Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...

Die Seite wird erstellt Karina Springer
 
WEITER LESEN
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Einblicke in
Menschenrechtsarbeit
Unser Tätigkeitsbericht 2017
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Spendenkonto
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
GLS Gemeinschaftsbank e.G.
KtoNr. 4030 460 700
BLZ: 430 609 67
IBAN: DE28 4306 0967 4030 4607 00
BIC: GENODEM1GLS
Zweck: Spende

Impressum
Tätigkeitsbericht des Vorstandes des
Flüchtlingsrats Niedersachsen e.V.
für das Jahr 2017
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Röpkestraße 12
30173 Hannover
Tel.: 0511 / 98 24 60 30
Fax: 0511 / 98 24 60 31
Internet
www.nds-fluerat.org
www.facebook.com/Fluechtlingsrat.Niedersachsen

E-Mail
nds(at)nds-fluerat.org
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Inhalt
1. Politischer Rückblick                                                            5

2. Veranstaltungen                                                                 8
      2.1.Treffen niedersächsischer Flüchtlingsinitiativen                           8
      2.2 Ausgewählte Veranstaltungen                                               9

3. Berichte aus der Praxis                                                         13
       3.1 Aufnahme in Niedersachsen – Zwischen Teilhabe und Ausgrenzung           13
       3.2 Keine Beschulung von Kindern und Jugendlichen in EAs                    15
       3.3 Ausgewählte Themen und Einzelfälle aus der Beratungspraxis              18
       3.4 Arbeitsmarktzugang zwischen totalem Ausschluss und partieller Öffnung   24
       3.5 Frauenpower und Empowerment: Flüchtlingsfrauen* in Niedersachsen        28
       3.6 Alternative Möglichkeiten der Aufenthaltsverfestigung                   30
       3.7 Abschiebungshaft in Niedersachsen							                                 36
       3.8 Familienzusammenführung - Familientrennungen von Staats wegen           39
       3.9 Perspektiven für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge                 43
       3.10 Junge Geflüchtete aus Afghanistan                                      45

4. Arbeit der Initiativen vor Ort                                                  48
      4.1 Flüchtlingshilfe Wolfsburg e.V.                                          48
      4.2 Panthers Veltheim - Be part of the Legend (LK Wolfenbüttel)              49
      4.3 Garten der Hoffnung Otterndorf (LK Cuxhaven)                             51
      4.4 Refugee Network Göttingen                                                52
      4.5 Ilsede hilft e.V. (LK Peine)                                             53
      4.6 Caritasverband Wolfsburg e.V.                                            55
      4.7 Göttingen: „find friends – find work“                                    56
      4.8 APROTO e.V.                                                              57
      4.9 „Menschen verbinden Menschen“ Das Bürgerbündnis für Hannover             59
      4.10 Der Nachbarschaftskreis für Flüchtlinge in Hannover-Mitte               60
      4.11 „Radeln statt am Rad zu drehen“ - Malteser Hilfsdienstes Göttingen      61
      4.12 Unterstützerkreis Fallersleben/Wolfsburg                                62
      4.13 „Netzwerk Willkommen in Neu Wulmstorf“                                  63

5. Der Flüchtlingsrat in Zahlen und Fakten                                         65
      5.1 Geschäftsführung, Finanzen und Verwaltung						                           65
      5.2 Projekte im Flüchtlingsrat                                               67
      5.3 Digitale Medien                                                          73
      5.4 Veröffentlichungen                                                       73
      5.5 Rechtshilfe                                                              73
      5.6 Mitarbeit in Arbeitsgruppen auf Landesebene                              73
      5.7 Vorläufiger Finanzbericht Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.74

6. Dokumente                                                                       75
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.                                                          Politischer Rückblick

                                                                         Wagendekoration,
                                                                         Demonstration “We‘ll Come United“,
                                                                         Berlin, 16.09.17

  1. Politischer Rückblick
  Wer die asylpolitischen Debatten der 1990er            den Rechten die Stirn bietet und unsere demokra-
  Jahren aktiv verfolgt hat, erlebt in diesen Tagen      tischen Werte hochhält.
  ein Déjà-vu: Wieder einmal steht die Flüchtlingsbe-
                                                         Aufgeschreckt von Wahlerfolgen der rechtsradika-
  wegung mit dem Rücken an der Wand. Die ge-
                                                         len AfD wird der Schutzanspruch von Flüchtlingen
  sellschaftlichen Debatten verschieben sich immer
                                                         inzwischen offen infrage gestellt. Reizwörter wie
  weiter nach rechts, rechtspopulistische und rechts-
                                                         „Gettobildung“, „Integrationsverweigerer“ oder
  radikale Positionen finden öffentlich vermehrt
                                                         „Parallelgesellschaften“ dienen dazu, repressive
  Gehör und werden als legitime politische Haltun-
                                                         Maßnahmen durchzusetzen und menschenrecht-
  gen akzeptiert, die Stimmungslage ist in Teilen der
                                                         liche Standards zu unterlaufen. Dabei sind solche
  Gesellschaft zunehmend aggressiv.
                                                         Begriffe rein politisch motiviert und inhaltlich
  In der Europäischen Union erleben Nationalis-          fehlgeleitet, weil sie die Verantwortung für die
  mus und Fremdenfeindlichkeit einen Aufschwung,         Integration allein Geflüchteten zuweisen und diese
  während Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und            bereits durch die Wahl ihres Wohnortes abwerten.
  Menschenrechte unter Druck geraten. In dieser          Tatsächlich fehlt solchen Zuschreibungen jede
  Gemengelage verschärft sich zusehends auch die         empirische Grundlage. Geflüchtete leben keines-
  deutsche Flüchtlingspolitik: Immer kleinmütiger        wegs in – so die Phantasie – abgeschlossenen
  reagiert sie auf die Angriffe der rechten Rattenfän-   sozialen Räumen, um sich einer aktiven Teilhabe
  ger, die mit organisierten Hasskampagnen, Shit-        an der Stadtgesellschaft zu verweigern. „Parallel-
  storms und Fake News die Gesellschaft spalten          gesellschaften“ oder „Gettos“ existieren vielmehr
  und Flüchtlinge zu einer Gefahr für die deutsche       in den Köpfen derer, die die Begriffe verwenden.
  Gesellschaft stilisieren.                              „Integrationsverweigerer“ sind in erster Linie jene,
                                                         die Flüchtlingen ihre Rechte absprechen, ihnen
  Ignoriert wird in den Debatten nicht nur, dass es
                                                         Sprachkurse, Arbeit, Bildung verweigern und sie
  Migrationsbewegungen zu allen Zeiten gegeben
                                                         in fragwürdigen Lagern isolieren, statt ihnen eine
  hat, und dass diese oftmals gesellschaftliche
                                                         Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermög-
  Entwicklungen bereichert und mitgestaltet haben.
                                                         lichen.
  Zugleich wird ausgeblendet, dass die Aufnahme
  und der Schutz von Flüchtlingen im Grundgesetz         Die derzeit dominierende Perspektive in der De-
  sowie in verbindlichen internationalen Abkom-          batte um Flucht und Flüchtlinge zeigt sich auch
  men verankert sind und insofern im politischen         am Begriff „Flüchtlingskrise“, mit dem die Verant-
  Alltagsgeschäft nicht leichtfertig abgewertet          wortung für die Entwicklung dieser vermeintlichen
  werden dürfen. Mehr denn je brauchen wir jetzt         „Krise“ den Schutzsuchenden selbst zugeschoben
  eine Bewegung von unten, die die 2015 zu Recht         wird. Kriege, Verfolgung, Menschenrechtsver-
  gelobte „Willkommenspolitik“ offensiv verteidigt,      letzungen und andere Fluchtursachen werden
                                                                                                        Seite 5
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Politischer Rückblick                                                              Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.

