Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International

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Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
AMNESTY                                            JOURNAL
MAGAZIN FÜR
MENSCHENRECHTE
02/23
MÄRZ / APRIL                                                              WWW.AMNESTY.DE/JOURNAL

    Revolution
    der Frauen
    Aufstand im Iran

     Zurück zu den Wurzeln           »Wir werden laut«
     Weltweit regt sich Widerstand   Zaynab Al-Khawaja über ihren Vater
     gegen Landgrabbing              und die Repression in Bahrain
Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
INHALT                                                         Gesichter des Protests.
                                                                  Tausende Menschen
                                                                demonstrieren im Iran
                                                                                                               12
                                                                     seit September für
                                                                    Freiheitsrechte und
                                                                     gegen Repression.
                                                                  Vier Aktivistinnen im
TITEL: AUFSTAND IM IRAN                                          Porträt: Atena Daemi,
                                                                   Sarina Esmailzadeh,
Porträts: Frauen im Widerstand                           12        Ghazaleh Motamed
Gefangene und Haftanstalten: Doppelt bestraft            16       und Sepideh Rashno.

Kommentar Todesstrafe: Morde mit Methode                 19
Proteste in den Regionen: Widerstand aus Tradition       20
                                                                                             Zorn und Schönheit.
Kampf gegen Repression: Shole Pakravan
Sportler*innen: Einmal gegen die Mullahs gewinnen
                                                         22
                                                         24
                                                               28                            Sie ist Fotografin,
                                                                                             Filmemacherin und
                                                                                             hat bei den Salzburger
Amnesty-Expertin: »Eine noch nie dagewesene                                                  Festspielen inszeniert:
Protestbeteiligung im ganzen Land«                       26                                  Shirin Neshat ist die
                                                                                             bekannteste iranische
Künstlerin Shirin Neshat: Kritik in Szene gesetzt        28                                  Exilkünstlerin. Seit
                                                                                             Jahrzehnten setzt sie
                                                                                             sich für Frauenrechte in
POLITIK & GESELLSCHAFT                                                                       ihrer alten Heimat ein.
                                                                                             Mit starken Bildern.
Weltweites Landgrabbing: Zurück zu den Wurzeln           32
Bergbau in Indonesien: Rezept für eine Katastrophe       38
Indigene in Kanada: Erneut betrogen                      40   Frei und doch nicht frei.

Justiz in Guatemala: Der Kampf des Bernardo Caal Xol     42
                                                                     Bernardo Caal Xol
                                                                ist Umweltaktivist und
                                                                                                              42
Graphic Report: Ukraine                                  44    legte sich in Guatemala
                                                               mit der Politik an. 1.520
Protect the Protest: Zaynab Al-Khawaja über Bahrain      46      Tage saß der indigene
                                                                 Dorflehrer zu Unrecht
Diskriminierung in Kuwait: Staatenlos am Golf            50            in einer Zelle. Ein
Menschenhandel in Ostafrika: Hoffnung verführt           54       Einzelfall? Nein, eher
                                                                  ein typisches Beispiel
Antirassistische Bildung: Die Schwarze Akademie          56     für die fehlende Unab-
                                                                  hängigkeit der Justiz.
LGBTI+ in Philippinen: Eigene Toleranz trifft
koloniale Queerfeindlichkeit                             60

                                                                                             Der Stoff, aus dem
KULTUR                                                         64                            die Zukunft ist.
                                                                                             Mode als Medium des
Mode aus Afrika: Gesellschaftlicher Wandel ausgestellt   64                                  gesellschaftlichen
                                                                                             Wandels: Die Ausstel-
HipHop in Mali: Mehr als musikalische Unterhaltung       68
                                                                                             lung »African Fashion«
Postkoloniale Kunst in Südafrika: Der umgekehrte Blick   70                                  in London präsentiert
                                                                                             Kreationen wichtiger
Musik aus Syrien: Archivare des Flüchtigen               72                                  afrikanischer Mode-
                                                                                             designer*innen des 20.
Straßennamen in Jaffa: Where the streets have
                                                                                             Jahrhunderts, in dem
no (Arabic) name                                         74
                                                                                             sich Afrika politisch und
Ägyptische Essays: Appell aus dem Gefängnis              76                                  sozial neu ordnete.

Musik: Anatolische Stadtmusikant*innen                   78
                                                              »When we see us«.

RUBRIKEN
                                                                Künstler*innen auf
                                                                 dem afrikanischen
                                                                                                              70
                                                                 Kontinent und wie
Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 08 Spotlight: Mali 52          sie sich selbst sehen:
Was tun 58 Porträt: Harsh Mander 62 Dranbleiben 63            In Kapstadt zeigt das
Rezensionen: Bücher 77 Rezensionen: Film & Musik 79                   Zeitz MOCAA-
Briefe gegen das Vergessen 80 Aktiv für Amnesty 82                    Museum eine
Kolumne: Eine Sache noch 83 Impressum 83                            große Gruppen-
                                                                        ausstellung.

2 AMNESTY JOURNAL | 02/2023
Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
Schlaflose Nächte.
      Nachdem die junge Iranerin
           Reyhaneh Jabbari trotz
                                                                              22     EDITORIAL
    internationaler Proteste 2014
 hingerichtet wurde, kämpft ihre
   Mutter Shole Pakravan für die
                                                                                     50 JAHRE JOURNAL
  Abschaffung der Todesstrafe in
                                                                                     Ein Ausflug in den Keller sollte Klarheit bringen, aber außer
  ihrer Heimat – inzwischen von
    Berlin aus. Die Hinrichtungen                                                    staubiger Luft und stockfleckigen Materialien war dort
von Teilnehmenden der aktuellen                                                      nichts zu holen. So bleibt es bei einer im Journal-Archiv ge-
   Proteste im Iran konfrontieren                                                    fundenen Ausgabe, die als einziger Beleg dafür dienen muss,
   sie erneut mit ihrem Schmerz.
                                                                                     dass das Amnesty Journal 2023 genau 50 Jahre alt wird.

                                                                                     Erhalten geblieben ist uns die Ausgabe »7/73 Juli 1973«.
                                                        Neuer Kolonialismus.         Wo heute »Amnesty Journal« steht, prangt hier »Amnesty
  32                                                    Weltweit kaufen
                                                        Investor*innen Millionen     International Informationen«. Das Heft hat zwölf Seiten.
                                                        Hektar fruchtbaren           Kein Editorial, kein Inhaltsverzeichnis, es geht direkt zur
                                                        Bodens auf und               Sache: »London berichtet im Juli 1973 aus folgenden Län-
                                                        zerstören damit die
                                                        Lebensgrundlage der
                                                                                     dern«, heißt es da, gefolgt von Meldungen über Griechen-
                                                        ansässigen Bevölkerung.      land, Süd-Vietnam, Uruguay und neun weitere Staaten.
                                                        Doch es regt sich auch       Auch Informationen aus der Zentrale in Hamburg und den
                                                        Widerstand gegen den
                                                                                     Bezirken finden sich: »Anschriftenänderungen«, »Freie
                                                        Landraub.
                                                                                     Stellen im Internationalen Sekretariat«, »Probleme bei der
                                                                                     Umstellung auf Zentralbuchhaltung«. Fotos gibt es nicht.

                                                                                     Die Ausgabe »7/73 Juli 1973« ist ein beeindruckendes Doku-
  Neu denken.
  Die Schwarze Akademie                                                       56     ment. Denn sie zeigt, wie engagiert die deutsche Amnesty-
                                                                                     Sektion gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt
  will die Expertise nicht-
  weißer Menschen sichtbar                                                           vorging. Und sie dokumentiert, dass es ein gutes Jahrzehnt
  machen. Dem Netzwerk                                                               nach der Gründung von Amnesty in Deutschland bereits ein
  haben sich seit 2022
                                                                                     breites Netzwerk an Gruppen und Unterstützer*innen gab.
  bereits zahlreiche
  internationale Wissen-
  schaftler*innen und
                                                                                     Erschreckend ist hingegen die thematische Kontinuität
  Expert*innen                                                                       von der damaligen bis zur aktuellen Ausgabe. So wurde in
  angeschlossen.                                                                     Bezug auf den Iran gemeldet: »Ai forderte in einem Tele-
                                                                                     gramm den iranischen Premierminister Amir Abbas Hoveida
                                                                                     dringend auf, die am 11. 6. von einem Militärgericht ausge-
   Patronen gehen,                                                                   sprochenen Todesurteile gegen 6 Angeklagte zu überprü-
     Worte bleiben.
   Sprechgesang als
                                                                               68    fen.« Ein halbes Jahrhundert später sind der Schah und sein
                                                                                     Premierminister längst Geschichte. Doch Todesurteile wer-
      demokratische
  Kraft: Die malische                                                                den im Iran leider immer noch verhängt und vollstreckt, wie
Jugend vertraut den                                                                  unsere Schwerpunktseiten zeigen.
  Rapper*innen des
 Landes schon lange                                                                  Sollten Sie zu den Mitgliedern oder Unterstützer*innen ge-
        mehr als den
     Politiker*innen.
                                                                                     hören, die schon seit 50 Jahren dabei sind, dann schauen Sie
                                                                                     doch bitte einmal nach, ob sich im Regal oder im Keller noch
                                                                                     eine Ausgabe der »Amnesty International Informationen«
                                                                                     findet, die vor »7/73 Juli 1973« erschienen ist. Wenn dem so
                                                                                     ist, dann schreiben Sie mir bitte an journal@amnesty.de. Ich
                                                                                     würde mich sehr über Ihr altes Schätzchen freuen!

