Passt schön Ein Kieler Projekt entwirft Mode für - 2,20 EUR - Hempels
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# 301 2,20 EUR Juni 2021 davon 1,10 EUR für die Ver- käufer/innen Das Straßenmagazin für Schleswig-Holstein Passt schön Ein Kieler Projekt entwirft Mode für Menschen im Rollstuhl
Liebe Leserinnen, liebe Leser, als Physiotherapeutin war Mona-Lisa Sell spezialisiert auf die Arbeit mit Men- schen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. »Immer wieder habe ich gehört, dass es für viele total schwierig ist, passende Kleidung zu finden«, sagt sie. Um die Mode- Auswahl für Menschen im Rollstuhl zu erweitern, hat sie in ihrer Heimatstadt Kiel ein Projekt gestartet: Rolez – barrierefreie Kleidung. Unterstützt wird sie dabei von ihrer Freundin Sophia Molter, die sie in einem Zentrum für Querschnittsgelähmte kennen- gelernt hat. Wir haben die beiden im Hamburger Schanzenviertel getroffen. Lesen Sie ab Seite 10. Im September wird der neue Bundestag gewählt. Welche Antworten zu wichtigen sozialen Fragen bieten da die demokratischen Parteien? Das wollen wir zusammen mit anderen deutschen Straßenmagazinen in einer exklusiven Interviewreihe von Berliner Spitzenpolitikerinnen und -politikern wissen. Nach Grünen-Co-Chef Robert Habeck und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, folgt in diesem Monat FDP-Chef Christian Lindner. Das Interview finden Sie ab Seite 16. Und: Diesen Monat beginnt inmitten der Pandemie die um ein Jahr verschobene Fußball-Europameisterschaft. Wer den Sport in seiner ursprünglichen Ausprägung begreifen möchte, sollte aber auch woanders hinschauen. Etwa auf die Bilder von Reu- ters-Fotografen, die wir Ihnen ab Seite 22 zeigen. Ihre HEMPELS -Redaktion gewinnspiel sofarätsel Gewinne Auf welcher Seite dieser HEMPELS-Ausgabe versteckt 3 x je ein Buch der Ullstein Verlagsgruppe. Im Mai war das kleine Sofa sich das kleine Sofa? Wenn Sie die Lösung wissen, dann auf Seite 26 versteckt. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden im Juli schicken Sie die Seitenzahl an: raetsel@hempels-sh.de veröffentlicht. oder: HEMPELS, Schaßstraße 4, 24103 Kiel. Teilnehmende erklären sich einverstanden, dass im Falle eines Gewinns Im April haben gewonnen: ihr Name in HEMPELS veröffentlicht wird. Klaus-Ferdinand Feddersen (Struckum), Gudrun Nehring (Flensburg) und Margret Rohde (Busdorf) je ein Buch des Ullstein Verlags. Allen Einsendeschluss ist der 30.6.2021. Gewinnerinnen und Gewinnern herzlichen Glückwunsch! Der Rechtsweg ist wie immer ausgeschlossen. 2 | inh a lt Hempel s # 30 1 6/2 02 1
Titel PASST SCHÖN Titelfoto: Babette Brandenburg Rolez – barrierefreie Kleidung: So heißt das Projekt, das Mona-Lisa Sell in ihrer Heimatstadt Kiel gestartet hat, um die Mode-Auswahl für Menschen im Rollstuhl zu erweitern. Unterstützt wird sie dabei von ihrer Freundin Sophia Mol- ter. Ein Treffen im Hamburger Schanzenviertel. se i t e 10 das Leben in zahlen auf dem Sofa 4 Ein etwas anderer Blick 34 Bodo verkauft unser auf den Alltag Straßenmagazin in Eckernförde bild des monats 6 Leider egal Schleswig-Holstein Sozial Inhalt 2 Editorial 8 Meldungen 9 Wie ich es sehe: 31 rezept Kolumne von Hans-Uwe Rehse 32 MUSIKTIPP; BUCHTIPP; FILMTIPP 16 Interview zu sozialen Fragen: 33 Service: Mietrecht; Sozialrecht FDP-Chef Christian Lindner 36 Leserbriefe; Impressum 30 Armut frisst sich in die 37 VERKÄUFER IN ANDEREN LÄNDERN; Meldung Mitte der Gesellschaft 38 Sudoku; K arik atur 39 Satire: Scheibners Spot gesellschaft 22 Vor EM: Reuters-Fotos besonderer Fußballplätze Bitte kaufen Sie 28 Roman: Markus Ostermair HEMPELS nur bei über das Leben auf der Straße Verkaufenden, die diesen Ausweis sichtbar tragen He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 inh a lt | 3
das leben in zahlen Einmal arm, immer arm Wer in Deutschland erst einmal unter die Armutsgrenze gerutscht ist, bleibt immer öfter auch länger arm. Laut Datenreport 2021 betrug 2018 der Anteil dauerhaft von Armut betroffener Menschen unter allen Armen (15,8 % der Gesamtbevölkerung) 44 %. Sie lebten seit 4 Jahren unter der Armutsrisikoschwelle, die aktuell bei 1074 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt liegt. 1998 betrug der Anteil der dauerhaft von Armut betroffenen Menschen noch 20 %. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, Menschen mit Hauptschul- und ohne Berufsabschluss und Menschen mit Migrationshintergrund. PB 44 % 20 % 2018 1998 4 | das l ebe n in z a hl en Hempel s # 30 1 6/2 02 1
90 % Obdachlose psychisch erkrankt 678.000 Menschen sind in Deutschland wohnungslos, etwa 41.000 leben sogar ohne jede Unterkunft auf der Straße. Meist sind es mehrere Schicksalsschläge, die zum Verlust der eigenen Wohnung geführt haben – familiäre Probleme, plötzliche Arbeitslosigkeit, bereits in der Kindheit durchlittene Traumata wie Missbrauch oder Gewalt. Eine bereits 2017 durchgeführte Studie der TU München zeigt, dass 9 von 10 Menschen ohne Obdach im Laufe ihres Lebens auch mindestens eine psychische Erkrankung wie Depressionen oder Angststörungen erlitten haben. 2/3 waren schon vor Beginn der Wohnungslosigkeit krank. PB Foto: Pixabay He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 das l ebe n in z a hl e n | 5
bild des monats Leider egal Gleich am Anfang mal eine Ham- mernachricht raushauen: Die Welt ist randvoll gepackt mit Knalltüten! Nein, nicht Sie sind gemeint! Und Sie natür- lich auch nicht! Wir meinen auch nicht diese beiden Blondinen, die da offenbar unbedingt Gemeinsamkeiten mit einem afghanischen Windhund herausarbei- ten wollen. Obwohl, die beiden könnten schon … aber lassen wir das lieber. Ge- meint sind die echten Kotzbrocken, die Psychopathen und – pardon the expres- sion – Arschlöcher unter uns. Man begegnet ihnen ja fast täglich; wenn man etwas Glück hat, nur im mobilen Bahn-Office mit Handy am Ohr: »… müssen wir jetzt unverzüg- lich die Zielarchitektur für das Ab- wicklungspotential des Humankapitals neu herausarbeiten – soweit alles mit- geschrieben, Frau Müller?« Womit wir das eigentliche Thema dieses kleinen Textes umzingelt haben: Muss man ein manchmal auch über Leichen gehender, unverträglicher Fiesling sein, um an der Spitze eines Unternehmens Erfolg zu haben? Nein, muss man nicht, sagt jetzt ein nordamerikanischer Wissenschaft- ler, der sich dieser Frage mit einer Lang- zeitstudie genähert hatte. Eine sozial unverträgliche Persönlichkeit eröffnet einem im Berufsleben keinen systemati- schen Vorteil. Allerdings: Nachteile lei- der auch nicht. Für den Erfolg ist es also piepegal, wie jemand auftritt. Ob das der Grund dafür ist, dass man auch sonst im Leben immer mal wieder von dem einen oder anderen Klugschei- ßer umgeben ist, der oder die anderen den Lauf der Welt erklären will, obwohl sie kaum Käse von Wurst unterscheiden können? Wir vermuten es, wissen es je- doch nicht ganz genau. Ahnen jedoch, dass manch einer von denen der leben- de Beweis dafür ist, dass Haare auch auf komplett hohlen Köpfen wachsen kön- nen. PB 6 | bil d de s mon at s Hempel s # 30 1 6/2 02 1