    dagegen ausgeblendet. Tatsächlich haben wir es          die Überfahrt über das Mittelmeer wagen. Solan-
    gegenwärtig nicht mit einer „Flüchtlingskrise“,         ge keine sicheren und legalen Fluchtwege nach
    sondern mit einer Humanitätskrise zu tun: zum           Europa geschaffen werden, wird das Mittelmeer
    einen in den Herkunftsländern wie Syrien, Afgha-        weiterhin eine tödliche Fluchtroute bleiben.
    nistan oder Irak mit ihren seit Jahren andauernden
                                                            Jene, die es bis nach Europa schaffen, werden in
    Kriegen und schwersten Menschenrechtsverletzun-
                                                            Griechenland und Italien unter unwürdigen Bedin-
    gen; zum anderen aber auch in den europäischen
                                                            gungen untergebracht. Gerade auf den griechi-
    Aufnahmeländern.
                                                            schen Inseln, insbesondere auf Lesbos, bleibt die
    In Deutschland wird – wie mittlerweile in der ge-       Situation dramatisch. Noch immer müssen tausen-
    samten EU – die sinkende Zahl von Asylsuchenden         de Schutzsuchende, unter ihnen viele Kinder, unter
    allenthalben als Erfolg gewertet, als bedeute die       prekären Bedingungen auf den griechischen Inseln
    Abschottungspolitik, dass es weniger Flüchtlinge        ausharren, während die Asylverfahren, die dort
    gäbe. Dabei sind Schutzsuchende, wenn sie nicht         durchgeführt werden sollen, nur langsam vorange-
    auf einer der lebensbedrohlichen Fluchtrouten um-       hen. Im Oktober 2017 warnte PRO ASYL vor einem
    gekommen sind, lediglich andernorts gestrandet:         Kollaps der Infrastruktur, während Ärzte ohne
    in libyschen Camps, in denen Folter, Versklavung,       Grenzen einen psychosozialen Notstand auf den
    Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind; in           Inseln vermeldete. Dieser Notstand ist politisch
    miserabel ausgestatteten Hotspots auf den grie-         gewollt: Die Bilder aus den Camps sollen dazu
    chischen Inseln oder ohne staatliche Versorgung         dienen, Flüchtlinge davon abzuhalten, in Europa
    in provisorischen Lagern entlang der Balkanroute;       Schutz zu suchen.
    im syrischen Kriegsgebiet, weil zum EU-Türkei-Deal
                                                            Angesichts dieses humanitären Ausnahmezustan-
    zumindest informell auch gehört, dass die Türkei
                                                            des ist es kaum mehr verwunderlich, dass sich
    ihre Grenze zu Syrien abgeriegelt hat.
                                                            Union und SPD darauf verständigt haben, die mo-
    Um Fluchtbewegungen schon im Vorfeld zu verhin-         natlich zugesagten – in der Praxis aber nicht ein-
    dern, versucht die Europäische Union, die Bewe-         mal eingehaltenen – Aufnahmen aus den Camps
    gungsfreiheit bereits jenseits ihrer eigenen Gren-      Griechenland und Italien einstellen zu wollen.
    zen einzuschränken und Flucht zu erschweren. In
    Afrika unterstützt die EU zahlreiche Regime, die
    schwere Menschenrechtsverletzungen begehen,             Restriktive Bundespolitik
    mit Milliardenbeträgen und bildet deren Polizei,        Statt die Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus
    Armeen und Milizen aus, damit diese Flüchtlingen        den Hauptherkunftsländern (Syrien, Irak, Afghanis-
    den Weg nach Europa versperren. Während in              tan) wie noch 2015 willkommen zu heißen und ihre
    Libyen Flüchtlinge unter Ausbeutung, Missbrauch         Fluchtgründe anzuerkennen, erleben wir in den
    und Gewalt leiden, finanziert die Europäische           letzten Jahren eine beispiellose Absenkung von
    Union dortige Milizen, die als „Küstenwache“ da-        Schutzquoten durch das zuständige Bundesamt
    für sorgen sollen, dass Flüchtlinge nicht über das      für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Zugleich
    Mittelmeer nach Europa gelangen. Es sind die-           erwecken die wieder und wieder beschworenen
    selben oder mit ihnen verbundene Milizen, die an        hohen – gleichwohl falschen – Zahlen angeblich
    Land Flüchtlinge in Lagern internieren, foltern und     ausreisepflichtiger Personen den Eindruck, als
    als Sklav_innen verkaufen. Die viel beschworene         seien die meisten Asylsuchenden keine „echten“
    „Fluchtursachenbekämpfung“ ist damit tatsäch-           Flüchtlinge, sondern illegale Migrant_innen.
    lich nicht mehr als der – oftmals leider erfolgreiche
    – Versuch, Schutzsuchende an der Flucht zu hin-         Im Bereich der Familienzusammenführung sind
    dern. Denn es ist weit einfacher, Schutzsuchenden       weitere Restriktionen bereits beschlossen. Für von
    Wege zu versperren und sie kollektiv zu delegiti-       Tod und Folter bedrohte Menschen (in Bürokraten-
    mieren, als in einer komplexen, multipolaren Welt       deutsch: „Subsidiär Schutzberechtigte“) ist der zu-
    Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und solidari-       nächst ausgesetzte Rechtsanspruch auf Familien-
    sches Handeln tatsächlich durchzusetzen, Kriegen,       zusammenführung nun abgeschafft und zu einer
    Armut und Elend Einhalt zu gebieten und Schutz-         bloßen Ermessensentscheidung herabgestuft.
    bedürftige wirksam zu schützen.                         Die abwehrende Haltung spiegelt sich auch im
    Die Abschottungspolitik der Europäischen Union,         Koalitionsvertrag der von SPD und CDU getrage-
    immerhin Friedensnobelpreisträgerin, zeigt sich         nen Bundesregierung wieder. Unter dem neuen
    auch in der beispiellosen Kriminalisierung der          Innenminister Seehofer werden Flüchtlinge dele-
    zivilen Seenotrettung. Dahinter verblasst, dass der     gitimiert und zum neuen Feindbild erklärt. Eine
    Einsatz der NGOs überhaupt erst nötig geworden          neue „Abschiebungsoffensive“ soll die „Willkom-
    ist, weil die EU ihrer Verpflichtung nicht nach-        menskultur“ von einst ablösen. CDU, CSU und SPD
    kommt und die Abschreckung von Flüchtlingen             haben sich auf die flächendeckende Einführung
    für wichtiger hält als die Rettung von Menschen,        von AnkER-Lagern nach bayerischem Vorbild
    die aus Verzweifelung in untauglichen Booten            verständigt, in denen alle Schutzsuchenden nach

Seite 6
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.                                                                 Politischer Rückblick

