Handicapforum - Behindertenforum
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2019 3 handicapforum Einschnitt ins Leben Ein Museum schafft Zugang AmBeWo ermöglicht Selbständigkeit Mitgliedorganisationen :: Schweizerische Vereinigung der Gelähmten ASPr-SVG – Orts- gruppe beider Basel :: Band-Werkstätten Basel :: Fragile Suisse – Basler Vereinigung für hirnverletzte Menschen :: Gehörlosen-Fürsorgeverein der Region Basel :: insieme Basel – für Menschen mit einer geistigen Behinderung :: insieme Baselland – für Menschen mit einer geistigen Behin- derung :: IVB – Behindertenselbsthilfe :: Behinderten-Sport Basel :: Procap Nordwestschweiz – für Menschen mit Handicap :: Schweizerischer Blindenbund – Regionalgruppe Nordwestschweiz :: Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband – Sektion Nordwestschweiz :: Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft SMSG – Regionalgruppe beider Basel :: Schwerhörigen-Verein Nordwestschweiz :: Stiftung Rheinleben :: Vereinigung Cerebral Basel :: Zentrum Selbsthilfe :: Asperger-Hilfe Nordwestschweiz :: Blind-Jogging :: Leben mit Autismus Basel
Perspektiven schaffen Wohn- und Arbeitsplätze im WBZ Haben Sie eine körperliche Behinderung und lassen sich nicht gerne hindern? Suchen Sie nach neuen Möglichkeiten, Ihr Leben zu gestalten? Brauchen Sie Unterstützung, schätzen aber trotzdem das selbstbestimmte Sein? Dann sind Sie bei uns richtig. Wir bieten Wohn- und Arbeitsplätze – interne und externe Wohnpflege mit Betreuung – Arbeits- und Beschäftigungsplätze – Wohntraining Haben wir Ihr Interesse geweckt? Dann kontaktieren Sie uns. Wir freuen uns auf Sie. Cornelia Truffer WOHN- UND BÜROZENTRUM Bereichsleiterin Services FÜR KÖRPERBEHINDERTE cornelia.truffer@wbz.ch Aumattstrasse 70–72, Postfach, CH-4153 Reinach 1 t +41 61 755 71 07 t +41 61 755 77 77 www.wbz.ch BO_Inserat_HF_sw_10:Inserat BBS.qxp 10.02.10 17:02 Seite 1 DIE FÄHIGKEIT ZÄHLT, NICHT DIE BEHINDERUNG DIE FÄHIGKEIT ZÄHLT, DIE FÄHIGKEIT NICHT ZÄHLT, DIE NICHT DIEBEHINDERUNG BEHINDERUNG Basler Orthopädie w w w. re n e - r u e p p . c h Basler Orthopädie René Ruepp AG A u s t r a s s e 1 0 9 , 4 0 51 B a s e l Te l e f o n 0 6 1 2 0 5 7 7 7 7 Fax 061 205 77 78 info@rene-ruepp.ch 2 handicapforum Nr. 3 | 2019
Inha ltsver zeich n is Edito rial THEMA Noch der Gleiche und doch ein anderer 4–6 DarsiLaMano – Geben wir uns die Hand 7 8 Auf dem Abstellgleis 9 AKTUELL AmBeWo ist ein Erfolgsmodell 10–11 Liebe Leserin, Lieber Leser Die Brückenbauerinnen 12–13 Alles ist relativ. Martin Näf erzählt in dieser Ausga- be des Handicapforums von den Folgen seines BEITRÄGE/HINWEISE Hirnschlags und wie er diesen Einschnitt ins Leben verkraftet. Dass er seit Geburt blind ist, hatte ihn Geschichte wird lebendig 14–15 vergleichsweise wenig eingeschränkt, doch jetzt Lebenskunst16 muss er sich – in jeder Beziehung – völlig neu ori- « Ich bin da » – Wir verbreiten Freude 17 entieren (siehe S eiten 4 und 5). Imad Derbas 4. Disability Pride 2019 17 ( Seite 19) ist sehend aufgewachsen, der Verlust sei- Ansonsten munter 18 ner Sehkraft in der Mitte des Lebens war einschnei- « Indoorcycling: Ideal in meiner Situation » 19 dend und hat sein bisheriges Leben auf den Kopf M I T G L I E D O R G A N I S AT I O N E N gestellt. Es ist relativ, das heisst ‹es› steht immer in Beziehung zum jeweiligen Menschen, seinen Vor- IVB: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein! 21 aussetzungen und Bedingungen. Es sind individu- Procap: Neuerungen im Bereich elle Geschichten, aber nicht nur. «Oft ist das Stig- Ergänzungsleistungen22 ma, das einer Behinderung anhaftet oder die Aus- Procap: Anlässe/Veranstaltungen 23 grenzung, die ein Mensch erfährt, ebenso schlimm, Cerebral: Vereinigung Cerebral Basel 24–25 wenn nicht schlimmer als die Behinderung selbst» Fragile: Neue Wegbegleiterin 25 schreibt Walter Beutler in der Rubrik «übrigens». Das sollte uns nicht nur zu denken geben, sondern A D R E S S E N U N D K O N TA K T E auch zum Handeln anregen. Die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist noch Wichtige Adressen ( BTD, Beratungsstellen etc. ) 26–27 immer keine Selbstverständlichkeit. Wir berichten TITELBILD aber auch in diesem Heft von Fortschritten ( siehe Seiten 14 und 15) und wir freuen uns darüber! Blick in die Ausstellung «Zeitsprünge» Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre des Historischen Museums Basel Bild: zVg Barbara Imobersteg Handicapforum - in eigener Sache Durch einen Systemfehler wurden beim letzten Versand einige Adressen doppelt angeschrieben. Im Namen der «gaw» (Gesellschaft für Arbeit und Wohnen) entschuldigen wir uns für diesen Fehler in aller Form und hoffen Ihnen damit keine allzu grossen Umtriebe gemacht zu haben. handicapforum Nr. 3 | 2019 3
T h em a Noch der Gleiche und doch ein anderer «Ich muss mich immer noch daran gewöhnen, dass ich blind und lahm bin». Martin Näf versucht sich wie- der zurecht zu finden und lässt sich seine Selbständigkeit nicht nehmen. Zum Beispiel wenn er in Afrika seine Hilfswerke besuchen geht. Kongolesischer Fahrdienst Bild: zVg bim. «Ich war selbständig, aktiv und voller Ideen - oder weniger gut», wendet er ein. Französisch oder weit über das Fach Erziehungswissenschaft hinaus,» englisch zu sprechen fällt ihm immer noch schwer. erinnert Martin Näf. Als Forscher und Reisender hat er Bücher und Berichte verfasst. Seine Homepage zeugt noch immer von dieser überaus produktiven Zeit. «Das Einbruch ins Leben Buch der Bücher habe ich noch nicht geschrieben», Vor sechs Jahren hatte Martin Näf einen Hirnschlag. sagt Martin Näf mit seiner leichten Ironie «das wäre Dieser Einbruch ins Leben ist mit Leiden verbunden dann natürlich die Wahrheit und die gibt es leider und die Auseinandersetzung damit hält an. «Ich muss nicht.» mich daran gewöhnen, dass ich zwar noch der gleiche aber doch ein anderer Mensch geworden bin», sagt Früher behielt er mühelos eine Fülle von Informatio- Martin Näf. «Und ich gewöhne mich nur schwer daran» nen im Kopf, die er jederzeit abrufen konnte. Stimmen fügt er an. In seiner Stimme schwingt eine Mischung zuordnen, Termine, Wegbeschreibungen und alles, was aus Sterbenwollen und Trotz mit, aber auch Ruhe und das Alltagsleben erforderte, hatte er nebenbei immer Klarheit. Jetzt sitzt Martin Näf im Rollstuhl, die Füsse zur Verfügung, während er las, lernte und lehrte und am Boden, die linke Hand tastend und suchend in der die Welt bereiste. Viele Vorhaben hat er umgesetzt, Luft. Er versucht etwas in Reichweite zu fassen, um nichts schien ihn zu hindern, auch nicht seine Blind- sich zu orientieren. Er flucht. «Es ist mehr als mühsam, heit. Heute kann er wieder Mails schreiben, «mehr wenn ich immer wieder ins Leere greife, aber was kann 4 handicapforum Nr. 3 | 2019