meldungen +++ Taschengeld«, sagt Lebenshilfe-Bundesvorsitzende Ulla Schmidt. »Auch wenn Menschen mit Beeinträchtigung zusätz- Tafel fordert Anstrengungen gegen Verschwendung lich Sozialleistungen bekommen, empfinden sie ihren Lohn Statistisch wird ein Drittel der weltweit hergestellten Lebens- als viel zu niedrig und höchst ungerecht. Schließlich gehen die mittel nicht verzehrt, sondern landet im Müll – darauf weist meisten von ihnen wie alle anderen fünf Tage die Woche zur die Tafel Deutschland in einer Mitteilung hin. Laut UN-Nach- Arbeit.« Die Lebenshilfe setzt sich schon lange für eine Reform haltigkeitszielen, zu denen sich auch Deutschland verpflichtet ein und fordert, dass Werkstattbeschäftigte von ihrem Entgelt hat, soll diese Verschwendung bis zum Jahr 2030 halbiert leben können und nicht auf weitere existenzsichernde Leistun- werden. Damit dieses Ziel in den nächsten neun Jahren er- gen angewiesen sind. WP reicht werden kann, fordert die Tafel von Politik, Wirtschaft sowie Gesellschaft weitere Anstrengungen. Wichtig sei etwa +++ aufzuklären, wie und wo Lebensmittel produziert werden und wie man sie frisch hält. Die Tafel plädiert für ein entsprechen- BAGW: Wohnungslosigkeit überwinden des Schulfach. mgg Angesichts des VI. Armuts- und Reichtumsberichts der Bun- desregierung fordert die BAG Wohnungslosenhilfe (BAGW) +++ eine umfassende Strategie, Wohnungsnot sowie Wohnungslo- sigkeit zu überwinden. Diese solle alle politischen Ebenen ein- Diakonie: Unterstützung für Familien in Corona-Krise beziehen; gefordert seien Bund, Länder und Kommunen – so Die Diakonie Schleswig-Holstein fordert mehr Unterstützung die BAGW, der Dachverband der Hilfen in Wohnungsnotfällen für Familien, Kinder sowie Jugendliche in der Corona-Krise. in Deutschland, in ihrer Pressemitteilung. Vor allem fehle Ihre Sorgen und Nöte sollten stärker betrachtet werden, so die bezahlbarer Wohnraum, der Bestand an Sozialwohnungen sei Diakonie in ihrer Pressemitteilung. »Homeschooling, Teilun- fortlaufend geschrumpft. Dass der Armuts- und Reichtumsbe- terricht sowie der Mangel an Kontakten, Sport und Bewegung richt Wohnungslosigkeit ausführlich thematisiert sowie auch haben viele Kinder und Eltern an ihre Grenzen gebracht. Lösungsstrategien aufzeigt, begrüßt die BAGW. MGG Gleichzeitig haben sie sich diesen Herausforderungen gestellt und viel Kraft und Energie aufgebracht, um die Situation zu +++ meistern«, sagt Diakonie-Vorstand und Landespastor Heiko Naß. Nun komme es »darauf an, die Kinder und Eltern wieder Sozialverband: »Armutsrechner« bestimmt Armutsrisiko zu entlasten und sie dabei zu unterstützen, die Folgen der Ein digitaler »Armutsrechner« bestimmt das persönliche Krise zu bewältigen«. mgg Armutsrisiko von Menschen in Deutschland. Der Landesver- band Niedersachsen im Sozialverband Deutschland (SoVD) +++ hat ihn unter www.armutsschatten.de/armutsrechner online eingerichtet. Interessierte können dort anonym sowie kosten- Lebenshilfe fordert Entgelt-Reform los Fragen zu ihrer Situation beantworten und erhalten eine Rund 300.000 Frauen und Männer mit Beeinträchtigung persönliche Auswertung, wie der Landesverband mitteilte. In arbeiten bundesweit in Werkstätten für Menschen mit Be- Deutschland sind nach Angaben des Verbandes rund 13 Milli- hinderung (WfbM) und erhalten ein monatliches Entgelt von onen Menschen armutsgefährdet. epd durchschnittlich 210 Euro. »Das ist nicht mehr als ein HEMPELS IM RADIO Jeden ersten Montag im Monat ist im Offenen Kanal Lübeck das HEMPELS-Radio zu hören. Nächster Sendetermin ist am 7. Juni ab 17.05 bis 18 Uhr. Wiederholt wird die Sendung am darauf folgenden Dienstag ab 10 Uhr. Das HEMPELS-Radio bietet einen Überblick über einige wichtige Themen des aktuellen Heftes und will zugleich Einblicke in weitere soziale Themen aus der Hansestadt ermöglichen. Zu empfangen ist der Offene Kanal im Großraum Lübeck über UKW Frequenz 98,8. Oder online über den Link »Livestream« auf www.okluebeck.de 8 | me l dungen Hempel s # 30 1 6/2 02 1
WIE ICH ES SEHE Das Grundrecht auf Wohnen verwirklichen von hans-uwe rehse In Berlin sind jetzt alte Rechnungen zu begleichen. Das Modelle gefragt, die dem steigenden Bedarf an bezahlbarem Bundesverfassungsgericht hat kürzlich den vom Berliner Ab- Wohnraum gerecht werden. geordnetenhaus beschlossenen »Mietendeckel« aufgehoben. Der Berliner »Mietendeckel« ist wohl kein geeigneter Weg So erhalten viele Berliner Haushalte Nachzahlungsforderun- aus der Misere. Ich hoffe jedoch, dass die Entscheidungsträger gen. Vorbei ist die Freude über das eingesparte Geld. in Politik und Gesellschaft weiter an guten Lösungen arbei- Vorsichtige Mieter hatten es gleich zurückgelegt, sodass ten. Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus wäre sicher die Nachforderungen schnell beglichen sind. Andere haben es eine sinnvolle Option. Gut, wenn in diesem Wahljahr auch da- allerdings ausgegeben, weil sie sich endlich langgehegte Wün- für politische Programme vorgestellt werden. Daneben kön- sche erfüllen konnten. Sie haben jetzt natürlich ein Problem. nen wir alle jedoch auch etwas tun. Indem wir Initiativen un- In den Kommentaren zum Urteil des Bundesverfassungs- terstützen, die dazu beitragen, dass Menschen eine Wohnung gerichts wurde der Berliner Beschluss allgemein scharf kriti- und ein Zuhause finden. Das Wohn-Projekt von HEMPELS siert. Man hätte doch vorhersehen müssen, dass Mieten nicht zum Beispiel. Das bietet auf jeden Fall eine Perspektive. durch einen politischen Beschluss festgelegt werden könnten, hieß es. Fatal wäre auch das Signal an die Bauwirtschaft gewe- sen. Investitionen in neue Bauprojekte wurden eingestellt. Da- mit war die Möglichkeit vertan, mit einem größeren Wohnan- gebot Einfluss auf die Mieten zu nehmen. Die Kritik war sicherlich berechtigt. Die politischen Ent- scheidungsträger hätten die Folgen ihres Beschlusses besser bedenken müssen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich das Hans -Uwe Rehse is t Pas tor im Projekt mit Interesse verfolgt habe. Denn das ungebremste Ruhe s tand und war Ge schäf t s - Wachstum der Mieten in den nachgefragten Regionen ist ein führer der Vorwerk er Diakonie massives Problem. Für Menschen, die nur über ein begrenztes in Lübeck . SEINE KOLUMNE Einkommen verfügen, wird es immer schwieriger, das Geld ER SCHEINT JEDEN MONAT für die Miete aufzubringen. Die Zahl derer, die das nicht mehr schaffen, wird immer größer. Verhängnisvollerweise nimmt damit die Wohnungslosigkeit zu und immer mehr Menschen landen auf der Straße. Das darf so nicht weitergehen. Wohnen ist ein Grundrecht. Jeder Mensch muss ein Dach über dem Kopf haben, das Schutz bietet. Und einen Raum, in den man sich zurückziehen kann. Der freie Markt reicht offensichtlich nicht aus, um allen Menschen diese Möglichkeit zu bieten. Deshalb sind andere Hempel s # 30 1 6/2 02 1 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 9
