"Auf, Brasilien, lasst uns vereinen!" Baile Funk, die Pazifizierung und die WM - Norient

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"Auf, Brasilien, lasst uns vereinen!" Baile Funk, die Pazifizierung und die WM - Norient
«Auf, Brasilien, lasst uns vereinen!» Baile Funk, die Pazifizierung und die WM 28
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    «Auf, Brasilien, lasst uns
    vereinen!» Baile Funk, die
    Pazifizierung und die WM
    by Theresa Beyer

    Baile Funk ist laute, energetische Musik, die fest im
    brasilianischen Favela-Alltag verwurzelt ist. Mittlerweile hat
    der Sound der Strasse auch Brasiliens Mittelschicht und den
    Rest der Welt erobert. Aber ausgerechnet da wo er
    herkommt, in den Favelas, hat er es schwer – gerade jetzt
    während der WM und im Vorfeld von Olympia 2016 kämpft er
    erneut um seine Anerkennung als Musikkultur. Fürs gute
    Image vor der Weltöffentlichkeit «pazifizieren»
    Spezialeinheiten der brasilianischen Polizei die Favelas.
    Darunter leiden vor allem sonst so spontanen Funk-Parties.
    Ein kleiner Platz in einer der 1000 Favelas von Rio de Janeiro, nach
    Sonnenuntergang: Vor zwei riesigen Bassboxen spielt ein DJ ungeschliffene
    Beats direkt aus dem Drumcomputer. Darüber rappt ein MC mit heiserer
    Stimme. Die jungen Leute haben sich schick gemacht und tanzen bis tief in
    die Nacht. «Baile» heisst so eine Party. «Es sind Partys für Leute, die es sich
    nicht leisten können, in Clubs oder Diskotheken zu gehen. Also kommt die
    ganze Nachbarschaft auf den Strassen zusammen», erzählt der Berliner DJ
    und Produzent Daniel Haaksman, der seit zehn Jahren von Baile Funk infiziert
    ist.

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    Baile Funk ist in den Favelas von Rio de Janeiro entstanden: Mitte der 1970er-
    Jahre haben dort DJs Funk aus den USA aufgelegt. Aber weil niemand die
    englischen Texte verstand und die Musik fremd erschien, kreierten sie ihre
    eigene Funk-Spielart: in portugiesischem Slang und gesampleten
    Candomblé-Trommeln. 1989 dann die erste Compilation vom Funk-Pionier DJ
    Marlboro:

    Spiegel des Favela-Alltags

    Heute ist Baile Funk mit schweren Miami Bass angereichert und splittet sich
    in unzählige Untergenres auf. Besonders Furuore macht die Gangsta-Version
    des Baile Funk, der «Funk proibidão» mit seinen sexistischen und
    gewaltverherrlichenden Texten. Ähnlich kontrovers ist der religiöse Funk der
    evangelikalen Missionen. Bewusst mild hingegen gibt sich der «Funk
    Romantico»:

    Der DJ und Produzent Daniel Haaksman findet, dass Baile Funk eine Musik ist,
    die die Realitäten der Favelas abbildet: «Funk ist für die Identität und
    Artikulationsfähigkeit der Favelabewohnerinnen und -bewohner sehr wichtig.
    Denn die Musik ist wie ein Radiokanal, über den die Leute das kommunizieren
    können, was sie in ihrem Alltag gerade beschäftigt.»

    Protestsongs gegen die WM

    Derzeit verarbeiten die Funkeiros – so heissen die Baile Funk MCs und DJs –
    die Fussball-WM in ihren Texten. In seinem Lied «Se O Governo não muda, o
    povo tem que muda» findet MC Theus scharfe Worte und ruft auf zum
    Widerstand: «Auf, Brasilien, lasst uns vereinen zum Protest. Wenn die
    Regierung sich nicht ändert, wird das Volk sie ändern.» In den Strophen
    kritisiert er, dass für die WM Milliarden ausgegeben werden, während Schulen
    verfallen und Kinder auf der Strasse unterrichtet werden müssen.

    MC Theus rappt weiter, dass das Werk der UPP in den Favelas nur Schaden
    anrichte. Die UPP sind Spezialeinheiten, welche die brasilianische Polizei seit
    den WM-Vorbereitungen vor allem in den innerstädtischen Favelas stationiert
    hat um sie zu «pazifizieren». Diese Kampagnen im Namen des Friedens
    lassen immer wieder mit Verstössen gegen die Menschenrechte von sich
    hören, erzählt Haaksman: «Die Favelas waren lange autonome Zonen, die von
    Drogengangs regiert wurden. In einigen Favelas konnte die UPP das nun
    aufbrechen. Aber viele Polizisten sind korrupt und haben ein auf Willkür
    basierendes Regime etabliert, ähnlich wie die Drogengangs.»

    Michael Spahr im Interview mit Daniel Haaksman

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    Unter der neuen Macht in den Favelas leidet auch der Baile Funk. Die UPP
    stört sich an der Spontanität, mit der die Feste stattfinden, wie der UPP-
    Offizier Colonel Rodrigues im Dokumentarfilm «Funk is a Culture: Music
    Politics in Rio de Janeiro» erzählt (siehe Norient-Post: Funk is a culture).