Them a ich machen.» Der rechte Arm und das rechte Bein sind Die totale Umstellung gelähmt. Er kann knapp allein zur Toilette und selb- Plötzlich auf Hilfe angewiesen sein: Für den, der ab- ständig zu Bett gehen. «Wenn ich das nicht mehr kann, solut selbständig und selbstbestimmt durchs Leben dann muss ich vermutlich in ein Heim umziehen», er gegangen war, bedeutet dies die totale Umstellung. lacht: «Jetzt wohne ich noch in einer ganz gewöhn Das Assistenzbudget erlaubt es ihm, weiterhin selb- lichen Wohngemeinschaft.» ständig zu wohnen und gewisse Aktivitäten wieder Vor vier Jahren hatte Martin Näf auch noch einen epi- aufzunehmen. Für die Organisation und Koordination leptischen Anfall – seither vergisst er viel. Wem habe des HelferInnensystems ist auch ein Assistent zustän- ich bereits geschrieben, was haben wir vereinbart? Er dig. Mit der Abhängigkeit geht Martin Näf pragmatisch braucht eine Assistentin oder einen Freund, der ihn um: Klappt mal irgendetwas nicht, nimmt er es locker. daran erinnert. Er müsse lernen, viel mehr Vertrauen «Ich kann tagelang mit mir allein sein und einfach nur in andere zu haben, sagt Martin Näf. «Blind sein war etwas Brot essen» – hier spricht der Weltenbummler, früher kein Thema für mich, Sehen hat mich gar nicht der beispielsweise als blinder Reisender allein auf dem interessiert – und jetzt fehlt es mir plötzlich.» Landweg nach Indien gereist ist und der sich in die- sen fünf Monaten unterwegs auch nicht immer in der Komfortzone wiederfand. Es ereignete sich in Afrika Der Unfall ereignete sich in Afrika, in seinem geliebten Dorf in Niger, wo er viel Zeit mit Freunden verbrachte. Die richtigen Wörter finden Es begann ganz harmlos, das Bein fühlte sich komisch Das Rehabilitations-Training im Sprechen hat er auch an, machte Mühe beim Gehen und Martin Näf liess sich selber in die Hand genommen. Das Lernen war sein in das nächstgelegene Ambulatorium fahren. Dann war Fachgebiet als Erziehungswissenschaftler. Über die auch die Sprache weg. Die Erinnerungen verschwim- Irrtümer der Schule hat er geforscht und geschrieben. men, wenn er jetzt zurückdenkt. Irgendwann lag er im «Jeder muss seinen eigenen Weg finden, es gibt keine Krankenhaus der Hauptstadt und seine Freunde aus Rezepte», sagt er auch in diesem, in seinem, Fall. Das dem Dorf pflegten ihn. Nur wer Familie hat oder sehr Sprechen ist ihm wichtig, die richtigen Wörter finden. viel Geld, wird gepflegt. «Ich dachte immer noch, das Hoch konzentriert drückt sich Martin Näf sehr präzi- gehe bald vorbei, ich fand diese Erfahrung in einem se aus. Ein ähnliches Wort lässt er nicht zu. Wenn er afrikanischen Spital sogar noch spannend», erinnert sich Martin Näf. Bis seine Angehörigen in der Schweiz informiert werden konnten und die Rega einschalteten, verschlimmerte sich sein Zustand. «Ich hätte auch in Niger sterben können, dort hatte ich ja eine glückliche Zeit», meint Martin Näf lakonisch; ob er sich das zu- weilen sogar gewünscht hat, bleibt offen. Früher habe ich nie geweint Dass so etwas in der Schweiz nie passieren würde, ist eine Illusion. Wohl gibt es hier exzellente medizini- sche Pflege und Behandlung, doch immer wieder feh- len dafür Familie und Freunde, so dass Menschen, die einen Hirnschlag bekommen, stunden-, wenn nicht tagelang in der Wohnung liegen bleiben bis sie gefun- den werden. «In der Schweiz mischt man sich nicht ein und bittet seine Freunde ungern um Hilfe, man ver- meidet Situationen, in denen man auf sie angewiesen sein könnte». Martin Näf weint leise, plötzlich ergriffen von der Erinnerung an seine afrikanischen Freunde, an ihre Hilfe und Zuwendung. «Früher habe ich nie geweint», stellt er fest, und mit einem Grinsen: «Ich war ja ein Mann.» Jetzt überkommt es ihn manchmal, das Weinen, und es ist nicht zu unterdrücken und nicht aufzuhalten. Martin Näf steckt die Menschen im Kongo an mit seinem Engagement Bild: zVg handicapforum Nr. 3 | 2019 5
T h em a ein bestimmtes Wort sagen will, so sucht er danach. Im Kongo warten seine Hilfsprojekte Dass seine Familie und Freunde am Anfang geduldig In Kongo warten zwei Hilfsprojekte auf Unterstützung. gewartet und mitgeraten haben, bis er das richti- Martin Näf ist Projektleiter, Kontaktperson, Netzwerker, ge Wort gefunden hatte, war sehr ermutigend. «Ich Fundraiser und der blinde Mann, der die Menschen in habe immer alles verstanden, aber meine Antworten Kongo ansteckt mit seinem Engagement. Letztes Jahr waren meistens falsch», erzählt Martin Näf rückbli- ist er nach fünf Jahren Pause erstmals wieder nach ckend. Er habe sogar Ja und Nein verwechselt und Afrika geflogen – allein, da niemand Zeit hatte, ihn unverständlich gestammelt. Jetzt fliesst seine Sprache zu begleiten. Seine Kongolesischen Freunde haben auf wieder, zuweilen stockend. Fehlt ein Wort, geht er auf ihn gewartet und keinen Aufwand gescheut, um ihn Entdeckungstour, sucht die Wort-Umgebung ab, sor- abzuholen. tiert die falschen Wörter aus, kreist das gesuchte Wort Kann man allein nach Afrika fliegen, wenn man im langsam ein, beharrlich auf seiner Fährte, bis es sich Rollstuhl sitzt und nichts sieht? «Ich hab’s geschafft», zeigt. Sprechen und gleichzeitig wahrnehmen, wer im sagt Martin Näf trocken. Reisen kann er immer noch Hintergrund durch den Raum geht, ist fast nicht mehr und lässt es sich auch nicht nehmen. Er musste zuletzt möglich. Was früher selbstverständlich war, geht nicht aus dem Flugzeug getragen werden, weil in Burun- mehr. Um seine Arbeit wieder aufzunehmen, muss er di kein extraschmaler Rollstuhl zur Verfügung stand. sich verständigen können, und zwar auch auf franzö- «Aber ich bin noch am Leben, und ich habe das Recht sisch. «Französisch zu sprechen, das ist jetzt eben so wie alle andern zu Fliegen ...». Was diese Überzeugung schwierig wie wieder Deutsch zu lernen.» anbelangt, ist Martin Näf kein Anderer geworden. Kongolesische Schule: soll für alle zugänglich werden Bild: zVg 6 handicapforum Nr. 3 | 2019
Them a DarsiLaMano – Geben wir uns die Hand DarsiLaMano ist ein Verein, der helfen will, das Leben in Afrika zu verbessern! Wir unterstützen zurzeit zwei Projekte im Osten der demokratischen Republik Kongo. können. Wer es auch ohne Geld versucht, wird häufig mit Gewalt aus der Schule gejagt. Angesichts dieser Tatsache und angesichts der grossen Armut im Land, gehört es zu den Prinzipien der Ecole d l’Unité, dass niemand aus finanziellen Gründen vom Besuch der Schule ausgeschlossen werden soll. www.ecoleunie-rdc.org Ava – Association Voice Aveugles Das zweitgrößte Land Afrikas liegt im Index der menschlichen Entwicklung auf dem 176. Platz von 188. Der sehr schlechte Zustand der Straßen und der Ge- sundheitsinfrastruktur sowie die extreme Armut wirken sich sehr negativ auf die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung aus. Das betrifft das gesamte Land. Ver- stümmelungen im Krieg oder auf der Flucht sind häufig. Mehrfach behinderte Menschen gibt es ebenfalls viele und die meisten betteln. Fast niemand hat Rechnen und Lesen gelernt. Die Armut ist riesig. Ärzte gibt es nur wenige und sie verlangen viel. Frau Lundimu und eine Gruppe von behinderten Men- schen gründeten 2011 in Uvira eine Selbsthilfegruppe namens «Assoziation Voice Aveugle» (AVA). «Darsila- mano» hilft der «AVA» in zwei Bereichen: DarsiLa Mano: damit ALLE Kinder zur Schule gehen können Bild: zVg 1. Sie versucht allen Behinderten zu helfen, die Hilfe brauchen. Das geht von der Sensibilisierung der Bevöl- kerung Uviras bis zu einem Startkapital für Blinde, die Schule in Butembo ein Geschäft aufmachen wollen oder der Unterstützung Die Ecole de l’Unité ist eine staatlich anerkannte Pri- von Menschen, die im Alter blind geworden sind und vatschule in der Stadt Butembo im Nordosten der nicht mehr für sich selber sorgen können. Demokratischen Republik Kongo. Sie umfasst einen Kindergarten, eine Primar- und eine Sekundarstufe. 