Rubrik titel Passt schön Kleidung soll schön sein und muss passen, das sehen wohl fast alle so. Ein Projekt aus Kiel möchte nun die Mode-Auswahl für Menschen im Rollstuhl erweitern TEXT: GEORG MEGGERS FOTOS: BABETTE BRANDENBURG »Ballern?«, fragt Mona-Lisa Sell. Was und sie entwickelt einen Businessplan sie meint: schnell noch vor dem Auto die für Rolez. Unterstützt wird sie von den Fahrbahn im Hamburger Schanzen- Bewohnerinnen und Bewohnern ihrer viertel überqueren. Ihre Freundin So- WG sowie ihrer besten Freundin, die phia Molter nickt. Mona-Lisa Sell packt Zukunftsdesign studiert. Und natürlich die Griffe am Rollstuhl, holt Schwung von Sophia Molter, 34, die sie berät. Das und schiebt sie auf die andere Straßen- gemeinsame Ziel: ein Problem lösen. Aber seite. Einen Augenblick später braust welches eigentlich? das Auto an ihnen vorbei, und die bei- Vor ihrem Studium war Mona-Lisa den lachen. Sell als Physiotherapeutin spezialisiert Kennengelernt haben sie sich 2019 auf die Arbeit mit Menschen, die auf ei- in einem Zentrum für Querschnittsge- nen Rollstuhl angewiesen sind. »Immer lähmte. Sophia Molter war Patientin, wieder habe ich gehört, dass es für viele Mona-Lisa Sell ihre Physiotherapeutin. total schwierig ist, passende Kleidung zu Nach der gemeinsamen Zeit im Klinikum finden.« Der Grund: »Die Schnittmuster blieben die Hamburgerinnen über Insta- sind oft auf stehende Menschen ausgelegt. gram in Kontakt und treffen sich mitt- Wer aber dauerhaft sitzt und vielleicht lerweile mehrmals pro Woche. Häufiges auch eine eingeschränkte Handfunktion Gesprächsthema etwa beim Kaffee auf hat, kann manche Knöpfe oder Reißver- Sophia Molters Balkon: Rolez – barriere- schlüsse nur schwer öffnen.« freie Kleidung. Allerdings ist »passend« nur ein As- So heißt das Projekt, das Mona-Lisa pekt, wenn es um Kleidung geht; ein an- Sell, 26, Anfang dieses Jahres in ihrer Hei- derer ist »modisch«. Sophia Molter sagt: matstadt Kiel gestartet hat. Sie studiert »Wie die meisten möchte ich Sachen tra- inzwischen Sozialökonomie in Hamburg, gen, in denen ich mich hübsch und wohl 10 | t i t el Hempel s # 30 1 6/2 02 1
Die Freundinnen Sophia Molter (li.) und Mona-Lisa Sell unterwegs in Hamburg. Kennengelernt haben sie sich in einem Zentrum für Querschnittsgelähmte. He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 t i t e l | 11
Rubrik titel fühle.« Ein Beispiel, worin sie das nicht tut, hält sie auf ihrem Balkon in Händen: »Als ob man Zeltplane über einen Kinder- wagen stülpt«, sagt sie und lacht. Was sie meint: Wie es aussieht, wenn sie bei Regen ihren funktionalen Rolli-Poncho trägt. »Eine schöne Regenjacke geht ja nicht, dann werden immer meine Oberschenkel nass.« Am Tag des Interviews bleibt der Poncho zu Hause: Zwar wirkt die Wol- kendecke über Hamburg nur bedingt ver- trauenswürdig, doch sie hält. »Mode hat auch mit Chancengleichheit zu tun« In einer Straße, durch die Sophia Mol- ter in »ihrem« Schanzenviertel führt, reiht sich Mode-Geschäft an Mode- Die 34-jährige Sophia Molter wird Lehrerin für Deutsch und Englisch. Geschäft, in den Schaufenstern stehen die Puppen. »Überleg mal, wie groß die Kleider-Auswahl für Fußgänger ist«, sagt andere Anbieter. »Das ist cool, und ich für Deutsch und Englisch an einer Ham- Mona-Lisa Sell später. Mit ihrem Projekt sehe sie überhaupt nicht als Konkurrenz. burger Stadtteilschule, zuvor studierte wird sie nicht die Erste sein; wer »Mode Rolez soll das Angebot erweitern.« Ihre sie in Kiel und Dresden. Trotzdem hört für Rollstuhlfahrer« googelt, findet auch Freundin Sophia Molter wird Lehrerin man noch immer ein wenig, dass sie aus einer anderen Stadt stammt: Berlin. Dar- an, wie sie einige Wörter ausspricht. Und vielleicht auch daran, dass sie manches berlinerisch-derb ausdrückt. Etwa dann, wenn es um ihr, wie sie es nennt, Bauar- beiterdekolleté geht. Gemeint ist das, was hinten preisgegeben wird, wenn die Hose im Sitzen nach unten rutscht. »Damit mir das im Rollstuhl nicht passiert, greife ich auf Umstandsmode zurück – aber das kann es ja auch nicht sein!« Ein Rückblick: Anfang 2019 entzün- dete sich Sophia Molters Rückenmark. Als sie in die Notaufnahme eingeliefert wurde, war ihr Körper von der Brust ab- wärts gelähmt. Durch die Therapie kann sie heute wieder ihren gesamten Oberkör- Häufiges Gesprächsthema auf Sophia Molters Balkon: das von der 26-jährigen Mona-Lisa per bewegen. Sie sagt: »Ich hatte Glück Sell gestartete Projekt »Rolez – barrierefreie Kleidung«. im Unglück – auch wenn das doof klingt 12 | t i t e l Hempel s # 30 1 6/2 02 1
Das gemeinsame Ziel von Sophia Molter und Mona-Lisa Sell: ein Problem lösen. He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 t i t e l | 13
titel und auch wenn ich einige Zeit gebraucht möchte Aufmerksamkeit schaffen: »Wo- Und welche Lösung hat Rolez parat? habe, das zu akzeptieren.« Nach einer her sollen die Leute sonst wissen, dass Mona-Lisa Sell sagt: »Wir wollen das kurzen Pause fügt sie hinzu: »Na ja, ich Kleidung für viele im Rollstuhl ein wichti- Rad nicht neu erfinden. Oft würde es bin im Prozess, das zu akzeptieren.« Dass ges Thema ist? Ich wusste es früher ja auch schon helfen, die Schnittmuster etwas sie jetzt Rolez berät, ist für sie ein Zeichen, nicht.« Wenn ein Rollstuhlfahrer aus dem anzupassen.« Sophia Molter nennt zwei dass der Prozess voranschreitet: »Noch Bus aussteigen wollte, klappte sie für ihn Beispiele. Nummer eins: eine schicke vor einem halben Jahr hätte ich mich da- die Rampe herunter; sie sei nicht ignorant Regenjacke. »Wenn man die ein we- rauf nicht einlassen können.« gewesen. »Trotzdem war mir nicht klar, nig ändert, würde sie auch meine Bei- Sophia Molter möchte ihrer Freundin wie schwierig es ist, passende und modi- ne bedecken.« Beispiel zwei: modische »Moli«, wie sie sie nennt, helfen. Und sie sche Sachen zu finden.« Rucksäcke. »Manchmal bräuchte es nur Vor einem Mode-Geschäft im Hamburger Schanzenviertel: »Überleg mal, wie groß die Kleider-Auswahl für Fußgänger ist«, sagt Mona-Lisa Sell später. 14 | t i t el Hempel s # 30 1 6/2 02 1
