmotiv) niedrig ausfallen.
Friedrich-Ebert-Stiftung                                                                                                                  6

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EINLEITUNG

Die Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt wird noch               Arbeitsverhältnisse gestellt. Unternehmen von Migrant_innen
lange Jahre eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung              werden häufig ökonomischen oder ethnischen Nischen zu-
bleiben. Zwar ist unter denjenigen, die seit 2013 nach Deutsch-          geordnet, insbesondere wenn sie aus der Not geboren sind
land geflüchtet und hier geblieben sind, mittlerweile die Hälfte         (Apitzsch 2006). Zwar sehen neuere Forschungsarbeiten einen
erwerbstätig (Brücker et al. 2020), 3 aber gleichzeitig besteht          Wandel in der Ressourcenausstattung der Zugewanderten
Konsens, dass weitere Integrationsschritte erhebliche Anstren-           und attestieren Migrantengründungen deshalb ein gewach-
gungen erfordern, zumal auch die Qualifikationen nur teil-               senes Wissens- und Innovationspotenzial (Leicht/Langhauser
weise in den deutschen Arbeitsmarkt transferiert und dort                2014; Leicht et al. 2017; Sternberg et al. 2019). Allerdings stellt
verwertet werden können (Kosyakova 2020). Hinzu kommt                    sich die Frage, inwieweit diese Befunde auf Personen mit
die Covid-19-Pandemie, welche die Arbeits- und Lebenssitu-               Fluchterfahrung übertragbar sind. Weit mehr als bei anderen
ation von Neuzugewanderten zusätzlich erschwert (Falkenhain              Zuwanderungsgruppen sind die beruflichen Perspektiven von
et al. 2020), vor allem wenn dann in bestimmten Bereichen                Geflüchteten durch unsichere Lebensverhältnisse, psychische
weniger Arbeitsplätze angeboten werden.                                  Belastungen, Isolation, inadäquate Ressourcen und rechtliche
    Fast sämtliche Studien zur beruflichen Integration Ge-               Hürden erschwert (SVR 2017; Wiedner et al. 2017). Das sind
flüchteter fokussieren explizit auf die Eingliederung in eine            eher ungünstige Voraussetzungen für die Führung eines ei-
abhängige Beschäftigung. Hingegen wird der Schritt in die                genen Unternehmens.
unternehmerische Selbstständigkeit als alternativer Pfad der                 Mit speziellem Fokus auf die Unterschiede in den Ausgangs-
Arbeitsmarktintegration kaum in Betracht gezogen. Dieser                 lagen von Gründungswilligen mit und ohne Fluchterfahrung
verkürzte Blickwinkel zeigt sich nicht nur in der Forschung              hat sich auf internationaler Ebene neben der Migrant-Entre-
und betrifft nicht nur Geflüchtete: Wirtschafts- und arbeits-            preneurship-Forschung eine weitere Wissenschafts-Com-
marktpolitische Initiativen, wie etwa das Fachkräfteeinwan-              munity formiert, die sich den Besonderheiten von „Refugee
derungsgesetz, zielen vor allem auf die Deckung des hohen                Entrepreneurship“ widmet. Soweit sich Geflüchtete selbst-
Arbeitskräftebedarfs der bestehenden Unternehmen. Hinge-                 ständig machen, werden hier andere Ursachen und Ergebnis-
gen wird selten thematisiert, inwieweit durch Einwanderung               se als bei den freiwillig Immigrierten vermutet. Mit konkre-
auch neue Unternehmen und dadurch möglicherweise auch                    tem Blick auf die Geflüchteten in Deutschland interessieren
Impulse für Innovation und neue Arbeitsplätze entstehen.                 daher Antworten auf die Fragen, (1) inwieweit Geflüchtete
Immerhin ist in Deutschland bereits jetzt schon jede zehnte              die Neigung und Fähigkeit besitzen, in Deutschland ein eige-
Person mit Migrationshintergrund unternehmerisch engagiert               nes Unternehmen zu gründen, und (2) wie erfolgverspre-
(Leicht et al. 2021). Internationale Studien zeigen, dass viele          chend der Weg in die berufliche Selbstständigkeit ist. Im Ge-
neu Eingewanderte, vor allem wenn sie aus Ländern mit hohen              nerellen interessiert die Frage, (3) ob sich die Strukturen in
Selbstständigenquoten kommen, ihre Arbeitskraft nicht un-                der beruflichen Selbstständigkeit von Geflüchteten und an-
bedingt gegen Lohn, sondern eher auf eigene Rechnung an-                 deren Zuwanderungsgruppen unterscheiden bzw. inwieweit
bieten möchten (Bizri 2017; Sak et al. 2018).                            erzwungene Migration zu anderen Ergebnissen führt.
    Allerdings wurde den Gründungen von Zugewanderten                        Diese Forschungsfragen sind von hoher politischer Rele-
seit jeher große Skepsis entgegengebracht. Nicht selten wird             vanz, zumal supranationale Organisationen wie UNHCR,
Migrantenselbstständigkeit in die Nähe prekärer Lebens- und              OECD oder die EU den Mitgliedstaaten eine Förderung von
                                                                         Refugee Entrepreneurship empfehlen (z. B. European Com-
                                                                         mission 2016, OECD 2018, UN 2018).
3 Bezogen auf die Ergebnisse der BAMF-IAB-SOEP-Geflüchtetenbefra-
gung im zweiten Halbjahr 2018 – unter denjenigen, die von Jahresanfang
2013 bis Ende 2016 zugezogen sind, war rund ein Drittel erwerbstätig
(Brücker et al. 2020: 14, Tabelle 8).