    Also setzen die Friedenseinheiten Sperrstunden und
    Lautstärkebegrenzungen durch, brechen Partys ab, nehmen MCs fest,
    wandeln die eigentlich kostenlosen Bailes in kommerzielle Events mit
    Eintritten um oder bürokratisieren die Veranstaltungen, z.B. durch Berge von
    Formularen, Lizenzen oder offiziellen Anmeldungen der Bailes 20 Tage bevor
    sie stattfinden. Oder sie verhindern, dass die Bailes überhaupt starten, erzählt
    Haaksman: «Zum Beispiel lassen sie die Trucks, die die mobilen
    Soundsysteme in die Favela transportieren, einfach nicht durch die
    Checkpoints.» Bei diesen Eingriffen geht es nicht nur um das Durchsetzen
    von Gesetzen, sondern auch um eine symbolische Demonstration von Macht.
    Welche Auswirkungen die Pazifizierung auf den Baile Funk genau hat,
    beschreiben Gregory Scruggs und Alexandra Lippman in ihrem Norient-
    Artikel From Funkification to Pacification.

    Kompromisse mit der Polizei

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    Zwar treten die Repressionen im Zuge der WM verstärkt auf. Neu sind sie
    aber nicht. Wie einst der Samba – ein in den 30er Jahren kriminalisierter
    afrobrasilianischer Favela-Sound – wurde Baile Funk immer wieder verboten.
    Wegen der Gewalt auf den Bailes, den Drogen oder den
    gewaltverherrlichenden Texten. Vor neun Jahren vereinbarten aber MC Catra
    und DJ Marlboro mit der Polizei einen Kompromiss und verhalfen ihrer Musik
    so in die Legalität. Baile Funk wurde sogar als offizielles Kulturerbe von Rio
    anerkannt und so mit dem mittlerweile etablierten Samba auf eine Ebene
    gestellt (siehe Rolling Stone-Artikel). Aber was bleibt, ist die Resolution 013,
    eine Gesetzesvorschrift, die die Rahmenbedingungen wie Sicherheit und
    Toiletten für kulturelle Anlässe definiert. Für die UPP genügt sie als rechtliche
    Grundlage, um Bailes ohne weitere Begründung abzubrechen - denn was eine
    Sicherheitslücke ist, liegt in den Augen der Betrachter (siehe Artikel
    Resolution 013: To party, or not to party, in UPP-controlled favelas auf
    Rioonwatch.org).

    Der Sound der Armen

    Was bleibt, ist auch die Stigmatisierung des Baile Funk: Viele weisse
    Brasilianerinnen und Brasilianer der Mittelschicht rümpfen noch heute die
    Nase. Daniel Haaksmann erklärt sich das so: «Baile Funk ist eine ständige
    Erinnerung, dass es in Brasilien eine grosse Ungleichheit und Armut gibt. Das
    frustriert viele Leute und schlägt in Aggressionen gegen diese Musik um.»
    Trotzdem erobert der Favela-Sound immer mehr auch die Stadtviertel der
    Mittelschicht und Oberschicht. Haaksmann weiter: «Tagsüber schimpfen sie
    über Funk und grenzen sich ab, abends tanzen sie dazu. Denn egal auf welche
    Party man in Rio heute geht, am Ende läuft immer Baile Funk.»

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    Daniel Haaksman im Interview mit Michael Spahr

    Einflüsse bis in die Schweiz

    Der Anerkennung des Baile Funk könnte auch sein internationaler Erfolg
    nachhelfen: längst schallt er von den Tanzflächen der USA und Europas. Über
    YouTube und Soundcloud landet die Musik in den Autoradios und Handys der
    ganzen Welt und beeinflusst die heutige Popmusik – von M.I.A. bis Black
    Eyed Peas. Auch in der Schweiz: Im letztjährigen Sommerhit «Estavayeah»
    der Berner Band Jeans For Jesus (siehe Norient-Post Jeans for Jesus Video
    Selection) sorgen nicht etwa Samba oder Bossa Nova für Strandfeeling –
    sondern Baile Funk.

    Der Dokumentarfilm Funk is a Culture: Music Politics in Rio de Janeiro
    porträtiert die Baile Funk Aktivsten des Apafunk Networks und bringt die
    Ambivalenz in der Debatte um die Legalität von Baile Funk auf den Punkt:
    «Baile Funk läuft auf der ganzen Welt. Nur dort, wo er entstanden ist und
    produziert wird, wird er unterdrückt.» Die Funkeiros sind es leid:
    Stadtplanungsstrategien und Pazifizierungsvorhaben im Zuge der WM und
    Olympia 2016 in den Favelas dürfen nicht auf Kosten der Identität der Favela-
    Bewohnerinnen und Bewohner gehen. Erneut geht es um die alte
    Grundsatzfrage: erkennt Brasilien den Baile Funk als eine Kultur – als seine
    Kultur – an? Sind Funkeiros Künstler oder Kriminelle?

    In einer kürzeren Version wurde dieser Artikel zuerst auf SRF 2 Kultur Online
    veröffentlicht.

    → Published on June 20, 2014

    → Last updated on July 20, 2020

    Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des
    Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von
    Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen,
    experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in
    Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-
    Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

    → Topics
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