  Möglichkeit für die gesamte Dauer des Asylver-         mehr auf, und ambitionierte neue Projekte sucht
  fahrens isoliert werden sollen. Arbeit, Sprachkur-     man in der Koalitionsvereinbarung von SPD und
  se, Bildung, Schule sind in solchen Einrichtungen      CDU vergeblich. Die Landesregierung hält sich
  nicht vorgesehen. Wer aus angeblich „sicheren          vielmehr zurück und versucht, Konflikten auszu-
  Herkunftsländern“ kommt – die Liste soll stark         weichen.
  ausgeweitet werden –, soll gar nicht mehr in die
                                                         In Zeiten wie diesen ist das allerdings nicht ge-
  Kommunen verteilt werden und auf keinen Fall am
                                                         nug. Nötig wäre eine klare Haltung, um sich dem
  gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen, son-
                                                         Rechtstrend entgegenzustemmen.
  dern direkt aus diesen Lagern abgeschoben wer-
  den. Im Ergebnis werden wir es absehbar mit mehr
  Flüchtlingen zu tun bekommen, die ausgegrenzt
                                                         Fazit
  und zermürbt über lange Zeiträume in Sammella-
  gern ihr Leben fristen werden.                         Unsere Aufgabe als Flüchtlingsrat wird es sein,
                                                         dem Gegenwind Stand zu halten und auf allen
                                                         Ebenen für eine menschenrechtsbasierte, progres-
  Niedersächsische Politik                               sive Flüchtlings- und Integrationspolitik zu strei-
                                                         ten. Wir müssen uns der zunehmend restriktiven
  Niedersachsen geht den Weg einer zunehmend re-
                                                         Flüchtlingspolitik entgegenstellen und entschie-
  striktiven Flüchtlingspolitik bislang nur beschränkt
                                                         den widersprechen, wenn Regierungen und Partei-
  mit. Rhetorisch orientiert sich die Koalitionsver-
                                                         en versuchen, mit der Übernahme (rechts-)popu-
  einbarung der neuen Landesregierung vom 16.
                                                         listischer Thesen und Positionen Wähler_innen
  November 2017 – entsprechend dem Zeitgeist –
                                                         zurückzugewinnen. Dazu brauchen wir zunächst
  an den bundespolitischen Vorgaben: Mehr Polizei,
                                                         einmal eine offene Diskussion über die Ursachen
  mehr Kontrollen, mehr Abschiebung. Das bleibt
                                                         und Gründe für den relativen Erfolg der rechtsra-
  auch in der Praxis nicht ohne Konsequenzen: Wir
                                                         dikalen Hasskampagnen. Es ist nach wie vor nur
  stellen fest, dass auch in Niedersachsen wieder
                                                         eine Minderheit, die derzeit die gesellschaftlichen
  Abschiebungen stattfinden, die aus menschen-
                                                         Debatten prägt und die etablierten Parteien vor
  rechtlicher Sicht inakzeptabel sind und uns zwei-
                                                         sich hertreibt. Wir, die wir uns für Solidarität mit
  feln lassen, ob die Orientierung der Landespolitik
                                                         Geflüchteten stark machen, sind weit stärker, als
  an humanitären Grundsätzen noch Gültigkeit
                                                         die veröffentlichte Meinung uns derzeit glauben
  besitzt (Inkaufnahme von Familientrennungen,
                                                         machen will. Ziel unserer strategischen Bemü-
  unangekündigtes Eindringen in Wohnungen zur
                                                         hungen muss es sein, die politische Hegemonie
  Nachtzeit, Abschiebung auch schwerkranker
                                                         zurückzugewinnen, die wir 2015 innehatten, und
  Patient_innen). Von dem vielbeschworenen „Para-
                                                         die offene, solidarische Gesellschaft als ein attrak-
  digmenwechsel in der Abschiebungspolitik“, wie
                                                         tives, lebenswertes Lebensmodell wieder in die
  ihn der alte und neue Innenminister Boris Pistorius
                                                         öffentliche Diskussion zu bringen. Eine gute Gele-
  2013 versprach, ist nicht mehr viel übrig geblie-
                                                         genheit für eine entsprechende Debatte bietet die
  ben. Auch einer Ausweitung der Liste der sicheren
                                                         Mitgliederversammlung des Flüchtlingsrats am 26.
  Herkunftsstaaten um die Maghreb-Staaten will
                                                         Mai in der „Warenannahme“ in Hannover.
  Niedersachsen zustimmen.
                                                         Wir freuen uns auf Euch!
  An Sammelabschiebungen nach Afghanistan hat
  sich Niedersachsen aber bislang noch nicht be-
  teiligt. Aus der Landespolitik ist zu hören, dass
  AnkER-Einrichtungen in Niedersachsen nicht
  notwendig seien, und dass die Landesregierung an
  einer Politik der Teilhabe und frühzeitigen Integ-
  ration von Geflüchteten, soweit gesetzlich (noch)      Claire Deery (Vorstandsvorsitzende)
                                                         Rechtsanwältin
  möglich, festhalten wolle. Gerade im Bereich der       Tel. 05 51 / 4 26 10 | E-Mail: cd(at)nds-fluerat.org
  Integrationsangebote gibt es bislang keine Kehrt-
  wende: So werden z.B. die aus Mitteln der Erwach-      Sigrid Ebritsch
                                                         Diplom Pädagogin
  senenbildung finanzierten Sprachkurse weiterhin        Tel: 05 11 /83 64 15 | E-Mail: sigrid(at)ebritsch.com
  aufrecht erhalten, und auch die Beratung von
  Geflüchteten erfolgt in Niedersachsen im Rahmen        Anke Egblomassé
                                                         Diplom Soziologin
  der kooperativen Migrationsarbeit auf hohem            E-Mail: ae(at)nds-fluerat.org
  Niveau. Auch das Sprach- und Integrationsprojekt
  SPRINT soll weitergeführt, die Sprachförderung         Dündar Kelloglu
                                                         Rechtsanwalt
  und Integration an berufsbildenden Schulen ge-
                                                         Tel.: 05 11 / 1 39 34 | E-mail: kelloglu-rauls(at)t-online.de
  stärkt werden.
                                                         Thomas Heek
  Doch als Stimme für eine weltoffene, menschen-         Caritasstelle Friedland
  freundliche Gesellschaft fällt Niedersachsen nicht     Tel.: 05504 / 8561 | E-mail: th(at)nds-fluerat.org

                                                                                                                  Seite 7
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Veranstaltungen                                                                  Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.

                                                                                   Podiumsdiskussion mit
                                                                                   Innenminister Boris Pisto-
                                                                                   rius auf der Mitgliederver-
                                                                                   sammlung 2017

    2. Veranstaltungen
    Über 30 Veranstaltungen hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. im Berichtszeitraum durchgeführt,
    von denen wir nachfolgend einige exemplarisch darstellen wollen.

    2.1. Treffen niedersächsischer Flüchtlingsinitiativen
    Im Jahr 2017 hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen      lingsinitiativen hat am 18. November 2017 rund
    drei Treffen der niedersächsischen Flüchtlingsiniti-   70 Interessierte in Hannover zusammengebracht.
    ativen organisiert, eines davon in Oldenburg, zwei     Bei diesem Treffen war das Thema Familiennach-
    in Hannover. Bei diesen Treffen handelt es sich        zug Schwerpunkt.
    um offene Veranstaltungen für alle Menschen, die
                                                           Im Nachgang des Treffens richteten 54 nieder-
    Geflüchtete unterstützen, mit ihnen arbeiten oder
                                                           sächsische Initiativen, Gruppen und Vereine Mitte
    dies zukünftig tun wollen. Im Vordergrund stehen
                                                           Januar 2018 anlässlich des Abschlusses der Son-
    dabei immer der Wissensaustausch und die Ver-
                                                           dierungsgespräche von CDU/CSU und SPD auf
    netzung.
                                                           Bundesebene einen öffentlichen Appell an die
    Das Initiativentreffen am 06. Mai 2017 in Hanno-       verantwortlichen Politiker_innen und die Bundes-
    ver, das gemeinsam mit der Refugee Law Clinic          regierung für das Menschenrecht auf Familienzu-
    veranstaltet wurde, widmete sich der Frage „Wie        sammenführung. (Siehe auch Kapitel 3.8)
    umgehen mit Rassismus?“. Ausgangspunkt des
    Treffens war die Tatsache, dass Geflüchtete und
    ihre Unterstützer_innen täglich mit rassistischen
    Ressentiments und rechtspopulistischen Argumen-
    tations- und Agitationsstrategien konfrontiert sind
    und es daher ungemein wichtig ist, sprach- und
    handlungsfähig zu bleiben.
    Ein weiteres Initiativentreffen wurde am 26. Au-
    gust 2017 in Oldenburg durchgeführt. Koopera-
    tionspartner war dieses Mal IBIS - Interkulturelle
    Arbeitsstelle e.V. Thematisch standen im Mittel-
                                                                                                  Initiati-
    punkt des Treffens die Situation unbegleiteter
                                                                                                  ventreffen
    minderjähriger Flüchtlinge, die rechtlichen Rah-                                              nieder-
    menbedingungen von Aufnahme und Unterstüt-                                                    sächsischer
    zung sowie der Übergang in die Volljährigkeit und                                             Flüchtlingsi-
    aus der Jugendhilfe.                                                                          nitiativen
    Das dritte Treffen der niedersächsischen Flücht-

Seite 8
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.                                                               Veranstaltungen