                                   Titelbild: Szene bei der Beerdigung eines
                                   Aktivisten, der bei Protesten gegen das                          Maik Söhler
                                   iranische Regime in Mahabad getötet                              ist verantwortlicher Redakteur
                                   wurde. 16. September 2022.                                       des Amnesty Journals.
                                   Foto: Middle East Images / laif                                  Foto: Gordon Welters

Fotos oben: Sarah Kilcoyne | Sarah Eick | Eugene Gologursky / Getty Images
Andy Hall / Guardian / eyevine / laif | James Rodriguez / Amnesty | Anne Ackermann
Tatenda Chidora | Jonathan Fischer | Dillon Marsh, courtesy of Zeitz MOCAA                                                  AMNESTY JOURNAL | 02/2023 3
Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
PANORAMA

                KEINE RECHTE
               FÜR FRAUEN IN
                AFGHANISTAN
     Die Situation von Frauen und
       Mädchen in Afghanistan hat
   sich seit der Machtübernahme
       der Taliban im Sommer 2021
         drastisch verschlechtert. Es
       gibt kaum einen Bereich des
öffentlichen Lebens, aus dem die
 radikal-islamischen Machthaber
die Bürgerinnen des Landes noch
nicht verdrängt haben. Seit Ende
     des vergangenen Jahres ist es
       in- und ausländischen Nicht-
          regierungsorganisationen
        verboten, Mitarbeiterinnen
            einzustellen. Frauen und
      Mädchen dürfen sich nicht in
Parks und Sporthallen aufhalten.
     Seit der Machtübernahme ist
  ihnen Sport ohnehin untersagt.
    Außerdem sind Mädchen und
          Frauen grundsätzlich vom
            Besuch weiterführender
          Schulen und Universitäten
           ausgeschlossen. Amnesty
          International hat den UN-
        Sicherheitsrat aufgefordert,
             umgehend zu handeln.
              Zwar hat das Gremium
            die Einschränkungen der
        Frauenrechte verurteilt. Das
    genügt aus Sicht von Amnesty
     jedoch nicht: »Es ist dringend
                 notwendig, dass der
              UN-Sicherheitsrat dem
         Niedergang der Rechte von
 Frauen und Mädchen in diesem
      Land Einhalt gebietet«, sagte
      Yamini Mishra, die Amnesty-
 Regionaldirektorin für Südasien.
 Im Bild: Eine Händlerin verkauft
    in Mazar-i-Sharif Produkte für
               Frauen und Mädchen,
                        Januar 2023.
        Foto: Atif Aryan / AFP / Getty Images

4 AMNESTY JOURNAL | 02/2023
Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
AMNESTY JOURNAL | 02/2023 5
Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
RANDALIERENDE RECHTSEXTREME IN BRASILIEN UNTER ANKLAGE
Tausende Unterstützer*innen des im Herbst 2022 abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro
haben am 8. Januar 2023 Regierungs- und Gerichtsgebäude in der brasilianischen
Hauptstadt Brasília gestürmt, Dokumente vernichtet und Einrichtungen verwüstet.
Die Demonstrant*innen drangen in das Parlamentsgebäude, den Sitz des Obersten
Gerichtshofs sowie den Präsidentenpalast ein (im Bild: beschädigtes Mobiliar vor dem
Präsidentenpalast). Sie griffen auch Sicherheitskräfte und Journalist*innen an, die über die
Vorfälle berichten wollten. Versuche, die Ausrüstung von Medienschaffenden zu zerstören
oder an sich zu reißen, stellen eine schwerwiegende Verletzung der Pressefreiheit dar.
Die Ausschreitungen kamen nicht unerwartet, sie waren von rechtsextremen Gruppen
zuvor angekündigt worden. Knapp 2.000 Menschen wurden vorübergehend festgenom-
men, einige wurden bereits angeklagt, viele erwartet noch eine Anklage wegen Bildung
einer kriminellen Vereinigung und Beschädigung von öffentlichem Eigentum. Zudem ist
das Verhalten der Sicherheitskräfte in Brasília in die Kritik geraten. Videos zeigen, dass
einige Sicherheitskräfte nicht gegen die Randalierer*innen vorgingen.
Foto: Ueslei Marcelino / Reuters

6 AMNESTY JOURNAL | 02/2023
Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
MASSENPROTESTE UND AUSNAHMEZUSTAND IN PERU
Die peruanische Staatsanwaltschaft hat im Januar Ermittlungen gegen Präsidentin
Dina Boluarte und mehrere Regierungsmitglieder eingeleitet. Untersucht werden sollen
mutmaßliche Verbrechen des Völkermords, der vorsätzlichen Tötung und schwerer
Körperverletzung im Zusammenhang mit den jüngsten Unruhen. Die Proteste waren
ausgebrochen, nachdem der ehemalige Präsident Pedro Castillo am 7. Dezember 2022
die Auflösung des Nationalkongresses ankündigt hatte und daraufhin abgesetzt und
inhaftiert worden war. Unterstützer*innen Castillos fordern seither Boluartes Rücktritt
und Neuwahlen. Die Regierung rief wegen der anhaltenden Proteste den Notstand in der
Hauptstadt Lima und drei weiteren Regionen im Süden des Landes aus und schränkte
Grundrechte wie die Versammlungs- und Reisefreiheit ein. Erika Guevara-Rosas, Amerika-
Expertin bei Amnesty International, sagte: »48 Todesfälle durch staatliche Repression, elf
Tote bei Straßenblockaden, ein getöteter Polizist sowie Hunderte von Verletzten zeigen,
dass die peruanischen Behörden den exzessiven und tödlichen Einsatz von Gewalt
zulassen.« Im Bild: Polizeieinsatz in Lima, Januar 2023.
Foto: Sebastian Castaneda / Reuters

                                                                AMNESTY JOURNAL | 02/2023 7
Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
EINSATZ MIT ERFOLG                                                                                    FINNLAND
                                                                                                      Das finnische Parlament hat Anfang Februar ein
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den                                                     Gesetz verabschiedet, das Erwachsenen das
»Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und                                               Recht auf eine Änderung des Geschlechtsein-
an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser                                      trags durch Selbsterklärung gewährt. Bisher
Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und                                     mussten trans Menschen eine ärztliche Beschei-
Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte.                                      nigung über ihre Sterilität vorlegen, was einen
Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge                                                                    Verstoß gegen die Europäische Menschen-
                                                                                                      rechtskonvention darstellt. »Mit der Verabschie-
                                                                                                      dung dieses Gesetzes hat Finnland einen wichti-
                                                                                                      gen Schritt getan, um die Rechte von trans
                                                                                                      Menschen zu schützen«, sagte Matti Pihlaja-
                                                                                                      maa, zuständig für LGBTI-Rechte bei Amnesty in
                                                                                                      Finnland. Beim Briefmarathon im Jahr 2017 hat-
                                                                                                      ten 347.000 Unterstützer*innen von Amnesty
                                                                                                      die finnischen Behörden aufgefordert, die
                                                                                                      rechtliche Anerkennung des Geschlechts zu
                                                                                                      reformieren.

