Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.

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Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.
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                   Stellungnahme der BAG Wohnungslosenhilfe
        zum VI. Armuts- und Reichtumsbericht (ARB VI) der Bundesregierung

Die BAG Wohnungslosenhilfe (BAG W) begrüßt es, dass der Abschnitt III.3 des ARB VI auf den
Ergebnissen des von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e.V.
(GISS) im Auftrag des BMAS erstellten Forschungsberichts zu „Entstehung, Verlauf und Struktur
von Wohnungslosigkeit und Strategien zu ihrer Vermeidung und Behebung“ beruht und damit we-
sentliche Erkenntnisse zum Thema Wohnungslosigkeit ausführlich darstellt.

Die BAG Wohnungslosenhilfe begrüßt es, dass der Armuts- und Reichtumsberichts (ARB VI) hin-
sichtlich Wohnungslosigkeit auch zentrale Aspekte und Lösungsstrategien aufgreift, die die BAG
W ins Zentrum ihres Aufrufs zu einer „Nationalen Strategie zur Überwindung von Wohnungsnot
und Armut in Deutschland“1 gestellt hat. Hierzu gehören u.a. die Themen: Prävention von Woh-
nungsverlusten, Wohnraumbeschaffung, ordnungsrechtliche Unterbringung, gesundheitliche Situ-
ation von Betroffenen sowie Wohnungsnotfallstatistik.

Die BAG Wohnungslosenhilfe begrüßt es, dass im ARB VI die fachlichen Empfehlungen der BAG
W u.a. zu „familienunterstützenden Hilfe zur Überwindung sozialer Schwierigkeiten nach §§ 67 ff.
SGB XII in Wohnungsnotfällen“2 und zu „Frauen in Wohnungsnot & Wohnungslosigkeit“3 berück-
sichtigt wurden.

Aus Sicht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) sind trotzdem einige
Aspekte des Berichts kritisch hervorzuheben. Kritisch sehen wir die im Bericht in verschiedenen
Zusammenhängen angeführten Gründe für Wohnungsverlust und/oder Wohnungslosigkeit (Ad 1),

1 Aufruf zu einer Nationalen Strategie zur Überwindung von Wohnungsnot und Armut in Deutschland, BAG
Wohnungslosenhilfe (BAG W) fordert integrierte Wohnungsnotfall-Rahmenpläne: Nationaler Rahmenplan,
Landesrahmenpläne, lokale Rahmenpläne, Berlin 2014; https://www.bagw.de/de/nationale-strategie/ber-
sicht.html

2 BAG W: Familienunterstützende Hilfe zur Überwindung sozialer Schwierigkeiten nach §§ 67 ff. SGB XII in
Woh-nungsnotfällen, erarbeitet vom Fachausschuss Sozialrecht der BAG W, verabschiedet vom Vorstand
der BAG W am 10.11.2020; https://www.bagw.de/de/publikationen/pos_pap/pos_sozrecht.html

3 BAG W: Positionen und Empfehlungen Frauen in Wohnungsnot & Wohnungslosigkeit; erarbeitet vom
Fachausschuss Frauenkoordination der BAG W; https://www.bagw.de/de/publikatio-
nen/pos_pap/pos_frauen.html
die fehlende Berücksichtigung der Daten des Dokumentationssystems zur Wohnungslosigkeit
(DzW) der BAG W (Ad 2) sowie einzelne weitere Sachverhalte im Abschnitt III.3.2.6 zur Berück-
sichtigung besonders vulnerabler wohnungsloser Menschen (Ad 3).

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Ad 1) Individualisierung der Wohnungslosigkeit

Hinsichtlich der Frage, welche Gründe es für den Verlust einer Wohnung bzw. Wohnungslosigkeit
gibt, legt der Bericht großes Augenmerk auf „individuelle“, in der besonderen Lebenssituation der
betroffenen Menschen liegende Gründe, während strukturelle Ursachen – wie z. B. fehlender be-
zahlbarer Wohnraum, vielerorts steigende Mietkosten, hohe Mietkostenbelastungen, Ausweitung
des Niedriglohnsektors – weitgehend ausgeblendet bleiben.

So führt der Bericht in Abschnitt III.3.2.4 (S. 350 f.) als Risikofaktoren für die Entstehung von Woh-
nungslosigkeit „biografische[r] Einschnitte, körperliche und (unbehandelte) psychische Erkrankun-
gen, der Verlust von Partner oder Partnerin, Sucht- oder Gewalterfahrungen sowie Arbeitslosig-
keit“ an. Ganz ähnlich argumentiert der Bericht auch in Abschnitt III.5 – Zusammenfassung und
Maßnahmen (S. 357 f.) – dort ergänzt um den Hinweis auf „ein mitunter unübersichtliches Hilfe-
system“.

