Die Zukunft der Arbeit in der digitalen Transformation - Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und ...

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Die Zukunft der Arbeit in der
digitalen Transformation
Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats
beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK)

                                                     bmwk.de
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hat sich in mehreren
Sitzungen, zuletzt am 10. Februar 2022, mit dem Thema

„Die Zukunft der Arbeit in der digitalen Transformation“

befasst und ist dabei zu der nachfolgenden Stellungnahme gelangt:

Impressum

Herausgeber
Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK)
Öffentlichkeitsarbeit
11019 Berlin
www.bmwk.de

Stand
23. Februar 2022

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Gestaltung
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schutz im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Die Publikation
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zur Wahlwerbung politischer Parteien oder Gruppen eingesetzt werden.
1

Inhalt

I. Einleitung                                .................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................   2

II. Bisherige Arbeitsmarkt­effekte digitaler Trans­formationsprozesse                                                                                                                                                                                                                                               .........................................................   5
   II.1 Rückblick und Einordnung............................................................................................................................................................................................................................................6
   II.2 Arbeitsmarkteffekte von Industrie­robotern in Deutschland..................................................................................................7

III. Die kommenden Wellen der digitalen Transformation                                                                                                                                                                                                         ...............................................................................................................   9
   III.1 Charakteristika neuer digitaler Technologien...........................................................................................................................................................10
   III.2 Mensch versus Maschine – Verteilung der komparativen Vorteile.....................................................................11
   III.3 Mögliche Arbeitsmarkteffekte der digitalen Transformation...........................................................................................13
   III.4 Qualifikatorischer und regionaler Mismatch..............................................................................................................................................................15
   III.5 Verteilungseffekte der digitalen Transformation.............................................................................................................................................16

IV. Wirtschaftspolitische Handlungsempfehlungen                                                                                                                                                                                   ......................................................................................................................................   20
   IV.1 Digitaler Aufholprozess in einem Umfeld des Wandels................................................................................................................21
   IV.2 Ein integriertes System der Aus- und Weiterbildung .........................................................................................................................26
   IV.3 Ungleichheit und die Förderung „guter Jobs“........................................................................................................................................................32

V. Zusammenfassung der Politikempfehlungen                                                                                                                                                                        ....................................................................................................................................................    34
   V.1 Digitaler Aufholprozess ..................................................................................................................................................................................................................................................35
   V.2 Ein integriertes System der Aus- und Weiterbildung .........................................................................................................................35

Literatur           ....................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................   37

Mitglieder                  ............................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................   44

Anhang: Gutachten des Wissenschaft­lichen Beirats seit April 1948                                                                                                                                                                                                                                         .............................................................   47
2

I. Einleitung
I. EINLEITUNG     3

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist das          trugen die Anpassungsfähigkeit der Beschäftigten
Wort „Transformation“ ein Schlüsselbegriff, der in        und ihrer Interessenvertretungen sowie die Flexibi-
unterschiedlichen Zusammenhängen 42-mal auf-              lität der Unternehmen bei. Durch betriebsinterne
taucht. Die Transformation der Wirtschaft im An­­         Weiterbildung wurde auf radikal veränderte
gesicht der zahlreichen Herausforderungen ist             Anforderungen erfolgreich reagiert und dadurch
zweifellos notwendig. Sie weckt aber auch Ängste          zur Sicherung der Arbeitsplätze und des spezifi-
vor schmerzhaften Veränderungen, Arbeitslosigkeit,        schen Human­kapitals beigetragen. Ebenso half die
Statusverlusten und der Entwertung individueller          global starke Marktposition der deutschen Indust-
Qualifikationen. In diesem Gutachten beschäftigt          rie, die Produktivitätszuwächse in zunehmende
sich der Beirat mit den Umwälzungen, die durch            Weltmarktanteile umzumünzen, was letztlich die
die digitale Transformation zu erwarten sind, ihren       heimische Industriebeschäftigung und das Lohnni-
Auswirkungen auf die Zukunft der Arbeit, und wie          veau stabilisiert hat. Hierbei handelt es sich aber
der Staat auf die zu erwartenden Herausforderungen        nicht um Automatismen, die sich zwangsläufig
reagieren kann. Warnungen vor technologisch               wiederholen müssen. Zukünftige Entwicklungen
bedingter Massenarbeitslosigkeit ziehen sich durch        im Bereich der digitalen Technologien, etwa der
die Geschichte (vgl. Mokyr et al. 2015) und finden        künstlichen Intelligenz, können tiefgreifendere
sich bereits im Werk von Aristoteles (384–322 v. Chr.).   und problematischere Arbeitsmarkteffekte zeiti-
Bislang haben sich diese Prophezeiungen langfris-         gen. So könnten Berufe und Branchen betroffen
tig nie bewahrheitet. Zwar gab es permanent eine          sein, insbesondere im Dienstleistungssektor, in
Substitution von menschlicher Arbeitskraft durch          denen betriebsinterne Lösungen im Sinne der
Kapital. Ganze Berufe sind im Zeitablauf verschwun-       Beschäftigten nur schwerer zu realisieren sind.
den, vormals von Menschen ausgeübte Tätigkeiten           Zudem agiert Deutschland bei diesen Technologien
wurden durch Maschinen ersetzt. Dafür entstanden          nicht aus der Position des globalen industry leader,
aber, komplementär zu den neuen Technologien,             sondern weist teilweise erhebliche Rückstände zur
immer wieder neue Tätigkeitsfelder. Die aggregierte       Weltspitze auf. Somit könnten Weiterentwicklungen
Arbeitsnachfrage zeigte keinen technologisch be­­         bei diesen Technologien durchaus mit Marktan-
dingten Abwärtstrend. Vielmehr übersetzte sich            teilsverlusten und entsprechend adversen Arbeits-
der Anstieg der Arbeitsproduktivität in langfristig       markteffekten einhergehen. Grund zur Sorge vor
steigende Reallöhne und Lebensstandards.                  einer technologisch bedingten Massenarbeitslosig-
                                                          keit in Deutschland besteht aus Sicht des Beirats
Kurzfristig können neue Technologien, wie zum Bei-        nicht. Dagegen spricht schon die zeitgleich stattfin-
spiel der vermehrte Einsatz von Industrierobotern         dende demografische Entwicklung. Der Renten-
im verarbeitenden Gewerbe seit den 1990er Jahren,         eintritt der Baby-Boomer-Generation wird bis 2030
aber durchaus zu schmerzhaften Strukturbrüchen            zu einem Arbeitsmarkt­aus­tritt von rund 5,2 Millio-
am Arbeitsmarkt führen (vgl. Acemoglu/Restrepo            nen qualifizierten Beschäftigten führen. Gleichzei-
2018, 2020). Im Vergleich zu anderen Ländern ist          tig ist derzeit nur mit einem Arbeitsmarktzutritt
es Deutschland in der Vergangenheit bislang gut           von rund 3,9 Millionen Berufs­einsteiger:innen zu
gelungen, diese Disruptionen abzufedern bzw. gar          rechnen. Dies dürfte in vielen Bereichen der Wirt-
nicht erst entstehen zu lassen. So zeigen Dauth           schaft zu einem enormen Fachkräftemangel füh-
et al. (2021), dass Robotereinsatz nicht zu einem         ren – also gerade zum Gegenteil einer technologi-
Anstieg des individuellen Arbeitslosigkeitsrisikos        schen Massenarbeitslosigkeit (Varian 2020).
für Industriebeschäftigte geführt hat. Hierzu
4     I. EINLEITUNG