ÄGYPTEN
Der Menschenrechtsanwalt und ehemalige Par-
lamentarier Zyad el-Elaimy ist am 24. Oktober
2022 nach 40 Monaten willkürlicher Haft freige-
kommen. Er hatte sich seit Juli 2019 in Untersu-
chungshaft befunden, ohne die Rechtmäßigkeit        SAUDI-ARABIEN                                     JEMEN
seiner Inhaftierung prüfen lassen zu können.        Der pensionierte palästinensische Politiker und   Am 7. Dezember haben die De-facto-Behörden
Die Behörden hatten ihm ohne Beweise die            Arzt Mohammed al-Khudari ist im Oktober           der Huthi den Journalisten Younis Abdelsalam
»Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereini-   2022 aus dem Gefängnis entlassen worden –         aus der Haft entlassen. Er war seit dem 4. Au-
gung« und die »Verbreitung von Falschnachrich-      sieben Monate nach Verbüßung seiner Haftzeit.     gust 2021 in Sanaa ohne Anklage oder Gerichts-
ten« zur Last gelegt. Alle Beschuldigungen be-      Die saudi-arabischen Behörden hatten ihn und      verfahren inhaftiert, weil er friedlich Kritik an
zogen sich auf friedliche Meinungsäußerungen.       seinen Sohn Hani al-Khudari im April 2019 will-   den Behörden geübt hatte. Nach seiner Fest-
Obwohl Zyad el-Elaimy unter Bluthochdruck,          kürlich inhaftiert. Am 8. März 2020 waren beide   nahme war er mehrere Wochen lang »ver-
einer Asthma- und einer Diabetes-Erkrankung         Männer im Rahmen eines Massenverfahrens           schwunden« und musste anschließend 80 Tage
leidet, wurde ihm in der Haft eine medizinische     gegen 68 Personen vor dem Sonderstrafgericht      lang in Einzelhaft und ohne Kontakt zur Außen-
Versorgung verwehrt. Amnesty International          angeklagt, »einer terroristischen Gruppe« bei-    welt verbringen. Sicherheitskräfte hatten Abdel-
hatte sich mit einer Eilaktion für den gewalt-      getreten zu sein, womit offenbar die palästi-     salam während seiner Inhaftierung misshandelt
losen politischen Gefangenen eingesetzt.            nensische Hamas gemeint war. In der Haft war      und ihm eine angemessene medizinische Ver-
                                                    Mohammed al-Khudari zahlreichen Menschen-         sorgung verweigert. Sein Bruder dankte Amnes-
                                                    rechtsverletzungen ausgesetzt. Sein Sohn Hani     ty und den vielen Menschen, die die Freilassung
8 AMNESTY JOURNAL | 02/2023                         al-Khudari ist weiterhin inhaftiert.              von Younis Abdelsalam gefordert hatten.
Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
HONGKONG                                                                         BRIEFE GEGEN
Der Radiomoderator Edmund Wan ist seit dem                                       DAS VERGESSEN – UPDATES
18. November 2022 wieder frei. Er war zwei Jah-
re zuvor festgenommen worden, weil er die                                        Mit den Briefen gegen das Vergessen (siehe Seite 80)
chinesische Regierung öffentlich kritisiert und                                  können sich alle gegen Unrecht stark machen – allein
eine Spendenaktion für junge Menschen aus                                        zu Hause oder gemeinsam mit anderen. In jedem
Hongkong initiiert hatte. Bis zu seiner Festnah-                                 Amnesty Journal rufen wir dazu auf, an Regierungen
me hatte Wan vier Programme für einen unab-                                      oder andere Verantwortliche zu schreiben und sich für
hängigen Internetradiosender in Hongkong                                         Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einzu-
moderiert. Im Oktober 2022 war er wegen                                          setzen. Was aus ihnen geworden ist, erfahren Sie hier.
Aufwiegelung und Geldwäsche zu 32 Monaten
Haft verurteilt worden. Auf Anweisung des Ge-
richts muss Edmund Wan trotz seiner Freilas-                                     TÜRKEI
sung die gesammelten Spenden der Regierung                                                         Das türkische Kassationsgericht hat
übergeben. Er dankte allen, die sich während                                                       am 22. November 2022 die absurden

                                                   Foto: Amnesty Türkei
seiner Inhaftierung für ihn eingesetzt haben.                                                      »Terrorismus«-Schuldsprüche gegen
                                                                                                   führende Vertreter*innen von Am-
                                                                                                   nesty International aufgehoben. Dies
                                                                                                   ist ein wichtiger Teilerfolg. Doch die
                                                                                                   politisch motivierte Verfolgung ist
                                                                                 Taner Kılıç       damit noch nicht zu Ende: Das Verfah-
                                                                                                   ren gegen Taner Kılıç, den Amnesty-
                                                                                                   Ehrenvorsitzenden in der Türkei, wur-
                                                                                                   de wegen »unvollständiger Ermittlun-
                                                                                                   gen« an das erstinstanzliche Gericht

                                                   Foto: privat
                                                                                                   zurückverwiesen. Am 8. März 2023
                                                                                                   muss er sich erneut vor einem Straf-
                                                                                                   gericht in Istanbul verantworten.
                                                                                 İdil Eser
                                                                                                   Der Ehrenvorsitzende Kılıç wurde im
                                                                                                   Juni 2017 inhaftiert. Die Behörden
                                                                                                   bezichtigen ihn, Mitglied einer terro-
                                                                                                   ristischen Organisation zu sein – ein
                                                   Foto: Amnesty

                                                                                                   vollkommen haltloser Vorwurf. Am
                                                                                                   5. Juli 2017 wurden dann zehn weitere
                                                                                                   Menschenrechtler*innen festgenom-
                                                                                 Günal Kurşun      men, die in der Nähe von Istanbul an
                                                                                                   einer Fortbildung teilnahmen. Unter
                                                                                                   ihnen waren auch die Direktorin der
                                                                                                   türkischen Amnesty-Sektion, İdil Eser,
                                                                                                   der Rechtswissenschaftler Günal
                                                   Foto: privat

                                                                                                   Kurşun, die Mitbegründerin der
                                                                                                   türkischen Amnesty-Sektion, Özlem
                                                                                                   Dalkıran, sowie der deutsche Men-
                                                                                 Özlem Dalkıran    schenrechtstrainer Peter Steudtner.
                                                                                                   Auch gegen sie wurden völlig absurde
                                                   Foto: G. Zielke / panphotos

                                                                                                   Anklagen wegen Mitgliedschaft in ei-
PHILIPPINEN                                                                                        ner terroristischen Organisation erho-
Ein Gericht hat am 18. Januar 2023 die philip-                                                     ben. Nach massiven internationalen
pinische Journalistin und Friedensnobelpreis-                                                      Protesten kamen die zehn im Oktober
trägerin Maria Ressa vom Vorwurf der Steuer-                                                       2017 vorerst frei. Kılıç wurde erst am
hinterziehung freigesprochen. Ressa und ihre                                                       15. August 2018 aus der Untersu-
Website Rappler hatten in der Vergangenheit                                      Peter Steudtner   chungshaft entlassen.
regelmäßig kritisch über den ehemaligen Präsi-                                                     (Januar 2018)
denten Rodrigo Duterte und seine Regierung
berichtet. Die philippinischen Behörden waren
deshalb seit 2018 mit mehreren Strafverfahren
gegen sie vorgegangen. Der Direktor der philip-
pinischen Amnesty-Sektion, Butch Olano, sagte:
»Amnesty begrüßt die Entscheidung, die Ankla-
ge fallen zu lassen und fordert die Behörden
auf, weitere gegen Maria Ressa erhobenen Vor-
würfe ebenfalls fallen zu lassen, damit sie ihre
Arbeit ungehindert fortsetzen kann.«                                                                         AMNESTY JOURNAL | 02/2023 9
Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
TITEL

10 AMNESTY JOURNAL | 02/2023
Aufstand im Iran
                                  Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini demonstrieren
                                    überall im Iran Tausende gegen die politische und
                                geistliche Führung des Landes. Geheimdienst, Polizei
                                 und Milizen gehen hart gegen Demonstrierende vor,
                                        Hunderte Menschen sind zu Tode gekommen.
                              Abschottung, Zensur und Internetsperren sorgen dafür,
                               dass die mediale Berichterstattung nachgelassen hat.
                                    Nicht so der Widerstand: Auf den nächsten Seiten
                                  stellen wir zentrale Gesichter, Motive und Aktionen
                                                            der Protestbewegung vor.

Wütende Geste gegen die geistliche Führung.
Frauen protestieren in Teheran, Oktober 2022.
Foto: SalamPix / abaca / pa                                            AMNESTY JOURNAL | 02/2023 11
AUFSTAND IM IRAN
PORTRÄTS
                                                    Gesichter des
                                                    Seit September demonstrieren im Iran Tausende Menschen für
                                                    der Regierung. Mina Khani stellt vier Aktivistinnen vor.