zusätzliche Schlaufen, um sie einfacher greifen und öffnen zu können.« Das Rolez-Team entwirft derzeit ers- te Prototypen von Kleidungsstücken. Und einen Fragebogen für Menschen im Rollstuhl. »Wir wollen wissen, was sie sich wünschen«, sagt Mona-Lisa Sell. Sie verstehe sich als Vermittlerin, die mit Schneiderinnen und Schneidern be- spricht, wie sie ihre Kleidung barriere- Als Physiotherapeutin war Mona-Lisa Sell spezialisiert auf die Arbeit mit Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. frei gestalten. Wichtig seien individuelle Vieles wird gerade geplant, vieles steht Lösungen: »Menschen im Rollstuhl sind daher noch nicht fest. Wie der Verkaufs- nicht gleich, und sie haben nicht die glei- start. Doch wann auch immer: In Mode- chen Probleme: Was für die eine ganz Geschäften mit stehenden Schaufens- leicht geht, fällt dem anderen vielleicht terpuppen wie hier im Schanzenviertel schwer.« wird Rolez wohl auch in Zukunft nicht Rauskommen soll am Ende kein ver- zu finden sein. Eher biete sich der Handel rückter Stil, keine »crazy Mode«, wie im Internet an: »Weil unsere Zielgruppe Mona-Lisa Sell sagt, sondern: Kleidung, nicht so groß ist – und weil Onlineshops die möglichst vielen gefällt. Und die sich immer barrierefrei sind.« Einen ersten gut mit anderen Sachen kombinieren Erfolg gibt es bereits: Beim Yooweedoo- lässt. »Mode hat auch mit Chancen- Ideenwettbewerb, der sozial und ökolo- gleichheit zu tun – etwa im Beruf«, sagt gisch nachhaltige Projekte in Schleswig- sie. Sophia Molter nickt und sagt: »Vor Holstein fördert, wurde neben anderen meinen Schülerinnen und Schülern auch Rolez ausgezeichnet. muss ich selbstbewusst sein können. Da- Wer die Entwicklung des Projekts für ist auch wichtig, was ich trage.« verfolgen will, kann auf Instagram nach Neben »passend« und »modisch« rolez_chairwear suchen oder eine E-Mail sollen Klamotten der Marke Rolez noch an rolez.info@gmail.com schreiben. Ob etwas sein: »medizinisch indiziert«, also aus alledem mal eine Firma wird oder gesundheitlich ratsam, sagt Mona-Lisa ein Verein? Gründerin Mona-Lisa Sell Sell. »Bei Menschen im Rollstuhl führen sagt: »Darum gehts nicht. Und auch Druckstellen oft zu Hautverletzungen nicht ums Geldverdienen. Sondern – das wollen wir mit unserer Kleidung darum, Probleme zu lösen – und das verhindern.« plane ich auf jeden Fall langfristig.« He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 t i t e l | 15
Schleswig-holstein sozial »Hinzuverdienstgrenzen beim ALG II sind skandalös ungerecht« FDP-Chef Christian Lindner fordert im Exklusivinterview auch eine Anpassung der Höhe des Minijobs. Das Gespräch ist Teil einer großen Interview-Reihe, in der 20 deutsche Straßenzeitungen vor der Bundestagswahl Fragen zu sozialen Themen an Berliner Politikspitzen stellen INTERVIEW: ANNETTE BRUHNS, FOTOS: THOMAS MEYER Herr Lindner, Sie besitzen einen niedrig und fordern eine Aufstockung käufer freuen, die Hartz IV beziehen. Porsche, eine Rennfahrerlizenz und auf 600 Euro. Gehen Sie da mit? Wie stehen Sie zur Forderung, den einen Jagdschein, sind also ein ge- Mir können Sie solche zugespitzten Freibetrag beim Zuverdienst von jetzt machter Mann. Wir 20 Straßenzei- Fragen gerne stellen. Aber auch eine 100 Euro auf 400 Euro anzuheben? tungen glauben, dass Sie trotzdem Polizistin oder ein Krankenpfleger be- Genau das ist unsere Forderung. Je- etwas mit obdachlosen Menschen ge- ziehen ihre Gehälter aus öffentlichen der, der einen Euro hinzuverdient, muss mein haben. Raten Sie mal, was. Mitteln. Es führt nicht weiter, wenn mehr als die Hälfte davon behalten kön- Den Begriff »gemachter Mann« jede Tätigkeit, die sich aus Steuergel- nen. Übrigens muss auch die Höhe des finde ich rätselhaft, denn er klingt für dern finanziert, mit Sozialleistungen Minijobs angepasst werden. Denn wenn mich nach dem Zutun von anderen. verglichen wird. In der Sache bin ich der Mindestlohn steigt, haben viele Tatsächlich bestreite ich seit meinem dafür, dass sich die Höhe der Grundsi- Betroffene dennoch nicht mehr Geld, 18. Geburtstag meinen Lebensunter- cherung daran orientiert, welche Be- wenn es bei 450 Euro bleibt. Die müssen halt selbst, geschenkt hat mir niemand dürfnisse bestehen und wie die Preise stattdessen die Arbeitszeit reduzieren, etwas. sich entwickeln. Das sollten Fachleute das bremst Aufstiegschancen. Deshalb Wir dachten an Folgendes: Viele festlegen, das ist nichts für Wahlkampf- sollte die Höhe des Minijobs immer das wohnungslose Menschen beziehen versprechen. Viel wichtiger ist es mir, 60fache des jeweiligen Mindeststun- staatliche Grundsicherung, Sie leben den Menschen zu erleichtern, sich durch denlohns betragen. seit Ihrem 22. Lebensjahr von staatli- eigenen Einsatz, Schritt für Schritt, aus SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz chen Diäten. Allerdings reichen die Ih- einer Bedürftigkeit herauszuarbeiten. und der Grüne Robert Habeck fordern nen nicht: Sie haben allein in dieser Le- Ganz konkret halte ich die Hinzuver- höhere Steuern für Gutverdiener. Wä- gislaturperiode mehr als 400.000 Euro dienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II ren Sie bereit, mehr abzugeben? dazu verdient. Wohlfahrtsverbände für skandalös ungerecht. Zu glauben, es habe nur positive Fol- finden den Hartz-IV-Regelsatz auch zu Das wird die Straßenzeitungsver- gen, wenn man Steuern erhöht, weil 16 | S CHL E SWIG - HOLST E IN SOZIAL Hempel s # 30 1 6/2 02 1
»Wir wollen die Wohnungsnot reduzieren durch mehr Angebot«: Christian Lindner beim Interview. He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 17
Schleswig-holstein sozial dann der Staat über mehr Geld verfügt, nen genutzt werden könnten. Oberstes wird, und dass die Lohnfindung nicht greift zu kurz. Es muss immer alles erst Ziel: So lange es geht, müssen Menschen politisiert wird. Nicht parteipolitische erwirtschaftet werden, bevor es verteilt ihre Wohnung behalten können, sei es Interessen dürfen eine Rolle spielen, werden kann. Die Aufgabe lautet doch, mittels Grundsicherung, Schuldnerbe- sondern arbeitsmarkt- und sozialpoliti- mehr gut bezahlte Arbeitsplätze zu ratung, gesundheitlicher Hilfestellung. sche Erwägungen. schaffen und in neue Technologien zu Das muss nah am Menschen geschehen, investieren. Dafür muss es Spielräume also auf der kommunalen Ebene. Ge- Die FDP spricht sich aus für geben. Ich bin also für eine Senkung von nauso vielschichtig wie die Problemlage »Housing First«, also dass Obdachlo- Steuern für Beschäftigte und Betriebe. muss das Hilfesystem sein. se erst mal eine Wohnung bekommen, Wie will die FDP die Kluft zwischen Obdachlosigkeit ist heutzutage vor- ohne groß nachweisen zu müssen, dass Arm und Reich verringern? Laut dem wiegend ein