2. Sie versucht vor allem jüngeren blinden und seh- Die rund hundert Schülerinnen und Schüler der Ecole behinderten Menschen das Lesen der Blindenschrift de l’Unité werden von elf, meist jungen Lehrkräften beizubringen, und sie soweit vorzubereiten, dass sie unterrichtet. in eine öffentliche Primar- oder Sekundarschule gehen können. Das Schulwesen der Demokratischen Republik befindet sich in einem desolaten Zustand. An vielen Orten gibt https://www.darsilamano.org/ es kein ausreichendes staatliches Schulangebot, und selbst da, wo es ein solches gibt, ist die Qualität in der Regel sehr schlecht. Da der kongolesische Staat seine Lehrkräfte seit Beginn der 1990er Jahre kaum mehr bezahlt, sind diese auf Schulgelder angewiesen. Damit können nur diejenigen Kinder und Jugendlichen zur Schule gehen, die das dafür nötige Geld auftreiben handicapforum Nr. 3 | 2019 7
T h em a Drei Aspekte von Behinderung Eine Behinderung kann für die betroffene Person zur hadert nicht mit seinem Schicksal. Es staunt bloss mit Selbstverständlichkeit werden, zur Normalität, die grossen Augen, was die Welt alles für es bereithält. nicht immer und immer wieder hinterfragt und prob- Bei Erwachsenen kann der Schock einer plötzlichen lematisiert werden muss. Ja sie muss diesen Weg neh- Behinderung oder das Auftauchen einer progressiven men, wenn man mit ihr ein leidliches Verhältnis finden Krankheit in den Abgrund führen, je nach psychischer oder daraus gar – das wäre dann allerdings die höhere Belastbarkeit der betroffenen Person und je nach Stüt- Kunst – einen Nutzen ziehen will, etwa den Anstoss zu ze und Halt durch deren soziale Umgebung. einer Entwicklung hin zum Besseren, die ohne Behin- Es sind also zunächst zwei Mechanismen, über die derung so nicht möglich gewesen wäre. Wo kämen eine Behinderung ihre beeinträchtigende Wirkung wir hin, wenn wir jeden Morgen von neuem hadern entfaltet: einerseits die körperliche (oder kognitive, würden mit dem, was uns widerfahren ist oder noch Sinnes- oder psychische) Behinderung selbst, und immer widerfährt? Wo kämen wir hin, wenn wir unser anderseits deren Wirkung auf die Psyche des Betroffe- ach so schweres Schicksal wie eine Heiligenfigur vor nen und auf dessen soziales Umfeld. Und beide Effekte uns hertragen würden. Irgendwann und lieber früher haben interessanterweise gar nicht so viel miteinan- als später müssen wir damit beginnen, mit unserem der zu tun. So kenne ich Menschen, die haben eine Los Frieden zu schliessen. vergleichbar geringe Behinderung, etwa ein leichtes Das ist einfacher gesagt als getan. Denn jede Behin- Hinken nach einer Polioerkrankung, und diese Behin- derung stellt zunächst ein Schicksalsschlag dar, eine derung verdirbt ihnen ihr ganzes Leben von Grund Zumutung für die Betroffenen. Eine Katastrophe. Sie auf. Und andere sind stark behindert, und trotzdem krempelt das Leben um und lässt keinen Stein auf dem sind sie voller Leben, und es geht so richtig die Post anderen. Diese Katastrophe in sein Leben zu integrie- ab. Für sie gilt: Jetzt erst recht! Jetzt will ich es wissen. ren, stellt eine grosse Herausforderung dar. Und je Wieder andere sind trotz starker Beeinträchtigung ein nach Ausgangslage stehen die Chancen besser oder Sonnenschein, geradezu ein Trost für ihre Umgebung. schlechter, ob das auch gelingt. Tritt die Behinderung Offenbar kommt es nicht bloss darauf an, was für eine vor dem Erwachsenenalter ein, also vorgeburtlich, Behinderung einem widerfährt, sondern ebenso sehr, während der Geburt oder während der Kindheit – auf was für eine Persönlichkeit (und soziales Umfeld) allerdings «lieber» früher als später –, so stehen die diese trifft. Chancen gut, dass die betroffene Person und ihre Um- Ein dritter Aspekt ist die gesellschaftliche Stellung von gebung sich mit der Behinderung arrangieren kann, Menschen mit Behinderung. Viele Verheerungen, die ja auch ihre positiven Seiten, um nicht zu sagen, ihre eine Behinderung mit sich bringt, sind Folgen ihres Chancen schätzen und nutzen lernt. Die gibt es tat- sozialen Nimbus. Oft genug ist das Stigma, das einer sächlich, auch wenn das für Nichteingeweihte absurd Behinderung anhaftet, oder die Ausgrenzung, die ein erscheinen mag. Wenn Sie's nicht glauben, fragen Sie Mensch mit Behinderung erfährt, ebenso schlimm Betroffene! Mit einer Behinderung kann man einen wenn nicht schlimmer als die direkten Auswirkungen Umgang finden, der weit über die reine Resignation selbst, die eine Behinderung auf die betroffene Person hinausgeht. Man kann Frieden mit ihr schliessen – ja hat. Deshalb ist es so wichtig, gegen Ausgrenzung und sogar Freundschaft. Diskriminierung vorzugehen. Die politische ist wie die Sehr viel schwieriger wird das, wenn ein Erwachsener medizinische und, wenn nötig, die psychologische oder ein Jugendlicher von einer Behinderung heim- Intervention ein Teil des Heilungsprozesses. gesucht wird. Die Umstellung ist dann eine grosse Herausforderung, an der man auch scheitern kann – Walter Beutler die betroffene Person ebenso wie ihre Umgebung. Bei einem Kind verbietet sich das Scheitern, zumin- P.S. dest für dessen Umgebung. Und für das Kind selbst Mit diesem Text verabschiede ich mich von Ihnen, ist Scheitern keine Option, kann es nicht sein, da es liebe Leserin, lieber Leser. Er ist so etwas wie die die Lebensumstände, in denen es aufwächst, zunächst Summe meiner Erkenntnisse zum Thema, eingedampft nicht in Frage stellt. Ob lieblich oder grausam, für das zu einem möglichst lesbaren Konzentrat. Dass dieses Kind ist die Welt so, wie sie eben ist. Erst später, als etwas oberlehrerhaft daherkommt, dafür möchte ich Jugendlicher und im Erwachsenenalter, werden die mich an dieser Stelle ein letztes Mal entschuldigen. widrigen Umstände zum Problem erhoben. Ein Kind Der ernste Ton ist dem Inhalt geschuldet. 8 handicapforum Nr. 3 | 2019