Sarina Esmailzadeh
E
       inige Sätze von Sarina Esmailzadeh      gend wie vor 20 Jahren. Sie weiß, was in           Geheimdienst- und Sicherheitskräfte
       werden in Erinnerung bleiben: »Wir      der Welt los ist.« All diese Sätze wurden      bedrohten ihre Familie anschließend
       brauchen Glück, Genuss, eine moti-      zum Glück auf Videos und in Online-Bei-        massiv und schüchterten sie ein. Sie
vierte Stimmung und viel Energie. Und          trägen festgehalten, bevor Sarina Esmail-      zwangen ihre Mutter, gegenüber einer
wir brauchen Freiheit.« Denn Freiheit, so      zadeh am 23. September 2022 ermordet           staatlichen Nachrichtenagentur eine
führte die Jugendliche weiter aus, werde       wurde.                                         Stellungnahme abzugeben, in der sie
den iranischen Frauen in vielen Berei-              Sie war gerade einmal 16 Jahre alt, als   die offizielle Version der Todesursache
chen vorenthalten. Das bekannteste Bei-        Schläger sie in der Stadt Karadsch im Nor-     wiedergeben musste, wonach ihre Toch-
spiel sei die Zwangsverschleierung. Dass       den Irans im Auftrag der Regierung bru-        ter durch einen Sprung vom Dach eines
nur Männer ins Fußballstadion dürften,         tal töteten – sie schlugen ihr mit Schlag-     Gebäudes Suizid begangen habe.
sei ein weiteres Beispiel, beklagte die jun-   stöcken den Schädel ein. Als man Sarina            Zunächst hatten die Behörden noch
ge Frau, die selbst Fußballfan war. Und sie    Esmailzadeh ins Krankenhaus brachte,           behauptet, Sarina Esmailzadeh sei von
betonte: »Die iranische Jugend ist nicht       konnten die Ärzt*innen nur noch den Tod        einem Gebäude gestoßen worden. Die
mehr dieselbe Ju-                                                             feststellen.    staatliche Nachrichtenagentur Mizan
                                                                                              schrieb kurz darauf, die junge Frau sei
                                                                                              selbst gesprungen und habe Suizid be-
                                                                                              gangen. Nicht nur ihre Familie wurde
                                                                                              unter Druck gesetzt, diese Version zu ver-
                                                                                              breiten, auch auf ihre Mitschülerinnen
                                                                                              wurde Zwang ausgeübt. Später bearbeite-
                                                                                              ten Unbekannte im Nachhinein Insta-
                                                                                              gram-Posts von Sarina Esmailzadeh und
                                                                                              fügten neue Inhalte hinzu, die von Suizid
                                                                                              handelten. Das alles zeigt, wie extrem
                                                                                              stümperhaft der iranische Staat versuch-
                                                                                              te, den Mord zu verschleiern und zu ver-
                                                                                              tuschen.
                                                                                                    Sarina Esmailzadeh hatte sich an
                                                                                                   den Protesten seit Herbst 2022 betei-
                                                                                                    ligt. Videos auf ihrem YouTube-Ka-
                                                                                                      nal zeigen, wie sie ihren Alltag ver-
                                                                                                      brachte und was ihr wichtig war.
                                                                                                        Sie war eine junge Frau, die das
                                                                                                        Leben genoss. Sie war fröhlich,
                                                                                                       lachte viel und laut. In einem
                                                                                                      Video singt sie den Song »Take Me
                                                                                                    to Church« des Popstars Hozier sehr
                                                                                                   energisch mit. Er handelt von gleich-
                                                                                                geschlechtlicher Liebe und kritisiert
                                                                                              Religionen, die sich moralisch überlegen
                                                                                              fühlen und behaupten, im Besitz der
                                                                                              Wahrheit zu sein. ◆

                                                                                                   Der Staat versuchte
                                                                                              extrem stümperhaft, den
                                                                                                 Mord an Esmailzadeh
12 AMNESTY JOURNAL | 02/2023                                                                            zu vertuschen.
Protests
Freiheitsrechte und gegen die harte Repression
Mit Zeichnungen von Sarah Kilcoyne