Gleichwohl kann die digitale Transformation zu einer    Für die Wirtschaftspolitik stellen die Arbeitsmarkt-
verschärften Diskrepanz der angebotenen und nach-       und Verteilungseffekte der digitalen Transforma-
gefragten Qualifikationsprofile am Arbeitsmarkt         tion somit potentiell große Herausforderungen dar.
(sog. Mismatch) führen. So kann es zu Arbeitsplatz-     Die Bundesregierung sollte diese proaktiv und ge­­
verlusten kommen, wenn vormals von Menschen             staltend adressieren und entsprechende Weichen-
ausgeübte Tätigkeiten fortan durch den Einsatz neuer    stellungen vornehmen. Hierfür entwickelt der Beirat
Technologien erledigt werden. Wenn die Qualifika-       in diesem Gutachten konkrete wirtschaftspolitische
tionsprofile der Betroffenen nicht passgenau zu den     Empfehlungen und perspektivische Überlegungen
frei werdenden oder neu entstehenden Stellen in         in drei zentralen Handlungsfeldern:
anderen Segmenten des Arbeitsmarkts sind, die re­­
gional anderswo in Deutschland verortet sein kön-       • 	   einen digitalen Aufholprozess zur Stärkung der
nen, ist eine Koexistenz von Fachkräftemangel und             Marktposition deutscher Unternehmen,
Arbeitslosigkeit möglich, die bestenfalls mittelfris-   • 	   eine umfassende Strategie zur Stärkung von
tig aufzulösen ist.                                           Aus- und Weiterbildung und deren Integration
                                                              in den beruflichen Alltag,
Zudem kann es durch die digitale Transformation         • 	   die Ausgestaltung der Steuer- und Wirtschafts-
im Bereich der Lohn- und Einkommensverteilung                 politik für produktive Beschäftigungsverhält-
zu einer Verschärfung der Ungleichheit kommen.                nisse und gegen steigende Ungleichheit.
Derartige Effekte waren in Deutschland bereits im
Zuge der Roboterisierung der Industrie sichtbar,        Abschnitt II bietet zunächst eine Einordnung sowie
quantitativ allerdings nicht besonders stark (Dauth     einen kurzen Überblick über die Arbeitsmarktef-
et al. 2021). Diese Verteilungseffekte könnten sich     fekte früherer Episoden der digitalen Transforma-
bei den neuen digitalen Technologien entsprechend       tion. Abschnitt III charakterisiert die Eigenschaften
beschleunigen und zu zusätzlichen Belastungen in        derzeit im Frühstadium befindlicher Technologien,
den sozialen Sicherungssystemen führen.                 die zukünftig breiter zum Einsatz kommen dürf-
                                                        ten, und diskutiert deren Verteilungseffekte und
                                                        mög­­liche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.
                                                        Ab­­schnitt IV widmet sich den wirtschaftspoliti-
                                                        schen Handlungsempfehlungen des Beirats, und
                                                        Abschnitt V fasst diese komprimiert zusammen.
5

II. Bisherige Arbeitsmarkt­
    effekte digitaler Trans­
    formationsprozesse
6      I I . B I S H E R I G E A R B E I T S M A R K T E F F E K T E D I G I TA L E R T R A N S F O R M AT I O N S P R O Z E S S E

II.1 Rückblick und Einordnung                                                              Entscheidung, ob tatsächlich eine (Teil-)Automati-
                                                                                           sierung stattfindet, nicht rein technisch determi-
Technischen Fortschritt gibt es nicht erst seit der                                        niert. Vielmehr handelt es sich bei der Wahl des
Digitalisierung, und er hat sich schon immer auf                                           Faktoreinsatzes in der Produktion um eine ökono-
dem Arbeitsmarkt ausgewirkt. Auch die heteroge-                                            mische Entscheidung, die Firmen angesichts aktu-
nen Mechanismen digitaler Transformation wer-                                              eller und zu erwartender Preise im Wettbewerb
den zu massivem Wandel führen und bestimmte                                                treffen. Nicht alles, was automatisiert werden könnte,
menschliche Tätigkeiten oder Berufe überflüssig                                            wird dabei tatsächlich automatisiert – zumindest
machen.                                                                                    nicht vollständig und sofort. Zudem sind die Zahl
                                                                                           der Berufe und deren konkrete Tätigkeitsprofile
Ein Teil des Wandels ist dabei längst vollzogen: So                                        nicht fix, sondern wandeln sich ebenfalls mit der
übernimmt an Flughäfen Gesichtserkennungssoft-                                             Technologie.
ware weitgehend die Grenzkontrolle, auf den Auto-
bahnen steuern elektronische Leitsysteme den                                               Bislang ist in Deutschland kein signifikanter Zu­­
Verkehr. Arbeitskräfte für diese Aufgaben werden                                           sam­­menhang zwischen dem gemessenen Substitu-
nicht mehr gebraucht. Andere Facetten des Wandels                                          tionspotential und dem tatsächlichen späteren
sind noch nicht vollzogen, aber in absehbarer Zeit                                         Beschäftigungswachstum des jeweiligen Berufs­
wahrscheinlich. So kann Software die Ergebnisse                                            feldes erkennbar (Dengler und Matthes 2018). Ein
bildgebender Verfahren in der Medizin auf Signale                                          Grund dürfte sein, dass technologische Entwick-
für Erkrankungen scannen. Die Gerichte können                                              lungen nicht nur zur Verdrängung menschlicher
Täterprofile für die Vorhersage nutzen, ob Angeklagte                                      Arbeit führen, sondern auch zur Anpassung von
erneut straffällig werden. Statt an vielen Universi-                                       Tätigkeitsprofilen, zur Weiterentwicklung von
täten eine Einführung in die Statistik anzubieten,                                         Geschäftsmodellen und zur Entwicklung neuer
können die Studierenden auf einführende Videos                                             Berufe. Beschäftigte gewinnen durch die teilweise
verwiesen werden. Wieder andere Facetten stehen                                            Automatisierung einiger Aspekte ihres Berufs zeit-
noch an einem ferneren Horizont, etwa im Bereich                                           liche Freiräume, in denen sie vermehrt anderen
der selbstfahrenden Autos oder des 3D-Drucks                                               (schwerer zu automatisierenden) Tätigkeiten nach-
gan­­zer Häuser. Auch das könnte langfristig die                                           gehen – zum Beispiel verbringen Ärzt:innen weni-
Nachfrage nach bestimmten Berufen (wie Taxi­                                               ger Zeit mit der Analyse von Röntgenbildern und
fahrer:in­nen oder Maurer:innen) reduzieren.1                                              widmen sich dafür vermehrt der intensiveren
                                                                                           Kommunikation mit ihren Patient:innen. Kurzum:
Dass es durch neue digitale Technologien bald weni-                                        Neue Technologien führen einerseits zur Verdrän-
ger Nachfrage für bestimmte menschliche Tätig­                                             gung, aber schaffen auch neue und komplementäre
keiten gibt, schlägt sich in Quantifizierungen des                                         Formen der Arbeit. Welcher Effekt dabei schluss-
Substitutionspotentials nieder (Frey und Osborne                                           endlich überwiegt, ist a priori unklar und hängt stark
2017; Arntz et al. 2017). Dieses gibt auf Basis von                                        von den Spezifika des jeweiligen Berufsbildes ab.
Expertenschätzungen an, welche Berufe nach aktu-                                           Dass Berufe im Zuge der Transformation ganz ver-
ellem Stand der Technik vollständig oder teilweise                                         schwinden, hat es immer gegeben. Trotzdem ist
automatisiert werden könnten. Allerdings ist die                                           Deutschland die Arbeit insgesamt nicht ausgegangen.

