Passt schön Ein Kieler Projekt entwirft Mode für - 2,20 EUR - Hempels

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Passt schön Ein Kieler Projekt entwirft Mode für - 2,20 EUR - Hempels
# 301                                                         2,20 EUR
Juni 2021
                                                           davon 1,10 EUR
                                                               für die Ver-
                                                             käufer/innen

               Das Straßenmagazin für Schleswig-Holstein

            Passt schön
            Ein Kieler Projekt entwirft Mode für
                   Menschen im Rollstuhl
Passt schön Ein Kieler Projekt entwirft Mode für - 2,20 EUR - Hempels
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
         als Physiotherapeutin war Mona-Lisa Sell spezialisiert auf die Arbeit mit Men-
    schen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. »Immer wieder habe ich gehört, dass
    es für viele total schwierig ist, passende Kleidung zu finden«, sagt sie. Um die Mode-
    Auswahl für Menschen im Rollstuhl zu erweitern, hat sie in ihrer Heimatstadt Kiel ein
    Projekt gestartet: Rolez – barrierefreie Kleidung. Unterstützt wird sie dabei von ihrer
    Freundin Sophia Molter, die sie in einem Zentrum für Querschnittsgelähmte kennen-
    gelernt hat. Wir haben die beiden im Hamburger Schanzenviertel getroffen. Lesen Sie
    ab Seite 10.
         Im September wird der neue Bundestag gewählt. Welche Antworten zu wichtigen
    sozialen Fragen bieten da die demokratischen Parteien? Das wollen wir zusammen mit
    anderen deutschen Straßenmagazinen in einer exklusiven Interviewreihe von Berliner
    Spitzenpolitikerinnen und -politikern wissen. Nach Grünen-Co-Chef Robert Habeck
    und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, folgt in diesem Monat FDP-Chef Christian
    Lindner. Das Interview finden Sie ab Seite 16.
         Und: Diesen Monat beginnt inmitten der Pandemie die um ein Jahr verschobene
    Fußball-Europameisterschaft. Wer den Sport in seiner ursprünglichen Ausprägung
    begreifen möchte, sollte aber auch woanders hinschauen. Etwa auf die Bilder von Reu-
    ters-Fotografen, die wir Ihnen ab Seite 22 zeigen.
          									                                                Ihre HEMPELS -Redaktion

                                                                    gewinnspiel

                     sofarätsel                                                 Gewinne
         Auf welcher Seite dieser HEMPELS-Ausgabe versteckt               3 x je ein Buch der Ullstein Verlagsgruppe. Im Mai war das kleine Sofa
         sich das kleine Sofa? Wenn Sie die Lösung wissen, dann           auf Seite 26 versteckt. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden im Juli
         schicken Sie die Seitenzahl an: raetsel@hempels-sh.de            veröffentlicht.
         oder: HEMPELS, Schaßstraße 4, 24103 Kiel. Teilnehmende
         erklären sich einverstanden, dass im Falle eines Gewinns         Im April haben gewonnen:
         ihr Name in HEMPELS veröffentlicht wird.                         Klaus-Ferdinand Feddersen (Struckum), Gudrun Nehring (Flensburg)
                                                                          und Margret Rohde (Busdorf) je ein Buch des Ullstein Verlags. Allen
         Einsendeschluss ist der 30.6.2021.                               Gewinnerinnen und Gewinnern herzlichen Glückwunsch!
         Der Rechtsweg ist wie immer ausgeschlossen.

2 | inh a lt                                                                                                                   Hempel s # 30 1 6/2 02 1
Passt schön Ein Kieler Projekt entwirft Mode für - 2,20 EUR - Hempels
Titel

                                                                     PASST SCHÖN
Titelfoto: Babette Brandenburg

                                                                     Rolez – barrierefreie Kleidung: So heißt das Projekt, das
                                                                     Mona-Lisa Sell in ihrer Heimatstadt Kiel gestartet hat, um
                                                                     die Mode-Auswahl für Menschen im Rollstuhl zu erweitern.
                                                                     Unterstützt wird sie dabei von ihrer Freundin Sophia Mol-
                                                                     ter. Ein Treffen im Hamburger Schanzenviertel.
                                                                     se i t e 10

                                 das Leben in zahlen                                         auf dem Sofa

                                 4   Ein etwas anderer Blick                                 34 Bodo verkauft unser
                                     auf den Alltag                                              Straßenmagazin in Eckernförde

                                 bild des monats

                                 6   Leider egal

                                 Schleswig-Holstein Sozial                Inhalt
                                                                          2 Editorial
                                 8  Meldungen
                                 9  Wie ich es sehe:                      31	rezept
                                    Kolumne von Hans-Uwe Rehse            32	MUSIKTIPP; BUCHTIPP; FILMTIPP
                                 16 Interview zu sozialen Fragen:         33	Service: Mietrecht; Sozialrecht
                                    FDP-Chef Christian Lindner            36	Leserbriefe; Impressum
                                 30 Armut frisst sich in die
                                                                          37	VERKÄUFER IN ANDEREN LÄNDERN; Meldung
                                    Mitte der Gesellschaft
                                                                          38	Sudoku; K arik atur
                                                                          39	Satire: Scheibners Spot

                                 gesellschaft

                                 22 Vor EM: Reuters-Fotos
                                     besonderer Fußballplätze                                           Bitte kaufen Sie
                                 28 Roman: Markus Ostermair                                             HEMPELS nur bei
                                     über das Leben auf der Straße                                      Verkaufenden, die diesen
                                                                                                        Ausweis sichtbar tragen

He mpe l s # 30 1 6/2 02 1                                                                                               inh a lt | 3
Passt schön Ein Kieler Projekt entwirft Mode für - 2,20 EUR - Hempels
das leben in zahlen

                                      Einmal arm,
                                      immer arm
   Wer in Deutschland erst einmal unter die Armutsgrenze gerutscht ist, bleibt immer öfter auch länger arm.
 Laut Datenreport 2021 betrug 2018 der Anteil dauerhaft von Armut betroffener Menschen unter allen Armen
 (15,8 % der Gesamtbevölkerung) 44 %. Sie lebten seit 4 Jahren unter der Armutsrisikoschwelle, die aktuell bei
    1074 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt liegt. 1998 betrug der Anteil der dauerhaft von
      Armut betroffenen Menschen noch 20 %. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, Menschen mit
             Hauptschul- und ohne Berufsabschluss und Menschen mit Migrationshintergrund. PB

                           44 %                                           20 %
                               2018                                              1998

4 | das l ebe n in z a hl en                                                                  Hempel s # 30 1 6/2 02 1
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90 % Obdachlose
                         psychisch erkrankt
                 678.000 Menschen sind in Deutschland wohnungslos, etwa 41.000 leben sogar ohne jede
                 Unterkunft auf der Straße. Meist sind es mehrere Schicksalsschläge, die zum Verlust der
             eigenen Wohnung geführt haben – familiäre Probleme, plötzliche Arbeitslosigkeit, bereits in der
             Kindheit durchlittene Traumata wie Missbrauch oder Gewalt. Eine bereits 2017 durchgeführte
            Studie der TU München zeigt, dass 9 von 10 Menschen ohne Obdach im Laufe ihres Lebens auch
             mindestens eine psychische Erkrankung wie Depressionen oder Angststörungen erlitten haben.
                             2/3 waren schon vor Beginn der Wohnungslosigkeit krank. PB