    Atena Daemi
    A
            tena Daemi ist eine der bekanntes-
            ten Frauen in der iranischen Pro-
            testbewegung. Mit ihrer enormen
    Reichweite in den Online-Netzwerken
    verstärkt sie die Stimme der Protestieren-
    den. Allein im Netzwerk Twitter folgen
    ihr mehr als 225.000 Menschen. Dass sie
    als Akteurin und Multiplikatorin am Pro-
    test mitwirken kann, ist keine Selbstver-
    ständlichkeit. Erst seit Januar 2022 ist
    Daemi wieder in Freiheit – nach langen
    Jahren im Gefängnis.
        Daemi wurde erstmals im Jahr 2014
    festgenommen und kam direkt in Einzel-
    haft. Sie hatte sich für Kinderrechte, Frau-
    enrechte und gegen die Todesstrafe ein-
    gesetzt. Und sie unterstützte Demons-
    trant*innen, die sich mit der kurdischen
    Stadt Kobane im Norden Syriens solidari-
    sierten, als diese im Jahr 2014 von der be-
    waffneten Gruppe Islamischer Staat (IS)
    angegriffen wurde.
        Es kam zur Anklage und die Anklage-
    punkte waren zahlreich: »Versammlung
    und Verschwörung gegen die nationale
    Sicherheit«, »Verbreitung von Propagan-
    da gegen das System«, »Beleidigung der
    Gründer der Islamischen Republik Iran
    und des Religionsführers« und »Zurück-
    haltung von Beweisen«. Im Jahr 2015 wur-
    de Daemi zunächst zu einer Haftstrafe
    von 14 Jahren verurteilt, die später auf       Ich wurde erneut verurteilt, weil ich Zani-       Darin schrieb sie: »Khuzestan hat kein
    sieben Jahre verkürzt wurde.                   ar, Luqman und Ramin unterstützt und          Wasser, Khuzestan hat Staub, (…) Khuzestan
        Die Aktivistin hatte Mahnwachen für        einen Gedenkgottesdienst abgehalten           hat Landminen, Kriegsschutt, Khuzestan
    politische Gefangene vor dem berüchtig-        habe. Was kann ehrenvoller sein, als er-      hat Diskriminierung. (…) In Khuzestan op-
    ten Evin-Gefängnis in Teheran organi-          neut zu einer Gefängnisstrafe verurteilt      fert man Leben, um Wasser zu bekommen.
    siert. Später musste sie dort selbst viele     zu werden, weil man (…) Menschenleben         Der Staat nimmt das Leben weg, um Was-
    Jahre verbringen. Doch sogar hinter Git-       verteidigt hat?«                              ser zu geben. (…) Allgemeine Diskriminie-
    tern kämpfte sie weiter und ließ mehrere           Die Behörden verlegten sie im Jahr        rung und Unterdrückung sind die heraus-
    Briefe aus der Haftanstalt schmuggeln,         2018 in ein Gefängnis im Norden des           ragenden Merkmale dieses Staates.«
    die viel dazu beitrugen, dass die iranische    Landes. Ihre Familie musste fortan einen          Amnesty International setzte sich
    und internationale Öffentlichkeit über         langen Weg fahren, um sie zu besuchen.        seit Beginn ihrer Inhaftierung für Atena
    die brutalen und menschenunwürdigen            Und selbst von dort mischte sich Daemi        Daemi ein, unter anderem beim Brief-
    Haftbedingungen in diesem Gefängnis            weiter in die politische Auseinanderset-      marathon 2018. Egal, ob sie gerade im
    informiert wurden.                             zung ein. Als es im Jahr 2021 in der Pro-     Gefängnis ist oder nicht: Daemi ist stets
        In einem Brief, der sich auf die Hin-      vinz Khuzestan zu sogenannten Wasser-         eine starke und laute Stimme der Revolu-
    richtung dreier kurdischer Gefangener          protesten der Bevölkerung kam, in deren       tion der Frauen im Iran. ◆
    im Jahr 2018 bezog, schrieb sie: »Die Mör-     Verlauf Sicherheitskräfte mehrere Protes-
    der und Verbrecher sind frei, und viele        tierende töteten, ließ sie wieder einen
    zivile Aktivist*innen sind im Gefängnis.       Brief aus dem Gefängnis schmuggeln.                          AMNESTY JOURNAL | 02/2023 13
Ghazaleh Motamed
D
         ie iranische Feministin ist seit ei-
         nigen Monaten auf der Flucht*. Im
         Iran gehörte Ghazaleh Motamed
zu den bekanntesten Aktivistinnen der
#MeToo-Bewegung. Die Kritik der Kos-
tümbildnerin richtete sich dabei ins-
besondere an die Kunst- und Kultur-
szene.
    Die 42-Jährige zählte zu den mehr
als 800 Frauen, die im April 2022 ein
Statement gegen sexualisierte Gewalt
in der iranischen Filmszene veröffent-
lichten. Darin heißt es: »Jede Person
mit Macht und Ansehen im irani-
schen Filmbetrieb nutzt ihre Position,
um Frauen zu schikanieren, zu bedro-
hen, zu beleidigen, zu demütigen und
anzugreifen.« Frauen erlebten körper-
liche Gewalt, Nötigung, erzwungene
sexuelle Handlungen, unerwünsch-
ten Körperkontakt, verbale sexuelle
Belästigung und Drohungen. Dies
alles geschehe, ohne dass die Täter
Verantwortung für diese Fälle von
sexualisierter Gewalt überneh-
men müssten.
    Nach der Veröffentlichung
wurde Ghazaleh Motamed zu-
sammen mit vier anderen Frau-
en in ein Komitee der Unter-
zeichner*innen gewählt, das den
genannten und weiteren Fällen
von sexualisierter Gewalt in der
Kunst- und Kulturszene nachge-
hen wollte. Auch sollten Verhand-
lungen mit der Gewerkschaft der
Filmschaffenden darüber geführt wer-
den, wie solche Taten in einer Art Proto-
koll festgehalten werden könnten. Ziel
war es, sexualisierte Gewalt gründlich zu
untersuchen und zu dokumentieren, um
ein Fundament für juristische Schritte zu
schaffen.
    Dieses Protokoll sei jedoch nie zustan-
de gekommen, weil es verhindert worden
sei, berichtet Ghazaleh Motamed. »Aber
wir haben nie aufgegeben. Der Einfluss          Behörden hätten ihr und ihren
feministischer Aktivitäten auf die Gesell-      Mitstreiter*innen viele Steine in                                      »Sie haben bei
schaft ist in der derzeitigen Revolution,       den Weg gelegt. Zunächst erteilte man ein             Verhören anderer Aktivistinnen
die unter dem Motto ‚Frau, Leben, Frei-         Reiseverbot, später folgten zahlreiche Vor-   immer wieder meinen Namen erwähnt.
heit‘ steht, deutlich zu sehen. Wir kämp-       ladungen. Feministische Arbeit ist harte      Sie wollen jedes Netzwerk von Frauen
fen weiter, um unsere Ziele zu erreichen.«      Arbeit in einem Land, das keine Freiheit      und Feminist*innen zerstören«, sagt die
Dazu zähle auch das Protokoll: »Wir wer-        und Gerechtigkeit für Frauen und LGBTI-       Aktivistin. »Doch sie erreichen damit das
den immer wieder darauf zurückkom-              Personen kennt.                               Gegenteil. Es entstehen mehr feministi-
men, und wir werden es in der iranischen            Trotz harter Erfahrungen bereut es        sche Netzwerke. Und es wird weiterge-
Kinoszene durchsetzen.«                         Ghazaleh Motamed nicht, alles versucht        kämpft.« Für Ghazaleh Motamed sind die
    Die sexualisierte Gewalt im Iran sei        zu haben, um das Leben der Frauen zu          vergangenen Monate deshalb »eine femi-
systemisch, sagt Ghazaleh Motamed. Die          verbessern und für deren Rechte zu            nistische Revolution«. ◆
                                                kämpfen. Als der Druck vonseiten der Po-
                                                lizei und der Milizen zunahm, sah sie sich    * Zum Schutz von Ghazaleh Motamed nennen
14 AMNESTY JOURNAL | 02/2023                    jedoch gezwungen, das Land zu verlassen.      wir ihren Aufenthaltsort nicht.
Sepideh Rashno
E
       s war Mitte Juli im Jahr 2022, als    Rabiee forderte Rashno auf, das Kopftuch
       sich Sepideh Rashno in Teheran im     aufzusetzen. Diese antwortete: »Geh mal              Im Fall Rashno hatte
       Bus auf den Weg zur Arbeit machte.    hier raus! Werft sie raus!« Andere Frauen
Dort traf die 28-jährige Schriftstellerin    im Bus versuchten, Sepideh Rashno zu
                                                                                                   der Iran nicht mehr
und Lektorin auf Rayeheh Rabiee, und         schützen. Sie wollten offensichtlich ver-               zu bieten als eine
diese Begegnung sorgte dafür, dass Rash-
no am Ende des Tages nicht am Arbeits-
                                             hindern, dass sie gefilmt wird. Während
                                             Sepideh Rashno ankündigte, ihr Video
                                                                                                     Politik der Angst.
platz, sondern im Gefängnis landete. Bei-    »an die ganze Welt« zu schicken, erwider-
de Frauen gerieten aneinander und nah-       te Rabiee: »Ich werde dich bei den Revolu-
men den Vorfall mit dem Handy auf, die       tionsgarden anzeigen.«                       Islamische Republik« angeklagt. Wider-
Filme wurden weltweit bekannt.                   Sepideh Rashno wurde kurz darauf         stand gegen den Schleierzwang kann im
    In beiden Handyvideos ist zu sehen,      inhaftiert und der »Versammlung und          Iran mit einer Strafe von bis zu zehn
dass Sepideh Rashno im Bus kein Kopf-        Verschwörung gegen die nationale Sicher-     Jahren Jahren Haft geahndet werden.
tuch trug und Rabiee vollverschleiert war.   heit« sowie der »Propaganda gegen die        Rabiees Video wurde vor Gericht als Be-
                                                                                          weismaterial zugelassen.
                                                                                              Ende Juli strahlten regierungsnahe
                                                                                          Medien einen Film mit einem erzwunge-
                                                                                          nen »Geständnis« Rashnos aus. In ihrem
                                                                                          Gesicht waren deutlich Verletzungen er-
                                                                                          kennbar, sie sprach nur sehr kurz und sah
                                                                                          dabei völlig erschöpft aus. Hinter ihr war
                                                                                           ein blauer Vorhang im Bild, der in den
                                                                                            vergangenen Jahren häufig bei erzwun-
                                                                                             genen Geständnissen von Feminist*in-
                                                                                              nen, Menschenrechtaktivist*innen
                                                                                                und Journalist*innen zu sehen war.
                                                                                                    In Online-Netzwerken und irani-
                                                                                                schen Exilmedien war die Empö-
                                                                                                 rung über die Misshandlung Rash-
                                                                                                 nos groß. Auch im Iran wuchs be-
                                                                                                 reits damals die Wut auf die Behör-
                                                                                                  den und die Revolutionsgarden
                                                                                                  wegen ihres brutalen Vorgehens
                                                                                                  gegen Frauen – Monate bevor Jina
                                                                                                  Mahsa Amini wegen eines Versto-
                                                                                                  ßes gegen den Schleierzwang er-
                                                                                                mordet wurde und zahlreiche Frau-
                                                                                              en und verbündete Männer massen-
                                                                                           haft gegen die Verschleierung, die Re-
                                                                                            pression und die Unfreiheit im Land
                                                                                              protestierten.
                                                                                                    Bereits im Fall von Sepideh Rash-
                                                                                                 no hatte der Staat nicht mehr zu bie-
                                                                                                ten als ein erzwungenes »Geständ-
                                                                                               nis« und eine Politik der Angst. Die
                                                                                             iranischen Frauen sollten die Verlet-
                                                                                            zungen im Gesicht Rashnos auf jeden
                                                                                           Fall sehen. Die Botschaft war klar: Wer
                                                                                           sich der Verschleierung widersetzt, wird
                                                                                           inhaftiert und gefoltert.
                                                                                                Sepideh Rashno wurde inzwischen
                                                                                            gegen eine sehr hohe Kaution von um-
                                                                                             gerechnet mehr als 27.000 Euro freige-
                                                                                              lassen. Sie steht nach wie vor unter
                                                                                                Anklage. Rashno hat sich seither nur
                                                                                             einmal geäußert und sich bei der irani-
                                                                                          schen Gesellschaft für die Solidarität be-
                                                                                          dankt. ◆

                                                                                                         AMNESTY JOURNAL | 02/2023 15
AUFSTAND IM IRAN
GEFANGENE UND
TODESSTRAFE

16 AMNESTY JOURNAL | 02/2023
Doppelt
                                                       bestraft
                                                       Im Iran werden Oppositionelle in unfairen Gerichtsverfahren
                                                       zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken
                                                       wie eine zusätzliche Bestrafung. Von Dieter Karg