1   In offenen Volkswirtschaften ergeben sich weitere Verdrängungseffekte, da die Bedeutung örtlicher Nähe in einer vernetzten Umgebung abnimmt. In der
    Vergangenheit beschäftigten etwa viele Verlage Lektor:innen im Haus, mittlerweile aber lassen viele ihre Lektoratsarbeiten in Asien erledigen. Der
    Arbeitseinsatz sinkt somit nicht insgesamt, wurde im Zuge der digitalen Transformation aber an einen anderen Ort verlagert.
I I . B I S H E R I G E A R B E I T S M A R K T E F F E K T E D I G I TA L E R T R A N S F O R M AT I O N S P R O Z E S S E   7

Ist der Wandel, der von der Digitalisierung ausgelöst                    Arbeitsplatz zu verlieren oder gar arbeitslos zu
wird, qualitativ anders oder quantitativ bedeutsamer                     werden. Der Rückgang der Industriebeschäftigung
als frühere Entwicklungen? Hierfür betrachten wir                        ergab sich vielmehr dadurch, dass frei werdende
zunächst die Arbeitsmarkteffekte digitaler Techno-                       Stellen, etwa beim Erreichen der Altersgrenze der
logien, die bereits seit etlichen Jahren zum Einsatz                     Beschäftigten, nicht wiederbesetzt wurden. Bei
kommen.                                                                  jungen Kohorten ergaben sich somit veränderte
                                                                         Muster beim Berufseinstieg. Im Zeitablauf waren
                                                                         immer weniger Karrierestarts in der Industrie zu
II.2 Arbeitsmarkteffekte von Industrie­                                 verzeichnen. Stattdessen begannen immer mehr
     robotern in Deutschland                                             Berufseinsteiger:innen ihr Erwerbsleben im zumeist
                                                                         wirtschaftsnahen Dienstleistungssektor, was zu ver­­
Die aktuelle Arbeitsmarktliteratur untersucht vor                        gleichbaren Einstiegslöhnen gelang. Im Vorgriff auf
allem die Auswirkungen eines „Routine-basierten“                         diesen Strukturwandel passten die jungen Kohorten
technologischen Wandels, bei dem manuelle und                            ihre Ausbildungsentscheidungen an und investier-
kognitive Routinetätigkeiten durch Informations-                         ten in stärker roboterisierten Regionen bereits
technologien substituiert werden (z. B. Acemoglu und                     während der (Hoch-)Schulphase tendenziell mehr
Autor 2011). Aktuelle empirische Studien untersu-                        in ihr Humankapital.
chen die Arbeitsmarkteffekte von Industrierobo-
tern als einen Teilaspekt der digitalen Transforma-                      Zwei Gründe scheinen maßgeblich dafür zu sein,
tion. Diese Technologie existiert hinreichend lange,                     warum die Roboterisierung in Deutschland – anders
um einen evidenzbasierten Forschungsansatz zu                            als in anderen Ländern – nicht so sehr zu disrupti-
ermöglichen. Für die USA zeigen Acemoglu und                             ven individuellen Jobverlusten bei Industriebeschäf-
Restrepo (2018, 2020) einen signifikant negativen                        tigten geführt hat. Erstens begünstigen die deutschen
Einfluss auf die Gesamtbeschäftigung im amerika-                         Arbeitsmarktinstitutionen den Erhalt von unter-
nischen Arbeitsmarkt. Jeder installierte Roboter re­­                    nehmensspezifischem Humankapital. So zeigen
duzierte danach die Gesamtbeschäftigung in den                           Dauth et al. (2021), dass die Roboterisierung zu einem
USA um rund sechs Arbeitsplätze und verschärfte                          starken Wandel der Tätigkeitsprofile bei ansonsten
die Einkommensungleichheit.                                              stabilen Arbeitsplätzen geführt hat. Die Unterneh-
                                                                         men haben also ihre gewandelte Arbeitsnachfrage
Für den deutschen Arbeitsmarkt stellt sich das Bild                      weitgehend durch eine entsprechende Umschulung
freundlicher dar. Dauth et al. (2021) attestieren pro                    und Weiterbildung ihres Stammpersonals befriedigt,
Roboter einen langfristigen Rückgang von nur zwei                        die tendenziell für die Betroffenen mit einem Auf-
Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe. Dies                           stieg in der beruflichen Hierarchie (sog. skill up­­
wurde durch Zugewinne im gleichen Umfang in                              grading) einherging. Diese unternehmensinternen
anderen Branchen (insbes. wirtschaftsnahen Dienst-                       Lösungen waren in Regionen mit höherem ge­­werk­
leistungen) kompensiert, so dass der aggregierte                         schaftlichen Organisationsgrad tendenziell stärker
Beschäftigungseffekt der Roboterisierung bei null                        ausgeprägt. Das spricht für den Beitrag von Betriebs-
liegt. Zudem vollzog sich der Strukturwandel nicht                       räten zur Beschäftigungssicherung. Im Gegenzug
disruptiv durch Entlassungen von Industriebeschäf-                       zeigte sich die Arbeitnehmerseite zu moderaten
tigen. Sie waren individuell durch die Roboterisie-                      Lohnabschlüssen unterhalb des realen Produktivi-
rung keinem höheren Risiko ausgesetzt, den eigenen                       tätswachstums bereit.
8     I I . B I S H E R I G E A R B E I T S M A R K T E F F E K T E D I G I TA L E R T R A N S F O R M AT I O N S P R O Z E S S E

Zweitens können die relativ positiven Beschäftigungs-                                     Gleichwohl zeigten sich auch in Deutschland in
effekte in Deutschland darin begründet liegen, dass                                       Reaktion auf den Einsatz der Industrierobotik be­­
viele heimische Industrieunternehmen einen Status                                         reits einige Verteilungseffekte in den Unternehmen
als globale Branchenführer innehatten, etwa im                                            (Dauth et al. 2021). So kam es zu überpropor­tionalen
Bereich der stark roboterisierten Automobilindus-                                         Einkommensgewinnen bei den Kapitaleigen­tü­mer:­­
trie. So zeigen Smolka et al. (2021), dass neue digitale                                  innen sowie bei hoch qualifizierten Be­­schäf­tigten,
Technologien (inklusive Industrierobotik) stärker                                         v. a. in technischen Berufen und im Management.
in produktiven Unternehmen mit hohen Markt­                                               Facharbeiter:innen im mittleren Lohnsegment
anteilen eingesetzt werden. Diese Unternehmen                                             mussten hingegen tendenziell Verluste hinneh-
können ihre Produktivität, Marktposition und Be­­                                         men, teilweise im Rahmen eines Kompromisses
schäftigung durch den verstärkten Technologieein-                                         zur Be­­schäftigungssicherung. Besonders negative
satz dann tendenziell ausbauen, während negative                                          Lohn­effekte waren dort zu erkennen, wo unter­
Beschäftigungseffekte bei solchen Unternehmen                                             nehmensi­nterne Lösungen scheiterten und ein Ar­­
konzentriert sind, welche die entsprechenden Tech­­­                                      beitsplatzwechsel notwendig wurde. Bislang waren
nologien gar nicht oder weitaus schwächer einset-                                         diese Verteilungseffekte quantitativ allerdings noch
zen. Stiebale et al. (2020) dokumentieren ein ähn­                                        relativ schwach ausgeprägt.
liches Muster im verarbeitenden Gewerbe in sechs
europäischen Ländern. Der verstärkte Einsatz von
Robotern könnte somit in Ländern mit relativ un­­
produktiven Firmen durchaus negative Beschäfti-
gungseffekte gezeitigt haben (vgl. Faber 2020), nicht
jedoch in Deutschland.
9

III. Die kommenden Wellen der
     digitalen Transformation
10    I I I . D I E KO M M E N D E N W E L L E N D E R D I G I TA L E N T R A N S F O R M AT I O N