                                                                                                                          Foto: Pixabay

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bild des monats

Leider egal
   Gleich am Anfang mal eine Ham-
mernachricht raushauen: Die Welt ist
randvoll gepackt mit Knalltüten! Nein,
nicht Sie sind gemeint! Und Sie natür-
lich auch nicht! Wir meinen auch nicht
diese beiden Blondinen, die da offenbar
unbedingt Gemeinsamkeiten mit einem
afghanischen Windhund herausarbei-
ten wollen. Obwohl, die beiden könnten
schon … aber lassen wir das lieber. Ge-
meint sind die echten Kotzbrocken, die
Psychopathen und – pardon the expres-
sion – Arschlöcher unter uns.
   Man begegnet ihnen ja fast täglich;
wenn man etwas Glück hat, nur im
mobilen Bahn-Office mit Handy am
Ohr: »… müssen wir jetzt unverzüg-
lich die Zielarchitektur für das Ab-
wicklungspotential des Humankapitals
neu herausarbeiten – soweit alles mit-
geschrieben, Frau Müller?« Womit wir
das eigentliche Thema dieses kleinen
Textes umzingelt haben: Muss man ein
manchmal auch über Leichen gehender,
unverträglicher Fiesling sein, um an der
Spitze eines Unternehmens Erfolg zu
haben? Nein, muss man nicht, sagt jetzt
ein nordamerikanischer Wissenschaft-
ler, der sich dieser Frage mit einer Lang-
zeitstudie genähert hatte. Eine sozial
unverträgliche Persönlichkeit eröffnet
einem im Berufsleben keinen systemati-
schen Vorteil. Allerdings: Nachteile lei-
der auch nicht. Für den Erfolg ist es also
piepegal, wie jemand auftritt.
   Ob das der Grund dafür ist, dass man
auch sonst im Leben immer mal wieder
von dem einen oder anderen Klugschei-
ßer umgeben ist, der oder die anderen
den Lauf der Welt erklären will, obwohl
sie kaum Käse von Wurst unterscheiden
können? Wir vermuten es, wissen es je-
doch nicht ganz genau. Ahnen jedoch,
dass manch einer von denen der leben-
de Beweis dafür ist, dass Haare auch auf
komplett hohlen Köpfen wachsen kön-
nen. PB

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Foto: REUTERS / Darren Staples

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meldungen

+++                                                                      Taschengeld«, sagt Lebenshilfe-Bundesvorsitzende Ulla
                                                                         Schmidt. »Auch wenn Menschen mit Beeinträchtigung zusätz-
Tafel fordert Anstrengungen gegen Verschwendung                          lich Sozialleistungen bekommen, empfinden sie ihren Lohn
Statistisch wird ein Drittel der weltweit hergestellten Lebens-          als viel zu niedrig und höchst ungerecht. Schließlich gehen die
mittel nicht verzehrt, sondern landet im Müll – darauf weist             meisten von ihnen wie alle anderen fünf Tage die Woche zur
die Tafel Deutschland in einer Mitteilung hin. Laut UN-Nach-             Arbeit.« Die Lebenshilfe setzt sich schon lange für eine Reform
haltigkeitszielen, zu denen sich auch Deutschland verpflichtet           ein und fordert, dass Werkstattbeschäftigte von ihrem Entgelt
hat, soll diese Verschwendung bis zum Jahr 2030 halbiert                 leben können und nicht auf weitere existenzsichernde Leistun-
werden. Damit dieses Ziel in den nächsten neun Jahren er-                gen angewiesen sind. WP
reicht werden kann, fordert die Tafel von Politik, Wirtschaft
sowie Gesellschaft weitere Anstrengungen. Wichtig sei etwa               +++
aufzuklären, wie und wo Lebensmittel produziert werden und
wie man sie frisch hält. Die Tafel plädiert für ein entsprechen-         BAGW: Wohnungslosigkeit überwinden
des Schulfach. mgg                                                       Angesichts des VI. Armuts- und Reichtumsberichts der Bun-
                                                                         desregierung fordert die BAG Wohnungslosenhilfe (BAGW)
+++                                                                      eine umfassende Strategie, Wohnungsnot sowie Wohnungslo-
                                                                         sigkeit zu überwinden. Diese solle alle politischen Ebenen ein-
Diakonie: Unterstützung für Familien in Corona-Krise                     beziehen; gefordert seien Bund, Länder und Kommunen – so
Die Diakonie Schleswig-Holstein fordert mehr Unterstützung               die BAGW, der Dachverband der Hilfen in Wohnungsnotfällen
für Familien, Kinder sowie Jugendliche in der Corona-Krise.              in Deutschland, in ihrer Pressemitteilung. Vor allem fehle
Ihre Sorgen und Nöte sollten stärker betrachtet werden, so die           bezahlbarer Wohnraum, der Bestand an Sozialwohnungen sei
Diakonie in ihrer Pressemitteilung. »Homeschooling, Teilun-              fortlaufend geschrumpft. Dass der Armuts- und Reichtumsbe-
terricht sowie der Mangel an Kontakten, Sport und Bewegung               richt Wohnungslosigkeit ausführlich thematisiert sowie auch
haben viele Kinder und Eltern an ihre Grenzen gebracht.                  Lösungsstrategien aufzeigt, begrüßt die BAGW. MGG
Gleichzeitig haben sie sich diesen Herausforderungen gestellt
und viel Kraft und Energie aufgebracht, um die Situation zu              +++
meistern«, sagt Diakonie-Vorstand und Landespastor Heiko
Naß. Nun komme es »darauf an, die Kinder und Eltern wieder               Sozialverband: »Armutsrechner« bestimmt Armutsrisiko
zu entlasten und sie dabei zu unterstützen, die Folgen der               Ein digitaler »Armutsrechner« bestimmt das persönliche
Krise zu bewältigen«. mgg                                                Armutsrisiko von Menschen in Deutschland. Der Landesver-
                                                                         band Niedersachsen im Sozialverband Deutschland (SoVD)
+++                                                                      hat ihn unter www.armutsschatten.de/armutsrechner online
                                                                         eingerichtet. Interessierte können dort anonym sowie kosten-
Lebenshilfe fordert Entgelt-Reform                                       los Fragen zu ihrer Situation beantworten und erhalten eine
Rund 300.000 Frauen und Männer mit Beeinträchtigung                      persönliche Auswertung, wie der Landesverband mitteilte. In
arbeiten bundesweit in Werkstätten für Menschen mit Be-                  Deutschland sind nach Angaben des Verbandes rund 13 Milli-
hinderung (WfbM) und erhalten ein monatliches Entgelt von                onen Menschen armutsgefährdet. epd
durchschnittlich 210 Euro. »Das ist nicht mehr als ein

                                       HEMPELS IM RADIO
                                       Jeden ersten Montag im Monat ist im Offenen Kanal Lübeck das HEMPELS-Radio zu hören. Nächster
                                       Sendetermin ist am 7. Juni ab 17.05 bis 18 Uhr. Wiederholt wird die Sendung am darauf folgenden Dienstag
                                       ab 10 Uhr. Das HEMPELS-Radio bietet einen Überblick über einige wichtige Themen des aktuellen Heftes
                                       und will zugleich Einblicke in weitere soziale Themen aus der Hansestadt ermöglichen.
                                       Zu empfangen ist der Offene Kanal im Großraum Lübeck über UKW Frequenz 98,8. Oder online über
                                       den Link »Livestream« auf www.okluebeck.de

8 | me l dungen                                                                                                                Hempel s # 30 1 6/2 02 1
Passt schön Ein Kieler Projekt entwirft Mode für - 2,20 EUR - Hempels
WIE ICH ES SEHE

                            Das Grundrecht auf
                           Wohnen verwirklichen

                                                    von hans-uwe rehse

   In Berlin sind jetzt alte Rechnungen zu begleichen. Das       Modelle gefragt, die dem steigenden Bedarf an bezahlbarem
Bundesverfassungsgericht hat kürzlich den vom Berliner Ab-       Wohnraum gerecht werden.
geordnetenhaus beschlossenen »Mietendeckel« aufgehoben.             Der Berliner »Mietendeckel« ist wohl kein geeigneter Weg
So erhalten viele Berliner Haushalte Nachzahlungsforderun-       aus der Misere. Ich hoffe jedoch, dass die Entscheidungsträger
gen. Vorbei ist die Freude über das eingesparte Geld.            in Politik und Gesellschaft weiter an guten Lösungen arbei-
   Vorsichtige Mieter hatten es gleich zurückgelegt, sodass      ten. Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus wäre sicher
die Nachforderungen schnell beglichen sind. Andere haben es      eine sinnvolle Option. Gut, wenn in diesem Wahljahr auch da-
allerdings ausgegeben, weil sie sich endlich langgehegte Wün-    für politische Programme vorgestellt werden. Daneben kön-
sche erfüllen konnten. Sie haben jetzt natürlich ein Problem.    nen wir alle jedoch auch etwas tun. Indem wir Initiativen un-
   In den Kommentaren zum Urteil des Bundesverfassungs-          terstützen, die dazu beitragen, dass Menschen eine Wohnung
gerichts wurde der Berliner Beschluss allgemein scharf kriti-    und ein Zuhause finden. Das Wohn-Projekt von HEMPELS
siert. Man hätte doch vorhersehen müssen, dass Mieten nicht      zum Beispiel. Das bietet auf jeden Fall eine Perspektive.
durch einen politischen Beschluss festgelegt werden könnten,
hieß es. Fatal wäre auch das Signal an die Bauwirtschaft gewe-
sen. Investitionen in neue Bauprojekte wurden eingestellt. Da-
mit war die Möglichkeit vertan, mit einem größeren Wohnan-
gebot Einfluss auf die Mieten zu nehmen.
   Die Kritik war sicherlich berechtigt. Die politischen Ent-
scheidungsträger hätten die Folgen ihres Beschlusses besser
bedenken müssen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich das                                Hans -Uwe Rehse is t Pas tor im
Projekt mit Interesse verfolgt habe. Denn das ungebremste                               Ruhe s tand und war Ge schäf t s -
Wachstum der Mieten in den nachgefragten Regionen ist ein                               führer der Vorwerk er Diakonie
massives Problem. Für Menschen, die nur über ein begrenztes                             in Lübeck . SEINE KOLUMNE
Einkommen verfügen, wird es immer schwieriger, das Geld                                 ER SCHEINT JEDEN MONAT
für die Miete aufzubringen. Die Zahl derer, die das nicht mehr
schaffen, wird immer größer. Verhängnisvollerweise nimmt
damit die Wohnungslosigkeit zu und immer mehr Menschen
landen auf der Straße.
   Das darf so nicht weitergehen. Wohnen ist ein Grundrecht.
Jeder Mensch muss ein Dach über dem Kopf haben, das Schutz
bietet. Und einen Raum, in den man sich zurückziehen kann.
   Der freie Markt reicht offensichtlich nicht aus, um allen
Menschen diese Möglichkeit zu bieten. Deshalb sind andere