  2.2 Ausgewählte Veranstaltungen
  Podiumsdiskussion mit Innenminister Boris               Breiten Raum nahm die Debatte um den Umgang
  Pistorius auf der Mitgliederversammlung                 mit Härtefällen ein: Der Innenminister wurde für
  2017                                                    seine Entscheidung kritisiert, in einigen Fällen dem
                                                          Votum der Härtefallkommission nicht zu folgen.
  Im Rahmen der Mitgliederversammlung 2017 des            Für heftige Diskussionen sorgte auch die Weige-
  Flüchtlingsrats Niedersachsen e.V. gab es eine in-      rung des Innenministers, einen Abschiebestopp für
  tensive Diskussion mit Innenminister Boris Pistori-     Flüchtlinge aus Afghanistan zu verhängen.
  us über vier Jahre rot-grüne Flüchtlingspolitik.
                                                          Podiumsdiskussion zur Bundes- und
  Die Vorsitzende des Flüchtlingsrats, Claire Deery,      Landtagswahl 2017: „Sind Flüchtlinge in
  zog in der Diskussion mit Innenminister Pistorius
                                                          Deutschland noch willkommen?“
  eine gemischte Bilanz: Rot-Grün habe zu Beginn
  der Legislaturperiode eine Menge Ballast aus            Anlässlich der anstehenden Bundestagswahl und
  dem Weg geräumt und einige wichtige Reformen            der vorgezogenen Landtagswahl lud der Flücht-
  durchgesetzt. Beispielsweise wurde die Gutschein-       lingsrat Niedersachsen e.V. Vertreter_innen der
  praxis beendet, die Residenzpflicht aufgehoben          Parteien und von PRO ASYL am 11. September
  und der Härtefallkommission wesentlich mehr             2017 zu einem Podiumsgespräch unter der Über-
  Entscheidungsspielraum eingeräumt. Auch bei             schrift „Sind Flüchtlinge in Deutschland noch
  der Umsetzung eines Bleiberechts für Flüchtlin-         willkommen?“ Vor dem Hintergrund der seit 2015
  ge mit Ausbildungsplatz habe Niedersachsen die          deutlich veränderten öffentlichen Debatte um das
  Spielräume für eine liberale Gestaltung genutzt.        Thema „Solidarität mit Geflüchteten“ wollten wir
  Vor dem Hintergrund der Erfolge der Rechtspopu-         von Politiker_innen der im Landtag vertretenen
  list_innen habe sich aber auch in Niedersachsen         Parteien wissen, welche Flüchtlingspolitik zukünf-
  die Tonlage geändert. Niedersachsen gerate im-          tig zu erwarten ist, wenn ihre Partei die Wahl
  mer mehr in den Sog einer Bundespolitik, die das        gewinnt.
  Flüchtlingsrecht drastisch verschärft hat und eine
                                                          Auf der gut besuchten Veranstaltung, die von den
  härtere Gangart bei Abschiebungen fordert. Mitt-
                                                          Vorstandsmitgliedern Claire Deery und Dündar
  lerweile komme es auch in Niedersachsen wieder
                                                          Kelloglu geleitet wurde, stand zunächst die Außen-
  vermehrt zu skandalösen Abschiebungen, auch
                                                          politik der Europäischen Union und die Politik der
  unter Inkaufnahme von Familientrennungen.
                                                          Bundesregierung im Fokus. Staatssekretär Manke
                                                          verteidigte die Forderung von Pistorius, „Anlauf-
                                                          stellen in Afrika“ für Flüchtlinge unter der Kontrol-
                                                          le des UNHCR einzurichten. Vor dem Hintergrund
                                                          der vielen Toten im Mittelmeer sei es an der Zeit,
                                       Podiumsdis-        darüber nachzudenken, wie eine Aufnahme von
                                       kussion mit        Verfolgten auch in Europa anders organisiert
                                       Innenminister      werden könnte. Die aktuelle Situation sei geprägt
                                       Boris Pistorius    davon, dass windige Schlepperorganisationen die
                                       auf der Mitglie-   Flüchtlinge auf seeuntüchtigen Nussschalen ein
                                       derversamm-        paar Seemeilen in internationale Gewässer bräch-
                                       lung 2017
                                                          ten, wo sie dann von Seenotrettungsorganisati-
                                                          onen aus dem Wasser gefischt würden, wenn sie
  Innenminister Pistorius verteidigte den härteren        nicht vorher ertränken. Andrea Kothen von PRO
  Kurs in der Flüchtlingspolitik mit den 2015 und         ASYL konterte mit dem Hinweis, dass es an Anlauf-
  2016 immens gestiegenen Flüchtlingszahlen.              stellen auch des UNHCR in Afrika nicht mangele:
  Da mehr Menschen nach Deutschland gekom-                Rund 270.000 vom UNHCR als Flüchtlinge klas-
  men seien, die längst nicht alle als Flüchtlinge        sifizierte Menschen warteten allein in Ostafrika
  anerkannt werden, sei es zwangsläufig auch zu           bislang vergeblich auf ein Resettlement-Angebot.
  höheren Abschiebezahlen gekommen, auch aus              Es gebe keinen Mangel an Anlaufstellen, sondern
  Niedersachsen. „Abschiebungen sind die Kehrsei-         eine mangelhaft ausgeprägte Bereitschaft der
  te eines Systems, das auf Asyl baut und nicht auf       europäischen Staaten einschließlich Deutschlands,
  Einwanderung“, sagte Pistorius. Im Übrigen habe         Schutz zu gewähren. Das Relocationprogramm,
  die niedersächsische Landesregierung durch ihr          das die Übernahme von Geflüchteten aus Italien
  unaufgeregtes und pragmatisches, an der Lösung          und Griechenland in andere europäische Staaten
  der praktischen Probleme orientiertes Handeln           vorsehe, sei nicht einmal zu 20% umgesetzt wor-
  dazu beigetragen, die Rechtspopulist_innen in           den. Die Aufnahme von Kontingenten könne ein
  Niedersachsen klein zu halten. Statt über Abschie-      zusätzlicher Weg sein, aber niemals eine Alternati-
  bungen solle doch besser über die Integration und       ve zum individuellen Asylrecht.
  Teilhabe der Flüchtlinge diskutiert werden.

                                                                                                          Seite 9
Einblicke in Menschenrechtsarbeit - Unser Tätigkeitsbericht 2017 - Flüchtlingsrat ...
Veranstaltungen                                                                    Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.

     Von links nach rechts: Jan-Christoph Oetjen, FDP; Filiz Polat, Grüne; Editha Lorberg, CDU; Stephan Manke,
     SPD; Pia Zimmermann, Linke; Andrea Kothen, PRO ASYL

    Filiz Polat von den Grünen forderte daher legale                                             „Sind Flüchtlin-
    Zugangswege für Flüchtlinge und die Einführung                                               ge in Deutsch-
    humanitärer Visa. Pia Zimmermann von der Links-                                              land noch
    partei trat für uneingeschränkte Solidarität und                                             willkommen?“
    offene Wege für Flüchtlinge ein.                                                             Podium zur
                                                                                                 Bundes- und
    In der zweiten Runde wurden innenpolitische                                                  Landtagswahl
    Themen behandelt: Staatssekretär Manke ver-                                                  2017
    sprach, die Frage eines neuen Landesaufnahme-
    programms für Familienangehörige von bei uns
    lebenden Geflüchteten nach der Wahl erneut zu
    prüfen. Lorberg sicherte auf Nachfrage zu, dass
    die CDU im Falle einer Übernahme der Regie-
    rungsverantwortung die Härtefallkommission
    nicht antasten werde. Oetjen, Polat und Zimmer-
    mann kritisierten die von der Landesregierung ver-
    hängte Zuzugssperre für Salzgitter, Delmenhorst
    und Wilhelmshaven scharf. Lorberg verteidigte
    unter Verweis auf die Stimmung in der Bevölke-
    rung die Absicht des Bundesinnenministers, den
    Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem
    Schutz auch über den 16. März 2018 hinaus weiter
    auszusetzen. Dies kommentierte Kothen mit dem
    Hinweis, dass die Gewährung und Umsetzung
    elementarer Grundrechte in Deutschland sich aus
    der deutschen Verfassung und dem internationa-
    len Völkerrecht ergebe und nicht mit Verweis auf
    die Stimmung der einheimischen Bevölkerung zur
    Disposition gestellt werden dürfe.
    Die finale Diskussion mit dem Publikum drehte
    sich vor allem um den Umgang mit Flüchtlingen im
    Mittelmeer. Vertreter_innen verschiedener Initia-
    tiven verwiesen darauf, dass infolge der von der
    europäischen Union zu verantwortenden Abriege-
    lung der Küste durch italienisches Militär und die
    mit EU-Geldern finanzierte libysche Küstenwache
    immer weniger Flüchtlinge es schafften, italieni-
    schen Boden zu erreichen.