Them a Auf dem Abstellgleis Wer mich nicht ernst nimmt, meint es auch nicht gut mit mir. Wenn dieses «gut meinen» zu Ausgrenzung führt, kann es doch nicht gut sein – jedenfalls nicht für diejenigen, die es betrifft. Nein, Sie müssen mich nicht schonen. «Schonen» ist Jedenfalls scheint es Ihnen unangenehm zu sein. Viel- das falsche Wort, wobei es mir nicht um eine Wort- leicht verwirrt oder verunsichert Sie meine unsichtbare klauberei geht, sondern um eine Haltung. Es geht um Behinderung? Aber weshalb reden Sie denn nicht mit das «was» und um das «wie»: was Sie tun und wie Sie mir? Weshalb hören Sie mir nicht einfach zu? Ich bin mir begegnen. Sie sind mein Vorgesetzter und ich bin doch die Expertin in dieser Sache. Haben Sie Berüh- hier angestellt. Ich bin hier nicht zur Kur und bin nicht rungsängste? Ich kann Ihnen versichern: Meine Behin- rekonvaleszent. Ich arbeite hier und ich habe eine derung ist nicht ansteckend. Behinderung. Ich bin sehr gut qualifiziert für meine Aufgaben und möchte sie auch erfüllen. Zweifeln Sie an meiner Kompetenz? Sie sagen, Sie möchten mich nicht Froh und dankbar sein ... überfordern. Ich hoffe, das gilt für alle Arbeitnehmen- Ich muss feststellen, dass interessante Aufgaben und den. Niemand möchte überfordert werden. Da schaut Veranstaltungen sozusagen an mir vorbeigeschleust man hin, nicht wahr? Da fragt man nach und trifft werden, «schonungshalber». Es sind Dinge, die ich tun beispielsweise Vereinbarungen aufgrund eines Stand- könnte und tun möchte. Das verletzt und kränkt mich. ortgesprächs. Weshalb soll das nicht genau so für mich Das macht mich wütend. Ich möchte nicht auf dem gelten? Weshalb machen Sie ausgerechnet bei mir eine Abstellgleis landen. Ich bin unzufrieden bei der Arbeit. Einschätzung ohne Rücksprache? Wer sich mit einer Be- Das darf wohl nicht sein. Unzufriedene Mitarbeiter hinderung in dieser (Arbeits)-Welt bewegt, weiss sehr innen mag man nicht und unzufriedene behinder- gut, was wie geht und kennt den Unterschied z wischen te Mitarbeiterinnen sind ein No-go. Wenn man eine fördern, fordern und überfordern genau. Meinen Sie Behinderung hat und eine Stelle bekommt im ersten wirklich, Sie könnten das besser einschätzen ohne Arbeitsmarkt, so muss man froh und dankbar sein. Und mich? Ich habe keine Behinderung, die sich auf das nett muss man auch sein. Menschen mit Behinderung Denken, die Selbstwahrnehmung oder die Ausdrucks- sollten das Arbeitsklima verbessern, sie sollten eine fähigkeit auswirkt. Gibt es einen Grund, meine Aus- Bereicherung darstellen für den Betrieb – vielleicht sagen nicht ernst zu nehmen? Gibt es vielleicht ein sogar eine Inspiration. Das hat man mir schon erzählt. Vorurteil, das stärker ist als die reale Situation, in der Ich höre immer wieder grossartige Geschichten von wir sind? anderen Menschen mit Behinderungen. Dabei bin ich doch einfach eine Arbeitnehmerin, die eine Leistung erbringt und dafür einen Lohn bekommt. Oder? Am Geld kann es nicht liegen Ich weiss, welche Hilfsmittel ich benötige, damit habe ich Erfahrung. Weshalb zögern Sie bei der Umsetzung Ich muss weg von hier von Massnahmen, die ich behinderungsbedingt brau- Ich habe – ehrlich gesagt – schon an meiner Leistung che, um meine Arbeit zu machen? Am Geld kann es gezweifelt. Ich habe nachgerechnet, meinen Output nicht liegen, denn Sie müssen es nicht bezahlen. Wenn ganz genau überprüft und verglichen. Ich bin über dem ein Rollstuhlfahrer eine Treppenstufe nicht bewälti- Mittelfeld. Ich bin also leistungsstärker als der Durch- gen kann, lassen Sie eine Rampe bauen – problemlos. schnitt in unserem Betrieb. Ich habe angefangen an Sie können das nachvollziehen. Sie sehen das Hin- mir zu zweifeln, weil ich ständig mit dieser Skepsis dernis, Sie finden eine Lösung, Sie können den Erfolg konfrontiert werde. Weil man mich immer wieder für der Massnahme selber überprüfen. Bei mir können Sie unzulänglich erachtet. Weil man mich schont. Ich muss nichts sehen, Sie kennen zwar meine Diagnose, aber weg von hier. Doch wohin? Wer stellt Menschen mit sie wissen natürlich nicht, wie es sich anfühlt. Liegt es Behinderungen ein? Wer begegnet uns auf Augenhöhe, demnach an der Unsichtbarkeit meiner Behinderung? offen, vorurteilslos – einfach normal? Dass Sie meinen Worten glauben müssten und dass nur ich selber den Erfolg der Massnahme überprüfen kann? Aufgezeichnet von Barbara Imobersteg handicapforum Nr. 3 | 2019 9
A ktu e l l AmBeWo ist ein Erfolgsmodell Roland Schneider wohnt seit vielen Jahren selbständig und mit ambulanter Begleitung. Er hat ein gutes Konzept und das hat er im Kopf. Roland Schneider: langweilig ist ihm nie Bild: Barbara Imobersteg bim. «Es ist eine Frage der Einteilung», sagt Roland könnte, wenn etwas wäre. Ein Kurzschluss zum Beispiel. Schneider. Er wohnt nun schon seit zwanzig Jahren Aber bislang gab es keine Pannen. Staubsaugen wird selbständig mit AmBeWo und weiss, wie er sich am also am Abend erledigt. Gross kochen ist nicht nötig besten organisiert. «Staubsaugen kann ich zum Bei- am Feierabend, denn über Mittag gibt es eine warme spiel nicht frühmorgens vor der Arbeit, das wäre zu Mahlzeit in der Kantine. Allerdings könnte Roland laut für die Nachbarn», Roland Schneider schätzt ein Schneider schon etwas Gutes auf den Tisch bringen, gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Er wohnt in einer denn er hat schon Kochkurse besucht im Bildungsclub. Überbauung mit mehreren kleinen Wohnblocks. Dass man sich freundlich grüsst auf dem Flur ist für ihn selbstverständlich. Er weiss auch, bei wem er klingeln 10 handicapforum Nr. 3 | 2019
Aktu e l l Gut eingeteilt Dranbleiben Roland Schneider arbeitet bei der Sauter AG, Gebäude- Roland Schneider ist vielseitig interessiert und will viel management und Raumautomation. Konkret ist er bei wissen und lernen. Seine Schulzeit hat er im Schul- der Produktion von Klimaanlagen beschäftigt. Ange- heim «zur Hoffnung» absolviert, anschliessend eine stellt ist er aber nach wie vor bei den Band-Werkstät- Anlehre im Bürgerspital. Seither bildet er sich selber ten. Nachdem sich die Auftragslage für die geschützte weiter. Zurzeit besucht er einen I-Phone-Kurs. Mit Werkstätte verschlechtert hatte, konnten einige Mitar- der ständigen Weiterentwicklung der elektronischen beitende an die Sauter AG vermittelt werden. Das war Geräte und der Software-Produkte mitzukommen, ist eine Umstellung, aber Roland Schneider ist sehr zufrie- eine Herausforderung. Erfolgt ein Update, sieht plötz- den. Alle haben ganz normal reagiert und so konnte er lich alles anders aus. Kommt ein neues System, wie sich auch ganz normal einarbeiten. «Man muss einfach zum Beispiel Netflix, braucht es einen Adapter. Und so gut zuhören, dann schnallt man es auch», ist seine Er- weiter. Roland Schneider möchte dranbleiben. Seine fahrung. Während er in den Band-Werkstätten an der Selbständigkeit und Unabhängigkeit sind ihm wich- Drehbank gearbeitet hat, steht er jetzt an der Press- tig, auch beim Wohnen. Spontan weggehen können, maschine. Die Arbeit ist ihm wichtig, nicht nur, weil sich nicht einer Wohngruppe anpassen müssen, das es ihn interessiert, sondern weil er sich auch etwas gefällt ihm. «Am Anfang war es komisch», erinnert sich leisten möchte. «Ich habe noch nie Schulden gehabt», Roland Schneider. Er musste das Alleinsein lernen. Die sagt er stolz. Damit seine Buchhaltung stimmt und alle Wohnschule war ausgebucht, damals, als er aus dem Rechnungen pünktlich bezahlt werden, nimmt er das Elternhaus