                                                       I
                                                              m August 2021 erreichten schockie-     Strafvollzugs, Mohammed Mehdi Haj
                                                              rende Videoclips die Öffentlichkeit.   Mohammadi, entschuldigte sich zwar für
                                                              Es handelte sich um Bilder von         das »inakzeptable Verhalten« der Wärter,
                                                              Überwachungskameras, die autori-       über weitere Konsequenzen wurde jedoch
                                                              tären Regierungen üblicherweise        nichts bekannt.
                                                       dazu dienen, ihre Bürger auszuspähen,             Am 15. Oktober 2022, während der
                                                       um politischen Protest im Keim zu ersti-      jüngsten Protestwelle im Iran, gelangten
                                                       cken. Doch diese Aufnahmen deckten            Videos an die Öffentlichkeit, die zeigten,
                                                       Menschenrechtsverletzungen auf: Einer         dass im Evin-Gefängnis ein Großfeuer
                                                       iranischen Hackergruppe war es gelun-         ausgebrochen war. Nach offiziellen Anga-
                                                       gen, in das Kontrollsystem des berüchtig-     ben wurden dabei acht Personen getötet
                                                       ten Evin-Gefängnisses am Stadtrand von        und mehr als 60 verletzt. Die Behörden
                                                       Teheran einzudringen. Die geleakten Auf-      behaupteten, das Feuer sei durch einen
                                                       nahmen belegen, mit welcher Brutalität        Streit unter Gefangenen verursacht wor-
                                                       die Gefangenen dort behandelt werden:         den. Belege, die Amnesty zusammenge-
                                                       Man sieht, wie ein älterer Gefangener, der    tragen hat, legen jedoch nahe, dass das
                                                       zusammengebrochen ist, durch das Ge-          Feuer dazu dienen sollte, das brutale Vor-
                                                       fängnis geschleift wird, wie mehrere Wär-     gehen gegen Inhaftierte zu verschleiern.
                                                       ter einen Mann verprügeln, wie ein leblo-     Häftlinge im Gebäude 8, in dem überwie-
                                                       ser Mann einfach auf dem Boden liegen-        gend politische Gefangene untergebracht
                                                       gelassen wird, während die Wärter dane-       sind, berichteten, dass gegen 20 Uhr
                                                       benstehen, und wie ein Mann in einem          Schüsse und Schreie im benachbarten Ge-
                                                       Duschraum versucht, sich mit Glasscher-       bäude 7 zu hören waren. Als sie in Panik
                                                       ben die Pulsadern aufzuschneiden.             ihren Trakt verlassen wollten, wurden sie
                                                           Die schockierenden Bilder seien nur       vom Gefängnispersonal unter Einsatz von
                                                       »die Spitze des Eisbergs der Folterepide-     Tränengas, Schlagstöcken und Schüssen
                                                       mie im Iran«, sagt Heba Morayef, Nahost-      daran gehindert. Erst eineinhalb Stunden
                                                       Expertin von Amnesty International. Die       später machten erste Berichte über ein
                                                       Videoclips bestätigten das, was viele Ge-     Feuer die Runde, das offenbar im Werk-
                                                       fangene über die Haftbedingungen aus-         stattgebäude ausgebrochen war, zu dem
                                                       gesagt hätten. Der Chef des iranischen        die Gefangenen zu diesem Zeitpunkt kei-
                                                                                                     nen Zugang hatten.
                                                                                                         Amnesty dokumentierte die Zustände
                                                                                                     in iranischen Gefängnissen bereits nach
                                                                    Das Gegenstück                   den Protesten im November 2019 in ei-
                                                                   zur Isolationshaft                nem Bericht mit dem Titel: »Die Mensch-
 Das Evin-Gefängnis als Symbol im Gesicht.
Demonstrantin in London, November 2022.
                                                                      sind überfüllte
           Foto: Thomas Krych / Zuma Press Wire / pa                           Zellen.                              AMNESTY JOURNAL | 02/2023 17
lichkeit mit Füßen treten« (»Trampling             und Matratze auf dem kalten Boden                  gung zurückzuführen sind. Die Kranken-
humanity«). Genau die gleichen Schilde-            schlafen. In den Zellen brennt oft Tag             stationen der Gefängnisse bieten nur eine
rungen erreichen die Organisation seit             und Nacht grelles Licht. Gefangene kla-            sehr eingeschränkte medizinische Versor-
dem Ausbruch der aktuellen Proteste im             gen auch über Schädlingsbefall und                 gung. Dennoch lehnten die Gefängnisbe-
Herbst 2022. Personen »verschwinden«               penetranten Gestank wegen defekter                 hörden oder das ärztliche Personal eine
direkt nach ihrer Festnahme. Sie werden            sanitärer Anlagen. Das Essen ist häufig            Untersuchung oder Behandlung außer-
mit verbundenen Augen in geheime                   unzureichend und kaum genießbar.                   halb des Gefängnisses vielfach ab, sodass
Haftzentren gebracht und müssen länge-                 Die schlechten Haftbedingungen sind            sich der Zustand der Inhaftierten gravie-
re Zeit in Isolationshaft verbringen, ohne         eine zusätzliche Bestrafung und werden             rend verschlechterte – manchmal bis hin
jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Ange-             auch bewusst so eingesetzt, wenn Gefan-            zum Tod.
hörige und Rechtsbeistände suchen oft              gene sich zum Beispiel nicht fügen oder                 Die schlechte ärztliche Versorgung
wochenlang verzweifelt nach ihnen, er-             protestieren. Ihnen wird außerdem die              zeigte sich auch während der Corona-Pan-
halten jedoch keine Auskunft über ihren            Kommunikation mit ihren Familienan-                demie: In den Gefängnissen kam es zu
Aufenthaltsort. Stattdessen werden sie ge-         gehörigen verweigert, oder man verlegt             größeren Ausbrüchen, weil Inhaftierte
warnt, mit anderen darüber zu sprechen             sie in ein Gefängnis, das so weit vom              nicht geimpft und Infizierte nicht isoliert
oder den Fall an die Öffentlichkeit zu                                                                wurden. Geleakte Briefe an das Gesund-
bringen.                                                                                              heitsministerium belegen, dass selbst Ge-
    Unmittelbar nach der Inhaftierung                                                                 fängnisleitungen wiederholt feststellten,
beginnen meist Folter oder andere Miss-             »Es ist uns nicht wichtig,                        dass sie nicht über genügend Schutzaus-
handlungen, um die Inhaftierten zu be-                                                                rüstung, Desinfektionsmittel und medizi-
strafen, zu erniedrigen und zu »Geständ-
                                                    ob du lebst oder stirbst.«                        nische Geräte verfügten und dass viele
nissen« zu zwingen. Schläge, auch mit               Aussage eines Verhörers                           Häftlinge ein geschwächtes Immunsys-
einer Peitsche, und Aufhängen an den                                                                  tem hätten. Eine Antwort erhielten sie
Gliedmaßen sind dabei die häufigsten                                                                  nicht. Im Jahr 2020 protestierten Gefan-
Formen. In vielen Fällen werden auch                                                                  gene in mindestens acht Haftanstalten
Elektroschocks, Erstickungstechniken wie           Wohnort ihrer Angehörigen entfernt                 mit Hungerstreiks oder angezündeten
»Waterboarding«, sexualisierte Gewalt              liegt, dass Besuche nur schwer möglich             Mülltonnen gegen die Mängel. Als die
oder Scheinhinrichtungen angewendet.               sind. Friedlich Protestierende werden oft          Behörden mit Tränengas und scharfer
Hinzu kommen verschiedene Formen                   zusammen mit Gewalttätern inhaftiert,              Munition gegen die Protestierenden vor-
psychischer Folter wie Beleidigungen und           von denen sie bedroht oder angegriffen             gingen, wurden mindestens 35 Menschen
Obszönitäten, die Androhung einer Ver-             werden.                                            getötet und Hunderte verletzt.
gewaltigung oder einer Hinrichtung. Man                Auf einen weiteren Aspekt hat Amnes-                Ein Gefangener, der bei den Protesten
droht den Inhaftierten außerdem an,                ty im April 2022 in dem Bericht »Im War-           2019 festgenommen wurde, berichtete,
nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern          tezimmer des Todes« (»In Death’s Waiting           man habe ihm im Verhör gesagt: »Wenn
oder zu töten, und schüchtert die Familien-        Room«) hingewiesen: Die Gefängnisbe-               du stirbst, dann stirbst du wie ein Hund.
angehörigen ein und drangsaliert sie.              hörden verweigern Inhaftierten eine not-           Es ist uns nicht wichtig, ob du lebst oder
                                                   wendige medizinische Behandlung, so-               stirbst.« Eine Aussage, die symptomatisch
Medizinische Behandlung verweigert                 wohl bei Verletzungen, die während der             ist für die Haltung der Behörden gegen-
Auch die Unterbringung selbst erniedrigt           Festnahme oder aufgrund von Folter ent-            über Inhaftierten. ◆
die Gefangenen. Das Gegenstück zur Iso-            standen, als auch bei Vorerkrankungen.
lationshaft sind überfüllte Zellen, vor al-        Amnesty untersuchte 96 Todesfälle in               Dieter Karg ist Sprecher der Länderkoordina-
lem nach größeren Verhaftungswellen.               Haft im Zeitraum von 2010 bis März 2022,           tionsgruppe Iran von Amnesty International in
Die Inhaftierten müssen dann ohne Bett             die auf mangelnde medizinische Versor-             Deutschland.