Hempel s # 30 1 6/2 02 1                                                                           Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 9
Passt schön Ein Kieler Projekt entwirft Mode für - 2,20 EUR - Hempels
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                                                               titel

                Passt schön
         Kleidung soll schön sein und
       muss passen, das sehen wohl fast
      alle so. Ein Projekt aus Kiel möchte
     nun die Mode-Auswahl für Menschen
             im Rollstuhl erweitern

                                TEXT: GEORG MEGGERS
                            FOTOS: BABETTE BRANDENBURG

   »Ballern?«, fragt Mona-Lisa Sell. Was       und sie entwickelt einen Businessplan
sie meint: schnell noch vor dem Auto die       für Rolez. Unterstützt wird sie von den
Fahrbahn im Hamburger Schanzen-                Bewohnerinnen und Bewohnern ihrer
viertel überqueren. Ihre Freundin So-          WG sowie ihrer besten Freundin, die
phia Molter nickt. Mona-Lisa Sell packt        Zukunftsdesign studiert. Und natürlich
die Griffe am Rollstuhl, holt Schwung          von Sophia Molter, 34, die sie berät. Das
und schiebt sie auf die andere Straßen-        gemeinsame Ziel: ein Problem lösen. Aber
seite. Einen Augenblick später braust          welches eigentlich?
das Auto an ihnen vorbei, und die bei-            Vor ihrem Studium war Mona-Lisa
den lachen.                                    Sell als Physiotherapeutin spezialisiert
   Kennengelernt haben sie sich 2019           auf die Arbeit mit Menschen, die auf ei-
in einem Zentrum für Querschnittsge-           nen Rollstuhl angewiesen sind. »Immer
lähmte. Sophia Molter war Patientin,           wieder habe ich gehört, dass es für viele
Mona-Lisa Sell ihre Physiotherapeutin.         total schwierig ist, passende Kleidung zu
Nach der gemeinsamen Zeit im Klinikum          finden.« Der Grund: »Die Schnittmuster
blieben die Hamburgerinnen über Insta-         sind oft auf stehende Menschen ausgelegt.
gram in Kontakt und treffen sich mitt-         Wer aber dauerhaft sitzt und vielleicht
lerweile mehrmals pro Woche. Häufiges          auch eine eingeschränkte Handfunktion
Gesprächsthema etwa beim Kaffee auf            hat, kann manche Knöpfe oder Reißver-
Sophia Molters Balkon: Rolez – barriere-       schlüsse nur schwer öffnen.«
freie Kleidung.                                   Allerdings ist »passend« nur ein As-
   So heißt das Projekt, das Mona-Lisa         pekt, wenn es um Kleidung geht; ein an-
Sell, 26, Anfang dieses Jahres in ihrer Hei-   derer ist »modisch«. Sophia Molter sagt:
matstadt Kiel gestartet hat. Sie studiert      »Wie die meisten möchte ich Sachen tra-
inzwischen Sozialökonomie in Hamburg,          gen, in denen ich mich hübsch und wohl

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Die Freundinnen Sophia Molter (li.) und Mona-Lisa Sell unterwegs in Hamburg. Kennengelernt haben sie
                                                                                   sich in einem Zentrum für Querschnittsgelähmte.

He mpe l s # 30 1 6/2 02 1                                                                                               t i t e l | 11
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                                                             titel

fühle.« Ein Beispiel, worin sie das nicht
tut, hält sie auf ihrem Balkon in Händen:
»Als ob man Zeltplane über einen Kinder-
wagen stülpt«, sagt sie und lacht. Was sie
meint: Wie es aussieht, wenn sie bei Regen
ihren funktionalen Rolli-Poncho trägt.
»Eine schöne Regenjacke geht ja nicht,
dann werden immer meine Oberschenkel
nass.« Am Tag des Interviews bleibt der
Poncho zu Hause: Zwar wirkt die Wol-
kendecke über Hamburg nur bedingt ver-
trauenswürdig, doch sie hält.

                 »Mode hat auch
       mit Chancengleichheit
                    zu tun«

   In einer Straße, durch die Sophia Mol-
ter in »ihrem« Schanzenviertel führt,
reiht sich Mode-Geschäft an Mode-
                                                                  Die 34-jährige Sophia Molter wird Lehrerin für Deutsch und Englisch.
Geschäft, in den Schaufenstern stehen
die Puppen. »Überleg mal, wie groß die
Kleider-Auswahl für Fußgänger ist«, sagt     andere Anbieter. »Das ist cool, und ich      für Deutsch und Englisch an einer Ham-
Mona-Lisa Sell später. Mit ihrem Projekt     sehe sie überhaupt nicht als Konkurrenz.     burger Stadtteilschule, zuvor studierte
wird sie nicht die Erste sein; wer »Mode     Rolez soll das Angebot erweitern.« Ihre      sie in Kiel und Dresden. Trotzdem hört
für Rollstuhlfahrer« googelt, findet auch    Freundin Sophia Molter wird Lehrerin         man noch immer ein wenig, dass sie aus
                                                                                          einer anderen Stadt stammt: Berlin. Dar-
                                                                                          an, wie sie einige Wörter ausspricht. Und
                                                                                          vielleicht auch daran, dass sie manches
                                                                                          berlinerisch-derb ausdrückt. Etwa dann,
                                                                                          wenn es um ihr, wie sie es nennt, Bauar-
                                                                                          beiterdekolleté geht. Gemeint ist das, was
                                                                                          hinten preisgegeben wird, wenn die Hose
                                                                                          im Sitzen nach unten rutscht. »Damit mir
                                                                                          das im Rollstuhl nicht passiert, greife ich
                                                                                          auf Umstandsmode zurück – aber das
                                                                                          kann es ja auch nicht sein!«
                                                                                             Ein Rückblick: Anfang 2019 entzün-
                                                                                          dete sich Sophia Molters Rückenmark.
                                                                                          Als sie in die Notaufnahme eingeliefert
                                                                                          wurde, war ihr Körper von der Brust ab-
                                                                                          wärts gelähmt. Durch die Therapie kann
                                                                                          sie heute wieder ihren gesamten Oberkör-
Häufiges Gesprächsthema auf Sophia Molters Balkon: das von der 26-jährigen Mona-Lisa      per bewegen. Sie sagt: »Ich hatte Glück
Sell gestartete Projekt »Rolez – barrierefreie Kleidung«.                                 im Unglück – auch wenn das doof klingt

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Das gemeinsame Ziel von Sophia Molter und Mona-Lisa Sell: ein Problem lösen.