Bei der Industrierobotik handelt es sich um eine                                   Die Theorie des endogenen Wachstums spricht
etablierte Technologie, die seit Jahrzehnten einge-                                deshalb von einer general purpose technology
setzt wird. Im Gegensatz dazu steht für die neuesten                               (GPT), vergleichbar der Dampfmaschine oder der
digitalen Technologien, etwa künstliche Intelligenz                                Elektrizität.
(KI), ein vergleichbarer evidenzbasierter Ansatz zur
Identifikation von Arbeitsmarkteffekten derzeit noch                               Der Wandel von analoger zu digitaler Technologie
nicht zur Verfügung. Zwar gibt es erste einschlägige                               startete mit der Erfindung bipolarer Transistoren
Studien (Acemoglu et al. 2021), aber hauptsächlich                                 in den Bell Laboratories im Jahr 1947. Intel machte
wird derzeit auf Unternehmensbefragungen zu                                        mit seinen Mikroprozessoren 1974 Heimcomputer
geplanten Beschäftigungsänderungen zurückge-                                       möglich. Je dichter Transistoren auf einem Chip ge­­­
griffen (z. B. Arntz et al. 2019; WEF 2020). Prognosen                             packt werden konnten, desto mehr Anwendungen
auf dieser Basis sind mit einer weitaus höheren                                    wurden erschlossen (Bresnahan und Trajtenberg
Unsicherheit behaftet, erlauben aber gewisse Rück-                                 1995). Der nächste Entwicklungsschub ging von
schlüsse auf zu erwartende Arbeitsmarkttrends.                                     der Vernetzung aus. Die Rechenleistung einer Viel-
                                                                                   zahl von Computern konnte dadurch nicht nur
In diesem Abschnitt beschreiben wir zunächst einige                                gebündelt werden. Zusätzlich ergab sich der Vorteil,
Charakteristika digitaler Technologien (III.1.) und                                dass kein spezialisiertes Netz mehr für einzelne
diskutieren in allgemeiner Form, auf welche Weise                                  Anwendungen benötigt wurde. Mit Hilfe einer Inter­
Computer und ihre Vernetzung menschliche Arbeit                                    net-Verbindung ist es nicht nur möglich, wie beim
ersetzen oder ergänzen können und worin künftig                                    Telefon auf Distanz miteinander zu sprechen, son-
noch komparative Vorteile menschlicher Arbeit lie-                                 dern auch E-Mails zu verschicken, Videokonferen-
gen (III.2.). Hieraus leiten wir einige grundsätzliche                             zen ab­­zuhalten, aus der Ferne die Raumtemperatur
Überlegungen zu den möglichen Arbeitsmarktef-                                      zu regeln, usw.
fekten der digitalen Transformation ab (III.3.) und
fokussieren dabei insbesondere auf das Problemfeld                                 Diese allgemeine technische Grundlage bietet somit
des qualifikatorischen und regionalen Mismatches                                   Raum für spezialisierte Lösungen mit enormen
am Arbeitsmarkt (III.4.). Anschließend diskutieren                                 wirtschaftlichen Potentialen, aber auch Gefahren.
wir die neuere Literatur zu den Verteilungseffekten                                So ist es möglich, im Netz bestimmten Verkehr (wie
des technologischen Wandels und kategorisieren                                     etwa Filme) bevorzugt durchzuleiten, um störende
die Vorschläge zu wirtschaftspolitischen Strategien                                Verzögerungen zu minimieren. Bei einer Überlastung
gegen steigende Ungleichheit (III.5.)                                              des Netzes durch zu viele parallele Zugriffe kommt
                                                                                   es indes zu einer reduzierten Übertragungsgeschwin-
                                                                                   digkeit. Bei Filmen führt dies bloß zu einer gerin-
III.1 Charakteristika neuer digitaler                                             geren Zufriedenheit der Konsument:innen.
      Technologien                                                                 Zunehmend werden aber Anwendungen vernetzt,
                                                                                   deren Störung schlimmere Folgen hätte. So kann
In den letzten Jahrzehnten sind die technologischen                                ein „smart grid“ die Lastspitzen bei der Stromver-
Potentiale der Digitalisierung sprunghaft angestie-                                sorgung besser verteilen, aber wenn die Informa-
gen (Knieps 2021). Computer sind für nahezu belie-                                 tion über die aktuelle Stromnachfrage zu spät
bige Zwecke einsetzbar, hochgradig entwicklungs-                                   kommt, bricht das gesamte Netz zusammen. Beim
fähig und können Innovationsschübe in etlichen                                     automatisierten Fahren können Netzstörungen gar
Lebens- und Wirtschaftsbereichen anstoßen.                                         tödlich enden.
I I I . D I E KO M M E N D E N W E L L E N D E R D I G I TA L E N T R A N S F O R M AT I O N   11

Für dieses „Internet der Dinge“ wird mit 5G-Netzen                                   menschlichen Arbeit Konkurrenz machen
nicht nur weitaus stärkere Übertragungskapazität                                     können.
geschaffen. Durch eine Kombination aus cloud
computing, kamerabasierten Sensoren, satelliten-                                     Die Kognitionsforschung hat analysiert, wie Men-
basierter Positionsbestimmung und echtzeitbasier-                                    schen die Aufgaben erfüllen, die ihnen vernetzte
ter Kommunikation wird zudem ein dichtes                                             Computer nun streitig machen. Arbeit besteht aus
Sicherheitsnetz für die Funktionsfähigkeit der                                       Handlungen, die auf Entscheidungen beruhen. Der
Dienste aufgebaut (Knieps 2021).                                                     wichtigste komparative Vorteil des Computers be­­
                                                                                     steht dabei in Rechenhaftigkeit. Computer lösen
Im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI), die                                     jede Entscheidung in eine Kette von Ja/Nein-Ent-
eine zentrale Säule der digitalen Transformation ist,                                scheidungen auf. Wo es auf die zügige Verarbeitung
lassen sich verschiedene Gruppen von Systemen                                        einer großen Zahl von Informationen in genau de­­
unterscheiden. KI ermöglicht – beispielsweise in                                     finierter Weise ankommt, ist der Computer dem
der Bild- und Spracherkennung oder in Systemen                                       Menschen weit überlegen. Mittlerweile dringen Com­­
zur Unterstützung des autonomen Fahrens – die                                        puter aber in immer weitere Bereiche vor, in denen
Errichtung sehr leistungsfähiger Systeme, die auf                                    es nicht bloß um einfache Rechenoperationen geht.
großen Datenmengen für das Training der Systeme                                      Dieser technische Fortschritt beruht maßgeblich
und leistungsfähigen Cloud-Infrastrukturen für                                       auf maschinellem Lernen. Hier zieht der Compu-
deren Bereitstellung basieren. Allerdings bewegen                                    ter keinen logischen Schluss von Eingaben auf die
sich jüngere Forschungsansätze von der bisher im                                     gewünschte Ausgabe. Vielmehr nutzt er große Daten-
Vordergrund stehenden „datenhungrigen“ KI hin                                        bestände, um Muster zu finden. Mit Hilfe der Mus-
zu hybriden Formen, bei denen u. a. die Verringerung                                 ter sagt er voraus, welche Entwicklung zu erwarten
der für das Lernen erforderlichen Datenmengen                                        ist, wenn man eine bestimmte Handlung vornimmt,
zentral ist, etwa im Bereich der Mensch-Maschine-                                    oder der Computer ergreift – wie etwa beim Han-
Interaktion (MMI, vgl. hierzu Abschnitt IV.1.).                                      del mit Wertpapieren – sogar selber Handlungen.2