Seite 10
Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.                                                             Veranstaltungen

                                                                      Veranstaltungsreihe informiert
                                                                      über die Lage der Menschenrech-
                                                                      te in Afghanistan
                                                                      Bild: © Friederike Stahlmann

  Veranstaltungsreihe informiert über die                lichen Abschiebungsstopp in Niedersachsen. Im
  Lage der Menschenrechte in Afghanistan                 Jahr 2016 wurden zwei strafrechtlich verurteilte
                                                         Personen aus Niedersachsen nach Afghanistan
  Anfang Dezember informierten sich rund 250             abgeschoben (sh. Landtagsdrucksache 17/7350,
  Interessierte im Rahmen einer Veranstaltungsrei-       Seite 75). Der Flüchtlingsrat Niedersachsen hält
  he des Flüchtlingsrats Niedersachsen „Herkunfts-       Abschiebungen nach Afghanistan vor dem Hin-
  land Afghanistan. Fluchtursachen, die Lage der         tergrund der verheerenden Sicherheits- und Men-
  Menschenrechte und die Situation afghanischer          schenrechtslage für nicht vertretbar.
  Geflüchteter in Deutschland“ in Zusammenarbeit
  mit lokalen Kooperationspartner_innen in Göttin-
  gen, Hannover, Celle und Lüneburg über die Lage
  der Menschenrechte und die aktuelle Sicherheits-
  lage in Afghanistan. Friederike Stahlmann vom
  Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
  Halle (Saale), Afghanistan-Expertin und Gutachte-
  rin für britische und deutsche Gerichte in Asylver-
  fahren, beschrieb eindrücklich die Lage im Land.
  Abgeschlossen wurde die Veranstaltungsreihe zu
  Afghanistan mit der Filmvorführung „True War-
  riors“ von Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas
  Schenck im Kino im Sprengel in Hannover. Der
  beeindruckende und bewegende Film beschreibt,
  wie eine Theatergruppe in Kabul einen Anschlag
  während der Premiere ihres Stückes im Institut
  Francais Afghanistan verarbeitet und sich dem
  Terror der Taliban widersetzt. Die beiden Filmema-
  cher_innen sowie die Flüchtlingsberaterin Shakila
  Nawazy, die Anfang September Kabul besuchte,
  standen im Anschluss an den Film zu Gesprächen
  mit dem Publikum zur Verfügung.
  Die Veranstaltungsreihe traf auf insgesamt gro-
  ßes Interesse und sollte vor dem Hintergrund der
  im Oktober 2016 aufgenommenen monatlichen
  Sammelabschiebungen nach Afghanistan den
  Interessierten Informationen über die tatsächliche
  Lage bei einer möglichen Rückkehr in das Land
  liefern. Zwar hat sich Niedersachsen bisher nicht
  an den Sammelabschiebungen nach Afghanistan
  beteiligt, allerdings gibt es bis heute keinen förm-

                                                                                                        Seite 11
Veranstaltungen                                                                  Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.

    Vom Ankommen zur Teilhabe. Erfolgreicher              brück. Er verortete in seinem Einstiegsvortrag Fra-
    Fachtag von Flüchtlingsrat und Kommuna-               gen von Flucht und Aufnahme, Migration und In-
    len Spitzenverbänden                                  tegration in historischer Perspektive. Im Anschluss
                                                          stellten Vertreter_innen
    Am 31. Januar 2018 fand im Neuen Rathaus Han-         niedersächsischer Kommu-
    nover der Fachtag „Vom Ankommen zur Teilhabe          nen zu vier Themenfeldern
    – Flüchtlingspolitik als Aufgabe und Herausforde-     Maßnahmen und Initiati-
    rung niedersächsischer Kommunen“ statt. Organi-       ven aus der lokalen Praxis
    siert wurde die Veranstaltung vom Flüchtlingsrat      vor. Danach sprach Dr.
    Niedersachsen e.V. und der Arbeitsgemeinschaft        Hans-Joachim Heuer, Leiter
    der Kommunalen Spitzenverbände Niedersach-            der Abteilung für Migration
    sens in Kooperation mit der Landeshauptstadt          und Generationen im Nds.
    Hannover. Die Veranstaltung fand im Rahmen des        Ministerium für Soziales,
    Netzwerkprojekts AMBA (Aufnahmemanagement             Gesundheit und Gleich-
    und Beratung für Asylsuchende in Niedersachsen)       stellung und bot einen
    statt.                                                Ausblick auf die zukünf-
                                                          tige Sozialpolitik der neu
                                                          konstituierten Großen Koalition in Niedersachsen.
                                                          Laura Müller vom Flüchtlingsrat erläuterte im Rah-
                                                          men ihrer Vorstellung der Broschüre „Zufluchtsort
                                                          Kommune. Gelingende Aufnahme von Geflüchte-
                                                          ten in Niedersachsen“ die zentralen Leitlinien und
                                                          Anforderungen an eine nachhaltige kommunale
                                                          Aufnahmepolitik.
                                                          Abgerundet wurde der Fachtag mit einer Diskussi-
                                                          on zu Perspektiven der niedersächsischen Integra-
                                                          tionspolitik 2018 – 2022. Einigkeit bestand in der
                                                          Einschätzung, dass die Kommunen in den vergan-
    Über 150 Praktiker_innen aus den Spitzen der          genen fünf Jahren bemerkenswerte Fortschritte im
    kommunalen Verwaltungen der niedersächsischen         Bereich der Organisation der Flüchtlingsaufnahme
    Landkreise, Städte und Gemeinden tauschten sich       und der Ermöglichung von Teilhabe erzielt ha-
    mit Vertreter_innen von Ministerien, Landespolitik,   ben. Ziel und Zweck aller Maßnahmen sei es, den
    Wohlfahrtsverbänden und Flüchtlingsunterstüt-         Menschen so früh wie möglich ein eigenständiges
    zung über ihre bisherigen Erfahrungen bei der         Leben zu ermöglichen und sie in das alltägliche
    Aufnahme und Teilhabe von Geflüchteten aus und        Leben einzubeziehen. Eine Politik des Ausschlusses
    diskutierten erfolgreiche Konzepte, Praktiken und     und der Verweigerung von Integrationsangeboten
    Maßnahmen aus der Praxis niedersächsischer            wie in den 1980er und 1990er Jahren dürfe sich
    Kommunen.                                             nicht wiederholen.
    Die gemeinsame Veranstaltung von Flüchtlingsrat
    und Kommunalen Spitzenverbänden stellte eine
    Premiere dar, wie es sie in dieser Form auch bun-
    desweit noch nicht gegeben hat. In Anerkennung
    der Leistungen, die viele Kommunen im Bereich
    der Entwicklung und Umsetzung von Aufnahme-
    konzepten und Angeboten zur Teilhabe in den
    letzten fünf Jahren erbracht haben, hat der Flücht-
    lingsrat seine „klassische“ Rolle als Mahner und
    Kritiker schlechter Aufnahmeeinrichtungen und
    fragwürdiger Abschiebungsvollzüge hier einmal
    verlassen und mit dieser Tagung einen Raum für
    die Präsentation beispielhafter Praxisansätze
    eröffnet.
    Schlaglichtartig wurden erfolgreiche Projekte und
    Modelle vorgestellt, die anderen Kommunen Anre-
    gungen für die eigene Flüchtlings- und Integrati-
    onspolitik geben können.
    Gastreferent auf der Tagung war Professor Chris-
    toph Rass vom Institut für Migrationsforschung
    und Interkulturelle Studien der Universität Osna-

Seite 12
Berichte aus der Praxis                                                         Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.