Demgegenüber sollte nach Ansicht der BAG W deutlicher auf die Bedeutung struktureller Gründe
für den Wohnungsverlust verwiesen werden. Dazu gehören unserer Meinung nach das unzu-
reichende Angebot an bezahlbarem Wohnraum, die Schrumpfung des Sozialwohnungsbestandes
und die Verfestigung von Armut. Es fehlt insbesondere an bezahlbarem Wohnraum für Menschen
im Niedrigeinkommensbereich, für die Menschen, die Transferleistungen beziehen und für aner-
kannte Geflüchtete. Alleinerziehende und junge Erwachsene sind besonders vulnerable Perso-
nengruppen, aber auch die drohende Altersarmut, der Generation der Billigjobber und -jobberin-
nen, der Soloselbständigen und anderer prekär beschäftigten Menschen bereitet uns große
Sorge.4 Die Mietbelastungsquote ist seit 1990 stark gestiegen und ist heute im europäischen Ver-
gleich sehr hoch. Vor allem Haushalte mit geringem Einkommen sind häufig überlastet. In
Deutschland zahlen 13,9 % der Bevölkerung mehr als 40% ihres Einkommens für die Miete. Im
EU-Vergleich liegt Deutschland damit auf Platz 4 von 27.5

Aus Sicht der BAG W sollten im ARB VI die strukturellen Gründe für Wohnungsnot klar benannt
werden, da ansonsten – gerade in Anbetracht der unter III.5.1 ff. überwiegend als positiv beschrie-
benen Entwicklung der Wohnraumversorgung – der Eindruck entsteht, Wohnungslosigkeit und

4 „Wohnungslosigkeit: Kein Ende in Sicht. BAG Wohnungslosenhilfe stellt aktuelle Schätzung für das Jahr
2018 vor“, Pressemitteilung vom 11.11.2019 zur aktuellen Schätzung der BAG W;
https://www.bagw.de/de/themen/zahl-der-wohnungslosen/index.html

5 Statistisches Bundesamt: Europe. 14% of population living in households overburdened by housing costs;
https://www.destatis.de/Europa/EN/Topic/Population-Labour-Social-Issues/Social-issues-living-condi-
tions/HousingCosts.html

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Wohnungsnot sei in erster Linie ein individuelles, vornehmlich durch Schicksalsschläge und Er-
krankungen verursachtes Problem.

Ad 2) Daten des Dokumentationssystems zur Wohnungslosigkeit (DzW) als ergänzende Da-
tengrundlage

Zwar bieten die Ergebnisse des von der GISS erstellten Forschungsberichts eine umfassende
Grundlage für den vorliegenden Bericht, gleichwohl ist das weitgehende Fehlen darüber hinaus
gehender Quellen – gerade im Hinblick auf die Darstellung der Struktur der (freiverbandlichen)
Wohnungslosenhilfe und der Hilfepraxis – kritisch zu bewerten.

In früheren Armuts- und Reichtumsberichten wurden hierfür auch die Daten des Dokumentations-
systems zur Wohnungslosigkeit (DzW) der BAG W herangezogen. Mit dem bundesweit abge-
stimmten DzW erhebt die BAG W seit 1990 aggregierte Klient:innendaten. Es ist damit ein wichti-
ges Instrument, um ein umfassendes, detailliertes Bild der Lebenslagen der von Wohnungslosig-
keit betroffenen und bedrohten Haushalte zu zeichnen und sich statistisch abzeichnende Trends
zu erkennen. Im Jahr 2019 erfasste das DzW insgesamt 45.673 Hilfesuchende.

Durch das DzW lassen sich exemplarisch die Befunde des ARB VI zur Dauer von Wohnungslosig-
keit (III.3.2.3) sowie zum fehlenden oder unklaren Krankenversicherungsschutz (III.3.3) inhaltlich
ergänzen bzw. präzisieren. Zudem ergeben sich aus dem Einbeziehen der Daten des DzW’s wei-
tergehende sozialpolitische Handlungsempfehlungen.

Während der ARB VI darauf hinweist, dass die „Mehrheit der Interviewten erst nach etwa zwei
Jahren eine Einrichtung des Hilfesystems wie eine Beratungsstelle für Wohnungslose oder die vor
Ort für die ordnungsrechtliche Unterbringung zuständige Stelle aufsuchte“ (S. 350), zeichnen die
Daten des DzW für Hilfesuchende von Angeboten der freiverbandlichen Wohnungslosenhilfe nach
den §§ 67 ff SGB XII ein anderes Bild. Laut DzW der BAG W suchten 43 % (2018) bzw. 45 %
(2019) ein Hilfeangebot der freiverbandlichen Hilfen nach § 67 ff SGB XII in den ersten zwei Mo-
naten der Wohnungslosigkeit auf, weitere ca. 20 % der Hilfesuchenden innerhalb von zwei bis
sechs Monaten. Diese Daten zeigen, dass die Hilfesuchenden vorhandene Hilfeangebote frühzei-
tig annehmen. Deswegen sollten Hilfeangebote nach den §§ 67 ff SGB XII flächendeckend vorge-
halten werden. Um den Aufenthalt in der ordnungsrechtlichen Unterbringung der Kommunen deut-
lich zu verkürzen und einer Chronifizierung von Wohnungslosigkeit gezielt entgegenzuwirken,
muss die ordnungsrechtliche Unterbringung auch eine Durchlässigkeit zum allgemeinen System