He mpe l s # 30 1 6/2 02 1                                                                                  t i t e l | 13
titel

und auch wenn ich einige Zeit gebraucht           möchte Aufmerksamkeit schaffen: »Wo-             Und welche Lösung hat Rolez parat?
habe, das zu akzeptieren.« Nach einer             her sollen die Leute sonst wissen, dass       Mona-Lisa Sell sagt: »Wir wollen das
kurzen Pause fügt sie hinzu: »Na ja, ich          Kleidung für viele im Rollstuhl ein wichti-   Rad nicht neu erfinden. Oft würde es
bin im Prozess, das zu akzeptieren.« Dass         ges Thema ist? Ich wusste es früher ja auch   schon helfen, die Schnittmuster etwas
sie jetzt Rolez berät, ist für sie ein Zeichen,   nicht.« Wenn ein Rollstuhlfahrer aus dem      anzupassen.« Sophia Molter nennt zwei
dass der Prozess voranschreitet: »Noch            Bus aussteigen wollte, klappte sie für ihn    Beispiele. Nummer eins: eine schicke
vor einem halben Jahr hätte ich mich da-          die Rampe herunter; sie sei nicht ignorant    Regenjacke. »Wenn man die ein we-
rauf nicht einlassen können.«                     gewesen. »Trotzdem war mir nicht klar,        nig ändert, würde sie auch meine Bei-
   Sophia Molter möchte ihrer Freundin            wie schwierig es ist, passende und modi-      ne bedecken.« Beispiel zwei: modische
»Moli«, wie sie sie nennt, helfen. Und sie        sche Sachen zu finden.«                       Rucksäcke. »Manchmal bräuchte es nur

Vor einem Mode-Geschäft im Hamburger Schanzenviertel: »Überleg mal, wie groß die Kleider-Auswahl
für Fußgänger ist«, sagt Mona-Lisa Sell später.

14 | t i t el                                                                                                      Hempel s # 30 1 6/2 02 1
zusätzliche Schlaufen, um sie einfacher
greifen und öffnen zu können.«
   Das Rolez-Team entwirft derzeit ers-
te Prototypen von Kleidungsstücken.
Und einen Fragebogen für Menschen
im Rollstuhl. »Wir wollen wissen, was
sie sich wünschen«, sagt Mona-Lisa Sell.
Sie verstehe sich als Vermittlerin, die
mit Schneiderinnen und Schneidern be-
spricht, wie sie ihre Kleidung barriere-

                                                             Als Physiotherapeutin war Mona-Lisa Sell spezialisiert auf die Arbeit mit
                                                                                  Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind.

                                           frei gestalten. Wichtig seien individuelle       Vieles wird gerade geplant, vieles steht
                                           Lösungen: »Menschen im Rollstuhl sind         daher noch nicht fest. Wie der Verkaufs-
                                           nicht gleich, und sie haben nicht die glei-   start. Doch wann auch immer: In Mode-
                                           chen Probleme: Was für die eine ganz          Geschäften mit stehenden Schaufens-
                                           leicht geht, fällt dem anderen vielleicht     terpuppen wie hier im Schanzenviertel
                                           schwer.«                                      wird Rolez wohl auch in Zukunft nicht
                                              Rauskommen soll am Ende kein ver-          zu finden sein. Eher biete sich der Handel
                                           rückter Stil, keine »crazy Mode«, wie         im Internet an: »Weil unsere Zielgruppe
                                           Mona-Lisa Sell sagt, sondern: Kleidung,       nicht so groß ist – und weil Onlineshops
                                           die möglichst vielen gefällt. Und die sich    immer barrierefrei sind.« Einen ersten
                                           gut mit anderen Sachen kombinieren            Erfolg gibt es bereits: Beim Yooweedoo-
                                           lässt. »Mode hat auch mit Chancen-            Ideenwettbewerb, der sozial und ökolo-
                                           gleichheit zu tun – etwa im Beruf«, sagt      gisch nachhaltige Projekte in Schleswig-
                                           sie. Sophia Molter nickt und sagt: »Vor       Holstein fördert, wurde neben anderen
                                           meinen Schülerinnen und Schülern              auch Rolez ausgezeichnet.
                                           muss ich selbstbewusst sein können. Da-          Wer die Entwicklung des Projekts
                                           für ist auch wichtig, was ich trage.«         ver­folgen will, kann auf Instagram nach
                                              Neben »passend« und »modisch«              rolez_chairwear suchen oder eine E-Mail
                                           sollen Klamotten der Marke Rolez noch         an rolez.info@gmail.com schreiben. Ob
                                           etwas sein: »medizinisch indiziert«, also     aus alledem mal eine Firma wird oder
                                           gesundheitlich ratsam, sagt Mona-Lisa         ein Verein? Gründerin Mona-Lisa Sell
                                           Sell. »Bei Menschen im Rollstuhl führen       sagt: »Darum gehts nicht. Und auch
                                           Druckstellen oft zu Hautverletzungen          nicht ums Geldverdienen. Sondern
                                           – das wollen wir mit unserer Kleidung         darum, Probleme zu lösen – und das
                                           verhindern.«                                  plane ich auf jeden Fall langfristig.«

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Schleswig-holstein sozial

       »Hinzuverdienstgrenzen
           beim ALG II sind
        skandalös ungerecht«
             FDP-Chef Christian Lindner fordert im Exklusivinterview
           auch eine Anpassung der Höhe des Minijobs. Das Gespräch ist
      Teil einer großen Interview-Reihe, in der 20 deutsche Straßenzeitungen
               vor der Bundestagswahl Fragen zu sozialen Themen an
                            Berliner Politikspitzen stellen

                                        INTERVIEW: ANNETTE BRUHNS, FOTOS: THOMAS MEYER

   Herr Lindner, Sie besitzen einen          niedrig und fordern eine Aufstockung        käufer freuen, die Hartz IV beziehen.
Porsche, eine Rennfahrerlizenz und           auf 600 Euro. Gehen Sie da mit?             Wie stehen Sie zur Forderung, den
einen Jagdschein, sind also ein ge-             Mir können Sie solche zugespitzten       Freibetrag beim Zuverdienst von jetzt
machter Mann. Wir 20 Straßenzei-             Fragen gerne stellen. Aber auch eine        100 Euro auf 400 Euro anzuheben?
tungen glauben, dass Sie trotzdem            Polizistin oder ein Krankenpfleger be-         Genau das ist unsere Forderung. Je-
etwas mit obdachlosen Menschen ge-           ziehen ihre Gehälter aus öffentlichen       der, der einen Euro hinzuverdient, muss
mein haben. Raten Sie mal, was.              Mitteln. Es führt nicht weiter, wenn        mehr als die Hälfte davon behalten kön-
   Den Begriff »gemachter Mann«              jede Tätigkeit, die sich aus Steuergel-     nen. Übrigens muss auch die Höhe des
finde ich rätselhaft, denn er klingt für     dern finanziert, mit Sozialleistungen       Minijobs angepasst werden. Denn wenn
mich nach dem Zutun von anderen.             verglichen wird. In der Sache bin ich       der Mindestlohn steigt, haben viele
Tatsächlich bestreite ich seit meinem        dafür, dass sich die Höhe der Grundsi-      Betroffene dennoch nicht mehr Geld,
18. Geburtstag meinen Lebensunter-           cherung daran orientiert, welche Be-        wenn es bei 450 Euro bleibt. Die müssen
halt selbst, geschenkt hat mir niemand       dürfnisse bestehen und wie die Preise       stattdessen die Arbeitszeit reduzieren,
etwas.                                       sich entwickeln. Das sollten Fachleute      das bremst Aufstiegschancen. Deshalb
   Wir dachten an Folgendes: Viele           festlegen, das ist nichts für Wahlkampf-    sollte die Höhe des Minijobs immer das
wohnungslose Menschen beziehen               versprechen. Viel wichtiger ist es mir,     60fache des jeweiligen Mindeststun-
staatliche Grundsicherung, Sie leben         den Menschen zu erleichtern, sich durch     denlohns betragen.
seit Ihrem 22. Lebensjahr von staatli-       eigenen Einsatz, Schritt für Schritt, aus      SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz
chen Diäten. Allerdings reichen die Ih-      einer Bedürftigkeit herauszuarbeiten.       und der Grüne Robert Habeck fordern
nen nicht: Sie haben allein in dieser Le-    Ganz konkret halte ich die Hinzuver-        höhere Steuern für Gutverdiener. Wä-
gislaturperiode mehr als 400.000 Euro        dienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II      ren Sie bereit, mehr abzugeben?
dazu verdient. Wohlfahrtsverbände            für skandalös ungerecht.                       Zu glauben, es habe nur positive Fol-
finden den Hartz-IV-Regelsatz auch zu           Das wird die Straßenzeitungsver-         gen, wenn man Steuern erhöht, weil

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»Wir wollen die Wohnungsnot reduzieren durch mehr Angebot«: Christian Lindner beim Interview.