    3. Berichte aus der
    Praxis
    3.1 Aufnahme in Niedersachsen – Zwischen Teilhabe und Ausgrenzung: Ein
    Zwischenbericht
    Die Mehrzahl der Kommunen in Niedersachsen            fehlende Privatsphäre, Fremdbestimmung, Lärm
    begreift die Aufnahme und Integration von Flücht-     und Unruhe sowie Langeweile und erzwungene
    lingen auf kommunaler Ebene inzwischen als eine       Untätigkeit bei Fremdversorgung. Je nach Lage,
    zu bewältigende Aufgabe und organisiert nicht         Größe, Gestaltung der Innenräume und Betreiber-
    nur Projekte und Maßnahmen für die Zielgruppe,        firma werden die Bewohner_innen dieser Lager
    sondern bemüht sich auch um deren Einbezie-           darüber hinaus mehr oder weniger gesellschaftlich
    hung in die Angebote der Regeldienste. Noch           isoliert, zuweilen sind Gemeinschaftsunterkünfte
    immer werden aus Sicht des Flüchtlingsrats aber       durch Zäune abgegrenzt und werden durch Si-
    zu viele Geflüchtete zu lange in Gemeinschaftsun-     cherheitsdienste bewacht. Die oftmals markan-
    terkünften untergebracht. Auch in den Bereichen       te Trennung zwischen den Bewohner_innen der
    Qualitätssicherung und Beschwerdemanagement           Unterkünfte und der Nachbarschaft führt dazu,
    erscheinen die Fortschritte bislang überschaubar.     dass Geflüchtete dauerhaft als „Fremde“ stigmati-
    Für kritisch halten wir es auch, dass die Landes-     siert werden. Die Bewohner_innen der Unterkünfte
    regierung, begleitet von bedenklichen Debatten,       fühlen sich ausgegrenzt und sind zudem abhängig
    Zuzugssperren für drei niedersächsische Kommu-        von Betreuer_innen und Wachpersonal, das – viel-
    nen verfügt, also weitere Restriktionen für Schutz-   fach unkontrolliert – über weitreichende Befugnis-
    suchende eingeführt hat.                              se verfügt und eine direkte wie indirekte soziale
                                                          Kontrolle ausübt. Diese schwierigen Lebensbe-
    Gemeinschaftsunterkünfte                              dingungen, die Ausgrenzung, die strukturellen
    Leider bestehen in vielen niedersächsischen Kom-      Gegebenheiten des Asylsystems und der Verlust
    munen noch immer sogenannte „Gemeinschafts-           an Autonomie fördern Konflikte und Spannungen
    unterkünfte“, deren Beschaffenheit stark variiert.    in den Unterkünften. Trotz Wachdiensten in den
    Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass das un-     Unterkünften kann die Sicherheit der Bewohner_
    freiwillige Zusammenleben von Menschen, die sich      innen, insbesondere von Frauen und Kindern, in
    nicht kennen und von denen nicht wenige unter         Gemeinschaftsunterkünften oftmals nicht hinrei-
    Traumatisierungen leiden, auf beengtem Raum           chend gewährleistet werden.
    und für eine unbestimmte Dauer für viele eine
                                                          Solange Gemeinschaftsunterkünfte aufgrund des
    psychosoziale Belastung darstellt. Hinzu kommen

Seite 13
Berichte aus der Praxis                                                           Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.

    schwierigen Wohnungsmarkts noch unumgänglich           Beschwerden der Bevölkerung ausgelegt, nicht
    sind, kann eine gelingende kommunale Planung           aber auf die spezifischen Frage- und Problem-
    dazu beitragen, einige dieser Beeinträchtigungen       stellungen im Bereich von Aufnahme, Unterbrin-
    abzumildern, Lebensbedingungen zu verbessern           gung, Orientierung, Beratung und Versorgung von
    und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.         Geflüchteten. Hinzu kommt, dass sich Geflüchtete
    Da in Niedersachsen im Gegensatz zu mehreren           aus vielerlei Gründen oftmals davor scheuen, auf
    anderen Bundesländern keine landesweit verbind-        die üblichen kommunalen Meldestellen zurück-
    lichen Standards für Gemeinschaftsunterkünfte          zugreifen: Viele haben schlechte Erfahrungen
    existieren, unterscheiden sich die Bedingungen,        mit staatlichen Stellen in ihren Heimatländern
    unter denen Geflüchtete in solchen Einrichtungen       gemacht und befürchten negative Auswirkungen
    leben, von Ort zu Ort. Bis solche einheitlichen und    auf ihr Asylverfahren und ihren Aufenthaltsstatus,
    verbindlichen Vorgaben bundesweit oder zumin-          auf Sozialleistungen oder auf die Form der Unter-
    dest auf Landesebene eingeführt sind, ist es nicht     bringung, wenn sie sich beschweren. Zudem sind
    zuletzt menschenrechtlich geboten, diese auf kom-      solche Stellen zumeist nicht bekannt und aufgrund
    munaler Ebene zu entwickeln und umzusetzen.            fehlender Verknüpfung mit Sprachmittler_innen
    Solche Standards dürfen sich nicht nur auf bau-        nicht zugänglich. Gerade für Flüchtlinge muss es
    rechtliche Vorgaben und Regelungen zum Brand-          folglich niedrigschwellige Anlaufstellen geben, die
    und Infektionsschutz beziehen, sondern müssen          ohne Hürden jederzeit aufgesucht werden kön-
    ein Mindestmaß an Sicherheit und Wohnqualität          nen, damit sie Schwierigkeiten oder Missstände in
    garantieren.                                           Unterkünften ansprechen, auf Konflikte beispiels-
                                                           weise auch mit Sozialarbeiter_innen oder Wach-
    Qualitätssicherung und Beschwerdema-                   personal hinweisen oder Gewaltvorfälle melden
    nagement                                               können.
    Im Bereich der Qualitätssicherung und des Be-          Dabei ist darauf zu achten, dass die Beschwer-
    schwerdemanagements sind niedersachsenweit             destelle allen Geflüchteten bekannt ist und kei-
    auch 2017 keine klaren Verfahren und Standards         ne Barrieren (Sprache, Anfahrt, Kosten) bei der
    eingeführt worden. In den Kommunen wird die            Kontaktaufnahme bestehen. Betroffene müssen
    Qualitätskontrolle unterschiedlich gehandhabt;         außerdem die Sicherheit haben, dass ihnen eine
    niedrigschwellige Ombudsstellen wurden nirgend-        Beschwerde nicht zum Nachteil ausgelegt wird.
    wo geschaffen.                                         Neben Geflüchteten muss eine solche Stelle auch
    Notwendig wären solche Standards, Maßnahmen            Sozialarbeiter_innen und freiwilligen Unterstüt-
    und Anlaufstellen nicht zuletzt deshalb, weil Inte-    zer_innen offen stehen.
    gration und Teilhabe von Geflüchteten entschei-        Um erfolgreich zu sein, müssen Beschwerde- oder
    dend von der sozialen Praxis vor Ort geprägt sind.     Ombudsstellen daher neutral und weisungsunab-
    Dass im Falle von Gemeinschaftsunterkünften die        hängig sein. Sie sollten nicht mit dem Träger von
    kommunalen Vorgaben tatsächlich eingehalten            Einrichtungen verbunden und auch nicht Teil der
    werden, lässt sich nur durch eine regelmäßige          kommunalen Verwaltungsstrukturen, jedoch mit
    Kontrolle der Betreiberfirmen, der Sicherheits-        allen relevanten Institutionen vernetzt sein. Nur
    dienste und sonstiger Dienstleister_innen gewähr-      dann werden sie als unabhängige Instanz wahr-
    leisten. Wichtige Aspekte, die im Rahmen von           genommen, sind aber dennoch in der Lage, Sach-
    Kontrollen zu prüfen wären, betreffen die Aus-         verhalte aufzuklären, auf Missstände hinzuweisen
    stattung, die angemessene soziale Betreuung, die       und Problemlösungen aufzuzeigen.
    Wahrung der Rechte der Bewohner_innen und die
    Gewährleistung der Teilhabe. Kontrollen können         Wohnsitzauflagen und Zuzugssperren
    dazu beitragen, etwaige Missstände und Fehlent-        Seit Inkrafttreten des Integrationsgesetzes im
    wicklungen bei der Unterbringung und Betreuung         August 2016 sind neu anerkannte Flüchtlinge
    aufzudecken, Lösungen zu erarbeiten und kon-           verpflichtet, für drei Jahre ihren Wohnsitz in jenem
    krete Verbesserungen zu erzielen. Eine besondere       Bundesland zu nehmen, dem sie während des
    Aufgabe ist es dabei, strukturelle Risikofaktoren zu   Asylverfahrens zugewiesen worden sind. Während
    erkennen und entsprechend auf sie zu reagieren.        einige Bundesländer darüber hinausgehende Res-
    Darüber hinaus sind unabhängige, niedrigschwelli-      triktionen eingeführt haben, konnten anerkannte
    ge Ombuds- oder Beschwerdestellen ein zentrales        Flüchtlinge, die Niedersachsen zugewiesen worden
    Element, um die Rechte von Geflüchteten zu wah-        waren, hier ihren Wohnsitz frei wählen. Angesichts
    ren. Denn grund- und menschenrechtliche Stan-          des vorgezogenen Landtagswahlkampfs ver-
    dards können nur dann gesichert werden, wenn           schärfte sich im Laufe des Jahres 2017 aber auch
    bestehende Rechte auch durchsetzbar sind und           in Niedersachsen der Ton.
    deren (mögliche) Einschränkung oder Missachtung        Wenige Tage vor der Landtagswahl setzte das nie-
    gemeldet werden kann. Hierfür reichen die be-          dersächsische Ministerium für Inneres und Sport
    stehenden kommunalen Meldestellen bei weitem           (MI) am 09. Oktober 2017 mit einem Runderlass
    nicht aus. Diese sind auf allgemeine Anfragen und
Seite 14
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.                                                    Berichte aus der Praxis