                                                                                     Menschen bewältigen ihre Umgebung durch Selek-
III.2 Mensch versus Maschine – Vertei-                                              tion. Sie richten ihre Aufmerksamkeit nur auf einen
      lung der komparativen Vorteile                                                 Ausschnitt der optischen, visuellen und haptischen
                                                                                     Informationen, die ständig auf sie einstürmen. Men­
Die Digitalisierung hilft vielen Menschen, ihrer                                     schen sind nicht nur gut darin, eigene und fremde
Arbeit besser nachzugehen. Der Computer ist aus                                      Erfahrungen zu nutzen. Sie selektieren zwischen
dem Alltag nicht mehr wegzudenken, die Schreib-                                      wichtigen und unwichtigen Erfahrungen.3 Das
maschine wünscht sich kaum jemand zurück.                                            men­schliche Gehirn bewältigt den Überfluss der
Die Digitalisierung führt an vielen Stellen zu einer                                 Erfahrungen aus der Umgebung somit vor allem
höheren Produktivität der Arbeitnehmer:innen.                                        durch Vergessen.4 Doch mittlerweile haben Algo-
Allerdings ist eine Konsequenz der ständig wach-                                     rithmen die Kunst der selektiven Wahrnehmung
senden technischen Möglichkeiten, dass diese der                                     und des Vergessens ebenfalls gelernt.5
2   Eine verständliche Einführung ist bei James et al. (2021) zu finden.
3   Vgl. Bakos et al. (2014) für eine anschauliche Darstellung.
4   Vgl. Schooler und Hertwig (2005).
5   Besonders deutlich ist das bei einer Klasse von Deep-Learning-Algorithmen, den „long short term memory“-Algorithmen.
12       I I I . D I E KO M M E N D E N W E L L E N D E R D I G I TA L E N T R A N S F O R M AT I O N

Menschen besitzen die Fähigkeit, Probleme zu                                          All das ist prinzipiell auch bei den Entscheidungen
strukturieren und in einer Weise zu lösen, die sie                                    eines Computers erreichbar. Trotzdem bleibt ein
Dritten erklären und beibringen können. Auf diese                                     Unterschied: Jeder Mensch entscheidet am Ende
Weise lösen die meisten Menschen aber nur einen                                       individuell und für sich allein. Menschen sind dabei
kleinen Teil ihrer Probleme. Für den großen Rest                                      von ihren Genen und ihrer Vergangenheit geprägt.
benutzen sie ihre Intuition.6 In einem strengen Sinne                                 Jeder Computer, der den gleichen Algorithmus und
hat ein Computer keine Intuition. Aber man kann                                       die gleichen Trainingsdaten benutzt und der gege-
ihn so programmieren, dass er sich keiner Entschei-                                   benenfalls die gleichen Zufallszahlen verwendet,
dung verweigert. Die radikalste Lösung ist dabei ein                                  entscheidet dagegen exakt gleich. Wo es auf Un­­vor­­­
Zufallsentscheid. Doch wenn man genauer hinsieht,                                     hersehbarkeit ankommt, ist der Mensch somit
macht der Computer alle Vorhersagen unter Vor-                                        tendenziell dem Computer überlegen. Unvorher-
behalt. Durch die Programmierung sind Wahrschein-                                     sehbarkeit hilft nicht nur beim Schutz von Vertrau-
lichkeiten vorgegeben, welche die Entscheidung                                        lichkeit und immunisiert gegen Störungen. Sie
schlussendlich determinieren. Das ist nicht funda-                                    schafft vor allem eine Art sozialer Biodiversität und
mental anders als der Mechanismus, mit dem das                                        hält einen Lösungsvorrat vor, der bei der Bewälti-
menschliche Gehirn vermeidet, dass der Mensch                                         gung unvorhersehbarer Veränderungen hilft.
vor Unsicherheit erstarrt.7
                                                                                      Die menschliche Intuition funktioniert deshalb oft
Diese skizzenhaften Überlegungen machen deutlich:                                     gut, weil einzelne menschliche Entscheider:innen
Der Abstand in der Mechanik des Entscheidens                                          auf einen Schatz an Erfahrungen zurückgreifen
zwischen Mensch und Computer ist sehr viel kleiner,                                   können. Diese Daten sind nicht nur sehr umfang-
als man zunächst denken könnte. Der komparative                                       reich, sondern auch wirkmächtig organisiert. Man
Vorteil des Menschen vor dem Computer besteht                                         sieht das etwa, wenn ein Mensch eine Analogie zu
immer weniger in kognitiven Fähigkeiten. Dafür                                        einem ähnlichen Entscheidungsproblem zieht.8
sind Menschen eingebettet in ihren sozialen Kontext.                                  Ihm oder ihr ist bewusst, dass die Analogie unzu-
Dieser Kontext beeinflusst, auf welchen Teil ihrer                                    treffend sein kann. Aber sie gibt einen guten Start-
Umgebung sie achten, welche normativen Belange                                        punkt für die Einschätzung. Erfahrung versorgt
ihnen wichtig sind und wie sie ihre Entscheidun-                                      menschliche Entscheider:innen mit guten „starting
gen kommunizieren.                                                                    values“. Auf die längere Frist könnten Computer
                                                                                      solche Aufgaben übernehmen. Vernetzte Computer
                                                                                      können so programmiert werden, dass sie aus dem
                                                                                      Feedback über früher getroffene Entscheidungen
                                                                                      lernen. Auf kürzere Frist liegt hier aber ein kompa-
                                                                                      rativer Vorteil menschlicher Entscheider:innen.9
6    Das kann man experimentell vor allem auf zwei Weisen zeigen: die Entscheidungszeit ist zu kurz, um die angebotene Information bewusst zu verarbeiten;
     nachdem die Entscheidung getroffen ist, wird die Evidenz anders bewertet (sog. coherence shifts), ohne dass das den Probanden bewusst wird,
     vgl. Glöckner et al. (2010).
7    Im Prozess der Verarbeitung verändert das Gehirn die Darstellung der Information so lange, bis sich ein kohärentes Bild ergibt, vgl. Holyoak und Simon
     (1999). Die Kognitionswissenschaften modellieren den mentalen Prozess als „parallel constraint satisfaction“, in offener Anlehnung an Konzepte aus
     den Computerwissenschaften (Yokoo und Hirayama, 2000).
8    Vgl. Gentner et al. (2001).
9    Das ist etwa der Grund, warum autonomes Fahren unter den standardisierten Bedingungen einer Autobahn leichter zu verwirklichen ist als im
     Stadtverkehr, in dem ein Kind auf die Straße springen, ein Tier kreuzen oder ein Fahrrad aus der Spur geraten kann. Je idiosynkratischer die Erfahrungen
     sein müssen, um gute Erfahrungen zu sein, desto länger werden Menschen den Algorithmen überlegen sein.
I I I . D I E KO M M E N D E N W E L L E N D E R D I G I TA L E N T R A N S F O R M AT I O N   13