Ergebnis von Migration: sie dafür geeignet sind. Wie sollen die Deutschen Institut für Wirtschafts- Immer mehr Menschen aus armen Kommunen das finanzieren? forschung kommen wir immer mehr EU-Ländern landen in prekären Ar- Ich bin dezidiert der Meinung, dass in die Nähe von US-Verhältnissen bei beitsverhältnissen, sei es auf Schlacht- wir die kommunale Ebene stärken der Vermögensverteilung. höfen oder auf Baustellen oder als müssen. Weil sich die Aufgaben der un- Wir müssen die Aufstiegschance für Putzkräfte, und im Winter dann oft terschiedlichen öffentlichen Ebenen jede Frau und jeden Mann erhöhen. Wir auf der Straße. Was würde die FDP in verändern. Aufgaben, die der Staat den brauchen einen treffsicheren Sozialstaat, einer Regierungskoalition tun, um Gemeinden überträgt, muss er immer der für die Menschen ein Sprungbrett dieses Elend zu stoppen? mitfinanzieren. Die Kommunen sind in die Selbstbestimmung ist und nicht Wir müssen über die Qualität der unser erstes Auffangnetz bei Notlagen. wirkt wie ein Magnet, der Menschen Arbeitsverhältnisse nachdenken, zum In Wien gibt es neuerdings als eher festhält. Die größte Form der Un- Beispiel im Bereich der fleischverarbei- Housing-First-Angebote »Chancenhäu- gleichheit ist für mich die der Bildung. tenden Industrie. Und wir müssen die ser«: Hier werden Obdachlose – einzeln, Nirgendwo sonst in entwickelten Ge- Verantwortung der Herkunftsländer als Paar, als Familie – für drei Monate sellschaften entscheidet der Zufall der stärken. Das ist eine Frage, die man hin- einquartiert und beraten bei der Woh- Geburt so sehr über Lebenschancen. Das sichtlich der Migration in Europa stellen nungs- und Arbeitssuche. In der Hälfte halte ich für einen Skandal! Wir brau- muss: Was ist mit der sozialen Verant- der Fälle mit Erfolg … chen mehr Frühförderung von Kindern, wortung jedes einzelnen EU-Mitglieds- … klingt für mich nach einem guten hinsichtlich des Spracherwerbs schon staats? Zum Arbeiten nach Deutschland Modell auch für deutsche Kommunen, vor der Einschulung, und viel mehr in- zu kommen, darf nicht zu Verelendung ein maßgeschneidertes 360-Grad-Kon- dividuelle Förderung an öffentlichen führen. Es geht um eine unbearbeitete zept aus der Obdachlosigkeit. Schulen. Kein junger Mensch sollte die Aufgabe, die sich durch die Freizügigkeit Ihre Partei fordert, dass der Staat Schule ohne einen Abschluss verlassen. innerhalb der EU stellt. elektronische Akten für obdachlose Die Mindestlöhne für Saisonkräfte Menschen einrichtet, damit sie auch Die SPD Nordrhein-Westfalen nann- liegen häufig unter dem gesetzlichen ohne Meldeadresse an ihre privaten te 2009 Ihre Landes-FDP die »Partei der Mindestlohn von 9,50 Euro. Die SPD Daten kommen können. Wären Sie sozialen Kälte«. Grund: Die schwarz- will den Mindestlohn auf 12 Euro ab- für solche E-Akten für alle Bürger? gelbe Regierungskoalition kürzte die heben. Was versprechen Sie prekär Be- Unbedingt. Ich war vor einiger Zeit Landesgelder für Obdachlosenhilfe da- schäftigten? in Estland: Dort können Sie Ihre Mel- mals um 1,12 Millionen Euro. Sie sag- Eine Aufstiegsperspektive. Unsere deanschrift genauso leicht wie Ihre ten damals, die Kommunen seien allei- Hauptanstrengung muss darin liegen, Anschrift im Amazon-Account ändern. ne für die Obdachlosenhilfe zuständig. dass niemand dauerhaft zu den Bedin- Die Digitalisierung der öffentlichen Sehen Sie das heute noch so? gungen eines Mindestlohns oder ge- Verwaltung scheint mir besonders nach Der Ausflug in die Geschichte ist noch nerell prekär arbeiten muss. Die Pers- den Erfahrungen in dieser Pandemie nicht vollständig. Denn zeitgleich hat die pektive sollte sein, immer wieder neue enorm wichtig: Lassen wir Corona das von der FDP mitgetragene Bundesregie- Qualifikationsangebote zu unterbreiten, letzte Kapitel im Leben des Faxgeräts rung die Kommunen von den Kosten der und zwar maßgeschneiderte. Was die gewesen sein! Grundsicherung im Alter entlastet. Das Untergrenze des Mindestlohns angeht: machte für die Städte und Gemeinden Wir haben gute Erfahrung damit, dies Sie werfen den Grünen vor, den Men- seitdem Hunderte von Millionen Euro in die Hände einer unabhängigen Kom- schen den Traum vom eigenen Haus an Einsparungen aus, die zum Beispiel mission zu legen, die dafür sorgt, dass zu vermiesen. Zugleich fehlen allent- für soziale Vorhaben oder Investitio- der Mindestlohn regelmäßig angepasst halben bezahlbare Wohnungen. Dafür 18 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 30 1 6/2 02 1
FDP-Chef Christian Lindner mit Journalistin Annette Bruhns. hören wir Sie weniger laut trommeln. zugleich mehr Wohnungen und Einfa- vorziehen. In die Sozialwohnung ist Zufall? milienhäuser bauen? vielleicht der studentische Bafög-Emp- Das Gegenteil ist der Fall: Keine Par- Der Klimaschutz ist eine globale Auf- fänger eingezogen und hat sie noch als tei setzt sich ähnlich stark für bezahl- gabe. Nur in Hückeswagen im Bergi- Professor bewohnt. Ich bin ein Befür- baren Wohnraum ein wie die FDP und schen Land CO2 einzusparen, indem worter individueller Wohnkostenzu- ist auch bereit, die entsprechenden Ent- man auf neue Einfamilienhäuser ver- schüsse, für die individuelle Bedarfs- scheidungen zu treffen. Wer bezahlbare zichtet, macht für das Weltklima kei- lage. Privaten Bauträgern bestimmte Wohnungen will, der muss so viel wie nen echten Unterschied. Die Grünen Auflagen zu unterbreiten, halte ich für möglich bauen, beispielsweise hier in wählen für den Klimaschutz ihren Weg, denkbar. Also zum Beispiel: Wenn je- Berlin auch auf dem Tempelhofer Feld. wir einen anderen: globales Denken und mand ein Haus mit acht Wohneinheiten Der muss Flächen bereitstellen. Und der Ideenwettbewerb. Wir müssen mit ent- baut, kann sie oder er die beiden Pent- kann nicht, wie die Grünen, bauliche wickelter Technologie die Steigerung housewohnungen zu hohen Quadratme- Standards über Gebühr erhöhen und da- des CO2-Ausstoßes begrenzen. Also terpreisen anbieten, solange in tieferen mit verteuern. Weil dann nicht einmal etwa Millionen von Pkw in Deutschland Etagen günstige Wohnungen entstehen. mehr große Baugenossenschaften Miet- mit synthetischen, klimafreundlichen Diese Mischung hätte zugleich eine ge- wohnungen errichten können. Wir wol- Kraftstoffen versorgen – statt einseitig sellschaftspolitisch wünschenswerte len die Wohnungsnot reduzieren durch nur auf die Elektromobilität zu setzen. Pluralität zur Folge. mehr Angebot. Schlüssel dazu: Senken Wie steht es mit dem Bau von So- Sie haben vor einem Jahr zugelas- von Baustandards, Ausweisen neuer Flä- zialwohnungen? Die SPD verspricht sen, dass ein FDP-Politiker mit Stim- chen, weniger Grunderwerbssteuer. 100.000 pro Jahr. Gehen Sie da mit, men der AfD thüringischer Minister- Geht denn beides, wenn Deutsch- und wenn ja, soll die der private Sek- präsident wurde. Ein Fehler, haben Sie land die Pariser Klimaschutzziele er- tor bauen oder die öffentliche Hand? hinterher gesagt. Mit Ihren Positionen reichen will: Kann man den fortschrei- Ich würde immer die Förderung von zu Corona sind Sie wieder nahe an tenden Flächenverbrauch senken und Menschen der Förderung von Steinen der AfD: Sie fordern Öffnungen, für He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 19