auszog. Er musste also selber ein Konzept Angebot von AmBeWo in Anspruch. Alle zwei Wochen machen – selber und mit der Hilfe seiner Eltern, seiner kommt Alex für die Finanzen. Nicht nur die Hausarbeit, Brüder und dem AmBeWo. «AmBeWo ist ein Erfolgs auch das Geld muss ja gut eingeteilt werden. modell», ist Roland Schneider überzeugt, «nicht um- sonst gibt es das nun schon seit 25 Jahren.» Gute Unterhaltung Wenn am Abend alles erledigt ist, hat Roland Schnei- Reisen in ferne Länder der gute Unterhaltung zur Hand: zum Beispiel Musik «Das selbständig Wohnen ist auch günstiger als eine und Filme. Er hört gern Oldies, aber auch Trance oder Institution», bemerkt Roland Schneider. Er legt näm- er schaut sich noch einen Dokumentarfilm an. «Es ist lich möglichst viel Geld zur Seite, denn er hat eine doch wichtig, dass man weiss, wie es ist auf der Welt», grosse Leidenschaft, die auch etwas kostet: Er liebt das hält er fest. Serien und Spielfilme stehen bei ihm des- Reisen in ferne Länder. Er erzählt von Miami, P anama, halb selten auf dem Programm. Ab und zu ein Game Vietnam und Namibia. Er weiss viel. Er hat sich mit zur Abwechslung. Nein, langweilig ist ihm nie. Wenn seinen Reiseländern befasst, er weiss, wo Bangkok die Hausarbeit gut eingeteilt ist, gibt es ja auch jeden liegt, kennt die Geschichte des Panama-Kanals, und Tag noch etwas zu tun. Nur bügeln ist nicht seine Sache. die der Kriegsverbrechen in Vietnam. Und er kann es Die Hemden bringt er zur Reinigung. Zerknitterte Klei- kaum fassen, wie klein die reiche Schweiz wird, wenn der würden nicht zu ihm passen. Am Wochenende man in die Welt hinausgeht. Das nächste Reiseziel ist besucht er meistens seine Freundin. Auch sie wohnt derzeit noch nicht festgelegt. Roland Schneider wartet selbständig und die beiden sind schon seit 35 Jahren auf die neuen Angebote von Procap-Reisen. Australien ein Paar. Am Donnerstagabend wird gemeinsam Tisch- wäre jedenfalls noch auf der Wunschliste ... tennis gespielt bei Plusport. «Das ist ein guter Aus- gleich», sagt Roland Schneider, «nichts gegen Arbeiten, aber manchmal muss man auch abschalten und beim Sport trifft man andere Leute.» handicapforum Nr. 3 | 2019 11
A ktu e l l Die Brückenbauerinnen AmBeWo, die ambulante Wohnbegleitung der Stiftung Mosaik feiert ihr 25-Jahr-Jubiläum. Aus den anfäng- lich zehn Klientinnen und Klienten sind 120 geworden. Mit AmBeWo bewältigen sie selbstbestimmt ihren Wohnalltag. Handicapforum im Gespräch mit den beiden Co-Leiterinnen Monica Bischof und Silke Beck. Monica Bischof und Silke Beck ermöglichen selbständiges Wohnen Bild: Barbara Imobersteg Handicapforum, Barbara Imobersteg: Ein langjäh- anspruchsvoll, sich in der Welt zu orientieren, ins- riger Klient von Ihnen sagte unlängst, AmBeWo besondere in unserer schnelllebigen Zeit, in der sich sei ein Erfolgsmodell. Er sei rundum zufrieden mit ständig alles verändert. Zum Beispiel einkaufen, wenn I hren Dienstleistungen und mit seiner Wohnsitu- man nicht, oder nur wenig lesen kann, ist eine Heraus- ation. Woraus besteht das Erfolgsrezept aus Ihrer forderung und eine grosse Anstrengung. Kognitive Be- Sicht? einträchtigungen können sich in allen Lebensbereichen Monica Bischof: Was sicher entscheidend ist: dass wir auswirken. Die Kommunikation ist auch ein grosses Wahlmöglichkeiten anbieten. Unsere KlientInnen kön- Thema, da sind wir oft die Übersetzerinnen. nen selber über ihre Wohnform bestimmen und sich bei uns die notwendige Unterstützung organisieren. Sie sind es auch, die uns den Auftrag geben … Wie muss man sich das konkret vorstellen? Haben Silke Beck: … oder auch davon absehen. Wir sind hier Sie ein Beispiel? wirklich im freiwilligen Bereich. Die Freiwilligkeit ist M.B.: Nehmen wir einen Arztbesuch. Die Klientin wichtig. wünscht eine Begleitung, da sie aus Erfahrung weiss, M.B.: Alle Mitarbeitenden bei AmBeWo sind ausgebil- dass sie die Fragen und Mitteilungen des Arztes nur un- dete Sozial- oder HeilpädagogInnen. Damit können wir zureichend versteht. Wenn wir sie begleiten, vermit- professionell und zielorientiert auf unsere KlientInnen teln wir zwischen Arzt und Patientin. Wir übersetzen in mit ihren sehr unterschiedlichsten Bedürfnissen und eine einfache Sprache, so dass beide Parteien lernen, Anforderungen eingehen. sich verständlich auszudrücken. So wird nach und nach eine direkte Verständigung möglich. S.B.: Oder im Kleidergeschäft: Wenn ich dabei bin, Sind denn die KlientInnen so schwierig? erfährt die Verkäuferin, wie sie die Kundin mit einer S.B.: Nein. Die Schwierigkeiten ergeben sich aus den Beeinträchtigung beraten kann und meine Klientin übt, Einschränkungen, die sie haben. Menschen mit ein- sich verständlich auszudrücken. geschränkten kognitiven Fähigkeiten stossen in ver- M.B.: Wir sind Brückenbauerinnen. schiedenen Lebenssituationen an Grenzen. Es ist sehr 12 handicapforum Nr. 3 | 2019
Aktu e l l Stossen Menschen mit einer kognitiven Beeinträch- Welches sind denn die Hauptthemen in den Beglei- tigung zuweilen auch auf Ablehnung? tungen? S.B.: Ja, das kommt vor. Immer noch sind Menschen M.B.: Es ist sehr unterschiedlich. Wir begleiten 120 mit Behinderungen vielen fremd; sie lösen deshalb KlientInnen und sie nehmen ganz unterschiedliche Verunsicherung und in der Folge oft auch Ablehnung Hilfestellungen bei der Bewältigung ihres Alltags in aus. Dass sie mitten unter den Leuten sind und überall Anspruch – je nach ihren Voraussetzungen und ihrem am gesellschaftlichen Leben teilhaben, ist noch nicht sozialen Umfeld. Wir unterstützen sie bei ihrer priva- selbstverständlich. Dieses Teilhabemodell dringt seit ten Administration, beim Erstellen und Verwalten ihres der Annahme der Behinderenrechts-Konvention im Haushaltsbudgets und auch in anderen finanziellen Jahr 2014 und dem neuen Behindertenhilfe-Gesetz Belangen – es gilt, meist sehr knappe finanzielle Res- der beiden Basel erst langsam ins Bewusstsein. sourcen zu verwalten. Weitere Themen sind die Woh- nungseinrichtung und -pflege, Nachbarschaft, soziale Kontakte, Freizeitgestaltung, Gesundheitsfragen … AmBeWo ist ja schon älter, ist sozusagen Pionier in dieser Sache ... M.B.: … man sprach vor 25 Jahren noch nicht von In- … und bei Notfällen, haben Sie eine Hotline? klusion, aber wir sprachen bereits von einem selbst- S.B.: Nein, wir besprechen mit den KlientInnen, was bestimmten und eigenverantwortlichen Leben: Auch im Notfall zu tun wäre und geben Ihnen die üblichen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sollten Notfallnummern. Wir orientieren uns am Normalisie- die Möglichkeit haben, ihre Wohnform selber zu wäh- rungsprinzip. Alle Angebote der öffentlichen Infrastruk- len. AmBeWo startete dann im Rahmen eines Pilot- tur stehen ja auch unseren KlientInnen zur Verfügung projekts der Stiftung Mosaik mit zwei Teilzeitstellen à und sollen von ihnen genutzt werden können. vierzig Prozent. M.B.: Oft bedarf es unsererseits nur einer minimalen Präsenz, aber es ist für die KlientInnen wichtig zu wis- sen, dass