Menschen können unaufmerksam, ungeschickt,                                        dass die Adressat:innen eine Entscheidung an­­neh­
unbegabt oder ungerecht sein. Ein Computer über-                                  men, verstehen und im richtigen Geiste umsetzen.
sieht niemals etwas, er ist so geschickt und begabt,                              Das fällt leichter, wenn klar ist, warum eine Ent-
wie er programmiert worden ist, und nur dann                                      scheidung in einer bestimmten Weise ausgefallen
ungerecht, wenn dies ins Programm eingebaut                                       ist. Bei menschlichen Entscheidungsträger:innen,
wurde. Aber die Menschheit hat jahrtausendelang                                   die eine nachvollziehbare Begründung liefern sol-
Erfahrung mit menschlicher Unzulänglichkeit                                       len, ist das Alltag.14 Gerade besonders treffsichere
gesammelt. Deshalb sind die Menschen Experten                                     „deep learning“-Algorithmen sind dagegen oft be­­
im Umgang damit.10 Dieser Unterschied ist eine                                    sonders unzugänglich.15 Einstweilen liegt hier somit
Erklärung für die verbreitete Aversion gegen die                                  weiterhin ein komparativer Vorteil menschlicher
Delegation von Entscheidungen an Computer.11                                      Entscheidungen und Arbeit vor.
Es fällt vielen Menschen leichter, einem anderen
Menschen zu vertrauen als einer Maschine. Wich-
tiger ist noch das Gegenstück: Menschen trauen sich                               III.3 Mögliche Arbeitsmarkteffekte der
ein Urteil zu, wem sie besser nicht vertrauen sollten.                                  digitalen Transformation
Einstweilen fehlt diese Fähigkeit aber zumeist im
Umgang mit Computern.                                                             Die vorangegangene Diskussion zu den kompara­
                                                                                  tiven Vorteilen spiegelt sich in den Projektionen
Die vollständige Delegation von Entscheidungen an                                 zu den erwartbaren Auswirkungen der digitalen
Algorithmen ist deshalb die Ausnahme. Häufiger                                    Transformation auf die Arbeitswelt. So wurde eine
erhalten Menschen Unterstützung durch den Com­                                    Reihe von umfangreichen Unternehmensbefragun-
puter, tragen aber weiterhin die Verantwortung für                                gen durchgeführt (z. B. der Future of Jobs Report des
die Entscheidung.12 Ob solche Mensch-Maschine-                                    World Economic Forum, vgl. WEF 2020), bei denen
Interaktionen einer rein menschlichen Entscheidung                                Manager:innen angeben sollten, a) welche Techno-
vorzuziehen sind, hängt nicht nur von der Leistung                                logien sie in den kommenden Jahren in ihrem
des Computers ab. Es kommt auch darauf an, wie                                    Unternehmen einführen oder ausbauen wollen,
Menschen den Entscheidungsbeitrag des Computers                                   und b) welche Rückwirkungen sich daraus für die
verarbeiten.13 Außerdem sollen Entscheidungen                                     Beschäftigung ergeben könnten, also welche Art
nicht nur objektiv gut sein, sondern ihren Adressat:                              von Berufen daraufhin in welchem Umfang ab- bzw.
in­­nen auch gut erscheinen. Oft kommt es darauf an,                              aufgebaut wird. Da es sich bei diesen Befragungen

10   Das zeigt sich eindrucksvoll an einem bekannten Paradigma der psychologischen Entscheidungsforschung, der sog. „Wason selection task“. Wenn man
     Versuchspersonen das Entscheidungsproblem in neutraler Einkleidung präsentiert, versagen die meisten von ihnen. Wenn man ihnen dagegen sagt, sie
     sollten aufpassen, nicht übervorteilt zu werden, findet die große Mehrheit die richtige Lösung, vgl. Cosmides (1989).
11   Vgl. Dietvorst et al. (2015).
12   Ein Beispiel sind Bewerbungsprozesse. Die Personalabteilung lässt den Computer die Bewerbungen durchmustern und vorklassifizieren. Ob eine
     Bewerber:in dann zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird, entscheidet dann aber der oder die jeweilige Personalsachbearbeiter:in.
13   Erste Ergebnisse in diesem sehr aktuellen Forschungsfeld legen nahe, dass menschliche Entscheider:innen nicht sehr gut darin sind, hilfreiche von
     ungeeigneten Beiträgen des Computers zu unterscheiden (vgl. Engel und Grgic-Hlaca 2021). In diesem Fall kann es durchaus richtig sein, die Ent­
     scheidung komplett dem Menschen zu überlassen.
14   Vgl. Engel (2007) zu den miteinander verschränkten Verhaltenseffekten einer expliziten Begründung.
15   Die Informatik hat das mangelnde Vertrauen von Menschen in automatisierte Entscheidungen als Schwäche erkannt. Unter dem Label „explainable AI“
     wird aktiv daran geforscht, nachträglich die Elemente des Datensatzes zu benennen, die für die Einschätzung tragend waren, vgl. Samek et al. (2019) und
     Rabold et al. (2020).
14    I I I . D I E KO M M E N D E N W E L L E N D E R D I G I TA L E N T R A N S F O R M AT I O N

um zukunftsgerichtete wirtschaftliche Pläne handelt,                               hohem Routinegrad vor, die oftmals in der Mitte
nicht um realisierte Entscheidungen, sind die Er­­                                 des Qualifikations- und Lohnspektrums angesie-
gebnisse solcher Studien naturgemäß mit einer                                      delt sind.
gewissen Vorsicht zu betrachten. Trotzdem ergeben
sie ein Bild, das durchaus im Einklang mit der evi-                                Konkret wird in den Unternehmensbefragungen ein
denzbasierten Arbeitsmarktliteratur zu vergange-                                   Arbeitsplatzaufbau im Zuge der digitalen Trans-
nen Transformationsepisoden steht.                                                 formation einerseits in Berufsfeldern erwartet, die
                                                                                   einen direkten Bezug zur Entwicklung und Anwen-
Es zeigen sich drei zentrale Erkenntnisse. Erstens                                 dung der jeweiligen Technologien haben (etwa
gibt es bei der Angabe der zukünftig wichtigen                                     Programmierer:innen oder Spezialist:innen für die
Technologien eine große Übereinstimmung mit                                        Datenanalyse). Ein Ausbau wird darüber hinaus in
den in Abschnitt III.1. diskutierten Entwicklungen.                                ganz anders gelagerten Berufen erwartet, in denen
So geben laut WEF (2020) mehr als 70 Prozent der                                   ein hohes Maß an sozialen und kommunikativen
befragten Unternehmen an, dass sie zukünftig ver-                                  Kompetenzen erforderlich ist (etwa im Bereich der
stärkt auf machine learning, big data analytics und                                Betreuung von Kund:innen oder im Gesundheits-
das Internet of things setzen werden.                                              sektor), also dort, wo ein komparativer Vorteil
                                                                                   menschlicher Arbeit gegenüber Maschinen weiter-
Zweitens kann damit gerechnet werden, dass dies                                    hin gegeben sein dürfte.
zu einem Arbeitsplatzabbau vor allem bei solchen
Berufen führen wird, deren Tätigkeitsprofil in                                     Das dritte zentrale Ergebnis bezieht sich auf den
einem hohen Maß aus (manuellen oder kognitiven)                                    quantitativen Gesamtumfang des Beschäftigungs-
Routinetätigkeiten besteht. Beispielhaft seien hier                                aufbaus oder -abbaus. Das typische Bild, das sich
Sachbearbeiter:innen, LKW-Fahrer:innen, aber auch                                  in den Projektionen zeigt, geht dabei von einem
Rechtsanwält:innen genannt. Dieses Muster deckt                                    insgesamt neutralen oder sogar leicht positiven
sich mit Studien zum technologischen Substituti-                                   Beschäftigungseffekt aus. Danach wird die Zahl
onspotential von Berufen (Frey und Osborne 2017;                                   der abgebauten Arbeitsplätze also mindestens
Arntz et al. 2017) und der umfangreichen Literatur                                 kompensiert durch neu geschaffene Arbeitsplätze,
zur technologisch bedingten Arbeitsmarktpolari-                                    allerdings mit völlig anderen Charakteristika. Diese
sierung (Acemoglu und Autor 2011; Autor et al. 2020;                               Projektion könnte sich aber als zu optimistisch
Spitz-Oener 2006). Letztere kommt ebenfalls zu                                     erweisen, da Großunternehmen mit hohem Tech-
dem Schluss, dass digitale Technologien einen sog.                                 nologieeinsatz in den Befragungen oftmals über­
„routine-biased technologial change“ hervorrufen.                                  repräsentiert sind. Beschäftigungsabbau findet aber
Weniger gefährdet von Substitution sind danach                                     gerade in kleineren Unternehmen statt, die neue
Beschäftigte, die an ihrem Arbeitsplatz vor allem                                  digitale Technologien nicht im gleichen Maße
kreative und/oder nicht standardisierte Abläufe                                    einsetzen und daraufhin Marktanteile verlieren
ausüben. Dies können bestimmte Hochqualifizierte                                   (Smolka et al. 2021). Zudem sind indirekte Effekte
sein, aber durchaus auch Arbeitskräfte ohne for-                                   aufgrund von Preis- und Einkommensänderungen
male Ausbildung, solange sie in ihrem beruflichen                                  nicht berücksichtigt.
Alltag typischerweise mit unterschiedlichen Situa-
tionen konfrontiert sind, die nicht einer einfach zu                               Erste evidenzbasierte Studien zu den Arbeitsmarkt­
automatisierenden Routine folgen. Ein hohes Subs-                                  effekten von KI kommen zu vorsichtigeren Ergeb-
titutionspotential liegt hingegen bei Berufen mit                                  nissen. So zeigen Acemoglu et al. (2021), dass der
I I I . D I E KO M M E N D E N W E L L E N D E R D I G I TA L E N T R A N S F O R M AT I O N   15