Schleswig-holstein sozial Läden, für Hotels – freilich bei mehr Dritter Punkt: Gesundheitsschutz darf ihren Weg gehen wollen. Keinem geht Schutz von Risikogruppen. Sie sagen nicht abhängig sein von Lebensverhält- es besser, wenn wir »denen da oben« et- dabei nicht, dass Corona ein Virus nissen. Masken oder Schnelltests müs- was wegnehmen, etwa durch eine Ver- ist, dass Ärmere viel häufiger trifft, sen an Menschen abgegeben werden, die mögensteuer. Sondern die Frage ist: Wie weil sie beengt wohnen und nicht im sich das nicht selbst leisten können, da- ändern wir das Leben derer, die aufstei- Homeoffice arbeiten können. Ist Ih- mit wirkungsvolle Hygiene keine Frage gen wollen. Da will ich für neue Chan- nen deren Gesundheit egal? des Einkommens ist. cen sorgen. Sie haben eine Frage gestellt, die der Sortierung bedarf. Ich habe auf gar kei- Olaf Scholz haben wir gefragt, was Das Interview im Namen von 20 nen Fall zugelassen, dass jemand mit er macht, wenn er nicht Kanzler wird. deutschen Straßenzeitungen – un- den Stimmen der AfD gewählt worden Sie fragen wir, was Sie machen, wenn ter ihnen HEMPELS – hat Annette ist. Sondern ein aufrechter Demokrat ist Schwarz-Grün Sie zum Tanz bittet: Bruhns geführt, Chefredakteurin von in eine Falle der AfD gelaufen. So hat es Werfen Sie wieder hin, wenn nicht Hinz&Kunzt in Hamburg. Es ist Teil ei- Ministerpräsident Bodo Ramelow von nach Ihrer Pfeife getanzt wird? ner großen Gesprächsreihe mit Berliner der Linkspartei formuliert. Zweitens Wenn es eine gemeinsame Choreo- Politikspitzen vor der Bundestagswahl ist die Pandemiepolitik der FDP nicht graphie gibt, sind wir gerne mit dabei. im September. In den vergangenen Mo- vergleichbar mit der der AfD. Wir wol- Aber nach der Pfeife anderer tanzen, naten waren bei uns bereits Grünen- len durch innovative Maßnahmen mehr beziehungsweise das, was vor der Wahl Co-Parteichef Robert Habeck sowie gesellschaftliches und wirtschaftliches versprochen wurde, nicht zu liefern, SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz an Leben erlauben, aber sehen das Risiko, wäre respektlos. der Reihe, kommenden Monat folgt dass in der Erkrankung liegt und leug- Und wenn Sie Vizekanzler wären: CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet. nen es nicht. Man tut der AfD einen Ge- Was würden Sie als erstes versuchen fallen, wenn man sie in einem Atemzug zu ändern? mit der FDP nennt und verharmlost die Für Aufstiegsgerechtigkeit sorgen! politische Gefahr, die von ihr ausgeht. Meine Leidenschaft gehört denen, die Haben Sie Interesse an einem Wartezimmer-ABO? Sie bieten damit Ihren Patienten und Mandanten eine zusätzliche informative und unterhaltsame Lektüre und zeigen gleichzeitig soziales Engagement. Mit unserem Exklusiv-Abo für Anwälte sowie Ärzte, Zahnärzte und andere Praxen bekommen Sie monatlich die aktuelle Ausgabe frei Haus geliefert. Ein ganzes Jahr für 21,60 Euro (Copypreis Straßenverkauf: 2,20 Euro/ Ausgabe). Auch beim Abo kommt die Hälfte des Erlöses natürlich unseren Verkäufer/innen zugute. HEMPELS-ABO IHRE DATEN HEMPELS KONTAKT Ja, ich möchte HEMPELS unterstützen und Bitte senden an: abonniere das Magazin für zwölf Monate zum Preis HEMPELS Straßenmagazin von 26,40 Euro. Will ich das Abo nicht verlängern, Praxis, Kanzlei Schaßstraße 4, 24103 Kiel kündige ich mit einer Frist von zwei Monaten zum Ablauf der Mindestlaufzeit. Anderenfalls verlängert Fax: (04 31) 6 61 31 16 sich das Abo automatisch und ist mit einer Frist von Ansprechpartner/in E- Mail: abo@hempels-sh.de vier Wochen zum Monatsende jederzeit kündbar. Die Zahlung erfolgt nach Erhalt der Rechnung. Oder einfach anrufen: Straße, Hausnummer (04 31) 67 44 94 Datum, Unterschrift PLZ, Ort 20 | titel 2 0 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 30 1 6/2 02 1
Menschen in Not helfen – HEMPELS bittet um Spenden KONTAKT GELDSPENDEN über (0431) 67 44 94 Wir benötigen weiterhin Ihre Unterstützung für in Not geratene Verkäuferinnen und Verkäufer. Bitte spenden Sie dafür auf unser Konto: Hempels e.V., DE13 5206 0410 0206 4242 10 DANKE. Wenn die Not am größten ist, müssen auch Nächstenliebe und Solidarität wachsen. Bitte helfen Sie und spenden . Hempels e.V 410 DE13 5206 0 0206 4242 10 He mpe l s # 2 3088 1 6/2 4/202 0210 Schl e s wigin- hol e igener s t ein ssache ozi a l | 2 1
GESELLSCHAFT Fußball in reinster Form Diesen Monat beginnt inmitten der Pandemie die um ein Jahr verschobene Fußball- Europameisterschaft. Wer den Sport in seiner ursprünglichen Ausprägung begreifen möchte, sollte auch woanders hinschauen ALLE FOTOS: AGENTUR REUTERS Wenn ab dem 11. Juni die Fußball- nen Frau« bis heute gepflegt wird – die Europameisterschaft ausgetragen wird, großen Vereine haben längst ihre Rolle dann geht es vor allem um viel Geld. als Sozialstationen verloren. Die Ver- Nichts könnte die Kommerzialisierung bindung mit der Lebenswirklichkeit des des Sports besser unterstreichen als zum normalen Fans ist dort nur noch Mythos. einen die Tatsache, dass dieses ursprüng- In den großen Arenen – auch jetzt bei lich schon im vergangenen Jahr geplante der Europameisterschaft – lieben es die und wegen Corona zunächst verschobe- Modefans komfortabel und akzeptieren ne Turnier unter weiter existierenden jeden Ticketpreis. Im Mittelpunkt steht Pandemiebedingungen jetzt doch noch für sie das Event, das Erlebnis; der Sport stattfindet. Und zum anderen, dass ein selbst ist häufig nachrangig. mit mittlerweile 24 Teams bestücktes Wer Fußball noch in seiner reinsten Turnier wie schon ursprünglich geplant Form erleben will, muss die Sportler be- erstmals nicht nur in einem oder zwei obachten, die ihn mit sprichwörtlich al- Ländern ausgetragen wird, sondern in len Mitteln betreiben. Die auf staubigen zehn verschiedenen europäischen Städ- Straßen oder im Schnee kicken und das ten sowie einer asiatischen (Baku). Das manchmal auch mit Flip-Flops oder bar- Eröffnungsspiel findet in Rom statt, das fuß. Auf den folgenden Seiten zeigen wir Finale am 11. Juli in London. In Mün- einige von Reuters-Fotografen festgehal- chen werden vier Partien ausgetragen. tene Beispiele dafür und auch, dass Fuß- Alle Angaben sind der aktuelle Stand bei ballplätze manchmal noch eine andere Redaktionsschluss. Funktion besitzen können. pb Auch wenn das Bild vom Fußball als Sportart »des kleinen Mannes, der klei- Mit Dank an Reuters / INSP.ngo 2 2 | ge se l l s ch a f t Hempel s # 30 1 6/2 02 1