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dann der Staat über mehr Geld verfügt,       nen genutzt werden könnten. Oberstes        wird, und dass die Lohnfindung nicht
greift zu kurz. Es muss immer alles erst     Ziel: So lange es geht, müssen Menschen     politisiert wird. Nicht parteipolitische
erwirtschaftet werden, bevor es verteilt     ihre Wohnung behalten können, sei es        Interessen dürfen eine Rolle spielen,
werden kann. Die Aufgabe lautet doch,        mittels Grundsicherung, Schuldnerbe-        sondern arbeitsmarkt- und sozialpoliti-
mehr gut bezahlte Arbeitsplätze zu           ratung, gesundheitlicher Hilfestellung.     sche Erwägungen.
schaffen und in neue Technologien zu         Das muss nah am Menschen geschehen,
investieren. Dafür muss es Spielräume        also auf der kommunalen Ebene. Ge-             Die FDP spricht sich aus für
geben. Ich bin also für eine Senkung von     nauso vielschichtig wie die Problemlage     »Housing First«, also dass Obdachlo-
Steuern für Beschäftigte und Betriebe.       muss das Hilfesystem sein.                  se erst mal eine Wohnung bekommen,
   Wie will die FDP die Kluft zwischen          Obdachlosigkeit ist heutzutage vor-      ohne groß nachweisen zu müssen, dass
Arm und Reich verringern? Laut dem           wiegend ein Ergebnis von Migration:         sie dafür geeignet sind. Wie sollen die
Deutschen Institut für Wirtschafts-          Immer mehr Menschen aus armen               Kommunen das finanzieren?
forschung kommen wir immer mehr              EU-Ländern landen in prekären Ar-              Ich bin dezidiert der Meinung, dass
in die Nähe von US-Verhältnissen bei         beitsverhältnissen, sei es auf Schlacht-    wir die kommunale Ebene stärken
der Vermögensverteilung.                     höfen oder auf Baustellen oder als          müssen. Weil sich die Aufgaben der un-
   Wir müssen die Aufstiegschance für        Putzkräfte, und im Winter dann oft          terschiedlichen öffentlichen Ebenen
jede Frau und jeden Mann erhöhen. Wir        auf der Straße. Was würde die FDP in        verändern. Aufgaben, die der Staat den
brauchen einen treffsicheren Sozialstaat,    einer Regierungskoalition tun, um           Gemeinden überträgt, muss er immer
der für die Menschen ein Sprungbrett         dieses Elend zu stoppen?                    mitfinanzieren. Die Kommunen sind
in die Selbstbestimmung ist und nicht           Wir müssen über die Qualität der         unser erstes Auffangnetz bei Notlagen.
wirkt wie ein Magnet, der Menschen           Arbeitsverhältnisse nachdenken, zum            In Wien gibt es neuerdings als
eher festhält. Die größte Form der Un-       Beispiel im Bereich der fleischverarbei-    Housing-First-Angebote »Chancenhäu-
gleichheit ist für mich die der Bildung.     tenden Industrie. Und wir müssen die        ser«: Hier werden Obdachlose – einzeln,
Nirgendwo sonst in entwickelten Ge-          Verantwortung der Herkunftsländer           als Paar, als Familie – für drei Monate
sellschaften entscheidet der Zufall der      stärken. Das ist eine Frage, die man hin-   einquartiert und beraten bei der Woh-
Geburt so sehr über Lebenschancen. Das       sichtlich der Migration in Europa stellen   nungs- und Arbeitssuche. In der Hälfte
halte ich für einen Skandal! Wir brau-       muss: Was ist mit der sozialen Verant-      der Fälle mit Erfolg …
chen mehr Frühförderung von Kindern,         wortung jedes einzelnen EU-Mitglieds-          … klingt für mich nach einem guten
hinsichtlich des Spracherwerbs schon         staats? Zum Arbeiten nach Deutschland       Modell auch für deutsche Kommunen,
vor der Einschulung, und viel mehr in-       zu kommen, darf nicht zu Verelendung        ein maßgeschneidertes 360-Grad-Kon-
dividuelle Förderung an öffentlichen         führen. Es geht um eine unbearbeitete       zept aus der Obdachlosigkeit.
Schulen. Kein junger Mensch sollte die       Aufgabe, die sich durch die Freizügigkeit      Ihre Partei fordert, dass der Staat
Schule ohne einen Abschluss verlassen.       innerhalb der EU stellt.                    elektronische Akten für obdachlose
                                                Die Mindestlöhne für Saisonkräfte        Menschen einrichtet, damit sie auch
   Die SPD Nordrhein-Westfalen nann-         liegen häufig unter dem gesetzlichen        ohne Meldeadresse an ihre privaten
te 2009 Ihre Landes-FDP die »Partei der      Mindestlohn von 9,50 Euro. Die SPD          Daten kommen können. Wären Sie
sozialen Kälte«. Grund: Die schwarz-         will den Mindestlohn auf 12 Euro ab-        für solche E-Akten für alle Bürger?
gelbe Regierungskoalition kürzte die         heben. Was versprechen Sie prekär Be-          Unbedingt. Ich war vor einiger Zeit
Landesgelder für Obdachlosenhilfe da-        schäftigten?                                in Estland: Dort können Sie Ihre Mel-
mals um 1,12 Millionen Euro. Sie sag-           Eine Aufstiegsperspektive. Unsere        deanschrift genauso leicht wie Ihre
ten damals, die Kommunen seien allei-        Hauptanstrengung muss darin liegen,         Anschrift im Amazon-Account ändern.
ne für die Obdachlosenhilfe zuständig.       dass niemand dauerhaft zu den Bedin-        Die Digitalisierung der öffentlichen
Sehen Sie das heute noch so?                 gungen eines Mindestlohns oder ge-          Verwaltung scheint mir besonders nach
   Der Ausflug in die Geschichte ist noch    nerell prekär arbeiten muss. Die Pers-      den Erfahrungen in dieser Pandemie
nicht vollständig. Denn zeitgleich hat die   pektive sollte sein, immer wieder neue      enorm wichtig: Lassen wir Corona das
von der FDP mitgetragene Bundesregie-        Qualifikationsangebote zu unterbreiten,     letzte Kapitel im Leben des Faxgeräts
rung die Kommunen von den Kosten der         und zwar maßgeschneiderte. Was die          gewesen sein!
Grundsicherung im Alter entlastet. Das       Untergrenze des Mindestlohns angeht:
machte für die Städte und Gemeinden          Wir haben gute Erfahrung damit, dies           Sie werfen den Grünen vor, den Men-
seitdem Hunderte von Millionen Euro          in die Hände einer unabhängigen Kom-        schen den Traum vom eigenen Haus
an Einsparungen aus, die zum Beispiel        mission zu legen, die dafür sorgt, dass     zu vermiesen. Zugleich fehlen allent-
für soziale Vorhaben oder Investitio-        der Mindestlohn regelmäßig angepasst        halben bezahlbare Wohnungen. Dafür

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FDP-Chef Christian Lindner mit Journalistin Annette Bruhns.