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten                                            FES diskurs                   7

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„REFUGEES – THE MOST UNLIKELY
  ENTREPRENEURS“

 Lange Zeit haben sich die Wirtschafts- und Sozialwissenschaf-     gen und dem Aufenthaltsstatus beeinflusst werden (Waldin-
 ten hierzulande eher randständig für die Ursachen, Charakte-      ger et al. 1990; Kloosterman/Rath 2001; Volery 2008). Aller-
 ristika und Wirkungen des unternehmerischen Engagements           dings wurden die ungleichen Ausgangsbedingungen von
 von Zugewanderten interessiert, während Migrant Entrepre-         Gründungswilligen, die nicht aus freien Stücken, sondern auf
 neurship beispielsweise im angloamerikanischen Raum eine          der Suche nach humanitärem Schutz emigrierten, kaum sys-
 breit verankerte Forschungstradition besitzt. Doch in den ver-    tematisch untersucht. Dies gilt aber generell für die Frage,
 gangenen Jahren stieg der Bedarf an wissenschaftlicher Ex-        wodurch, warum und in welcher Weise sich Geflüchtete von
 pertise, da das Gründungsgeschehen in Deutschland insgesamt       anderen Gruppen, die freiwillig zugewandert sind, unter-
 rückläufig ist und gleichzeitig zu einem beständig wachsen-       scheiden.
 den Anteil durch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte be-               Auch wenn die Besonderheiten von Geflüchteten unter
 stimmt wird (Leicht/Langhauser 2014; Leifels/Metzger 2019;        dem breiten Schirm der Migrant-Entrepreneurship-Forschung
 Sternberg et al. 2019; Sachs 2020; Leicht et al. 2021). Nicht     schwer zu erkennen sind (Wauters/Lambrecht 2008; Heil-
 zuletzt hat das Thema aber auch durch die jüngere Dynamik         brunn/Iannone 2020), bieten einzelne Ansätze zumindest
 der Einwanderung höhere Aufmerksamkeit erreicht. Die Zahl         Anknüpfungspunkte, um zu erklären, aus welchen Gründen
 der nach Deutschland zugewanderten Personen im erwerbs-           sich Personen mit einer Fluchtbiografie selbstständig machen
 fähigen Alter ist zwischen 2013 und 2019 um fast eineinhalb       und welche Faktoren dabei hinderlich sind. Der „Disadvantage“-
 Millionen gestiegen. Da rund die Hälfte dieser Menschen als       oder der „Blocked Mobility“-Theorie zufolge zählen zu den
 Schutzsuchende nach Deutschland kam, steht zur Diskussion,        Treibern von Migrantenselbstständigkeit vor allem arbeits-
 in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen sich              marktrelevante Ungleichheiten, Benachteiligungen, Diskrimi-
 Geflüchtete durch den Schritt in die Selbstständigkeit beruf-     nierung und Arbeitslosigkeit; mithin also Push-Faktoren, die
 lich integrieren können.                                          dazu animieren, sozialen Aufstieg und ein erträgliches Einkom-
                                                                   men über den Pfad der Selbstständigkeit zu suchen (Light
                                                                   1979; Beaujot et al. 1994; Raijman/Tienda 2000; Li 2001; Jones/
  2.1 ERKLÄRUNG VON MIGRANT AND                                    Ram 2003). Ergänzt werden solche Argumentationsmuster
 ­REFUGEE ENTREPRENEURSHIP                                         durch „kulturelle“ Erklärungsansätze und mithin Pull-Faktoren,
                                                                   wobei davon ausgegangen wird, dass Migrant_innen auf
 Theoretisch und empirisch fundierte Forschungsarbeiten, die       ­B asis herkunftsrelevanter Werthaltungen und Traditionen in-
 sich explizit mit dem Gründungspotenzial von Personen be-          härente unternehmerische Neigungen besitzen (Light 1972;
 fassen, die zur Migration gezwungen waren, sind – auch im          Gold 1992; Bauder 2008). Bei allem handelt es sich jedoch
 internationalen Kontext – bisher vergleichsweise rar (Heil-        jeweils um Motivlagen, die für sich genommen lediglich
 brunn/Iannone 2020; Desai et al. 2020; Kone et al. 2020).          Gründungsambitionen, aber nicht deren Umsetzung in er-
 Dies liegt teils daran, dass sich etablierte Ansätze zur Erklä-    folgreiches Unternehmertum erklären (Volery 2008).
 rung und Beschreibung migrantischen Unternehmertums                    Das bloße Bestreben, beruflich auf eigenen Beinen zu
 ­lediglich am Rande mit der Frage auseinandersetzen, inwie-        stehen, allein reicht kaum aus, um ein Unternehmen erfolg-
  weit die Neigung und Fähigkeit zu beruflicher Selbstständig-      reich am Markt zu etablieren. Es bedarf zudem geeigneter
  keit durch das Motiv und die genauen Umstände der Migrati-        Strategien, um ein Nachfragepotenzial zu entdecken und da-
  on beeinflusst werden (Heilbrunn 2018; Desai et al. 2020).        rauf mit adäquaten Ressourcen zu reagieren. Diesbezüglich
  Dies verwundert, denn in der Migrant-Entrepreneurship-­           bietet die migrantenorientierte Gründungsforschung ver-
  Forschung ist unbestritten, dass die Chancen einer Gründung       schiedene Erklärungsmodelle, die sich zum einen mit den un-
  stark von den verfügbaren Ressourcen und Gelegenheiten            ternehmerischen Talenten, das heißt vor allem mit den Res-
  und diese wiederum auch von den Zuwanderungsbedingun-             sourcen und Verhaltensweisen der Akteur_innen, und zum
Friedrich-Ebert-Stiftung                                                                                                                8

anderen mit den Strukturen, insbesondere mit den Märkten                 gründungsrelevante Ressourcen zu mobilisieren und die
und Restriktionen, befassen (Waldinger et al. 1990; Light/               Märkte für ihre Zwecke zu nutzen.