TODESSTRAFE GEGEN DEMONSTRIERENDE
Um Demonstrierende abzuschrecken und weite-        meist wegen Drogendelikten vollstreckt. Nach       »Vergehen«, unter die nahezu alles gefasst
re Proteste zu verhindern, haben Regierung und     einer Gesetzesreform im Jahr 2017 sank deren       werden kann, was mit Protest zu tun hat. Unter
Justiz im Iran zum ultimativen Mittel gegriffen:   Zahl – wie auch die der Hinrichtungen insge-       »Kampf gegen Gott« wird jede Art von Protest
Sie haben Todesurteile verhängt und auch schon     samt – auf etwa 250 pro Jahr. Seitdem hat sie      gegen die Regierung als Statthalter der gött-
vollstreckt. Amnesty International hat 31 Fälle    sich laut Berichten von Menschenrechtsorgani-      lichen Ordnung verstanden wie zum Beispiel
dokumentiert. Derzeit (Stand Mitte Februar)        sationen mehr als verdoppelt: 2022 wurden          das Abfeuern von Schüssen in die Luft, Straßen-
droht mindestens 14 Menschen die Todesstrafe,      mehr als 550 Menschen hingerichtet. Bezüglich      blockaden, das Anzünden von Mülltonnen und
vier (Mohsen Shekari, Majidreza Rahnavard,         der Verurteilung und Hinrichtung von Jugend-       tätliche Angriffe gegen Sicherheitskräfte ohne
Mohammad Mehdi Karami und Seyed Moham-             lichen steht der Iran weltweit nahezu allein da.   Tötungsabsicht. Hinzu kommt, dass in unfairen
mad Hosseini) wurden bereits hingerichtet. Laut    Das Land verstößt damit eklatant gegen inter-      Prozessen unscharfe Videos als Beweismittel
anderen Menschenrechtsorganisationen sollen        nationales Recht. Denn die Todesstrafe soll,       verwendet werden, auf denen die Täter*innen
es bereits 44 Fälle sein.                          wenn überhaupt, nur für schwerste Vergehen         nicht zu identifizieren sind. Auch unter Folter
Der Iran ist – nach China – das Land mit den       wie Mord verhängt werden. Für die Verurtei-        erzwungene »Geständnisse« dienen als Be-
meisten Hinrichtungen. Früher wurden sie           lung von Demonstrierenden greifen die Behör-       weise. Rechtsbeiständen wurde mehrfach die
                                                   den auf zwei Begriffe des islamischen Rechts zu-   Prozessteilnahme oder die Akteneinsicht ver-
                                                   rück: »Kampf gegen Gott« und »Verdorbenheit        wehrt. ◆
18 AMNESTY JOURNAL | 02/2023                       auf Erden«. Beide sind höchst schwammige                                                 Dieter Karg
AUFSTAND IM IRAN
PROTEST UND TODESSTRAFE

Morde mit
Methode
Hinrichtungen als Instrument der Unterdrückung:
Die Todesstrafe hat im Iran eine systemerhaltende Funktion.
Ein Kommentar von Katja Müller-Fahlbusch

M
                   ohsen Shekari, Majidre-   außergerichtlichen Massenhinrichtun-          bereits in der Vergangenheit, und auch in
                   za Rahnavard, Moham-      gen von 1988 von »politischen Hinrich-        Zukunft wird die politische Führung im-
                   mad Mehdi Karami,         tungen«.                                      mer wieder darauf zurückgreifen, wenn
                   Seyed Mohammad Hos-           Solche Hinrichtungen verstoßen ge-        sie denn die Möglichkeit dazu hat.
                   seini. Vier Namen, vier   gen das Völkerrecht. Völkerrechtlich ist          Anstatt aber vor Trauer und Wut ge-
ausgelöschte Leben. Vier von Hunderten,      die Todesstrafe zwar nicht grundsätzlich      lähmt zu sein, wandeln die Protestieren-
die getötet wurden. Diese vier aber wur-     verboten, sie darf aber nur für die schwer-   den ihre Emotionen um: »Tötet ihr einen,
den hingerichtet.                            wiegendsten Straftaten und nur nach ei-       kommen 1.000 nach«, lautet ein bekann-
    Im System der Islamischen Republik       nem ordnungsgemäßen Verfahren ver-            ter Slogan der Bewegung. Und als am 9. Ja-
nimmt die Todesstrafe eine strategische      hängt werden. Beides trifft in der Islami-    nuar bekannt wurde, dass Mohammad
Rolle ein. Todesstrafen und Hinrichtun-      schen Republik in aller Regel nicht zu.       Ghobadlou und Mohammad Boroughani
gen sind nicht nur ein menschenrechts-           Die Protestierenden sind nach islami-     die Hinrichtung drohte, zog eine große
verachtendes Instrument der Strafvoll-       schem Recht zweier Delikte angeklagt, auf     Menschenmenge vor das Gefängnis Go-
streckung, sie sind zugleich brutale Werk-   die die Todesstrafe steht: »Kampf gegen       hardasht nordwestlich von Teheran und
zeuge der politischen Unterdrückung. Die     Gott« oder »Verdorbenheit auf Erden«.         skandierte: »Wenn ihr hinrichtet, dann
Hinrichtungen von Protestierenden und        Amnesty International kritisiert diese        wird es weitere Aufstände geben.«
die Todesurteile, die nach Scheinprozes-     vagen Begriffe seit Langem. Denn darun-           Das Todesurteil Boroughanis wurde
sen, erzwungenen »Geständnissen« und         ter können jegliche Handlungen gefasst        am 11. Januar ausgesetzt – ein großer Er-
in atemberaubender Geschwindigkeit er-       werden, die gegen das politische System       folg für die mutigen Menschen im Iran.
folgen, sollen nur eines bewirken: Angst     gerichtet sind (siehe auch Seite 18).         Mohammad Ghobadlou jedoch droht
schüren und die seit September 2022 an-                                                    weiterhin die Hinrichtung. Auch an ihm
dauernden Proteste zum Erliegen brin-        Todesurteil ausgesetzt                        soll nach dem Willen der politischen
gen.                                         So erging das Todesurteil gegen Mohsen        Führung ein Exempel statuiert werden.
    Schon im Zusammenhang mit der            Shekari wegen »Kampf gegen Gott«. Ihm         Es gilt also weiter hinzusehen und laut
brutalen Niederschlagung der landeswei-      wurde vorgeworfen, am 25. September           zu sein: Für Ghobadlou und für unzählige
ten Proteste im November 2019 kam Am-        2022 einen Milizionär mit einem Messer        politische Gefangene, denen die Todes-
nesty International zu dem Schluss, dass     verletzt und eine Straße blockiert zu ha-     strafe droht, nur weil sie von ihren
die iranischen Behörden die Todesstrafe      ben, damit Sicherheitskräfte nicht durch-     Menschenrechten auf freie Meinungs-
systematisch als Instrument der Unter-       kommen. Sein Scheinprozess fand am            äußerung und Protest Gebrauch gemacht
drückung anwandten. Und bereits im Juni      1. November statt und beruhte unter an-       haben. ◆
1989 sprach Amnesty mit Blick auf die        derem auf einem mutmaßlich durch Fol-
                                             ter erpressten »Geständnis«. Weniger als      Jetzt aktiv werden:
                                             fünf Wochen später, am 8. Dezember,
                                             wurde Mohsen Shekari im Morgengrauen          Katja Müller-Fahlbusch
        »Tötet ihr einen,                    hingerichtet.                                 ist Amnesty-Referentin
    kommen 1.000 nach.«                          Die Trauer und die Wut der Iraner*in-     für den Nahen Osten.
                                             nen lassen sich von außen kaum erfas-
              Slogan der                     sen. Zumal sie genau wissen, dass die
       Protestbewegung                       Hinrichtungen Methode haben. Es gab sie                        AMNESTY JOURNAL | 02/2023 19
AUFSTAND IM IRAN
PROTESTE IN DEN REGIONEN

Widerstand
aus Tradition
Unter den Aufständischen im Iran sind sehr viele Kurd*innen.
Polizei, Milizen und Militär gehen deshalb in den kurdischen
Gebieten besonders hart gegen Protestierende vor. Von Hêlîn Dirik