  eine Zuzugssperre für Salzgitter um. Der Erlass gilt   3.2 Keine Beschulung von Kindern
  für Personen, die dem Anwendungsbereich des
  § 12a Abs. 1 AufenthG unterliegen und die nach         und Jugendlichen in Erstaufnahme-
  Inkrafttreten des Erlasses als Flüchtling in Nieder-   einrichtungen
  sachsen anerkannt werden bzw. eine der in § 12a
                                                         Ankunftszentren und Erstaufnahmeeinrichtungen
  Abs. 1 AufenthG genannten Aufenthaltserlaub-
                                                         (EAE) sind eigentlich für einen vorübergehen-
  nisse erhalten. Diese Personengruppe darf, von
                                                         den Aufenthalt vor der kommunalen Verteilung
  Härtefällen abgesehen, nicht mehr nach Salzgitter
                                                         vorgesehen. Der Gesetzgeber hat jedoch in den
  umziehen. Mit einem weiteren Runderlass hat das
                                                         vergangenen zwei Jahren Maßnahmen ergriffen,
  MI am 14. November 2017 Zuzugssperren auch für
                                                         um Flüchtlinge längerfristig in Landesaufnahme-
  Delmenhorst und Wilhelmshaven umgesetzt.
                                                         einrichtungen unterzubringen: Seit dem 24. Ok-
  Die Grundlage solcher Entscheidungen ist die           tober 2015 gilt das so genannte „Asylverfahrens-
  Annahme, dass allein die Anwesenheit von „zu vie-      beschleunigungsgesetz“, mit dem die maximale
  len“ Flüchtlingen an einem Ort problematisch sei       Aufenthaltsdauer in Erstaufnahmeeinrichtungen
  und eine „Belastung“ für die Kommune darstelle.        für alle Asylsuchenden auf bis zu sechs Mona-
  In einer solchen Lesart werden alle Schutzsuchen-      te ausgedehnt wurde. Darüber hinaus sieht das
  den zu einer homogenen Gruppe „Flüchtlinge“            Gesetz vor, dass Flüchtlinge aus den sogenannten
  zusammengefasst. Dabei wird ausgeblendet, dass         „sicheren Herkunftsstaaten“ gar nicht mehr auf
  es sich um höchst unterschiedliche Menschen han-       die Kommunen verteilt werden, was schon jetzt
  delt. Allein die Herkunft der Menschen reicht aus,     in Einzelfällen zu einem Aufenthalt von einem
  um sie pauschal als „Problemgruppe“ zu konstitu-       Jahr und mehr mehr in einer EAE führt. Das am
  ieren. Probleme der jeweiligen Stadt werden ver-       02. Juni 2017 vom Bundesrat gebilligte „Gesetz
  einfachend diesen Menschen zugeschrieben, die          zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“
  z.B. mit dem Vorwurf konfrontiert werden, „man-        ermöglicht ferner für weitere Gruppen (Flüchtlin-
  gelnde Integrationsbereitschaft“ zu zeigen. Struk-     ge mit ungeklärter Identität, Dublin-Fälle sowie
  turprobleme, wie sie sich in manchen Stadtteilen       Flüchtlinge mit einer „geringen Bleibeperspektive“)
  von Salzgitter, Delmenhorst oder Wilhelmshaven         eine unbefristete Unterbringung in Erstaufnahme-
  stellen, bestanden lange vor dem Zuzug Geflüch-        einrichtungen.
  teter, werden diesen jetzt aber zugeschrieben. Fra-
                                                         CDU und SPD haben in ihrer Koalitionsvereinba-
  gen des sozialen Wohnungsbaus, der Ausstattung
                                                         rung für den Bund nicht etwa einen schrittweisen
  mit Kindergärten und Schulen und andere kom-
                                                         Rückbau der Erstaufnahmeeinrichtungen, son-
  munale Herausforderungen eines Strukturwandels
                                                         dern einen Ausbau von Lagern beschlossen. In
  müssen gesamtgesellschaftlich gelöst werden.
                                                         sogenannten „AnKER-Zentren“ sollen Flüchtlinge
  Für die öffentliche Debatte ist dasVerknüpfen von
                                                         nach den Vorstellungen der Koalitionäre bis zu 24
  „Flüchtlingen“ mit „Problemen“ in Zeiten eines
                                                         Monate untergebracht werden. Flüchtlinge aus
  wachsenden Rechtspopulismus verheerend.
                                                         so genannten „sicheren Herkunftsländern“ sollen
  Selbstverständlich stehen Städte mit hohen Zu-         überhaupt nicht verteilt werden.
  zügen vor besonderen Herausforderungen. Maß-
                                                         Diese Regelungen sind besonders problematisch
  nahmen wie Wohnsitzauflagen und Zuzugssperren
                                                         für Kinder. Solange die Unterbringung in der Erst-
  sind aber nicht geeignet, um die damit verbunde-
                                                         aufnahme fortbesteht, würden sie in Niedersach-
  nen Ziele zu erreichen. Entscheidend ist vielmehr
                                                         sen, wo eine Schulpflicht erst mit der kommunalen
  eine an konkreten Bedarfen orientierte Sozialpo-
                                                         Verteilung begründet wird, nicht schulpflichtig
  litik, die Mittel dort bereitstellt, wo sie benötigt
                                                         werden (vgl. § 47 Abs. 1a AsylG).
  werden, statt Menschen Wege zu versperren.
  Tatsächlich sinnvoll sind daher die im Rahmen des      Dieser Daueraufenthalt führt ohne eine geregel-
  Soforthilfeprogramms der Landesregierung be-           te Form der Beschulung und Betreuung zu einer
  schlossenen zusätzlichen Finanzmittel für Städte       Gefährdung des Kindeswohls, das neben dem
  wie Salzgitter und Delmenhorst, die es zielgerich-     geistigen Wohl ebenso den Anspruch auf eine ge-
  tet einzusetzen gilt. Zuzugssperren sind dagegen       sunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
  reine Symbolpolitik: sie erlauben Politiker_innen,     umfasst, die auch durch die Beschulung gesteuert
  den Anschein zu erwecken, sie würden handeln.          wird. Ein geregelter Schulalltag mit ausreichenden
  Dies geschieht allerdings auf Kosten von Flücht-       altersangepassten Lerngelegenheiten dient der
  lingen, die ohnehin von Restriktionen und Aus-         kognitiven Entwicklung von Kindern und Jugendli-
  grenzung bedroht sind. Die Folge ist, dass etwa        chen.
  in Salzgitter zahlreiche Wohnungen leer stehen,        Eine kind- und jugendgerechte Betreuung und Be-
  während andernorts in Niedersachsen Flüchtlinge        schulung ist an den Standorten der Erstaufnahme-
  angesichts fehlenden Wohnraums weiterhin unter         einrichtungen in Niedersachsen nur unzureichend
  oft schwierigen Bedingungen in Großunterkünften        gegeben. Die Folge ist eine Desintegration durch
  verharren müssen.                                      Nicht-Beschulung, es entstehen in Deutschland

                                                                                                       Seite 15
Berichte aus der Praxis                                                                 Flüchtlingsrat Nidersachsen e.V.