Gold 2000). Im Zentrum der „klassischen“ Ansätze steht die                    Ohnehin sind die Zugewanderten mit höheren Gründungs-
Annahme, dass Migrant_innen insbesondere ethnisches und                  hürden als die Einheimischen konfrontiert (Carter et al. 2015),
soziales Kapital (z. B. kulturelle Kompetenzen, Solidarität,             doch mit einer Fluchtbiografie kommen noch weitere Hemm-
Familienarbeit, Beziehungen) zum Einsatz bringen, um in adä-             nisse hinzu. Genau diesen Umstand greift die Refugee-Entre-
quaten Nischen oder Märkten zu agieren. Einem gängigen                   preneurship-Forschung auf und weist darauf hin, dass insbe-
Interaktionsmuster zufolge erkennen sie die Chance, die                  sondere neu zugezogene Geflüchtete kaum in die sozialen
Konsumbedürfnisse ihrer Landsleute mithilfe von Community-               und institutionellen Strukturen des Ziellands eingebettet sind
spezifischen Kompetenzen und Beziehungen ins Herkunfts-                  und zudem nur beschränkten Zugang zu Ressourcen und
land zu befriedigen (Floeting et al. 2005). Bei genauerer Be-            Netzwerken ihrer Community, sowohl im Aufnahme- als auch
trachtung sind dies allerdings Mechanismen, die – wenn                   im Herkunftsland, besitzen. Daher ist auch umstritten, ob der
überhaupt in Deutschland – nur unter bestimmten sozialen,                Mixed-Embeddedness-Ansatz überhaupt genügt, das unter-
wirtschaftlichen und räumlichen Kontextbedingungen, wie                  nehmerische Engagement von Geflüchteten konsistent zu
etwa in einzelnen Branchen oder städtischen Quartieren, zur              ­erklären (Heilbrunn/Iannone 2020). Ein entscheidendes Mo-
Entfaltung kommen können (Leicht 2018).                                   ment ist vor allem der Mangel an sozialem Kapital. Denn an-
    Von zentraler Bedeutung ist jedoch, dass die Modelle nur              ders als freiwillige Migration erfolgt Flucht zumeist abrupt
sehr begrenzt auch auf Geflüchtete anzuwenden sind; zumal                 und ungeplant, weshalb kaum Zeit und Möglichkeiten zum
in einem Land wie Deutschland, in dem durch Wohnsitzauf-                  Aufbau von Beziehungen bleiben und die Geflüchteten häufig
lagen 4 einer residentiellen Segregation von Asylsuchenden –              auch von herkunftsbezogenen Netzwerken abgekoppelt
und damit auch einer unternehmerisch förderlichen Freizü-                 sind (Fong et al. 2007; Wauters/Lambrecht 2008; Bizri 2017;
gigkeit – tendenziell entgegengesteuert wird (SVR 2016).                  Collins 2017; Heilbrunn 2018; OECD 2018; Heilbrunn/Iannone
Hinzu kommt eine hohe Heterogenität in Bezug auf die nati-                2020). Daher sind Gründungswillige zudem auch stärker auf
onale Herkunft der Geflüchteten, was die Größe co-ethnischer              Fremdkapital angewiesen (Rashid 2018; Freiling/Harima 2019),
Märkte und damit die Tragfähigkeit einer Gründung tenden-                 was zu einer weiteren Zuspitzung der Probleme führt, wenn
ziell verringert (Evans 1989).                                            die zum Start notwendigen Gelder nicht über soziale Beziehun-
                                                                          gen akquiriert werden können und gleichzeitig die Banken
                                                                          Kredite verweigern, weil der Aufenthaltstitel ungeklärt und
2.2 HÜRDEN FÜR DIE GRÜNDUNGS­                                             die Rückzahlung nicht gesichert ist (Leicht et al. 2017; Metzger
AKTIVITÄTEN VON GEFLÜCHTETEN                                              2018; Embiricos 2020).
                                                                              Weitere Hemmnisse ergeben sich insbesondere aus der
Die dargestellten Beobachtungen zeigen beispielhaft, dass                 individuellen Ressourcenausstattung, da sich nur ein Teil der
sich unternehmerisches Engagement nicht nur durch die per-                Kompetenzen aus dem Herkunftsland transferieren und an-
sönlichen Merkmale auf der Mikroebene erklären lässt, son-                wenden lässt (Gold 1992; Fong et al. 2007; Wauters/Lambrecht
dern insbesondere das Umfeld der Akteur_innen, das heißt                  2008). So mangelt es an ankunftslandspezifischem und
die Makro- oder Mesoebene eine entscheidende Rolle spielen.               gründungsrelevantem Humankapital, da sich die meisten vor
Diese Erkenntnis entspricht auch der Botschaft der Mixed-                 der Flucht gar nicht auf eine unternehmerische Tätigkeit vor-
Embeddedness-Theorie (Kloosterman et al. 1999; Kloosterman/               bereitet oder entsprechendes Wissen, etwa über die Märkte
Rath 2001), die sich mit der sozialen Einbettung der Selbst-              oder Sprachkenntnisse, erworben haben. Zum anderen sind
ständigen in unterschiedliche Kontextbedingungen befasst                  die herkunftsspezifischen Qualifikationen oftmals nicht für
(Granovetter 1985). Das unternehmerische Verhalten wird                   einen Markteintritt verwertbar und finden auch im Gründungs-
zum einen durch die Einbettung in die konkreten sozialen                  ökosystem nicht die erforderliche Resonanz (Hartmann/Güllü
Netzwerkstrukturen, zum anderen aber durch den Einfluss                   2020). Von daher ist unklar, inwieweit der in der Forschung
des sozioökonomischen und politisch-institutionellen Um-                  vielfach belegte selbstständigkeitsfördernde Einfluss höhe-
felds bestimmt. So sind Gründungen beispielsweise nicht nur               rer Bildung auch bei Geflüchteten Wirkung zeigt. Es gibt
auf die Unterstützung durch Familie, Freunde oder auf inner­              zwar Anzeichen dafür, dass Fluchtmigration unter bestimm-
ethnische Solidarität angewiesen, auch das regionale Grün-                ten Bedingungen zur Selbstselektion von Menschen mit
dungsökosystem sowie die durch Kammern, Verbände und                      formal hoher Bildung führt (Guichard 2020). Unbeantwortet
den Staat oder in bestimmten Branchen geregelten Rahmen-                  bleibt allerdings, inwieweit dies verstärkt solche Menschen
bedingungen beeinflussen die Chancen beruflicher Selbst-                  mit unternehmerischen Fähigkeiten nach Deutschland bringt.