zügige Ausbau von KI in US-Unternehmen im Zeit-               ser Mismatch durch den Preismechanismus nicht
fenster 2014–2018 zwar zu einem starken Anstieg               auflösbar, da die freigesetzten Arbeitskräfte die
von Stellenanzeigen mit KI-Bezug, nicht jedoch zu             parallel existierenden offenen Stellen aufgrund
einem Anstieg der gesamten Stellenanzeigen oder               falsch gelagerter Qualifikationsprofile nicht beset-
der Beschäftigung geführt hat.                                zen können. Somit kann es zu disruptiven indivi-
                                                              duellen Arbeitsplatzverlusten kommen, die im
Für einen belastbaren empirischen Befund der                  schlimmsten Fall in Langzeitarbeitslosigkeit oder
Beschäftigungseffekte von KI und anderer neuer                den unfreiwilligen Austritt aus dem Erwerbsleben
digitaler Technologien ist es derzeit noch zu früh,           münden.
da sie noch nicht in der nötigen Breite eingesetzt
werden. Vieles deutet aber darauf hin, dass die zen-          Langfristig löst sich dieser Mismatch auf, z. B. durch
trale Herausforderung wiederum nicht in einem                 Anpassungen der Qualifikations- und Ausbildungs-
negativen aggregierten Beschäftigungseffekt oder              entscheidungen der jungen Generation, die im Zeit-
gar einer technologischen Massenarbeitslosigkeit              ablauf in den Arbeitsmarkt eintritt. Doch schon
liegen dürfte. Vielmehr könnten sich im Zuge der              kurzfristig gibt es Gegenkräfte. So ist es in der Ver-
weiteren digitalen Transformation zwei Problem-               gangenheit insbesondere in Deutschland gut ge­­
stellungen ergeben, die wir in der Folge näher dis-           lungen, dem qualifikatorischen Mismatch, der sich
kutieren:                                                     im Zuge der Einführung neuer Technologien erge-
                                                              ben hat, durch intensive Bemühungen im Bereich
1. Mismatch am Arbeitsmarkt, also eine Diskre-                der Weiterbildung und Umschulung der Belegschaf-
   panz zwischen den angebotenen und den nach-                ten zu begegnen (vgl. Abschnitt II.2.). Die demogra-
   gefragten Qualifikationsprofilen, vgl. Abschnitt           fische Entwicklung könnte zusätzliche Anreize für
   III.4.                                                     die Unternehmen bieten, dieses „Ret(r)aining“ des
2. Steigende Lohn- und Einkommensungleichheit,                Stammpersonals voranzutreiben, da sich die Rekru-
   vgl. Abschnitt III.5.                                      tierung neuer Fachkräfte als zunehmend schwierig
                                                              erweisen könnte. Allerdings stößt diese Strategie,
                                                              die auf Arbeitsplatzstabilität setzt, dort an Grenzen,
III.4 Qualifikatorischer und regionaler                      wo Unternehmen im Zuge der digitalen Trans­
      Mismatch                                                formation aus dem Markt ausscheiden. Deshalb
                                                              empfiehlt der Beirat in Abschnitt IV.2. ein unter-
Mismatch bezeichnet eine Situation, in der die                nehmensübergreifendes System der beruflichen
strukturellen Charakteristika von Arbeitsangebot              Aus- und Weiterbildung als zentralen Baustein für
und Arbeitsnachfrage nicht zueinander passen und              den weiteren Umgang mit der digitalen Trans­
es somit zu einer zeitlich persistenten Koexistenz            formation.
von Arbeitslosigkeit und offenen Stellen kommt.
Eine solche Konstellation zeichnet sich im Zuge der           Ein spezielles Problem des Mismatches betrifft die
digitalen Transformation durchaus ab, wenn es – wie           regionale Dimension. Im internationalen Vergleich
oben beschrieben – einen Abbau von Arbeitsplätzen             sind die regionalen Unterschiede im Lohn- und Ein­
mit hohem Standardisierungs- und Routinegehalt                kommensniveau hierzulande, zumindest innerhalb
bei gleichzeitigem Anstieg der Arbeitsnachfrage in            Westdeutschlands, noch relativ moderat (vgl. Süde-
ganz anderen Marktsegmenten (z. B. bei Jobs mit               kum 2021). Das ökonomische Stadt-Land-Gefälle
hohem ICT- oder KI-Bezug) gibt. Kurzfristig ist die-          hat in den vergangenen 30 Jahren aber auch in
16    I I I . D I E KO M M E N D E N W E L L E N D E R D I G I TA L E N T R A N S F O R M AT I O N