hören wir Sie weniger laut trommeln.        zugleich mehr Wohnungen und Einfa-         vorziehen. In die Sozialwohnung ist
Zufall?                                     milienhäuser bauen?                        vielleicht der studentische Bafög-Emp-
   Das Gegenteil ist der Fall: Keine Par-      Der Klimaschutz ist eine globale Auf-   fänger eingezogen und hat sie noch als
tei setzt sich ähnlich stark für bezahl-    gabe. Nur in Hückeswagen im Bergi-         Professor bewohnt. Ich bin ein Befür-
baren Wohnraum ein wie die FDP und          schen Land CO2 einzusparen, indem          worter individueller Wohnkostenzu-
ist auch bereit, die entsprechenden Ent-    man auf neue Einfamilienhäuser ver-        schüsse, für die individuelle Bedarfs-
scheidungen zu treffen. Wer bezahlbare      zichtet, macht für das Weltklima kei-      lage. Privaten Bauträgern bestimmte
Wohnungen will, der muss so viel wie        nen echten Unterschied. Die Grünen         Auflagen zu unterbreiten, halte ich für
möglich bauen, beispielsweise hier in       wählen für den Klimaschutz ihren Weg,      denkbar. Also zum Beispiel: Wenn je-
Berlin auch auf dem Tempelhofer Feld.       wir einen anderen: globales Denken und     mand ein Haus mit acht Wohneinheiten
Der muss Flächen bereitstellen. Und der     Ideenwettbewerb. Wir müssen mit ent-       baut, kann sie oder er die beiden Pent-
kann nicht, wie die Grünen, bauliche        wickelter Technologie die Steigerung       housewohnungen zu hohen Quadratme-
Standards über Gebühr erhöhen und da-       des CO2-Ausstoßes begrenzen. Also          terpreisen anbieten, solange in tieferen
mit verteuern. Weil dann nicht einmal       etwa Millionen von Pkw in Deutschland      Etagen günstige Wohnungen entstehen.
mehr große Baugenossenschaften Miet-        mit synthetischen, klimafreundlichen       Diese Mischung hätte zugleich eine ge-
wohnungen errichten können. Wir wol-        Kraftstoffen versorgen – statt einseitig   sellschaftspolitisch    wünschenswerte
len die Wohnungsnot reduzieren durch        nur auf die Elektromobilität zu setzen.    Pluralität zur Folge.
mehr Angebot. Schlüssel dazu: Senken           Wie steht es mit dem Bau von So-           Sie haben vor einem Jahr zugelas-
von Baustandards, Ausweisen neuer Flä-      zialwohnungen? Die SPD verspricht          sen, dass ein FDP-Politiker mit Stim-
chen, weniger Grunderwerbssteuer.           100.000 pro Jahr. Gehen Sie da mit,        men der AfD thüringischer Minister-
   Geht denn beides, wenn Deutsch-          und wenn ja, soll die der private Sek-     präsident wurde. Ein Fehler, haben Sie
land die Pariser Klimaschutzziele er-       tor bauen oder die öffentliche Hand?       hinterher gesagt. Mit Ihren Positionen
reichen will: Kann man den fortschrei-         Ich würde immer die Förderung von       zu Corona sind Sie wieder nahe an
tenden Flächenverbrauch senken und          Menschen der Förderung von Steinen         der AfD: Sie fordern Öffnungen, für

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Läden, für Hotels – freilich bei mehr                  Dritter Punkt: Gesundheitsschutz darf             ihren Weg gehen wollen. Keinem geht
Schutz von Risikogruppen. Sie sagen                    nicht abhängig sein von Lebensverhält-            es besser, wenn wir »denen da oben« et-
dabei nicht, dass Corona ein Virus                     nissen. Masken oder Schnelltests müs-             was wegnehmen, etwa durch eine Ver-
ist, dass Ärmere viel häufiger trifft,                 sen an Menschen abgegeben werden, die             mögensteuer. Sondern die Frage ist: Wie
weil sie beengt wohnen und nicht im                    sich das nicht selbst leisten können, da-         ändern wir das Leben derer, die aufstei-
Homeoffice arbeiten können. Ist Ih-                    mit wirkungsvolle Hygiene keine Frage             gen wollen. Da will ich für neue Chan-
nen deren Gesundheit egal?                             des Einkommens ist.                               cen sorgen.
    Sie haben eine Frage gestellt, die der
Sortierung bedarf. Ich habe auf gar kei-                  Olaf Scholz haben wir gefragt, was             Das Interview im Namen von 20
nen Fall zugelassen, dass jemand mit                   er macht, wenn er nicht Kanzler wird.             deutschen Straßenzeitungen – un-
den Stimmen der AfD gewählt worden                     Sie fragen wir, was Sie machen, wenn              ter ihnen HEMPELS – hat Annette
ist. Sondern ein aufrechter Demokrat ist               Schwarz-Grün Sie zum Tanz bittet:                 Bruhns geführt, Chefredakteurin von
in eine Falle der AfD gelaufen. So hat es              Werfen Sie wieder hin, wenn nicht                 Hinz&Kunzt in Hamburg. Es ist Teil ei-
Ministerpräsident Bodo Ramelow von                     nach Ihrer Pfeife getanzt wird?                   ner großen Gesprächsreihe mit Berliner
der Linkspartei formuliert. Zweitens                      Wenn es eine gemeinsame Choreo-                Politikspitzen vor der Bundestagswahl
ist die Pandemiepolitik der FDP nicht                  graphie gibt, sind wir gerne mit dabei.           im September. In den vergangenen Mo-
vergleichbar mit der der AfD. Wir wol-                 Aber nach der Pfeife anderer tanzen,              naten waren bei uns bereits Grünen-
len durch innovative Maßnahmen mehr                    beziehungsweise das, was vor der Wahl             Co-Parteichef Robert Habeck sowie
gesellschaftliches und wirtschaftliches                versprochen wurde, nicht zu liefern,              SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz an
Leben erlauben, aber sehen das Risiko,                 wäre respektlos.                                  der Reihe, kommenden Monat folgt
dass in der Erkrankung liegt und leug-                    Und wenn Sie Vizekanzler wären:                CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet.
nen es nicht. Man tut der AfD einen Ge-                Was würden Sie als erstes versuchen
fallen, wenn man sie in einem Atemzug                  zu ändern?
mit der FDP nennt und verharmlost die                     Für Aufstiegsgerechtigkeit sorgen!
politische Gefahr, die von ihr ausgeht.                Meine Leidenschaft gehört denen, die

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                                                                                     Bitte helfen
                                                                                                 Sie
                                                                                   und spenden
                                                                                                        .
                                                                                            Hempels e.V
                                                                                                       410
                                                                                           DE13 5206 0
                                                                                            0206 4242 10

He mpe l s # 2
             3088
                1 6/2
                  4/202
                      0210                                                                      Schl e s wigin- hol
                                                                                                                 e igener
                                                                                                                     s t ein ssache
                                                                                                                               ozi a l | 2 1
GESELLSCHAFT

                  Fußball in
                reinster Form
   Diesen Monat beginnt inmitten der Pandemie
       die um ein Jahr verschobene Fußball-
      Europameisterschaft. Wer den Sport in
   seiner ursprünglichen Ausprägung begreifen
     möchte, sollte auch woanders hinschauen

                             ALLE FOTOS: AGENTUR REUTERS

   Wenn ab dem 11. Juni die Fußball-        nen Frau« bis heute gepflegt wird – die
Europameisterschaft ausgetragen wird,       großen Vereine haben längst ihre Rolle
dann geht es vor allem um viel Geld.        als Sozialstationen verloren. Die Ver-
Nichts könnte die Kommerzialisierung        bindung mit der Lebenswirklichkeit des
des Sports besser unterstreichen als zum    normalen Fans ist dort nur noch Mythos.
einen die Tatsache, dass dieses ursprüng-   In den großen Arenen – auch jetzt bei
lich schon im vergangenen Jahr geplante     der Europameisterschaft – lieben es die
und wegen Corona zunächst verschobe-        Modefans komfortabel und akzeptieren
ne Turnier unter weiter existierenden       jeden Ticketpreis. Im Mittelpunkt steht
Pandemiebedingungen jetzt doch noch         für sie das Event, das Erlebnis; der Sport
stattfindet. Und zum anderen, dass ein      selbst ist häufig nachrangig.
mit mittlerweile 24 Teams bestücktes           Wer Fußball noch in seiner reinsten
Turnier wie schon ursprünglich geplant      Form erleben will, muss die Sportler be-
erstmals nicht nur in einem oder zwei       obachten, die ihn mit sprichwörtlich al-
Ländern ausgetragen wird, sondern in        len Mitteln betreiben. Die auf staubigen
zehn verschiedenen europäischen Städ-       Straßen oder im Schnee kicken und das
ten sowie einer asiatischen (Baku). Das     manchmal auch mit Flip-Flops oder bar-
Eröffnungsspiel findet in Rom statt, das    fuß. Auf den folgenden Seiten zeigen wir
Finale am 11. Juli in London. In Mün-       einige von Reuters-Fotografen festgehal-
chen werden vier Partien ausgetragen.       tene Beispiele dafür und auch, dass Fuß-
Alle Angaben sind der aktuelle Stand bei    ballplätze manchmal noch eine andere
Redaktionsschluss.                          Funktion besitzen können. pb
   Auch wenn das Bild vom Fußball als
Sportart »des kleinen Mannes, der klei-     Mit Dank an Reuters / INSP.ngo

2 2 | ge se l l s ch a f t                                                               Hempel s # 30 1 6/2 02 1
REUTERS / Stefano Rellandini

          Auch mit Skischuhen an den Füßen und im tiefen Schnee lässt sich das Spiel betreiben. Hier beobachtet bei Skilehrern in Sestriere, Italien.

