Der Lehrer, der in einem Buch wohnte - Norbert Berens

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Der Lehrer,

der in einem Buch

     wohnte

    Norbert Berens
Copyright: Norbert Berens

                                                               rue des Bruyères, 12

                                                                  L-8118 Bridel

                                                                   März 2012

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Es war einmal ein sehr schöner Fluss.

  In ihm lebten viele Fische und auch noch viele andere Tiere.

Bunte Vögel flogen umher und Hasen und Rehe kamen an sein

                          Ufer, um zu trinken und zu spielen.
Zwei Dörfer standen am Ufer des Flusses,

   eins oben und ein anderes weiter unten.

Die beiden Dörfer waren sich sehr ähnlich.
In dem Dorf unten am Fluss waren alle Menschen grau:

Die Kinder, ihre Eltern und alle die andern Erwachsenen.
In dem Dorf oben am Fluss aber waren die Kinder alle farbig.

Die einen waren gelb, die anderen rot, noch andere grün oder blau.

                             Viele ihrer Eltern waren auch farbig,

                             die einen mehr, die anderen weniger.

                  Einige Erwachsene aber waren einfach nur grau.
Jeden Tag freuten sich die Kinder oben im Dorf darauf,

                               in die Schule zu gehen.

            Sie waren schon früh morgens ganz farbig,

                  aber wenn sie aus der Schule kamen,

                      leuchteten ihre Farben ganz hell.
Sie hatten einen wunderbaren Lehrer.

Er erzählte ihnen von den Fischen, den Vögeln, den Hasen und den

   Rehen. Er erzählte ihnen auch von den Bäumen, dem Gras, den

                           Blumen und all den anderen Pflanzen.

                          Er sprach auch viel von den Menschen,

                                die überall auf der Erde wohnten.

                                Er lehrte sie lesen und schreiben.

               Die Kinder nannten ihn Lehri, denn sie liebten ihn.
Der Lehrer war immer in der Schule.

Er war da, wenn die Kinder morgens in den Schulsaal hinein kamen.

                           Er war da, wenn sie nach Hause gingen.

Und er war auch da, wenn an einem freien Nachmittag mal ein Kind

                 etwas holen kam, das es morgens vergessen hatte.

   Er war immer da, und die Kinder und ihre Eltern wunderten sich

                                                         darüber.
Eines Tages fragte Mäxchen mit seiner zarten Stimme:

                  „Lehri, lebst du hier in der Schule?“

                      Der Lehrer antwortete vergnügt:

           „Aber sicher doch, wusstest du das nicht?“

                            Mäxchen forschte weiter:

                              „Schläfst du auch hier?“

    „Natürlich“, lächelte der Lehrer, „wo denn sonst?“
„Schläfst du in einem Buch?“, wollte Mäxchen wissen.

                                            „Ja, in einem Buch.“

Der Lehrer zeigte auf ein großes, dickes altes Buch. „In dem da.“

             Dabei schmunzelte er, und Mäxchen musste lachen.
Die Tage und die Nächte gingen dahin,

                                die Wochen und die Monate.

Die Kinder hatten alle kräftige Farben und sie leuchteten und

                                                   strahlten.
Eines Tages aber, als die Kinder zu Hause waren, kamen böse

                                       Buben in die Schule.

      Sie waren schmutzig und faul und hassten alle Schulen.
Sie schlugen alles kaputt, was ihnen in die Hände geriet,

schubsten die Sachen der Kinder auf den Boden und verdreckten sie

                                                mit ihren Schuhen.

       Dann nahmen sie das große, alte Buch, warfen es zu Boden,

                     traten darauf herum und stießen es mit Füßen.

                                   Dann warfen sie es in den Fluss.
Eine Zeit lang trieb das Buch oben auf dem Wasser.

Die Strömung nahm das Buch mit sich den Fluss hinunter.

                              Dann versank es langsam.
Man brachte die Schule wieder in Ordnung und am nächsten Tag

                              gingen die Kinder wieder dahin.

                                       Doch sie waren allein.

                                     Lehri war nicht mehr da.
Auch am nächsten Tag und in den darauf folgenden blieben die

                                   Kinder allein in der Schule.

Langsam verloren sie ihre Farben und begannen grau zu werden.

                                Auch ihre Eltern wurden grau.
Alle wollten ihren Lehri wieder haben und so gingen die Eltern in

                                                   die große Stadt.

Sie suchten in allen Büchereien und fanden schließlich ein Buch wie

                                  das, in dem Lehri gewohnt hatte.

           Sie kauften es und glaubten, nun würde alles wieder gut.
Die Eltern stellten das Buch vor der Schule auf und legten Gebäck

                                          und Süßigkeiten hinzu.

                                              Dann warteten sie.

                               Sie warteten tage- und nächtelang.

                              Doch der Lehrer kam nicht wieder.
Eines Abends, es war schon dunkel, stellte ein Großpapa eine

Flasche Wein neben das Buch und legte einen halben Schinken

                                                       dazu.

                                   Aber auch das half nichts.

                               Lehri kam nicht mehr zurück.
Und dann kam es, dass die Kinder aus dem Dorf unten am Fluss

                            eines Tages beim Wasser spielten.

   Dabei stießen sie auf einen spitzen Gegenstand, der aus dem

                               Schlamm am Ufer herausragte.

                 Sie sahen, dass es die Ecke eines Buches war.
Sie gruben das Buch aus dem Schlamm und liefen damit ins Dorf.

  Ihre Eltern zogen die nassen Blätter auseinander und fanden ein

                                                     großes ‚O’.

      Sie öffneten es und zogen den Lehrer heraus, der sich darin

                                                  versteckt hatte.

 Eine Mutter nahm das Buch und den Lehrer und hing beide zum

                                  Trocknen auf die Wäscheleine.
Als alles trocken war, trugen die Eltern das Buch und den Lehrer in

                                                        die Schule.

Am nächsten Tag gingen die grauen Kinder zum ersten Mal dahin.

                                 Der Lehrer wartete schon auf sie.
Er erzählte ihnen von den Fischen, den Vögeln, den Hasen und den

    Rehen. Er erzählte ihnen auch von den Bäumen, dem Gras, den

                             Blumen und all den anderen Pflanzen.

                           Er sprach auch viel von den Menschen,

die überall auf der Erde wohnten, von den guten und von den bösen.

                                  Er lehrte sie lesen und schreiben.
Am nächsten Tag standen die Kinder schon früh auf, denn sie

                   freuten sich darauf, zur Schule zu gehen.

                   Sie waren schon nicht mehr ganz so grau.
So gingen die Tage und die Nächte dahin, die Wochen und die

                                                   Monate.

                Die Kinder waren alle ganz farbig geworden.
Auch die Eltern, die viel mit ihren Kindern lernten und sich um sie

                              kümmerten, waren farbig geworden.

Die Eltern, die nur manchmal nach ihren Kindern schauten, waren

                                nur ein bisschen farbig geworden.

    Diejenigen aber, die sich gar nicht um ihre Kinder kümmerten,

                                                     blieben grau.
Die Kinder freilich strahlten in all ihren Farben, wenn sie aus der

                                                   Schule kamen.
Aus dem Buch jedoch ertönte von nun an nachts manchmal ein

                                             leises Niesen.
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