ständigkeit. Solche Interdependenzen können Gründungen                        Hemmnisse im Gründungsprozess zeigen sich zudem im
hemmen, etwa dann, wenn die Akteur_innen auf rechtliche                   Kontext lebensweltlicher Probleme, die bei Geflüchteten häufig
Schranken oder Marktzugangshürden stoßen. Umgekehrt                       schwerer als bei anderen Zugewanderten wiegen. Denn
betrachtet ist das Maß der Einbettung ein guter Indikator da-             schließlich haben sie zunächst noch ganz andere Herausfor-
für, in welchem Umfang und mit welchen Anstrengungen es                   derungen im Alltag, von der Wohnungssuche bis zur Kinder-
Zugewanderten in der Aufnahmegesellschaft gelingen kann,                  betreuung, zu bewältigen – und nicht selten auch noch die
                                                                          psychischen Folgen der Flucht sowie der Fluchtursachen
4 Die auf dem Integrationsgesetz von 2016 beruhenden Wohnsitzauf­
                                                                          (Wauters/Lambrecht 2008).
lagen für Schutzsuchende werden in den einzelnen Bundesländern (aber          Mit im Vordergrund der Liste an Gründungshürden stehen
auch auf der Ebene von Kreisen und Städten) unterschiedlich angewandt.    natürlich die institutionellen Barrieren. Sie sind zwar zwischen
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten                                                     FES diskurs                          9

den Zielländern äußerst verschieden, werden aber beispiels-         gungen und qualitative Studien können hier allenfalls Anhalts-
weise von den Vereinten Nationen als zentrales Handlungs-           punkte liefern: In einer Befragung von 40 Geflüchteten in
feld bei der Optimierung von Refugee Entrepreneurship ge-           Großbritannien berichtete beispielsweise die weit überwie-
sehen (UN 2018). Mit Blick auf Deutschland ist hervorzuheben,       gende Zahl von erheblichen Verbesserungen ihres Einkom-
dass für Asylantragstellende mit Aufenthaltsgestattung eine         mens, ihrer Qualifikationen und ihres sozialen Status durch
selbstständige Beschäftigung während der Dauer eines laufen-        die unternehmerische Tätigkeit (Lyon et al. 2007).
den Asylverfahrens nicht möglich ist. Während Asylberech-
tigte, Flüchtlinge und subsidiär Geschützte uneingeschränkt
einer selbstständigen Tätigkeit nachgehen können, bedarf es         2.4 ZWISCHEN MARGINALITÄT UND
im Fall von negativen Asylbescheiden (bei Abschiebeverbot,          SOZIALEM AUFSTIEG
Härtefällen, qualifizierten Geduldeten etc.) einer Erlaubnis zur
Ausübung einer Selbstständigkeit. Hier liegt es im Ermessen         Die beschriebenen Hürden im Zugang zu beruflicher Selbst-
der Ausländerbehörde (in Abstimmung mit den Kammern oder            ständigkeit sowie die aus unternehmerischen Aktivitäten re-
anderen fachkundigen Körperschaften), ob eine Genehmigung           sultierenden Chancen führen zu den (mehr oder weniger
zur Ausübung einer Beschäftigung erteilt wird (Sänger et al.        ­b ilanzierenden) Fragen, welche Konsequenzen dies für die
2016; Genge 2018). Doch selbst wenn die aufenthaltsgesetz-           Bedeutung und Struktur von Refugee Entrepreneurship hat.
lichen Zugangsvoraussetzungen für eine selbstständige Er-            Zum einen interessieren Forschungsbefunde zur unterneh-
werbsarbeit erfüllt sind, stehen den Geflüchteten unter Um-          merischen Stärke von Geflüchteten und zum anderen, welche
ständen branchenspezifische institutionelle Regulierungen,           soziale und wirtschaftliche Zusammensetzung sich unter
beispielsweise in zulassungspflichtigen Handwerksberufen ent-        denjenigen abzeichnet, die sich im Aufnahmeland selbststän-
gegen.                                                               dig machen konnten.

                                                                    Stärke unternehmerischer Aktivitäten
2.3 CHANCEN BERUFLICHER                                             Mit Blick auf die dargestellten Gründungshürden erscheint es
SELBSTSTÄNDIGKEIT                                                   eher verwunderlich, dass sich Geflüchtete unternehmerisch
                                                                    engagieren. „At first glance, refugees are the most unlikely
Die Debatte um Refugee Entrepreneurship wäre ohne Belang,           entrepreneurs. […] The challenges they face in starting a
wenn sich neben den Gründungshürden nicht auch Chancen              ­b usiness make it almost paradoxical that they do so well“
für sozialen Aufstieg durch den Schritt in die berufliche Selbst-    (Collins 2017: 10). Tatsächlich lässt der mächtige Stapel an
ständigkeit zeigen würden. Insbesondere supranationale poli-         Gründungshürden zweifeln, ob es Geflüchteten überhaupt in
tische Institutionen sehen die Förderung migrantischen Unter-        sichtbarem Umfang gelingt, unternehmerische Ambitionen
nehmertums als Erfolg versprechende Strategie zur Erhöhung           umzusetzen. Das junge, sich formierende Forschungsfeld bietet
der Chancen gesellschaftlicher Teilhabe (European Commissi-          hierzu kaum Erkenntnisse, was auch ein Problem der Daten-
on 2016; UN 2018). Mit Blick auf die politischen Empfehlungen        lage und der Identifizierung von Geflüchteten ist. Insofern
erscheint jedoch problematisch, dass äußerst selten zwischen         handelt es sich überwiegend um qualitative Forschung (Heil-
den Chancen Geflüchteter und anderer Zuwanderungsgrup-               brunn/Iannone 2020). Die Befunde der wenigen quantitativ
pen unterschieden wird (UN 2018). Eine Ausnahme bildet               ausgerichteten Arbeiten klaffen auseinander, was voraussicht-
eine Expertise der OECD (2018), die sich explizit mit der Un-        lich nicht nur auf die Erhebungsinstrumente, sondern auch
terstützung von Refugee Entrepreneurship befasst und dies-           auf den jeweiligen Untersuchungszeitraum, auf die Herkunfts-
bezüglich drei Argumente betont. Für Geflüchtete eröffne             länder und die Aufenthaltszeit der Geflüchteten sowie vor
sich durch Selbstständigkeit (1) ein alternativer Weg in den         allem auf die unterschiedlichen Zuwanderungsstrukturen und
Arbeitsmarkt, wodurch Einkommen generiert und die Lebens-            Regulierungen in den Aufnahmeländern zurückzuführen ist.