He mpe l s # 30 1 6/2 02 1                                                                                                        ge sel l s ch a f t | 2 3
GESELLSCHAFT

                                                                                                   REUTERS / Soe Zeya Tun

Kinder beim Fußballspielen auf einem schwimmenden Spielfeld in einem thailändischen Fischerdorf.
Sie kicken mit Flip-Flops an den Füßen.

24 | ge se l l s ch a f t                                                                                                   Hempel s # 30 1 6/2 02 1
REUTERS / Rupak De Chowdhuri

                             Barfuß spielende Jungen auf einer staubigen Straße in einem Wohngebiet in Kalkutta.

He mpe l s # 30 1 6/2 02 1                                                                   ge sel l s ch a f t | 25
GESELLSCHAFT

Kicken in einem kleinen Bereich der im 14. Jahrhundert entstandenen königlichen Altstadt Vranduk in Bosnien und Herzegowina.

26 | ge se l l s ch a f t                                                                                             Hempel s # 30 1 6/2 02 1
REUTERS / Anton Vaganov
                                                    Turnübungen an der Torlatte: ein in St. Petersburg beobachteter kleiner Junge.
                             REUTERS / Dado Ruvic

                                                                                                                                  REUTERS / Pavel Rebrov

                                                                        Ziegen hinter dem Tor eines Fußballplatzes auf der Krim.

He mpe l s # 30 1 6/2 02 1                                                                                     ge sel l s ch a f t | 2 7
GESELLSCHAFT

                Zwischen Armenküche
                und Bahnhofsmission
           Romandebüt von Markus Ostermair über das Leben auf der Straße

                                                        TEXT: OLAF CLESS

   Ein Mann, krank und verwahrlost,         er sein verstecktes, regengeschütztes
tritt aus der Teestube der Diakonie,        Nachtlager. Vor vier Jahren, mitten in
dann verschwindet er »um die Ecke und       der Adventszeit, wäre er fast draufge-
verliert sich in den Straßen der Stadt,     gangen, als ein Unbekannter plötzlich
in den Augenwinkeln der Passanten, in       ausrastete und ihm ein zersplittertes
den Nasen der Hunde, in den Linsen          Weizenglas durchs Gesicht zog. Der
der Überwachungskameras«. Von Men-          Täter konnte nie ermittelt werden,
schen wie ihm, die sich in der Anony-       Karl erinnert sich nur an dessen Reib-
mität der Stadt verlieren und ein Schat-    eisenstimme. Eine schlimme Narbe
tendasein führen, die den Halt verloren     ist geblieben und macht Karl vollends
haben und oft genug sich selbst, erzählt    zum Außenseiter. Immerhin kündigt
der Debütroman »Der Sandler« des            sie Wetterumschwünge zuverlässig
1981 geborenen, in München lebenden         schmerzhaft an und verleiht ihm unter
Autors Markus Ostermair. Es ist, um         Kollegen den Ehrentitel »Barometer-
dies vorwegzunehmen, ein ungemein           Karl«. Und tatsächlich, nach der wo-
starkes, bewegendes, realitätssattes, pa-   chenlangen Sommerhitze sagt er ihnen
ckendes und literarisch meisterhaftes       auch diesmal präzise voraus, wann der
Buch. Hier kennt sich einer aus, schaut     erlösende große Regen einsetzen wird.
genau hin, kann sich in seine Figuren           Karls bester Freund ist Lenz, aber er
versetzen und für all das eine Sprache      hat ihn schon länger nicht mehr gese-
finden.                                     hen. (Der Romanleser weiß da zeitweise
   Im Mittelpunkt steht Karl, der einst     mehr als Karl.) Lenz ist ein verrückter,
ein bürgerliches Leben führte mit Frau      aber irgendwie genialischer Typ. Weiß                   Cover des Romans »Der Sandler«
und Kind und Lehrerberuf, ehe ihm ei-       viel, liest viel, grübelt viel und schreibt         von Markus Ostermair. Osburg Verlag
nes Tages ein Junge vors Auto lief, ein     ständig lose Blätter voll, es ist schon ein               Hamburg, 371 Seiten, 22 Euro.
tödlicher Unfall, über den Karl Maurer      riesiger Wust entstanden – Gedanken
nicht hinwegkam – Alkohol, Arbeits-         zu einer Gesellschaft der Zukunft (»Das
unfähigkeit, Scheidung, das ganze Ab-       eigentliche Ziel der Arbeit ist nicht die     wunderbaren Artikel im Lexikon ge-
stiegsprogramm folgte. Jetzt lebt er auf    Herstellung möglichst vieler Produk-          funden: Zedaka (hebr. Wohltätigkeit).
der Straße, mit viel Dosenbier, Domkel-     te, sondern der Schutz der Umwelt, der        Die Pflicht zu teilen, was man hat, um
lerstolz und Billigwodka, frequentiert      Abbau von Angst vor den anderen und           so die Welt zu heilen. Das Besondere
Armenküche, Bahnhofsmission, Klei-          die Arbeit am Vertrauen zueinander«),         ist, daß man den anderen dabei nicht
derkammer und so weiter, irgendwo           Traumnotizen, Visionen, aufgesam-             beschämen darf«), auch Graffiti, unter-
draußen am Industriepark Nord hat           melte Weisheiten (»Durch Zufall einen         wegs aufgelesen (»Wir sind es, die uns

2 8 | ge se l l s ch a f t                                                                                     Hempel s # 30 1 6/2 02 1
diese Welt zumuten!«). Ostermair streut
solche Lenz’schen Notizen immer wie-
der ein – ein schönes Mittel, um den
Geist von Leserin und Leser zu weiten,
sie zwischendurch zu lösen aus dem
Bann des drückenden Alltags, von dem
erzählt wird.
    Lenz, schwer krank und dem Ende
nah, vermacht Karl einen Schlüssel und
die Wohnung dazu. Welch eine Fügung!
Es könnte jetzt alles so einfach sein, ist
es aber nicht. Karl, dieser abgerissene
Penner, soll einfach so ein gutbürgerli-
ches Haus betreten und die Souterrain-
wohnung aufschließen? Wie soll das
gehen? Er traut es sich erst nach eini-
ger Bedenk- und Mut-Antrink-Zeit, im
Schutz der Dunkelheit und eines neuer-
lichen Regens (der Erzähler ist übrigens
dazu übergegangen, seinen zögerlichen
Helden direkt anzufeuern: »Geh, Karl,
geh!«). Dann das erste warme Wannen-
bad, der ungestörte Schlaf im eigenen
Bett, das geruhsame Frühstück – all die-
se unbeschreiblichen Wohltaten, die al-
len Nicht-Wohnungslosen viel zu selbst-
verständlich sind, beschreibt Ostermair
gebührend.
    Ist es ein Happy End? Keineswegs.
Draußen treibt sich ein Typ namens
Kurt herum. Er ist Karl auf die Spur ge-
kommen. Die Wohnung hätte er selber
                                                                                                                                     Foto: Fabian Frinzel

gern. Er hat schon fast die Tür eingetre-
ten. Und er hat diese Reibeisenstimme
... Karl muss sich dringend etwas ein-
fallen lassen, er wird aus seinem Nebel
aufwachen und in die Gänge kommen
müssen. Drücken wir ihm die Daumen.
                                             Als Zivildienstleistender in der Münchner Bahnhofsmission begann Markus Ostermair,
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt     sich mit Obdachlosigkeit auseinanderzusetzen. Jahrelang arbeitete er dann ehrenamtlich
von fiftyfifty / INSP.ngo                                                                                   in der Obdachlosenhilfe.

He mpe l s # 30 1 6/2 02 1                                                                                       ge sel l s ch a f t | 2 9
Armut frisst sich in die
                                             Mitte der Gesellschaft

               Laut Statistischem Bundesamt haben 15,9 Prozent ein Einkommen, das
           geringer als 60 Prozent des mittleren Einkommens ist. Demnach verfügen 13,2
             Millionen Menschen in Deutschland über weniger als 1074 Euro im Monat.
          Die Armut frisst sich mittlerweile in die Mitte der Gesellschaft, und das wird durch
                                   die Corona-Lockdowns verstärkt.

               Wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung herausgefunden hat,
             gehören den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung inzwischen mehr als 67
          Prozent des Nettogesamtvermögens. Beim reichsten Prozent sind es über 35 Prozent
           und beim reichsten Promille immer noch 20 Prozent. Der Reichtum konzentriert
                            sich also auch unter den Reichen an der Spitze.

                 Das reine private Geldvermögen beläuft sich auf etwa sieben Billionen Euro.
                            Geld ist also genug da, nur ist es sehr ungleich verteilt.