jemand für sie da ist, wenn eine Schwierigkeit Und jetzt? auftaucht, die sie überfordert oder verunsichert, wenn S.B.: Heute haben wir zwölf Mitarbeitende mit insgesamt sie beispielsweise Angst haben, dass das Geld nicht 720 Stellenprozenten und Leistungsvereinbarungen mit reicht oder dass sie ihre Wohnung verlieren könnten. den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft. Sie wissen, dass wir ihnen offen, wertschätzend und vertrauensvoll begegnen. S.B.: … und dass wir sie ermutigen! Leider machen alle Das Erfolgsmodell ... auch schlechte Erfahrungen, werden in ihren Fähigkei- M.B.: … AmBeWo war das passende Angebot angesichts ten verkannt oder aufgrund einer unsichtbaren Behin- des gesellschaftlichen Wandels, wonach Menschen mit derung falsch eingeschätzt. Sie werden immer wieder Behinderung nicht mehr separiert und bevormundet ausgegrenzt – auch wegen der fehlenden finanziellen werden sollten. Möglichkeiten …. M.B.: Teilhabe muss immer wieder neu erkämpft wer- den. Wer sind Ihre KlientInnen und wie finden sie zu AmBeWo? S.B.: Wir begleiten Menschen mit kognitiven Beein- Gibt es auch Selbsthilfe, gegenseitige Hilfe oder trächtigungen, mit Hirnverletzungen, Aufmerksam- Erfahrungsaustausch? keitsstörungen, zum Teil auch mit Sinnes- und Kör- S.B.: Ja, wir bieten einen Stammtisch an, der rege perbehinderungen oder aus dem Autismus-Spektrum. genutzt wird. Wir greifen immer wieder Themen auf, Unser Angebot ist inzwischen nicht nur bei den sozia- um sie an unseren Treffs mit allen Interessierten zu len Institutionen und Behörden bekannt, sondern auch besprechen. bei den Familien und potenziellen KlientInnen. Sie M.B.: Unser nächster Anlass, der jährliche AmBeWo- erzählen von AmBeWo. Es melden sich aber nicht nur Apéro, steht aber ganz im Zeichen unseres 25-Jahr- Interessierte, die sich als junge Erwachsene selbständig Jubiläums. Da werden wir alle zusammen feiern! machen wollen, sondern auch Personen, die es nicht mehr gut allein schaffen, sei es aus gesundheitlichen www.stiftungmosaik.ch ( unter AmBeWo BL/BS ), oder sozialen Gründen. Tel. 058 775 28 28 / ambewo@stiftungmosaik.ch, Bachlettenstrasse 12 in Basel oder Hohenrainstrasse 12C in Pratteln handicapforum Nr. 3 | 2019 13
Bei träge Geschichte wird lebendig Das Historische Museum Basel macht ernst. Es öffnet seine drei Häuser für Menschen mit Behinderung – angesichts der alten Bausubstanz ein anspruchsvolles Unternehmen. Ein Monitor auf Rollstuhlhöhe, im Hintergrund die Rampe – langsam, aber sicher wird das Museum zugänglich Bild: zVg bim. Geschichte hautnah erleben: Das möchte das His- dass auch er für alle Gäste besser erreichbar ist. In torische Museum Basel vermitteln. Gilt dieses Ange- allen drei Häusern wurde, und wird weiterhin, die Be- bot auch für Menschen mit Behinderungen? Haben sie leuchtung verbessert, auch die alten Gefängniszellen Zugang zu den Gebäuden, zu den Exponaten, zu den im Musikmuseum sollen nach und nach heller werden. Informationen? Die Antwort heisst: mehr und mehr. Zugänglich für alle sind sie indes (noch) nicht, für Roll- Die drei Häuser des Historischen Museums, die Barfüs- stühle sind sie schlicht zu schmal gebaut. Optimiert serkirche, das Haus zum Kirschgarten sowie das Musik- wird die Sicht nun aber auch durch das Entspiegeln museum sind allesamt Altbauten, die sich nicht ohne der Vitrinen und durch kontrastreiche Beschriftungen. weiteres erschliessen lassen. Trotzdem wird nun der Die gesamte Informationsvermittlung ist im Histori- Zugang Schritt für Schritt ermöglicht oder verbessert. schen Museum ein Thema geworden, und auch sie wird Schritt für Schritt behindertengerecht gestaltet: Eine einfachere Sprache, eine Induktionsschlaufe für Hörbe- Schritt für Schritt behindertengerecht hinderte, eine zugängliche Homepage… Geplant ist die In der Barfüsserkirche sind in diesem Jahr bereits Darstellung aller Exponate auf der Museums-Home- bauliche Anpassungen vorgenommen worden, um page, so dass man, zusätzlich zu den vorhandenen Besucherinnen und Besuchern mit Mobilitätsbehin- E-Guides, mit dem eigenen mobilen Gerät, und damit derungen einen besseren Zugang zum erhöhten Chor den individuellen, allenfalls angepassten Einstellun- zu gewährleisten. Dazu wurde eine fast zwanzig Meter gen, alle Informationen abrufen kann. lange Rampe vor dem «Häuptergestühl» – einem Hauptwerk der Basler Schnitzkunst aus der Spätrenais- sance – eingebaut. Sie ermöglicht nun, das monu- Virtueller Rundgang mentale Werk auch aus erhöhter Perspektive und vom Die historischen Gebäude für eine inklusive Nutzung Rollstuhl aus zu betrachten. Der Basler Münsterschatz umzubauen, ist herausfordernd. In der Barfüsserkirche soll in naher Zukunft zügeln und so platziert werden, und im Musikmuseum konnten schon einige Barrieren 14 handicapforum Nr. 3 | 2019
Beiträge abgebaut werden. Über den Stand der Zugänglichkeit das Mitdenken. Bei allen Angeboten, Neuerungen und kann man sich über den «Procap-Zugangsmonitor» Planungen werden im Historischen Museum Besuche- unter «Lage + Anfahrt» kundig machen. Das Haus zum rinnen und Besucher mit Behinderungen mitgedacht Kirschgarten, Ende des 18. Jahrhunderts für den Sei- und miteinbezogen. Dass sie ganz unterschiedliche denbandfabrikanten Johann Rudolf Burckhardt erbaut, Bedürfnisse haben, die sich teilweise sogar widerspre- ist überhaupt nicht rollstuhlgängig. Mit der geplanten chen, ist eine zusätzliche Herausforderung. Sämtliche Sanierung ab 2021 soll aber auch hier Zugang gewähr- Anpassungen kommen jedenfalls sowohl dem älteren leistet werden. Zwischenzeitlich wird ein virtueller Stamm-Publikum zugute als auch neuen Interessierten, Rundgang erstellt. Das heisst, alle Häuser werden in die nun erstmals auf diese Weise angesprochen wer- 3D, also dreidimensional, gescannt und sollte dann den. Führungen für Blinde und Sehbehinderte standen wirklichkeitsnah auf der Homepage besucht werden schon lange auf dem Programm. Nun wird sich die Mu- können. seumspädagogik vermehrt auch anderen Gruppierun- gen zuwenden, sei es mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen. In diesem Zusammenhang wird im Musik trotz allem Musikmuseum ab November auch ein Kurs angebo- Manuel Eichenberger, kaufmännischer Direktor des His- ten in Kooperation mit der Musikschule «Musik trotz torischen Museums nimmt Behindertengleichstellung allem». Noch bis ins Jahr 2022, insgesamt vier Jahre, ernst und folgt den gesetzlichen Vorgaben. «Für einige läuft die Label-Partnerschaft mit «Kulturinklusiv». Das Probleme gibt es überraschend einfache Lösungen, für historische Museum schreibt in dieser Zeit hoffentlich andere wird es ebenso überraschend aufwändig», fasst noch viel Geschichte zur Umsetzung inklusiver Mass- er die bisherigen Erfahrungen zusammen. Zentral sei nahmen. Das Historische Museum Basel gilt mit seinen drei Häusern als das bedeutendste kulturhistorische Museum am Oberrhein. Die Ausstellungen in der Barfüsserkirche vermitteln die historische Identität von Basel an der