REUTERS / Stefano Rellandini Auch mit Skischuhen an den Füßen und im tiefen Schnee lässt sich das Spiel betreiben. Hier beobachtet bei Skilehrern in Sestriere, Italien. He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 ge sel l s ch a f t | 2 3
GESELLSCHAFT REUTERS / Soe Zeya Tun Kinder beim Fußballspielen auf einem schwimmenden Spielfeld in einem thailändischen Fischerdorf. Sie kicken mit Flip-Flops an den Füßen. 24 | ge se l l s ch a f t Hempel s # 30 1 6/2 02 1
REUTERS / Rupak De Chowdhuri Barfuß spielende Jungen auf einer staubigen Straße in einem Wohngebiet in Kalkutta. He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 ge sel l s ch a f t | 25
GESELLSCHAFT Kicken in einem kleinen Bereich der im 14. Jahrhundert entstandenen königlichen Altstadt Vranduk in Bosnien und Herzegowina. 26 | ge se l l s ch a f t Hempel s # 30 1 6/2 02 1
REUTERS / Anton Vaganov Turnübungen an der Torlatte: ein in St. Petersburg beobachteter kleiner Junge. REUTERS / Dado Ruvic REUTERS / Pavel Rebrov Ziegen hinter dem Tor eines Fußballplatzes auf der Krim. He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 ge sel l s ch a f t | 2 7
GESELLSCHAFT Zwischen Armenküche und Bahnhofsmission Romandebüt von Markus Ostermair über das Leben auf der Straße TEXT: OLAF CLESS Ein Mann, krank und verwahrlost, er sein verstecktes, regengeschütztes tritt aus der Teestube der Diakonie, Nachtlager. Vor vier Jahren, mitten in dann verschwindet er »um die Ecke und der Adventszeit, wäre er fast draufge- verliert sich in den Straßen der Stadt, gangen, als ein Unbekannter plötzlich in den Augenwinkeln der Passanten, in ausrastete und ihm ein zersplittertes den Nasen der Hunde, in den Linsen Weizenglas durchs Gesicht zog. Der der Überwachungskameras«. Von Men- Täter konnte nie ermittelt werden, schen wie ihm, die sich in der Anony- Karl erinnert sich nur an dessen Reib- mität der Stadt verlieren und ein Schat- eisenstimme. Eine schlimme Narbe tendasein führen, die den Halt verloren ist geblieben und macht Karl vollends haben und oft genug sich selbst, erzählt zum Außenseiter. Immerhin kündigt der Debütroman »Der Sandler« des sie Wetterumschwünge zuverlässig 1981 geborenen, in München lebenden schmerzhaft an und verleiht ihm unter Autors Markus Ostermair. Es ist, um Kollegen den Ehrentitel »Barometer- dies vorwegzunehmen, ein ungemein Karl«. Und tatsächlich, nach der wo- starkes, bewegendes, realitätssattes, pa- chenlangen Sommerhitze sagt er ihnen ckendes und literarisch meisterhaftes auch diesmal präzise voraus, wann der Buch. Hier kennt sich einer aus, schaut erlösende große Regen einsetzen wird. genau hin, kann sich in seine Figuren Karls bester Freund ist Lenz, aber er versetzen und für all das eine Sprache hat ihn schon länger nicht mehr gese- finden. hen. (Der Romanleser weiß da zeitweise Im Mittelpunkt steht Karl, der einst mehr als Karl.) Lenz ist ein verrückter, ein bürgerliches Leben führte mit Frau aber irgendwie genialischer Typ. Weiß Cover des Romans »Der Sandler« und Kind und Lehrerberuf, ehe ihm ei- viel, liest viel, grübelt viel und schreibt von Markus Ostermair. Osburg Verlag nes Tages ein Junge vors Auto lief, ein ständig lose Blätter voll, es ist schon ein Hamburg, 371 Seiten, 22 Euro. tödlicher Unfall, über den Karl Maurer riesiger Wust entstanden – Gedanken nicht hinwegkam – Alkohol, Arbeits- zu einer Gesellschaft der Zukunft (»Das unfähigkeit, Scheidung, das ganze Ab- eigentliche Ziel der Arbeit ist nicht die wunderbaren Artikel im Lexikon ge- stiegsprogramm folgte. Jetzt lebt er auf Herstellung möglichst vieler Produk- funden: Zedaka (hebr. Wohltätigkeit). der Straße, mit viel Dosenbier, Domkel- te, sondern der Schutz der Umwelt, der Die Pflicht zu teilen, was man hat, um lerstolz und Billigwodka, frequentiert Abbau von Angst vor den anderen und so die Welt zu heilen. Das Besondere Armenküche, Bahnhofsmission, Klei- die Arbeit am Vertrauen zueinander«), ist, daß man den anderen dabei nicht derkammer und so weiter, irgendwo Traumnotizen, Visionen, aufgesam- beschämen darf«), auch Graffiti, unter- draußen am Industriepark Nord hat melte Weisheiten (»Durch Zufall einen wegs aufgelesen (»Wir sind es, die uns 2 8 | ge se l l s ch a f t Hempel s # 30 1 6/2 02 1
diese Welt zumuten!«). Ostermair streut solche Lenz’schen Notizen immer wie- der ein – ein schönes Mittel, um den Geist von Leserin und Leser zu weiten, sie zwischendurch zu lösen aus dem Bann des drückenden Alltags, von dem erzählt wird. Lenz, schwer krank und dem Ende nah, vermacht Karl einen Schlüssel und die Wohnung dazu. Welch eine Fügung! Es könnte jetzt alles so einfach sein, ist es aber nicht. Karl, dieser abgerissene Penner, soll einfach so ein gutbürgerli- ches Haus betreten und die Souterrain- wohnung aufschließen? Wie soll das gehen? Er traut es sich erst nach eini- ger Bedenk- und Mut-Antrink-Zeit, im Schutz der Dunkelheit und eines neuer- lichen Regens (der Erzähler ist übrigens dazu übergegangen, seinen zögerlichen Helden direkt anzufeuern: »Geh, Karl, geh!«). Dann das erste warme Wannen- bad, der ungestörte Schlaf im eigenen Bett, das geruhsame Frühstück – all die- se unbeschreiblichen Wohltaten, die al- len Nicht-Wohnungslosen viel zu selbst- verständlich sind, beschreibt Ostermair gebührend. Ist es ein Happy End? Keineswegs. Draußen treibt sich ein Typ namens Kurt herum. Er ist Karl auf die Spur ge- kommen. Die Wohnung hätte er selber Foto: Fabian Frinzel gern. Er hat schon fast die Tür eingetre- ten. Und er hat diese Reibeisenstimme ... Karl muss sich dringend etwas ein- fallen lassen, er wird aus seinem Nebel aufwachen und in die Gänge kommen müssen. Drücken wir ihm die Daumen. Als Zivildienstleistender in der Münchner Bahnhofsmission begann Markus Ostermair, Freundlicherweise zur Verfügung gestellt sich mit Obdachlosigkeit auseinanderzusetzen. Jahrelang arbeitete er dann ehrenamtlich von fiftyfifty / INSP.ngo in der Obdachlosenhilfe. He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 ge sel l s ch a f t | 2 9