qualität erhöht werde. Zu den immateriellen Gewinnen zäh-                Interessanterweise konnten in der vielfach zitierten Studie
len (2) u. a. eine Erhöhung des Selbstvertrauens und der Selbst­     von Wauters/Lambrecht (2008) für das Jahr 2003 nur 152
organisation, was die Akkumulation kognitiver Ressourcen             Refugee Entrepreneurs in ganz Belgien nachgewiesen werden,
sowie das soziale Kapital und letztlich die Integrationsfähig-       was einem Anteil von lediglich 1,5 Prozent an allen Geflüch-
keit verbessert. Auch wenn Geflüchtete mit ihrem Gründungs-          teten entspricht. 5 Im Licht der beschriebenen Zugangsbarrieren
projekt scheitern, würden die Aktivitäten (3) die Beschäfti-        erscheint die geringe Quote zunächst plausibel. Mittlerweile
gungsfähigkeit erhöhen.                                             jedoch hat die Fluchtmigration weltweit andere Ausmaße er-
    In vielen Teilen spiegeln sich in diesem Argumentations-         langt. Aber auch Erhebungen unter den Fluchtkohorten der
schema die in der Migrant-Entrepreneurship-Forschung dis-            vergangenen Jahre deuten auf eher geringe Gründungsakti-
kutierten Gründungsmotive wider, wie sie etwa durch die              vitäten hin. Ein (kleines) Sample an befragten Syrer_innen in
Disadvantage- oder die Blocked-Mobility-Theorien thematisiert        Großbritannien, den Niederlanden und Österreich kommt zu
werden (siehe oben). Wege aus der Arbeitslosigkeit, bessere          dem Ergebnis, dass sich zusammengenommen nur 1,5 Pro-
Jobs oder höhere Einkommen sind gewichtige und plausible             zent in den Aufnahmeländern selbstständig gemacht haben
Motive. Allerdings ist schwer nachzuweisen, in welchem Um-
fang die Geflüchteten durch den Schritt in die Selbstständig-
                                                                    5 Die Autoren halten es für möglich, dass der Social Security Service einen
keit ihren Wunsch nach sozialem Aufstieg im Einzelnen auch          beachtlichen Teil der Selbstständigen nicht erfasst, da sich viele im Bereich
tatsächlich erfüllen, da es hierzu in Deutschland keine pas-        der Schattenwirtschaft bewegen oder durch Einbürgerung aus der Regis-
senden Längsschnittdaten gibt. Kleinere Retrospektivbefra-          trierung fallen.
Friedrich-Ebert-Stiftung                                                                                                                      10

(Betts et al. 2017), und dies obwohl rund ein Drittel der Be-      Ob eine Person freiwillig oder erzwungen emigriert, beein-
fragten in Syrien unternehmerisch tätig war (siehe auch im         flusst zudem auch die persönliche Situation im Aufnahme-
Folgenden). Im Kontrast dazu stehen die Ergebnisse einer ak-       land und damit die Bereitschaft, sich unternehmerisch zu en-
tuelleren und auf großzahligen Labor-Force-Daten beruhenden        gagieren. Traumata, Angst, Unsicherheit und Stress sind auf
Studie, die sich nicht auf die in jüngerer Zeit Zugewanderten,     dem Weg in die Selbstständigkeit schlechte Begleiter. Ande-
sondern auf alle Kohorten bezieht. Unter den Erwerbsperso-         rerseits nehmen Geflüchtete unter Umständen höhere Risiken
nen, die aus Gründen von Flucht und Asyl nach Großbritannien       auf sich, weil sie im Fall einer gescheiterten Existenzgründung
gekommen sind, sind 23 Prozent selbstständig, womit die            auch weniger zu verlieren haben (Freiling/Harima 2019). Auf
Selbstständigenquote weit höher liegt als die von Zuwande-         Untersuchungen, die Persönlichkeitsmerkmale wie Risikonei-
rungsgruppen, die aus anderen Motiven zugezogen sind               gung, Leistungsorientierung, Resilienz oder Selbstwirksamkeit
(Kone et al. 2020). Dieses hohe Niveau an unternehmerischer        thematisieren, wird hier nicht eingegangen. Ansonsten wäre
Aktivität zeigt sich auch unter Kontrolle zusätzlicher sozio­      zu diskutieren, ob Personen mit Fluchterfahrung grundsätzlich
demografischer Faktoren und der Herkunftsländer. Eine              mehr „unternehmerischen Spirit“ als andere Gruppen besitzen
vergleichsweise hohe Selbstständigkeitsneigung besitzen            (Fong et al. 2007; Obschonka et al 2018) oder aber aufgrund
auch Geflüchtete in Australien, unter denen der Anteil an          ihrer Arbeitsmarktposition schlicht eher entwickeln müssen.