Schnittstelle der Kulturen der Schweiz, Deutschlands und Frankreichs. Der Basler Münsterschatz und die Fragmente des Basler Totentanzes zählen zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Im ehemaligen St. Leonhardskloster und späteren Gefängnis befindet sich seit 2000 das Musikmuseum, das mit rund 3'300 Objekten über die grösste Instrumentensammlung der Schweiz verfügt. Das barocke Stadt palais Haus zum Kirschgarten zeigt Basler Wohnkultur und beherbergt bedeutende Sammlungen aus den Bereichen Porzellan und Fayencen, Uhren und Wissenschaftliche Instrumente sowie Spiele und Spielzeug. www.hmb.ch Basiskurs Kids 7 - 11-Jährige ( 11.10 - 12 Uhr ) Das Musikmuseum Basel bietet in Zusammenarbeit mit «Musik trotz allem» jeweils samstags von November 2019 bis März 2020 einen Musikkurs für Kinder und Jugendliche an Lokalität Im «Roten Saal», 3. OG ( barrierefrei ), im Musikmuseum Basel, Im Lohnhof 9, Basel Musikpädagogische Leitung Eine Lehrperson mit mehrjähriger Berufserfahrung und heil- bzw. sozialpädagogischen Zusatzwissen; nach Bedarf punktuelle Assistenz Inhalte Kennenlernen, Erfahren, Üben, Gestalten von musikalischen Parametern wie laut/leise, schnell / langsam usw. Von jeder der fünf Instrumentenfamilien ein Instrument kennenlernen und vor Ort ausprobieren, wie z.B. Querflöte, Violine, Xylophon, Bassgitarre, Schlagzeug und körpereigene Instrumente (Body-Percussion) Wer macht mit Alle, die gern singen und / oder ein Instrumen spielen Teilnahmegebühr CHF 280.— für elf Lektionen Information und Anmeldung: Babette Wackernagel Batcho, Tel. 061 271 72 72 / babette.wackernagel@musik-trotz-allem.ch www.musik-trotz-allem.ch handicapforum Nr. 3 | 2019 15
Bei träge Lebenskunst tischen Ansätze zu verorten und nachzuvollziehen oder man kann mit der Praxis beginnen und sich direkt den verschiedenen Fragen, Techniken und Übungen widmen. Wie hat es Kira geschafft, mit ihren massiven körperli- chen Einschränkungen, mit ihrem hohen Assistenzbe- darf und mit ihren vielen Schmerzen so lebenbejahend und auch immer wieder so lustig zu sein? Kira war kein Engel, sie konnte auch einmal «Scheisse» sagen, wenn es nötig war, aber sie hatte eine Kraftquelle, die ihr mit dem Erwachsenwerden auch zunehmend b ewusst wurde: Sie setzte auf die Liebe. Sie tankte Energie und Lebensfreude in der liebevollen Zuwendung ihrer E ltern, Geschwister und Freundinnen und sie gab selber Liebe und Zuwendung. Sie machte dies zu ihrer Aufgabe, die Das Buch ist ein Vermächtnis. Kira, eine mutige, kluge sie überzeugt und verantwortungsvoll erfüllte. «Meiner junge Frau von grosser innerer Lebendigkeit hat es uns Familie meine Liebe schenken» wurde denn auch der hinterlassen, respektive in Auftrag gegeben. Kira hatte Titel dieses Resilienz-Buches. einen Gendefekt und war von Geburt an schwer krank, dadurch zunehmend behindert, angewiesen auf Me- Resilienz, die Fähigkeit zur Belastbarkeit und inne- dikamente und Assistenz, zum Schluss rund um die rer Stärke ist wohl oft aus innerer Not geboren, man Uhr. Sie war gleichwohl eine strahlende, humorvolle kann diesen «Muskel» aber auch trainieren. Kira hat Person, die ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nahm dazu ihr eigenes Diagramm entworfen, das die Seg- und den Moment in vollen Zügen geniessen konn- mente «Kuscheln», «Medikamente», «Ablenkung» und te. Im Jahr 2017 ist sie im Alter von achtzehn Jahren «Aushalten in apathischer Haltung» beinhaltet, wobei verstorben. Eben hatte sie noch ihr Abitur gemacht, das «Kuscheln» mehr als die Hälfte einnimmt. Stefa- mit künstlicher Beatmung und mit Opiaten, die ihre nie Spross hat daraus ein Resilienz-Modell abstrahiert Schmerzen zumindest teilweise minderten. Sie wuss- mit den Begriffen «Einbindung», «Verantwortung», te, dass ihr Abschied bevorstand und legte rechtzeitig «Optimismus», und «Akzeptanz». Jedem Baustein ist ihre Überlebensstrategien, die sie sich erarbeitet hatte, ein Gastbeitrag zugeordnet, der auf die konkreten bereit für die Nachwelt. Ihre Mutter sollte daraus ein Erfahrungen und Erlebnisse der Familie Spross Bezug «Mutmach-Buch» zusammenstellen. Zwei Jahre später nimmt: Es berichten der Vater, der Bruder, gute Freun- liegt es nun vor unter dem Titel «Meiner Familie meine de, die Schulassistenz und die Ärztin. Man kann aber Liebe schenken». Stefanie Spross hat den Wunsch ihrer die verschiedenen thematischen Bereiche auch in der Tochter realisiert, so, wie sie das Kind mit seinen Be- Selbstbeobachtung und in der Zwiesprache mit sich dürfnissen stets ernst genommen hat. Dass Kira viel zu selbst durchgehen. Viele Fragen laden ein nachzuden- sagen hatte zum Leben und der Kunst es zu bewälti- ken, Neues zu entdecken und auszuprobieren. Es gibt gen, hatte sie schon längst erkannt. Der «mutige» Weg Platz für Notizen und viele Lesehinweise, die für die war der Weg der Familie Spross - von Anfang an und eigenen, weiteren Recherchen genutzt werden kön- erst recht angesichts der Herausforderungen mit einem nen. Das Mutmach-Buch inspiriert. Es verbindet Kiras schwerkranken Kind. Gefühlstiefe und Weisheit mit ihrer praktischen und direkten Vorgehensweise, die sie uns vorgelebt hat. «Wir haben das Negative immer mit dem Positiven ver- Ihre «Resilienz für den Alltag» ist ein schönes und ein bunden», sagte Kira noch zu Lebzeiten. Es klingt ganz besonderes Vermächtnis, das uns ihre Mutter nun in einfach. Das «Mutmach-Buch» ist aber alles andere einer professionellen Weiterbearbeitung und in einer als banal, es ist weder beschönigend noch vereinfa- sehr ansprechenden Form zugänglich macht. chend, es unterhält nicht mit Binsenwahrheiten und es ist schon gar nicht missionarisch. Es ist ein Ange- Barbara Imobersteg bot. Stefanie Spross hat die Strategien ihrer Tochter als Resilienz-Modell weiterentwickelt, das einerseits auf den Erkenntnissen der Resilienzforschung basiert und Stefanie Spross: andererseits mit den erprobten Methoden Kiras und «Meiner Familie meine Liebe schenken», ihrer Familie verknüpft ist. Man kann ihre Geschichte Doris-Verlag, ISBN: 978-3-9810623-8-0. lesen, um die nachfolgenden theoretischen und prak- Weitere Informationen: www.coaching-spross.de. 16 handicapforum Nr. 3 | 2019