A
              ls Geburtsorte der derzeiti-    Republik 1979, unterdrückt und leisteten       Verschleppungen kurdischer Protestie-
              gen Protestwelle gelten die     dagegen Widerstand. Die iranischen Be-         render die Runde, Informationen über ih-
              Provinz Kurdistan und ande-     hörden waren sich des Potenzials dieser        ren Verbleib gibt es nicht.
              re kurdische Gebiete im Iran.   Widerstandstradition sehr wohl bewusst,            Die staatliche Gewalt eskaliert be-
              Ein Grund dafür ist, dass die   als sie versuchten, eine öffentliche Beiset-   sonders dort, wo die Bevölkerung mas-
22-jährige Jina Mahsa Amini, die am           zungszeremonie für Jina Mahsa Amini            senhaft auf die Straßen geht und Errun-
16. September 2022 in Polizeigewahrsam        und damit auch Massenproteste zu ver-          genschaften erzielt. So besetzten Protes-
starb, Kurdin war. Bei ihrer Beisetzung in    hindern.                                       tierende zum Beispiel im kurdischen
ihrer kurdischen Heimatstadt Saqqez pro-          Doch konnte die Regierung den Be-          Bukan im November das Rathaus und
testierten Tausende Menschen gegen die        ginn der »Jina-Revolution« nicht aufhal-       mehrere Regierungsgebäude. Die Regie-
Regierung und ihre Repressionsorgane.         ten. Die kurdischen Gebiete und die Re-        rung reagierte darauf mit einer Truppen-
Von dort aus verbreitete sich der Auf-        gion Belutschistan im Südosten (siehe          verstärkung in kurdischen Städten und
stand im ganzen Land und entwickelte          Kasten), wo viel Armut herrscht und die        tödlichen Schüssen auf Protestierende. In
sich unter dem Slogan »Jin Jiyan Azadî«       Mehrheit der Bevölkerung der sunniti-          der Stadt Javanrud nahm die Repression
(Frau, Leben, Freiheit) zu einer Revolu-      schen Minderheit angehört, sind nun            nach Gedenkprotesten für ermordete
tion. Überall wehren sich seither Frauen      Zentren des Aufstands. In Rojhilat wehrt       Protestierende am 31. Dezember deutlich
gegen die Zwangsverschleierung und            sich die Bevölkerung seit Monaten ent-         zu. In den beiden folgenden Wochen wur-
staatliche Gewalt. Und dabei blieb es         schlossen gegen die Sicherheitskräfte. Auf     den nach Angaben der Menschenrechts-
nicht: In allen 31 Provinzen des streng is-   den Straßen sind Parolen zu hören wie:         organisation Hengaw mindestens 40
lamischen und überwiegend schiitisch          »Kurdistan wird das Grab der Faschisten        Kurd*innen aus Javanrud verschleppt.
geprägten Landes wurde in den vergange-       sein«. Jede Woche gibt es Streiks, und in
nen Monaten zum Sturz der politischen         vielen Stadtteilen bilden sich revolutionä-    Angriffe auch außerhalb Irans
und religiösen Führung aufgerufen.            re Jugendgruppen.                              Die Gewalt der iranischen Sicherheits-
     Radikale Forderungen nach einem              Die Regierung geht mit exzessiver          kräfte gegen Kurd*innen beschränkt sich
Systemwandel kommen insbesondere              Gewalt gegen die Proteste vor. Nach An-        nicht nur auf das Inland. Am 24. Septem-
aus den kurdischen Gebieten des Landes,       gaben des Kurdistan Human Rights Net-          ber begannen die iranischen Revolutions-
von Kurd*innen selbst als Rojhilat (Osten)    work töteten die Sicherheitskräfte seit        garden Stützpunkte kurdisch-iranischer
bezeichnet. Kurd*innen sind im Iran           September 2022 mindestens 120 Kurd*in-         Exilparteien im Nordirak zu bombardie-
schon lange politisch organisiert. Sie        nen. Unter den Menschen, denen die Hin-        ren. Dabei wurde auch eine Siedlung von
wurden bereits während des Schah-Regi-        richtung droht, weil sie sich an Protesten     Geflüchteten in Koya angegriffen.
mes, vor der Entstehung der Islamischen       beteiligten, sind sehr viele Kurd*innen.           Die iranische Regierung warf den
                                              Der 22-jährige Kurde Mehdi Karami wur-         kurdischen Parteien vor, die Aufstände
                                              de bereits hingerichtet (siehe Seiten 18       angestiftet zu haben. Seit Jahrzehnten
20 AMNESTY JOURNAL | 02/2023                  und 19). Täglich machen Berichte über          stellen die Behörden jegliche kurdische
Barrikade im kurdisch geprägten
                                                                                                                            Mahabad, Dezember 2022.
                                                                                                                                Foto: Middle East Images / laif

Organisierung als terroristische und se-
paratistische Verschwörung dar. Kurd*in-
                                                           »Kurdistan war schon                           Bewegung, die seit mehr als 40 Jahren ge-
                                                                                                          gen die Unterdrückung der Kurd*innen in
nen werden regelmäßig aufgrund solcher                        immer eine Quelle                           den Staaten Syrien, Irak, Türkei und Iran
Anschuldigungen inhaftiert und hin-                       revolutionärer Ideen.«                          kämpft. Bekanntheit erlangte die Parole
gerichtet. Die jüngste Behauptung des                                                                     durch die Frauenrevolution in Rojava im
hochrangigen Klerikers Ahmad Khatami,                              Sanaz, Kurdin                          Norden Syriens, wo die Frauenverteidi-
Kurdisch sei »die offizielle Sprache der                                                                  gungseinheiten YPJ erfolgreich gegen die
Hölle«, unterstreicht die antikurdische                                                                   bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS)
Haltung der politischen und geistlichen              eine kurdische Aktivistin aus Saqqaz, er-            kämpften.
Führung im Iran.                                     klärt: »Das Regime hat Angst davor, dass                 Dass diese Parole nun auch in der Re-
    Kurdische Parteien werteten die An-              andere Teile des Landes sich ein Beispiel            volution im Iran eine bedeutende Rolle
griffe in Nordirak als ein Manöver, um zu            an Kurdistan nehmen. Denn Kurdistan                  spielt, verdeutlicht den grenzübergreifen-
verhindern, dass sich der Aufstand aus-              war schon immer eine Quelle revolutio-               den Charakter der Kämpfe und Ideen von
breitet. Zudem wolle die Regierung davon             närer Ideen.«                                        Kurd*innen in verschiedenen Staaten, die
ablenken, dass er sich nicht auf die kurdi-              Der Slogan »Jin Jiyan Azadî« etwa, der           sich gegenseitig beeinflussen. Auf die Fra-
schen Gebiete beschränkt, sondern große              zum zentralen Slogan des Aufstands ge-               ge nach Perspektiven für die Zukunft des
Teile der Bevölkerung umfasst. Sanaz*,               worden ist, stammt aus der kurdischen                Iran antwortet Sanaz: »Direkte Demokra-
                                                                                                          tie durch ein Rätesystem ist der einzig
                                                                                                          sichtbare Ausblick.« Die aus dem kurdi-
EIN ZENTRUM DER PROTESTE: DIE PROVINZ SISTAN-BELUTSCHISTAN                                                schen Kirmaşan stammende Aktivistin
Auch in Sistan-Belutschistan finden große De-        dass etwa ein Viertel der Personen, die im er-       Sana* betont die Notwendigkeit eines
monstrationen gegen die Regierung statt. Dafür       sten Halbjahr 2022 im Iran hingerichtet wurden,      grundlegenden sozialen Wandels: »Die
gibt es mehrere Gründe. Die Provinz im Osten,        Belutsch*innen waren, obwohl deren Bevölke-          Grausamkeit geht nicht nur vom Regime
an der Grenze zu Afghanistan, zählt zu den           rungsanteil bei nur fünf Prozent liegt.              aus. Frauen müssen sich zum Beispiel
ärmsten Regionen des Irans. Die Mehrheit der         Die jüngsten Proteste begannen, nachdem ein          auch gegen ihre Ehemänner oder Väter
Bevölkerung gehört der ethnischen Minderheit         15-jähriges Mädchen im September 2022 mut-           wehren. Es wird noch ein langer Kampf –
der Belutschen an, die überwiegend Sunniten          maßlich durch einen Polizeikommandanten ver-         und wir alle müssen zu Freiheitskämp-
sind. Diese Glaubensrichtung wird im Iran, wo        gewaltigt worden war. Der 30. September ging         fer*innen werden.« ◆
der schiitische Islam Staatsreligion ist, zwar ge-   als »blutiger Freitag« in die iranische Geschichte
duldet, aber benachteiligt. Hinzu kommt, dass        ein. In der Provinzhauptstadt Zahedan töteten        * Die Namen wurden zum Schutz der Personen
es in Sistan-Belutschistan separatistische Kämp-     Sicherheitskräfte durch gezielte Schüsse min-        abgekürzt.
fer*innen gibt. Die Staatsmacht sieht daher na-      destens 66 Demonstrierende, darunter zehn
hezu jeden Protest als Unterstützung des Terro-      Minderjährige. Der jüngste Getötete, Javad
rismus an. Amnesty International hat ermittelt,      Pousheh, war elf Jahre alt. ◆                                       AMNESTY JOURNAL | 02/2023 21
AUFSTAND IM IRAN
KAMPF GEGEN REPRESSION

Schlaflose Nächte
Nachdem die junge Iranerin Reyhaneh Jabbari trotz internationaler Proteste 2014
hingerichtet wurde, wurde ihre Mutter Shole Pakravan zur Aktivistin. Sie fordert seither
die Abschaffung der Todesstrafe in ihrer Heimat – inzwischen von Berlin aus.
Die Hinrichtungen von Teilnehmenden der aktuellen Proteste im Iran konfrontieren
sie erneut mit ihrem Schmerz. Von Parastu Sherafatian (Text) und Sarah Eick (Foto)

                                                                      Musste fliehen, um nicht selbst in Haft
22 AMNESTY JOURNAL | 02/2023                                                    zu kommen: Shole Pakravan.
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