                                                  PROF. CHRISTOPH BUTTERWEGGE ,
                                                ARMUTSFORSCHER UND POLITIKWISSEN-
                                                            SCHAFTLER

                                                    Zitiert aus: Süddeutsche Zeitung
                                                         Foto: Wolfgang Schmidt

30 | Schl e s wig - hol s t e in s ozi a l                                             Hempel s # 30 1 6/2 02 1
Rezept

    Labskaus
    von Christiane Ulke

    Für 4 Personen:

    ·     750 g Kartoffeln
    ·     1 Dose Corned Beef (340 g)
    ·     2 kleine Zwiebeln
    ·     150 ml Gemüsebrühe
    ·     150 g eingelegte Rote Bete
    ·     5 Gewürzgurken
    ·     4 Eier
    ·     4 Rollmöpse

                                                                                                                                                 Foto: Privat
    ·     etwas Salz und Pfeffer

                                                     Christiane Ulke hat als Informatikerin in Hamburg gearbeitet, in ihrem
                                                   Vorruhestand engagiert sie sich nun ehrenamtlich in ihrer Heimatstadt Kiel:
                                                   Die 62-Jährige unterstützt das Küchen-Team des Kieler Ankers, das Mahl-
                                                   zeiten bereitet für den Mittagstisch St. Markus sowie zusammen mit der
                                                   stadt.mission.mensch und dem Caritasverband für den Mittagstisch Manna.
                                               t
                                   Foto: Priva

                                                   In der Küche – die sich im selben Haus wie HEMPELS befindet – schnibbelt,
                                                   kocht und putzt sie regelmäßig für Wohnungslose und Bedürftige. »Das
                                                   macht total Spaß!«
                                                     Unseren Leserinnen und Lesern empfiehlt sie ein Rezept, das sie aus ihrem
                                                   Kochunterricht am Gymnasium vor etwa 50 Jahren kennt – und seither immer
                                                   wieder gerne kocht. Kartoffeln schälen, kochen und zerstampfen, jedoch nicht
                                                   pürieren. Das Corned Beef anbraten, die sehr klein geschnittenen Zwiebeln
                                                   hinzugeben und kurz mit anbraten, dann die Gemüsebrühe dazugeben. Alles
                                                   zusammen mit der Roten Bete (sowie etwas von der Einlegeflüssigkeit) und
                                                   der Gewürzgurke – beides sehr klein gewürfelt – zu den Kartoffeln geben
                                                   und vermengen. Mit Salz und Pfeffer abschmecken und mit je einem Spiegelei,
                                                   einem Rollmops und einer Gewürzgurke servieren.

                                                                                        CHRISTIANE ULKE WÜNSCHT GUTEN APPETIT!

He mpe l s # 30 1 6/2 02 1                                                                                                     re ze p t | 3 1
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                 Klee                                        Jussi Adler-Olsen                             den Tod«
                                                                                                           Hans Rosenfeldt

   Ich mag Köln. Menschen aus Köln sind           Seit mehr als zehn Jahren wirkt Assad        Grausamer Fund auf der Öresundbrü-
nett, abseits vom Klischee der rheinischen     wie eine geheimnisvolle Naturgewalt im       cke: eine zersägte Frauenleiche, die genau
Frohnatur. In Köln selbst kommt man            Sonderdezernat Q in Kopenhagen und           am Grenzpunkt zwischen Dänemark
schnell ins Gespräch, Berliner Schnauze        ist unentbehrlicher Teil des Teams um        und Schweden abgelegt wurde. Darum
in herzlich quasi. Köln taut selbst mich als   Carl Mørck. Auf verschlungenen Wegen         ermitteln Saga Norén aus Malmö und
Nordlicht auf. Und Menschen aus Köln,          gelangt ein besonderer Fall zu ihm: Am       Martin Rohde aus Kopenhagen gemein-
die auch noch Musik machen, verbinden          Strand von Ayia Napa auf Zypern wird         sam. Saga hat leicht autistische Züge und
diese Herzlichkeit meist mit dem Willen        der Journalist Joan Aiguader Zeuge, wie      glänzt infolgedessen selten mit Empathie
zum Ohrwurm. Die Band Klee ist so ein          Helfer eine Tote aus dem Wasser ziehen.      und Martin kann nicht immer die Finger
Phänomen: Auf jeder Platte gibt es die-        Er fotografiert sie. Die Frau aus dem        von anderen Frauen lassen, obwohl er
sen einen Gute-Laune-Superhit, den man         Nahen Osten ist das Opfer 2117 auf der       verheiratet ist und schon mehrere Kin-
hoch unter runter dudelt.                      »Tafel der Schande« am Strand von Bar-       der von verschiedenen Frauen hat, aber
   Nach zehn Jahren Sendepause liefert         celona, die die Zahl der im Mittelmeer       sie sind sehr engagierte und kompeten-
Klee nun wieder ein Album mit neu-             ertrunkenen Bootsflüchtlinge anzeigt.        te Kommissare und das müssen sie auch
en Songs – und schon mit dem Opener               Die Tote am Strand ist eine Frau, die     sein, denn sie bekommen es mit einem
»Club der Liebenden« hauen sie die Perle       Assad einst sehr nahe stand. Mit einem       sadistischen Massenmörder zu tun. Ob-
des Longplayers heraus. Dabei setzen sie       Schlag kehren die Gespenster aus seiner      dachlose, Journalisten, Ärzte … es wird
nach wie vor auf Elektropop mit bombas-        Vergangenheit zurück: Ghalib, ein ira-       viel gestorben, gefoltert und entführt in
tischen Arrangements im Refrain, Beat          kischer Krimineller, hat bereits einmal      dieser 10-teiligen Serie (Arte Mediathek)
zum Tanzen, aber genug Melodie und             sein Leben zerstört – jetzt will er Assad    und die vielen Nebenhandlungssträn-
Tiefgang zum Träumen. Dazu kommt die           für immer vernichten. Und mit Assad im       ge verweben sich von Folge zu Folge zu
bekannte zart-süß gehauchte Stimme von         Zentrum der Ereignisse beginnt für Carl      einer sehr spannenden Gesamtkompo-
Sängerin Suzi Kerstgens – es scheint, als      Mørck und sein Team ein nervenaufrei-        sition. Und es ist ein großes Vergnügen,
seien Klee nach einem Dornröschenschlaf        bender, atemloser Countdown, um eine         diesen beiden sehr unterschiedlichen
aufgewacht und machen einfach weiter,          Katastrophe im Herzen Europas zu ver-        Kommissaren dabei zuzuschauen, wie sie
wo sie aufgehört haben. Allerdings las-        hindern.                                     sich aneinander reiben, missverstehen,
sen sich mittlerweile auch die Spuren des         Damit nicht genug: Zur selben Zeit        nerven und schließlich doch zu Freunden
Lebens hören, Melancholie und immer            kündigt ein offenbar psychisch gestörter     werden. Irgendwie.
wieder der Appell, im Moment zu leben,         Gamer telefonisch beim Sonderdezernat           Interessante Ermittler mit liebens-
etwa bei »Septembernebel«. Wenn es zu          Q ein Massaker in Kopenhagen an: Er          werten Ticks, spannende Geschichten
traurig wird, hilft immer »Glitzer drauf«      wolle Rache nehmen für eine im Mittel-       mit vielen überraschenden Wendungen:
– ein weiterer Ohrwurm des Albums voll         meer ertrunkene Flüchtlingsfrau – Opfer      wieder einmal ein sehr gelungener skan-
Ironie, aber einfach zum Gutfühlen.            2117. Skandinavische Krimi-Unterhal-         dinavischer Exportschlager und ich freue
   Das Album ist Anker in der Corona-          tung auf höchstem Niveau darf man von        mich schon sehr auf die Staffeln 2 bis 4.
Zeit – versprochen. Und wenn es wieder         Jussi Adler-Olsen erwarten – hier ist ihm
Konzerte gibt, dann hoffen wir, dass Klee      gleichzeitig auch ein brisanter, hochaktu-
uns in Kiel besucht. Noch besser als im        eller Politthriller gelungen.
Musikmachen sind die Kölner nämlich
im Feiern.

                Musiktipp                                   buchtipp                                    Filmtipp
                von Michaela Drenovakovic                   von Ulrike Fetköter                         von Oliver Zemke

3 2 | t ipp s                                                                                                    Hempel s # 30 1 6/2 02 1
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