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sozialer Hilfen und die Möglichkeit der Anbindung bieten. Nur so kann sich die Unterbringung
selbst überflüssig machen und lediglich kurze Aufenthaltsdauern ermöglichen.6

Auch zur Frage eines fehlenden oder unklaren Krankenversicherungsschutzes (S. 355 f.) bietet
das DzW eine wichtige Datengrundlage, indem es die konkreten Anteile der Klient:innen benennt,
die im Jahr 2019 über keinen (15,7%), einen eingeschränkten (2,8%) oder einen ungeklärten
(14,1%) Krankversicherungsschutz verfügen.7 Dies macht die Bedeutung niedrigschwelliger Ge-
sundheitshilfen für wohnungslose Menschen zusätzlich deutlich, da ohne diese Angebote viele
Betroffene medizinisch vollständig unversorgt wären. Leider sind niedrigschwellige Gesundheits-
hilfen für wohnungslose Menschen nicht dauerhaft finanziert. Deswegen sollten nachhaltige Fi-
nanzierungsmodelle entwickelt werden.

Ad 3) Weitere Anmerkungen zum Abschnitt III.3.2.6 „Berücksichtigung besonders vulnerab-
ler Gruppen wohnungsloser Menschen“

Zum Abschnitt III.3.2.6 „Berücksichtigung besonders vulnerabler Gruppen wohnungsloser Men-
schen“ hat die BAG W mehrere Anmerkungen. Zum einen halten wir es im Kontext der Analyse
der spezifischen Vulnerabilität wohnungsloser Frauen für geboten auf das von der Bundesrepublik
Deutschland ratifizierte „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Ge-
walt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, die sog. Istanbul-Konvention, zu verweisen, die die im
ARB VI geforderten Maßnahmen zum Schutz wohnungsloser Frauen bekräftigt. Deswegen ist es
auch eine völkerrechtliche Verpflichtung, Frauen und Kinder, die von Gewalt und Wohnungsnot
und Wohnungslosigkeit betroffen sind, umfassend Schutz zukommen zu lassen. Politik, Verwal-
tung, Verbände sowie die einzelnen Einrichtungen und Dienste der Wohnungslosenhilfe sind ge-
fordert, sich gemeinsam dieser Aufgabe zu stellen. Zur konkreten Umsetzung der Istanbul-Kon-
vention in der Wohnungsnotfallhilfe hat die BAG W eine fachliche Empfehlung erarbeitet.8

Zum anderen gilt es im Zusammenhang zur Situation „ortsfremder“ Wohnungsloser trotz der Be-
mühungen vieler Gemeinden, ihrer Pflichtaufgabe zur Unterbringung von Obdachlosen - auch

6 BAG W (2021): Statistikbericht für das Jahr 2019 (im Erscheinen); https://www.bagw.de/de/themen/statis-
tik-und-dokumentation/statistikberichterstattung/bersicht.html

7 ebenda

8 BAG W: Umsetzung der Istanbul-Konvention – Gewaltschutz für Frauen in der Wohnungsnotfallhilfe. Eine
Empfehlung der BAG Wohnungslosenhilfe, erarbeitet vom Fachausschuss Frauenkoordination der BAG W
und verabschiedet vom Vorstand der BAG W am 17.03.2021, https://www.bagw.de/de/publikatio-
nen/pos_pap/pos_frauen.html

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angesichts der Vielzahl der betroffenen Personen - nach besten Kräften nachzukommen, auf
Städte und Kommunen hinzuweisen, die diese Aufgabe nicht oder nur widerstrebend erfüllen. Sie
missachten dabei nicht nur fundamentale Grund- und Menschenrechte der betroffenen Obdachlo-
sen, sondern verstoßen auch gegen grundlegende Verfahrens- und Verwaltungsvorschriften.9

Werena Rosenke
Geschäftsführerin der BAG Wohnungslosenhilfe e.V.

Berlin, den 14.07.2021

9 Vgl. Ruder, Karl-Heinz; Bätge, Frank (2018): Obdachlosigkeit. Sozial- und ordnungsrechtliche Maßnah-
men zu ihrer Vermeidung und Beseitigung. 2. Aufl.
vgl. Ruder, Karl-Heinz (2020): Arbeitshilfen zum Obdachlosenpolizeirecht. Formulierungshilfen zur Geltend-
machung und Durchsetzung des Anspruchs auf Zuweisung einer Notunterkunft, Heft 67–Reihe Materialien
zur Wohnungslosenhilfe

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