           Presseinformation, 08. September 2017                                                Geschäftsstelle:
                                                                                                 Röpkestraße 12
           Plakatives    Wahlkampfmanöver     –   Zuzugssperre     für                          30173 Hannover
           Flüchtlinge ist integrationshemmend und diskriminierend
                                                                                                   Laura Müller
           Der Flüchtlingsrat Niedersachsen protestiert gegen die heutige                     lm@nds-fluerat.org
           Entscheidung der niedersächsischen Staatskanzlei, für Flüchtlinge eine
                                                                                                  Sascha Schießl
           Zuzugssperre nach Salzgitter zu verhängen und eine solche für                      sas@nds-fluerat.org
           Delmenhorst und Wilhelmshaven in Aussicht zu stellen.
                                                                                           Tel: 0511 – 85 64 54 59
           „Bei der Zuzugssperre handelt es sich um den bedenklichen Versuch, eine Fax: 0511 – 98 24 60 31
           Bevölkerungsgruppe anhand fragwürdiger, rassistischer Kategorien zu
           reglementieren,“ erläutert Laura Müller von Flüchtlingsrat. „Diese
           Zuzugssperre suggeriert, dass Flüchtlinge allein aufgrund ihrer Herkunft und ihres Status eine
           Belastung oder gar eine Gefahr für den sozialen Frieden seien.“ Eine solche Annahme weist der
           Flüchtlingsrat entschieden zurück. Die Vorstellung von anerkannten Flüchtlingen als homogener
           Gruppe, die es zu beschränken gilt, und das Denken in „Kulturkreisen“ ist nicht haltbar und
           widerspricht allen Erkenntnissen von Wohlfahrtsverbänden, Flüchtlingsräten und Wissenschaft.
           Mit dem heutigen Beschluss entfernt sich der Ministerpräsident von einer humanitären und
           maßvollen Flüchtlingspolitik.
           Der Flüchtlingsrat betont, dass Zuzugssperren oder Wohnsitzauflagen keine geeigneten Mittel
           sind, um die Integration und Teilhabe von Geflüchteten zu erleichtern. Zuzugssperren und
           Wohnsitzauflagen schränken nicht nur Freiheitsrechte in unverhältnismäßiger Weise ein und
           führen zu Frustration bei Geflüchteten, sondern bedeuten zugleich einen erheblichen
           Verwaltungsaufwand für die ausführenden und kontrollierenden Behörden.
           Integration und Teilhabe von Geflüchteten werden durch Maßnahmen wie diese gerade nicht
           gefördert, sondern deutlich erschwert. Flüchtlinge ziehen vermehrt nach Salzgitter und in
           andere Städte, weil sie dort eigenen Wohnraum finden, einen leichteren Zugang zum
           Arbeitsmarkt erkennen und auf soziale Netze der Unterstützung zählen können. Diese
           selbständige Gestaltung ihres Lebensumfeldes ist der beste Beleg für eine fortschreitende
           Integration von Geflüchteten und daher ausdrücklich zu begrüßen.
           Dass sich Salzgitter, Delmenhorst und Wilhelmshaven der Herausforderung gegenüber sehen,
           die Neuzugezogenen in die lokale Gesellschaft zu integrieren, ist verständlich. Die aus diesem
           Umstand resultierenden Maßnahmen müssen aber andere sein. Dort, wo viele Geflüchtete leben,
           müssen – unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsstatus – die vorhandenen finanziellen Mittel
           eingesetzt werden, um Kindergartenplätze zu schaffen, Beratungsstellen besser auszustatten,
           Stellen für Sozialarbeiter_innen einzurichten, Vereine und Initiativen bei ihrer Integrationsarbeit
           zu unterstützen und Projekte der Quartiers- und Gemeinwesenarbeit zu fördern.
           Vor diesem Hintergrund begrüßt der Flüchtlingsrat, dass das Land zusätzliche Mittel bereitstellt,
           um die Integrationsarbeit der Kommunen zu unterstützen. Plakative Scheininstrumente wie
           Wohnsitzauflagen und Zuzugssperren sind dagegen allein dem Wahlkampf geschuldet und einer
           sozialdemokratisch geführten Regierung unwürdig. Es scheint, als wolle Ministerpräsident Weil
           schon jetzt die Weichen für eine Große Koalition auf Landesebene stellen.
           Hintergrund
           Ministerpräsident Weil hat heute ein Soforthilfeprogramm vorgestellt zur Untersützung der
           Städte Salzgitter, Delmenhorst und Wilhelmshaven. Neben einem Integrationsfonds zur
           Soforthilfe in den drei Städten im Umfang von insgesamt 20 Mio. EUR in zwei Jahren zur
           Stärkung der lokalen Integrationsarbeit umfasst dieses auch eine Zuzugssperre für anerkannte
           Flüchtlinge nach Salzgitter. Anerkannten Flüchtlingen, die bisher ihren Wohnsitz innerhalb
           Niedersachsens frei wählen können, soll zukünftig nicht mehr erlaubt werden, nach Salzgitter
           umzuziehen. Eine Ausweitung einer solchen Auflage auch auf die Städte Delmenhorst und
           Wilhelmshaven wird vom zuständigen Innenministerium geprüft.
                                                           1

Seite 16
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.                                                    Berichte aus der Praxis

  große Brüche in den Bildungsbiographien der Kin-       dass die bisherige Form der Kinder- und Jugendbe-
  der und Jugendlichen.                                  treuung in der Landesaufnahmebehörde interna-
                                                         tionalen Verpflichtungen nicht genügt und keinen
  Die Frage der Beschulung bzw. des Rechts auf
                                                         Ersatz für einen Schulbesuch darstellt.
  Schule findet ihre Grundlage nicht nur in der natio-
  nalen bzw. niedersächsischen Gesetzgebung, son-        Im Dezember 2017 haben die beteiligten Orga-
  dern auch in höherrangigem Recht. Das Recht auf        nisationen ihre Kritik noch einmal erneuert und
  Bildung ist niedergelegt in Artikel 26 der Allgemei-   spezifiziert
  nen Erklärung der Menschenrechte. Laut Artikel
                                                         https://www.nds-fluerat.org/26783/pressemit-
  28 der UN-Kinderrechtskonvention darf es einen
                                                         teilungen/weiterhin-monatelang-keine-beschu-
  völligen Ausschluss von der Beschulung nicht
                                                         lung-fuer-kinder-und-jugendliche-in-erstaufnah-
  geben. Darüber hinaus ist in Artikel 14 der EU-Auf-
                                                         meeinrichtungen/
  nahmerichtlinie ausdrücklich festgelegt, dass Kin-
  der nach drei Monaten ein Recht auf Schulbesuch        So erfreulich es ist, dass das Konzept der „Inter-
  haben. Eine Umsetzung der EU-Richtlinie ist also       kulturellen Lernwerkstatt“ im Herbst 2017 aus-
  auch für die Erstaufnahmeeinrichtungen zwingend        geweitet wurde und ein regelmäßiger Einsatz der
  geboten.                                               Lehrer_innen vorgesehen ist, so wenig werden
                                                         dadurch die eigentlichen Probleme gelöst. Der
  Es ist nicht akzeptabel, dass Bildungsbiographien      Aufenthalt von Geflüchteten in der Erstaufnahme
  von Kindern ausgerechnet in Deutschland bzw. in        dauert zu lange, und Kinder erhalten während der
  Niedersachsen für solch lange Zeit unterbrochen        Zeit in der Erstaufnahme keine reguläre Beschu-
  oder gar nicht erst begonnen werden. Viele Kinder      lung. Auch das überarbeitete Konzept der Inter-
  konnten während der Flucht schon über längere          kulturellen Lernwerkstatt stellt keine Form der
  Zeit keine Schulen besuchen. Umso bedeutsamer          Beschulung dar, sondern kann als pädagogisches
  ist es, dass unmittelbar nach Ankunft in Deutsch-      Konzept vielmehr weiterhin nur der Vorbereitung
  land und unabhängig von Aufenthaltsperspektiven        auf den Regelunterricht dienen. Das vorliegende
  ein regulärer Schulbesuch möglich ist. Ferner sind     Konzept ist im Wesentlichen auf Alphabetisierung
  Asylsuchende grundsätzlich zügig kommunal zu           und Spracherwerb fokussiert, der Lernstoff der
  verteilen. Eine Verpflichtung zu einem Leben in        üblichen Unterrichtsfächer wird überhaupt nicht
  der Erstaufnahme, wie er bundesrechtlich schon         vermittelt. Sobald die Kinder und Jugendlichen
  festgeschrieben und zukünftig geplant ist, darf        hinreichend deutsch sprechen, um dem Unterricht
  jedenfalls dann nicht umgesetzt werden, wenn das       folgen zu können, muss auch eine reguläre Be-
  Wohl der Kinder darüber gefährdet wird.                schulung in verschiedenen Fächern gewährleistet
                                                         sein.
  In ihrer Stellungnahme zur Beschulung geflüchte-
  ter Kinder in der Landesaufnahmebehörde Nieder-
  sachsen haben der Flüchtlingsrat Niedersachsen,
  das Netzwerk AMBA und die Landesarbeitsge-
  meinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Nieder-
  sachsen bereits im Juli 2017 darauf hingewiesen,

                                                                                                       Seite 17
Sie können auch lesen