Deutschland spürbar zugenommen (vgl. Dauth et                                      betroffen. Diese Effekte sind insbesondere für die
al. 2022). Dieser Trend, der in anderen Ländern                                    USA belegt worden, siehe etwa Goldin und Katz
erhebliche politische Implikationen hatte (vgl.                                    (2008), Acemoglu und Autor (2011) oder Ales et al.
Rodriguez-Pose 2018), könnte sich durch die digi-                                  (2015). Der verstärkte Einsatz künstlicher Intelligenz
tale Transformation weiter verschärfen. So ist es                                  wirft zudem die Frage auf, ob eine ähnliche Entwick-
durchaus möglich, dass die wegfallenden und die                                    lung künftig im Bereich höher qualifizierter Arbeit
neu geschaffenen Arbeitsplätze im Zuge der Trans-                                  zu erwarten ist und etwa die Mitarbeiter:innen von
formation in verschiedenen lokalen Arbeitsmärk-                                    Banken oder Versicherungen betreffen könnte, deren
ten zu finden sind. Firgo et al. (2019) zeigen für das                             berufliche Tätigkeiten von einem hohen Routine-
Beispiel Österreich, dass die Digitalisierung ten-                                 gehalt geprägt sind. Vor diesem Hintergrund werden
denziell die Schaffung von urbanen Arbeitsplätzen                                  in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur steuer­
begünstigt, während die Kategorie der substituier-                                 politische Instrumente und die Stärkung sogenann-
baren (und damit stärker bedrohten) Arbeitsplätze                                  ter „guter Jobs“ als mögliche Handlungsoptionen
tendenziell in Regionen abseits der Metropolen                                     gegen steigende Ungleichheit thematisiert.
überrepräsentiert sind. Die OECD (2018) stellt ein
ähnliches räumliches Muster auch für andere Län-                                   III.5.1 Steuerpolitische Instrumente
der fest. Regionale Migration dient nur bedingt als
Ausgleichsmechanismus, da der Prozess hinsicht-                                    Eine aktuelle Entwicklung verwendet Ansätze der
lich Alter und Qualifikationsniveau selektiv ist. So                               Optimalsteuertheorie, um zu prüfen, ob mit Instru-
dürfte die Mobilität bei dem Personenkreis, der                                    menten der Besteuerung der Einsatz von Robotern
mutmaßlich durch die Digitalisierung am Arbeits-                                   und anderen Formen der Automatisierung abge-
markt vor die größten Probleme gestellt wird, ten-                                 bremst werden kann. Eine verwandte Frage ist, ob
denziell schwächer ausgeprägt sein, während die                                    die Richtung des technischen Fortschritts hin etwa
Mobilität von jungen Hochqualifizierten in die                                     zu einem stärkeren Einsatz künstlicher Intelligenz
Metropolen das Stadt-Land-Gefälle eher noch ver-                                   aufgrund ihrer Verteilungswirkungen einer staat­
schärft als ausgleicht. Diese regionale Dimension                                  lichen Korrektur bedarf. Inwiefern sind diese Pro-
gilt es deshalb bei der Ausgestaltung des integrierten                             zesse Treiber von Ungleichheit, die nicht nur im
Systems der Aus- und Weiterbildung zu berück-                                      Nachhinein durch umverteilende Steuerpolitik
sichtigen, indem es durch gezielte struktur- und                                   korrigiert werden sollte, sondern auch schon bei
regionalpolitische Impulse ergänzt wird (vgl.                                      ihrer Entstehung?
Abschnitt IV.2.).
                                                                                   Auf dem Arbeitsmarkt trifft die Nachfrage der
                                                                                   Firmen nach Beschäftigten mit bestimmten Quali-
III.5 Verteilungseffekte der digitalen                                            fikationen auf ein heterogenes Arbeitsangebot.
      Transformation                                                               Kommt es nun zu einer Veränderung der Qualifi-
                                                                                   kationsstruktur beim Arbeitsangebot, zum Beispiel
Der technologische Wandel der letzten Jahrzehnte                                   weil mehr gut ausgebildete Personen auf den
ist als eine Ursache zunehmender Einkommens­                                       Arbeitsmarkt drängen, dann ergeben sich dadurch
ungleichheit identifiziert worden. Während hoch-                                   Auswirkungen auf die Verteilung der Arbeitsein-
qualifizierte Arbeitnehmer:innen profitierten,                                     kommen. Wenn es etwa mehr Hochqualifizierte
waren Niedrigqualifizierte zunehmend von geringen                                  gibt, reduziert dies deren Löhne und führt dazu,
Einkommenszuwächsen bis hin zu -reduktionen                                        dass Firmen insgesamt die Beschäftigung Hoch-
I I I . D I E KO M M E N D E N W E L L E N D E R D I G I TA L E N T R A N S F O R M AT I O N   17

qualifizierter ausdehnen. Dies erhöht in der Folge                               (1971) –, ist damit verletzt. Stattdessen wird die
die Produktivität der Niedrigqualifizierten, sofern                              Arbeits- und Kapitalnachfrage der Unternehmen
Komplementaritäten der unterschiedlichen                                         durch die Politik korrigiert.
Arbeitstypen vorliegen. Stiglitz (1982) zeigt, dass ein
optimal umverteilendes Steuersystem sich diesen                                  Die zentrale Botschaft dieser Literatur ist, dass der
Mechanismus zunutze macht. Es schafft Anreize                                    technologische Fortschritt in Form von Automati-
zur Ausweitung des Angebots an hochqualifizierter                                sierung und künstlicher Intelligenz die bestehende
Arbeit, um auf diesem Weg eine Besserstellung der                                Einkommensungleichheit verstärken kann und
Niedrigqualifizierten zu erreichen.                                              dass daher wirtschaftspolitische Eingriffe begrün-
                                                                                 det werden können, die darauf abzielen, Beschäf­
Die Arbeiten zur optimalen Besteuerung von                                       tigung, Entlohnung und Produktivität im Bereich
Ro­bo­tern – siehe Costinaut und Werning (2020),                                 der niedrigen und mittleren Einkommen zu fördern.
Guerreiro et. al (2020), Löbbing (2020) oder Thüm-
mel (2020) – gehen von der Beobachtung aus, dass                                 III.5.2 Gute Jobs als Staatsaufgabe?
sich die Produktivität der Hochqualifizierten
stärker erhöht als die Produktivität der Nied-                                   Ein weiterer aktueller Ansatz stellt in den Mittel-
rigqualifizierten, eine Entwicklung, die „skill-                                 punkt, dass es Aufgabe des Staates sein könnte, da­­
biased technical change“ genannt wird. Eine opti-                                für zu sorgen, dass eine ausreichende Zahl „guter
mal umverteilende Steuerpolitik hat zum Ziel, den                                Jobs“ entsteht. Es geht hierbei um Arbeitsplätze,
Einsatz dieser Technologie zu bremsen, weil sie die                              die ein sicheres Einkommen im mittleren Einkom-
Ungleichheit der Arbeitseinkommen erhöht. Es                                     mensbereich bieten und damit einhergehend die
ergibt sich dabei ein Konflikt zwischen Effizienz-                               Chance auf soziale und politische Teilhabe. Ausgangs-
und Verteilungszielen. Dem Wunsch, die Ungleich-                                 punkt ist die Beobachtung, dass die klassischen
heit zu reduzieren, steht gegenüber, dass die                                    Instrumente des Wohlfahrtsstaates – nämlich einer-
höhere Produktivität es erlaubt, Güter und Dienst-                               seits Prädistribution, die Verbesserung der Chancen
leistungen mit geringerem Arbeitseinsatz zu pro-                                 zur Einkommenserzielung durch ein öffentliches
duzieren. Wie stark der Einsatz von Technologien                                 Bildungssystem, sowie andererseits Redistribution
mit einem skill-bias gebremst werden sollte, ist                                 der erzielten Einkommen durch ein progressives
daher abhängig von einem Werturteil, nämlich                                     Steuer- und Transfersystem – die Ausweitung pre-
dem Gewicht, das dem Verteilungsziel zugemes-                                    kärer Beschäftigungsverhältnisse nicht haben be­­
sen wird. Je höher die Ungleichheitsaversion, desto                              grenzen können. Zudem sind Berufe mit hohem
höher die Steuer auf den Einsatz von Robotern.16                                 Routinegehalt, die durch die digitale Transforma-
                                                                                 tion besonders unter Druck geraten, im mittleren
Eine solche Politik, die auf die Steuerung des Ein-                              Einkommenssegment überrepräsentiert, so dass
satzes von Technologien in Unternehmen zielt, steht                              sich in der Mittelschicht starke Abstiegsängste
im Widerspruch zur Idee, dass der Staat die Markt-                               breitmachen können. Eindrücklich wurde dies in
kräfte zunächst wirken lässt und dann die erzielten                              viel beachteten Reportagen beschrieben, die den
Markteinkommen durch das Steuer- und Transfer-                                   Niedergang der amerikanischen Mittelschicht auf-
system korrigiert. Das Prinzip, Effizienz in der Pro-                            zeigen und als Quelle zunehmender politischer Pola-
duktion zu wahren – siehe Diamond und Mirrlees                                   risierung identifizieren (Packer 2013; Hochschild

16   Der Einsatz von Robotern kann auch indirekt abgebremst werden, wenn technischer Fortschritt endogen ist, vgl. hierzu Löbbing (2020).
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