Hinwei se « Ich bin da » – Wir verbreiten Freude «Teigwahrheiten», «Saft vo de Chueh», «ich fröi mi mit Schwerkraft» (Schokoladenpostkarten), «Beiträge zu Erleuchtung» (Lampendesign), «Ferie sind so toll, denn chan ich usschlofe wi Sand am Meer» (Plakatserie)… Viele Ideen sind bereits umgesetzt, neue überraschen- de Motive auf den verschiedensten Produkten des All- taglebens lassen die Herzen hüpfen und aktivieren die Gehirnzellen. Unzählige weitere Entwürfe liegen noch bereit, um Designer und Designerinnen zu inspirieren und später auf den Ladentisch zu kommen. Bettwäsche - Design Bild: zVg Die KünstlerInnen von «Ich bin da» sind anders und genau das stimmt! «Ich-bin-da» akzeptiert Menschen mit Behinderungen nicht nur als gleichwertige Indivi- Helena ist behindert und möchte mithelfen, Geld zu duen, sondern hebt die Abweichung von der Norma- verdienen. Ihre Mutter, Veronika Kisling möchte die Öf- lität im Sinne einer besonderen Wertschätzung hervor. fentlichkeit sensibilisieren und einen Beitrag zur Inte- Das gemeinsame Ziel heisst: Wir wollen diese Produkte gration von behinderten Menschen leisten. Aus dieser verkaufen. Den Gewinn möchten wir an soziale Pro- Situation ist eine innovative Geschäftsidee entstanden: jekte spenden. So können wir zusammen mit kogni- Mit Plakaten, Postkarten, Produkte-Etiketten und tiv behinderten Menschen einen wertvollen Mehrwert Design aus ausdrucksstarken künstlerischen Motiven für die Gesellschaft schaffen. Die Produkte der «Ich und hintersinnigen Wortkreationen von Menschen mit bin da»-KünstlerInnen eignen sich hervorragend, um Behinderungen springen wir an die Öffentlichkeit und so richtig Lust auf Inklusion zu machen und den un- erobern den grossen Markt. Dabei machen wir ihren schätzbar wertvollen Beitrag von Menschen mit Behin- unschätzbar wertvollen Beitrag an die Gesellschaft derungen an die Gesellschaft zeigen. sichtbar! Vom 19.9. bis 3.10.2019 findet im Rahmen der Eröff- «Ich bin da» heisst das Label, das daraus entstanden nung der Tagesklinik im REHAB Basel eine kleine Pla- ist. Es kennzeichnet Produkte, die nach Anregung von katausstellung statt. Zu bestaunen gibt es auch Bett- Menschen mit einer kognitiven Behinderung entstan- wäsche und Duschvorhänge von «Ich bin da!» den sind und hat sich der sozialen, ökonomischen und Eröffnung: 19.9.2019 ab 17 Uhr. ökologischen Nachhaltigkeit verschrieben. «Ich bin da» sucht die Zusammenarbeit mit etablierten Schweizer Fir- http://www.ich-bin-da-produkte.ch men, möchte den Weg in den Detailwarenhandel schaf- Kontakt: Veronika Kisling, Telefon 061 753 71 38, fen und dort Freude bereiten und zum Denken einladen. info@veronikakisling.ch 4. Disability Pride 2019 Es sind ALLE – mit oder ohne Behinderungen, Grup- Der gemeinnützige Verein «Disability Pride Zurich» pen und Einzelpersonen, ZürcherInnen und Nicht- will erreichen, dass das Verständnis gegenüber von ZürcherI nnen – herzlich dazu eingeladen, am Menschen mit Behinderungen im Bewusstsein der Umzug teilzunehmen und ein Zeichen zu setzen: Gesellschaft präsent ist / bleibt. Das Motto des fried- «Menschen mit Behinderungen sind Teil unserer lichen Umzugs lautet «Menschen mit Behinderun- Gesellschaft!» gen sind Teil unserer Gesellschaft». Der Umzug ist ein gemütlicher Spaziergang durch die Innenstadt Datum Umzug: Samstag, 7. September 2019 Zürichs und findet seit 2016 einmal pro Jahr statt. Besammlung: 13.30 Uhr auf dem Helvetiaplatz Disability-pride.ch Die Umzugsroute 2019: Helvetiaplatz – Stauffacher strasse – Werdstrasse – Sihlbrücke – Sihlstrasse – Bahnhofstrasse – Uraniastrasse – Werdmühleplatz handicapforum Nr. 3 | 2019 17
H inwei se Ansonsten munter ahnen. Wie eine solche «Reha» abläuft wird dafür sehr anschaulich beschrieben. Im Zentrum stehen immer wieder die Schicksalsgenossen, die auf derselben Station lagen und ein Beispiel abgeben, wie unter- schiedlich Menschen mit einer Querschnittlähmung mit ihrer Behinderung umgehen und ihr Leben gestalten. Fritz Vischer begegnet ihnen mit aller Offenheit, re- flektiert seine individuelle Situation immer wieder im Austausch mit ihnen und beobachtet genau. Er wer- tet nicht, sondern versucht nachzuvollziehen. In der erzwungenen Intimität in der Reha-Klinik lernt man Menschen kennen, wie man es sonst wohl nie erlebt. Fritz Vischer sucht dabei nach seiner Position - ge- danklich, philosophisch, gesellschaftspolitisch, aber auch in seiner praktischen Lebensführung. Er verfolgt später die Lebensläufe seiner Bett- und Zimmernach- Eine Begegnung im Rollstuhl. Die nichtbehinderte barn und pflegt mit ihnen lebenslange Freundschaften. Person möchte es wissen: Weshalb, was ist passiert…? Dann entsteht diese kleine Stille, das Erschrecken, die Fritz Vischer rehabilitiert sich gut. Er findet eine gute Verunsicherung, die Betroffenheit. Fritz Vischer, seit Stelle, er kann sich später auch beruflich verändern seinem Motorradunfall Tetraplegiker, kennt diese Si- und weiterentwickeln, er heiratet und gründet eine tuation schon seit Jahren. Er erlöst das Gegenüber gern Familie, er pflegt einen Freundeskreis und nimmt er- aus der leicht beklemmenden Situation mit seinem folgreich am gesellschaftlichen Leben teil. Aber: «Wir Satz: «Ansonsten bin ich munter». Es ist auch diese grübeln mehr, als wir es uns eingestehen wollen», Aussage, die er als Titel für sein neues Buch gewählt muss er feststellen. «Das Bedürfnis, unsere Rücken- hat. «Einsichten eines Rollstuhlfahrers» heisst der Un- marksverletzung und ihre Folgen in unser Leben ein- tertitel. Tatsächlich geht es in seiner autobiografische zuordnen, ist stark. Alles hat seinen Sinn…» Er wird Geschichte immer wieder um dieses Spannungsfeld gewahr, dass er durch den Unfall die Gelegenheit er- zwischen der Betroffenheit – seiner eigenen Betrof- hielt, Versäumtes nachzuholen und Neues zu lernen. fenheit – und dem «ansonsten». Sein Leben, das nach Er verklärt es nicht als Geschenk, sondern sieht es als dem folgenreichen Unfall weitergeht mit Beruf, Familie, Folge, die auch mit vielen Anstrengungen verbunden Freunden, Kultur und Reisen und der Neuorientierung, ist. «Wir müssen uns neu einrichten… Wir müssen uns die unumgänglich ist. Sie ist nicht einmalig und sie neu erfinden. Am besten geht das, wenn wir uns in ist auch nach der offiziellen Rehabilitationszeit nicht Frage stellen, uns neu einschätzen versuchen und über abgeschlossen. Fritz Vischer schildert eindrücklich, wie uns lachen können». Je näher Fritz Vischer Geschich- er sich immer wieder neu zurechtfinden muss. Seine te der Gegenwart kommt, desto nachdenklicher und Auseinandersetzung mit seinem behinderungsbeding- differenzierter werden die Inhalte und desto spürbarer ten Anderssein, mit seinen Möglichkeiten und Gren- wird die Gefühlswelt. Der Blues wird erwähnt als zeit- zen, mit den gesundheitlichen Schwankungen und weiser Weggefährte, aber auch als Lied der Menschen, dem älter werden gehen immer weiter. Der Autor lässt die «ansonsten munter» sind. seine Leserinnen und Leser teilhaben, zeigt auf, mit wie vielen Fragen und Herausforderungen das Leben Barbara Imobersteg im Rollstuhl verbunden ist, verflicht diese aber immer wieder mit der Munterkeit, mit Witz und teils etwas Fritz Vischer «Ansonsten munter» erschienen 2019 bissiger Ironie, mit seinem Humor, der jedenfalls ein im Zytglogge-Verlag Stück Lebenskunst ausmacht. 1977 kam Fritz Vischer nach seinem Unfall in das da- malige PZ, Paraplegikerzentrum, unter der Leitung von Guido Zäch. Die Erinnerung an diese Zeit sind locker flockig formuliert. Viel Situationskomik, der manchmal absurd anmutende Klinik-Alltag, die mehr oder wenige kompetente Fachwelt. Der Schock und die Verzweiflung des Patienten in den ersten Monaten lässt sich nur er- 18 handicapforum Nr. 3 | 2019
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