Armut frisst sich in die Mitte der Gesellschaft Laut Statistischem Bundesamt haben 15,9 Prozent ein Einkommen, das geringer als 60 Prozent des mittleren Einkommens ist. Demnach verfügen 13,2 Millionen Menschen in Deutschland über weniger als 1074 Euro im Monat. Die Armut frisst sich mittlerweile in die Mitte der Gesellschaft, und das wird durch die Corona-Lockdowns verstärkt. Wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung herausgefunden hat, gehören den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung inzwischen mehr als 67 Prozent des Nettogesamtvermögens. Beim reichsten Prozent sind es über 35 Prozent und beim reichsten Promille immer noch 20 Prozent. Der Reichtum konzentriert sich also auch unter den Reichen an der Spitze. Das reine private Geldvermögen beläuft sich auf etwa sieben Billionen Euro. Geld ist also genug da, nur ist es sehr ungleich verteilt. PROF. CHRISTOPH BUTTERWEGGE , ARMUTSFORSCHER UND POLITIKWISSEN- SCHAFTLER Zitiert aus: Süddeutsche Zeitung Foto: Wolfgang Schmidt 30 | Schl e s wig - hol s t e in s ozi a l Hempel s # 30 1 6/2 02 1
Rezept Labskaus von Christiane Ulke Für 4 Personen: · 750 g Kartoffeln · 1 Dose Corned Beef (340 g) · 2 kleine Zwiebeln · 150 ml Gemüsebrühe · 150 g eingelegte Rote Bete · 5 Gewürzgurken · 4 Eier · 4 Rollmöpse Foto: Privat · etwas Salz und Pfeffer Christiane Ulke hat als Informatikerin in Hamburg gearbeitet, in ihrem Vorruhestand engagiert sie sich nun ehrenamtlich in ihrer Heimatstadt Kiel: Die 62-Jährige unterstützt das Küchen-Team des Kieler Ankers, das Mahl- zeiten bereitet für den Mittagstisch St. Markus sowie zusammen mit der stadt.mission.mensch und dem Caritasverband für den Mittagstisch Manna. t Foto: Priva In der Küche – die sich im selben Haus wie HEMPELS befindet – schnibbelt, kocht und putzt sie regelmäßig für Wohnungslose und Bedürftige. »Das macht total Spaß!« Unseren Leserinnen und Lesern empfiehlt sie ein Rezept, das sie aus ihrem Kochunterricht am Gymnasium vor etwa 50 Jahren kennt – und seither immer wieder gerne kocht. Kartoffeln schälen, kochen und zerstampfen, jedoch nicht pürieren. Das Corned Beef anbraten, die sehr klein geschnittenen Zwiebeln hinzugeben und kurz mit anbraten, dann die Gemüsebrühe dazugeben. Alles zusammen mit der Roten Bete (sowie etwas von der Einlegeflüssigkeit) und der Gewürzgurke – beides sehr klein gewürfelt – zu den Kartoffeln geben und vermengen. Mit Salz und Pfeffer abschmecken und mit je einem Spiegelei, einem Rollmops und einer Gewürzgurke servieren. CHRISTIANE ULKE WÜNSCHT GUTEN APPETIT! He mpe l s # 30 1 6/2 02 1 re ze p t | 3 1
Tipps Zugehört Durchgelesen Angeschaut »Trotzalledem« »Opfer 2117« »Die Brücke – Transit in Klee Jussi Adler-Olsen den Tod« Hans Rosenfeldt Ich mag Köln. Menschen aus Köln sind Seit mehr als zehn Jahren wirkt Assad Grausamer Fund auf der Öresundbrü- nett, abseits vom Klischee der rheinischen wie eine geheimnisvolle Naturgewalt im cke: eine zersägte Frauenleiche, die genau Frohnatur. In Köln selbst kommt man Sonderdezernat Q in Kopenhagen und am Grenzpunkt zwischen Dänemark schnell ins Gespräch, Berliner Schnauze ist unentbehrlicher Teil des Teams um und Schweden abgelegt wurde. Darum in herzlich quasi. Köln taut selbst mich als Carl Mørck. Auf verschlungenen Wegen ermitteln Saga Norén aus Malmö und Nordlicht auf. Und Menschen aus Köln, gelangt ein besonderer Fall zu ihm: Am Martin Rohde aus Kopenhagen gemein- die auch noch Musik machen, verbinden Strand von Ayia Napa auf Zypern wird sam. Saga hat leicht autistische Züge und diese Herzlichkeit meist mit dem Willen der Journalist Joan Aiguader Zeuge, wie glänzt infolgedessen selten mit Empathie zum Ohrwurm. Die Band Klee ist so ein Helfer eine Tote aus dem Wasser ziehen. und Martin kann nicht immer die Finger Phänomen: Auf jeder Platte gibt es die- Er fotografiert sie. Die Frau aus dem von anderen Frauen lassen, obwohl er sen einen Gute-Laune-Superhit, den man Nahen Osten ist das Opfer 2117 auf der verheiratet ist und schon mehrere Kin- hoch unter runter dudelt. »Tafel der Schande« am Strand von Bar- der von verschiedenen Frauen hat, aber Nach zehn Jahren Sendepause liefert celona, die die Zahl der im Mittelmeer sie sind sehr engagierte und kompeten- Klee nun wieder ein Album mit neu- ertrunkenen Bootsflüchtlinge anzeigt. te Kommissare und das müssen sie auch en Songs – und schon mit dem Opener Die Tote am Strand ist eine Frau, die sein, denn sie bekommen es mit einem »Club der Liebenden« hauen sie die Perle Assad einst sehr nahe stand. Mit einem sadistischen Massenmörder zu tun. Ob- des Longplayers heraus. Dabei setzen sie Schlag kehren die Gespenster aus seiner dachlose, Journalisten, Ärzte … es wird nach wie vor auf Elektropop mit bombas- Vergangenheit zurück: Ghalib, ein ira- viel gestorben, gefoltert und entführt in tischen Arrangements im Refrain, Beat kischer Krimineller, hat bereits einmal dieser 10-teiligen Serie (Arte Mediathek) zum Tanzen, aber genug Melodie und sein Leben zerstört – jetzt will er Assad und die vielen Nebenhandlungssträn- Tiefgang zum Träumen. Dazu kommt die für immer vernichten. Und mit Assad im ge verweben sich von Folge zu Folge zu bekannte zart-süß gehauchte Stimme von Zentrum der Ereignisse beginnt für Carl einer sehr spannenden Gesamtkompo- Sängerin Suzi Kerstgens – es scheint, als Mørck und sein Team ein nervenaufrei- sition. Und es ist ein großes Vergnügen, seien Klee nach einem Dornröschenschlaf bender, atemloser Countdown, um eine diesen beiden sehr unterschiedlichen aufgewacht und machen einfach weiter, Katastrophe im Herzen Europas zu ver- Kommissaren dabei zuzuschauen, wie sie wo sie aufgehört haben. Allerdings las- hindern. sich aneinander reiben, missverstehen, sen sich mittlerweile auch die Spuren des Damit nicht genug: Zur selben Zeit nerven und schließlich doch zu Freunden Lebens hören, Melancholie und immer kündigt ein offenbar psychisch gestörter werden. Irgendwie. wieder der Appell, im Moment zu leben, Gamer telefonisch beim Sonderdezernat Interessante Ermittler mit liebens- etwa bei »Septembernebel«. Wenn es zu Q ein Massaker in Kopenhagen an: Er werten Ticks, spannende Geschichten traurig wird, hilft immer »Glitzer drauf« wolle Rache nehmen für eine im Mittel- mit vielen überraschenden Wendungen: – ein weiterer Ohrwurm des Albums voll meer ertrunkene Flüchtlingsfrau – Opfer wieder einmal ein sehr gelungener skan- Ironie, aber einfach zum Gutfühlen. 2117. Skandinavische Krimi-Unterhal- dinavischer Exportschlager und ich freue Das Album ist Anker in der Corona- tung auf höchstem Niveau darf man von mich schon sehr auf die Staffeln 2 bis 4. Zeit – versprochen. Und wenn es wieder Jussi Adler-Olsen erwarten – hier ist ihm Konzerte gibt, dann hoffen wir, dass Klee gleichzeitig auch ein brisanter, hochaktu- uns in Kiel besucht. Noch besser als im eller Politthriller gelungen. Musikmachen sind die Kölner nämlich im Feiern. Musiktipp buchtipp Filmtipp von Michaela Drenovakovic von Ulrike Fetköter von Oliver Zemke 3 2 | t ipp s Hempel s # 30 1 6/2 02 1
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