Steuerzahler_innen, die ihr Einkommen aus unternehmeri-                 Aus einer humankapital- und ressourcenorientierten Sicht
scher Tätigkeit beziehen, höher als bei Einheimischen und          ist vor allem entscheidend, welche Erfahrungen und welches
anderen Zuwanderungsgruppen ist (Legrain/Burrich 2019).            Wissen in den Gründungsprozess eingebracht werden. Eine
Untersuchungen in den USA zeigen, dass dort etwa zehn              elementare gründungsrelevante Ressource ist Selbstständig-
Prozent der Geflüchteten selbstständig erwerbstätig sind           keitserfahrung (Fong et al. 2007; Akee et al. 2013; Leicht et al.
und ihre Gründungsquote nach zehn Jahren Aufenthaltszeit           2017; Mawson et al. 2019). Viele Geflüchtete kommen aus
sogar über derjenigen der Einheimischen liegt (Kallick/­           Ländern mit hohen Selbstständigenquoten, weshalb beispiels-
Mathema 2016; Kerwin 2018).                                        weise auch unter den seit 2013 nach Deutschland zugezoge-
     Mit Blick auf das Problem der sozialen Einbettung und         nen Menschen rund ein Drittel Selbstständigkeitserfahrung
der Gründungshemmnisse von Geflüchteten dürfte dieser              besitzt (Brücker et al. 2016). Dies ist, nicht zuletzt auch auf-
hohe Anteil an Selbstständigen überraschen. Er ist aber ein        grund der Fluchtmigration aus arabischen und afrikanischen
wichtiger Hinweis darauf, dass zwischen Neuzugewanderten           Ländern, ein international beobachtbares Phänomen, wes-
und schon länger etablierten Geflüchteten, mit gegebenen-          halb qualitative Interviews nicht selten auf Entrepreneurs mit
falls anderem sozialen und institutionellen Status bzw. besse-     „unternehmerischer Biographie“ stoßen (Fong et al. 2007;
rer sozialer Einbettung, unterschieden werden muss. Eine           Freiling/Harima 2019). So stellt sich die Frage, ob Akteur_innen
Gründungsvorbereitung erfordert in der Regel entsprechende         mit unternehmerischen Vorkenntnissen dann im Aufnahme-
Ressourcen und daher auch ein gewisses Maß an Zeit, um             land häufiger selbstständig sind. Nach Wauters/Lambrecht
Erfahrungen sowie das notwendige Wissen (Institutionen,            (2006) ist diese Wahrscheinlichkeit in Belgien mehr als dop-
Märkte, Netzwerke) zur nachhaltigen Führung eines Unter-           pelt so hoch wie bei Personen ohne entsprechende Erfah-
nehmens zu akkumulieren (Li 2001; Leicht et al. 2017). Daher       rungen. 6
nimmt in der genannten britischen Studie (Kone et al. 2020)             Während in der Gründungsforschung insgesamt dem
auch die Aufenthaltsdauer deutlichen Einfluss auf die Wahr-        Faktor Humankapital und dabei auch der beruflichen Bildung
scheinlichkeit unternehmerischen Engagements, in einer Dif-        eine zentrale Bedeutung für unternehmerischen Erfolg zuge-
ferenzierung nach unterschiedlichen Zuwanderungsgruppen            ordnet wird (Arum/Müller 2004), bietet die internationale
allerdings mit unterschiedlicher Intensität: Während die Selbst-   ­R efugee-Entrepreneurship-Forschung kaum Informationen
ständigkeitsneigung von Zugewanderten, die zur Aufnahme             darüber, welche Qualifikationen Selbstständige mit Fluchter-
von Arbeit oder eines Studiums immigriert sind, verhältnis-         fahrung besitzen.7 Das Gros der Arbeiten fokussiert – wie
mäßig moderat mit der Aufenthaltszeit wächst, zeigt sich für        auch in der Migrant-Entrepreneurship-Forschung insgesamt
Personen, die als Asylsuchende kamen, ein steiler Anstieg.          – auf Erfahrungs- und informelles Wissen, nicht zuletzt weil
Es dauert jedoch zunächst mindestens fünf Jahre, bis sie erst       viele Geflüchtete aus Ländern ohne etablierte Berufsbildungs-
mal das unternehmerische Aktivitätsniveau der in Großbri-           systeme kommen (Stoewe 2017). Ein Vergleich der Befunde
tannien geborenen Menschen erreichen.                               mit der Situation in Deutschland ist aber ohnehin schwierig,
                                                                    da Qualifikationen hierzulande beim Zugang zu Selbststän-
Strukturelle Zusammensetzung                                        digkeit je nach Branche eine andere Bedeutung haben. Bis-
Ein Teil der Refugee-Entrepreneurship-Forschung widmet              lang liegen auch nur Erkenntnisse zum Bildungsniveau von
sich der Frage, welches Profil die Selbstständigen und die          Geflüchteten insgesamt und in der abhängigen Beschäftigung
von ihnen geführten Unternehmen aufweisen; nicht zuletzt            vor (Worbs/Bund 2016; Hartmann et al. 2018; Brenzel et al.
auch, weil die strukturelle Zusammensetzung Hinweise bietet,        2019), aber nicht zu Selbstständigen. Jedoch zeigen Evaluati-
inwieweit die unternehmerischen Aktivitäten von Geflüchte-          onsdaten aus der wissenschaftlichen Begleitung von Projekten
ten zu ihrer sozialen und ökonomischen Integration beitragen.
Hinsichtlich der persönlichen Charakteristika sind relevante
                                                                   6 Aus anderen Ländern liegen diesbezüglich keine Befunde, sondern
Unterschiede zu anderen Zuwanderungsgruppen zu erwarten,
                                                                   ­lediglich theoriegeleitete Argumentationen vor (Lyon et al. 2008; Bizri
da die Migrationsmotive und Aufenthaltsbestimmungen zu              2017).
anderen Mechanismen der Selbst- und Fremdselektion und             7 Was auch an den unterschiedlichen institutionellen Anforderungen
damit zu einer anderen sozialen Zusammensetzung führen.            in den verschiedenen Aufnahmeländern liegt.
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten                                              FES diskurs                       11

zur Gründungsunterstützung von Geflüchteten, dass unter
                                                                   Gründungsaktivitäten von Geflüchteten:
den Teilnehmer_innen der Anteil akademisch Gebildeter fast         Zentrale Erkenntnisse aus der Literatur
doppelt so hoch wie in der Grundgesamtheit ist (jumpp/ifm
                                                                   Chancen und Hemmnisse
2020).
                                                                   Die Chancen unternehmerischer Selbstständigkeit werden vor al-
     Auf welchen Märkten bringen die Geflüchteten ihre Res-        lem darin gesehen, dass Geflüchtete einen Weg aus Arbeitslosig-
sourcen zum Einsatz? Zunächst international betrachtet, stehen     keit bzw. eine attraktivere Arbeit und ein höheres Einkommen fin-
hierzu ausschließlich Informationen aus qualitativen Studien       den sowie ihr Selbstver trauen, ihre Ressourcen und damit auch
                                                                   ihre Beschäftigungs- und Integrationsfähigkeit insgesamt verbes-
zur Verfügung. Gemessen daran orientieren sich Geflüchtete
                                                                   sern. Ihre Gründungsaktivitäten werden aber durch den Mangel
verständlicherweise auf Wirtschaftszweige, die niedrige Zu-        an ankunftslandspezifischem Humankapital sowie finanziellem
gangsbarrieren und in der Regel auch einen geringen (Finanz-)      und sozialem Kapital gehemmt. Zudem erschweren die Lebensbe-
Kapitaleinsatz erfordern. Die befragten Selbstständigen ar-        dingungen, psychische Faktoren und institutionelle Barrieren den
                                                                   Zugang zu Selbstständigkeit.
beiten überwiegend im Gastgewerbe und Handel sowie im
Bereich einfacher persönlicher Dienstleistungen (Lyon et al.       Unternehmerische Stärke und Zusammensetzung
2008; Wauters/Lambrecht 2006; Sak et al. 2018; Freiling/           Befunde zur quantitativen und qualitativen Stärke von Unterneh-
Harima 2019). Dies bedeutet gleichzeitig, dass die Qualifika-      men Geflüchteter zeichnen bislang kein einheitliches Bild. Ihre
                                                                   wir tschaftliche Bedeutung wird je nach Methoden, Untersu-
tionsanforderungen und die Verdienstmöglichkeiten eher
                                                                   chungsraum und -zeitraum unterschiedlich eingeschätzt. Und so-
gering sind. Hieraus sollten jedoch keine falschen Schlüsse        weit geflüchtete Menschen gründen, werden ihre unternehmeri-
gezogen werden, denn auch viele gut bzw. akademisch aus-           schen Leistungen eher mit Skepsis betrachtet.
gebildete Geflüchtete starten ihr Business in einfachen distri-
butiven Dienstleistungen, etwa dann, wenn sie ihre Bildung
nicht in das Ankunftsland transferieren und dort verwerten
können (Lange et al. 2020). Auffällig ist, dass in einigen Stu-
dien, die sich mit Business-Inkubatoren befassen, tendenziell
mehr Gründungen aufgelistet werden, die dem Bereich mo-
derner bzw. wissensintensiver Dienstleistungen zuzuordnen
sind. Es handelt sich hierbei vorwiegend um Onlineplatt­
formen, Softwareentwickler_innen und ähnliche Leistungen
(Meister/Mauer 2018), also mithin auch hier um Branchen
mit relativ niedrigen Einstiegs- und Finanzierungshürden.
     Unternehmerischer Erfolg bemisst sich auch an der Unter-
nehmensgröße und dem wirtschaftlichen Ertrag. Der hohe
Anteil von Refugee Entrepreneurs im Handel und Gastgewerbe
und der Umstand, dass es sich in vielen Fällen um Familien-
unternehmen handelt, führen zu einem vergleichsweise hö-
heren Personaleinsatz, zumindest in den schon länger eta-
blierten Unternehmen. Einige Untersuchungen verweisen daher
auf den sich längerfristig einstellenden Beschäftigungseffekt
der Gründungen, während die Neuzugewanderten zunächst
als Soloselbstständige tätig sind (Fong et al. 2007; Alrawa-
dieh et al. 2018; Freiling/Harima 2019). Auf der Mikroebene
der Individuen ist mangels Daten schwer zu prüfen, ob Ge-
flüchtete als Selbstständige höhere Verdienste als vor ihrer
Gründung erzielen (siehe oben), wobei dies sicher der Fall
sein dürfte, wenn sie dadurch einer Arbeitslosigkeit entkom-
men. Insgesamt bieten bisherige Studien kaum oder allen-
falls grobe Anhaltspunkte, ob sich Selbstständigkeit auszahlt.
Nach Wauters/Lambrecht (2006) liegt das Durchschnittsein-
kommen von Selbstständigen mit Fluchtbiografie in allen Wirt-
schaftssektoren deutlich unter dem aller Selbstständigen.
Andererseits weist die Einkommensverteilung unter Geflüch-
teten geringere Spreizungen als bei Selbstständigen insge-
samt auf. Ein Vergleich mit anderen Zuwanderungsgruppen
findet sich hier leider nicht, was auch für andere Studien gilt.
Friedrich-Ebert-Stiftung                                                                                                                  12

3

MIGRATIONSFORMEN UND IHRE
BEDEUTUNG FÜR SELBSTSTÄNDIGKEIT

Wie hat sich die Gesamtzahl der Selbstständigen entwickelt, die               Selbstständigen, die im Ausland geboren und im Verlauf ihres
nach Deutschland zugewandert sind? Und wie viele Personen                     Lebens nach Deutschland zugewandert sind, um über die
sind hierzulande beruflich selbstständig, die irgend­wann aus                 Hälfte (plus 53 Prozent) bzw. um eine Viertel Million (243.000)
Gründen der Flucht, Verfolgung, Vertreibung oder auf der Suche                auf 701.000 gestiegen. Dagegen hat die Zahl der Selbststän-
nach Asyl zugezogen sind? Wann und aus welchen Ländern                        digen deutscher Herkunft um 360.000 (minus zehn Prozent)
sind sie nach Deutschland gekommen, und was hat zu ihrem                      abgenommen (siehe Abbildung 1).
Schritt in die Selbstständigkeit beigetragen? Diese Fragen wer-                   Rechnet man die vergleichsweise geringe Zahl der Selbst-
den nachfolgend anhand von Mikrozensuszahlen untersucht.                      ständigen ohne eigene Migrationserfahrung (zweite Genera-
                                                                              tion) hinzu, waren 2019 zusammen 791.000 Selbstständige
                                                                              mit Migrationshintergrund in Deutschland tätig. Damit hat
  Mikrozensus
                                                                              mittlerweile jede fünfte unternehmerisch engagierte Person
  In vielen Erhebungen und amtlichen Statistiken werden Personen, die         (20 Prozent) ausländische Wurzeln. Noch Mitte vorletzten
  in Deutschland Schutz suchen, nicht nach dem Aufenthaltsstatus              Jahrzehnts war dies nur bei 13 Prozent der Fall. Dieser Be-
  (Asyl, Flucht, Vertreibung), sondern näherungsweise nach ihrem Her-
  kunftsland (sogenannte „Asylhauptherkunftsländer“) erfasst. Seit 2017
                                                                              deutungszuwachs hält schon länger an, wird aber im Gegen-
  stehen mit dem neuen Erhebungsprogramm des Mikrozensus nun auch             satz zu früheren Zeiträumen nunmehr stärker durch die Effek-
  Informationen zum Zuwanderungsmotiv zur Verfügung, die für nach-            te der Einwanderung bestimmt. Denn im gleichen Zeitraum
  folgende Analysen verwendet wurden. Der jährlich durchgeführte              ist auch der Anteil von Zugewanderten unter den Erwerbs-
  Mikrozensus umfasst als Flächenstichprobe einen Prozent aller Haus-
  halte in Deutschland und ist, neben dem Zensus, die größte amtliche
                                                                              personen von 16 auf 19 Prozent gestiegen. Dieses Phäno-
  Repräsentativstatistik zur Beobachtung von Bevölkerung und Erwerbs-         men wird auch durch die Entwicklung der abhängig Beschäf-
  tätigkeit. Er weist zudem seit 2005 detailliert den Migrationsstatus        tigten mit eigener Migrationserfahrung ersichtlich. Ihre Zahl
  von Personen aus. Die Vorteile des Mikrozensus sind vor allem darin         hat seit 2005 überproportional bzw. um 68 Prozent zugelegt
  zu sehen, dass er eine Vielzahl an erwerbs- und sozialstrukturellen
  Indikatoren besitzt und aufgrund der Auskunftspflicht die Zahl der
                                                                              (vgl. Abbildung 1). Das heißt, die erhöhte Zuwanderung, bei
  Ausfälle minimiert. Der Mikrozensus ist gleichzeitig eine der wenigen       einem gleichzeitig (zumindest bis zur Covid-19-Pandemie)
  Datenquellen, mit der sich das Potenzial an Gründungen überhaupt            florierenden Arbeitsmarkt, führte dazu, dass das Volumen
  bemessen lässt, da er im Gegensatz zu anderen Statistiken gleichzeitig      an Zugewanderten, die einer abhängigen Beschäftigung
  die erforderlichen Daten über die Nichtselbstständigen enthält.
                                                                              nachgehen, rasanter gewachsen ist als die Zahl der Selbst-
                                                                              ständigen.
                                                                                  Diese Entwicklung wirkt sich auf die Selbstständigenquote
                                                                              (als Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen) aus.
3.1 ENTWICKLUNG VON SELBSTSTÄNDIGEN                                           Im Ausgangsjahr 2005 lag diese Quote unter den Zugewan-
MIT EIGENER MIGRATIONSERFAHRUNG                                               derten noch bei knapp unter zehn Prozent, stieg dann zwi-
                                                                              schen 2007 und 2012 etwas an, aber ging bis 2019 auf neun
Zwischen 2005 und 2019 ging die Zahl der Selbstständigen                      Prozent, das heißt unter das Ausgangsniveau, zurück (siehe
insgesamt geringfügig zurück. 8 Dabei ist jedoch die Zahl der                 Abbildung 1). Die Selbstständigenquote der ersten Generation
                                                                              liegt damit weiterhin knapp unterhalb derjenigen von Deut-
                                                                              schen ohne Migrationshintergrund (9,7 Prozent). Da aber auch
8 Die Gesamtzahl an Selbstständigen hat um 18.000 (minus 0,4 Prozent)         Letztgenannte zurückgegangen ist, verliefen die Quoten
abgenommen, wobei hier jedoch auch die zweite Generation, das heißt die       beider Gruppen zuletzt in etwa gleichförmig, wenn auch auf
in Deutschland geborenen Selbstständigen mit einem Elternteil ausländischer
Herkunft mit einberechnet sind. Da wir den Fokus auf Geflüchtete richten,
                                                                              leicht unterschiedlichem Niveau.
werden nachfolgend jedoch lediglich Selbstständige mit eigener Migrations-        Mit Blick auf das Gründungspotenzial von Zugewanderten
erfahrung (Zugewanderte bzw. die erste Generation) berücksichtigt.            insgesamt lässt sich zunächst also zweierlei resümieren: Zum
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