Die Briefe des Erwin Naef
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Die Briefe des Erwin Naef Brief an die Ehefrau Alice vom 20.09.1943 Original Seite 3 - 13 Transkript Seite 14 - 23 Brief an den grossen Bruder Oskar vom 22.09.1943 Original Seite 25 - 27 Transkript Seite 28 - 31 Brief an die Ehefrau Alice vom 26.09.1943 Original Seite 33 - 35 Transkript Seite 36 - 38 1
Brief an die Ehefrau Alice vom 20.09.1943 2
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Pedrinate, 20. Sept. Meine allerliebste Alice – Gelt, hast lange warten müssen. Der Dienst war sehr streng und dann wollte ich zuerst wieder einmal gründlich schlafen. Und das tat ich letzte Nacht[?], hier in einem Bauernhaus an der allersüd- lichsten Spitze der Schweiz. D.h. ich schlief 5 Stunden, und das ist schon viel. Heute morgen wurde ich durch Kanonen- donner geweckt. Während der Nacht einige Male durch Gewehrschüsse aus den naheliegenden Wäldern aufgeschreckt. Aber ich will mit dem Erzählen vorn anfangen: Nach einem Tag Gastspiel in Cast. San Pietro oberhalb Balerna war ich mit meinem Zug Reserve in Balerna. Am Freitagmorgen, als der Befehl von den Deutschen gegeben wurde, alle Italiener müssen sich stellen bis Samstagabend 5 Uhr, erhielt ich den Befehl einen[ein?] provisorischer Lager aller Flüchtlinge zu errichten. Mit dem Bürgermeister von Balerna fuhr ich auf eine kleine Anhöhe, eine Kirche, Sant Antonia, zwischen Balerna und Chiasso. Der Platz mit einer Mauer ringsum, vor der Kirche schien mir geeignet. Kaum angekommen, bewegte sich eine lange Kolonne von Italien[Italienern?], bewacht von 3 meiner Soldaten, von der Grenze her. Ich hielt sie an, führte 14
sie auf den Platz, 400 Mann. Es folgten Kolonne auf Kolonne bis abends 1750 Mann 2 Schweizerärzte begannen sofort mit der Untersuchung. Alle mußten sich ausziehen. Auch während der ganzen Nacht wurde unter- sucht. Alle Kranken ausgeschieden. Von Chiasso kam die Meldung, das[s] an jenem Tag von der III. Kp. ca. 20.000 Mann abgefangen wurden. Mit ca 10 Mann Wache mußte ich meine Meute in Schach halten. Die hiesige Bevölkerung bereitete uns zwar mehr Arbeit als die Internierten[?]. Die Tessinermädchen machten stets freche Annäherungsversuche auf das Lager, bis ich 2 Mädchen abführen ließ. Von Schlafen natürlich keine Spur. Um Mitternacht erschien allein ein ital. Artilleriegeneral in Uniform. Mit ihm und dem Bürgermeister von Balerna plauderte ich bis 1 Uhr morgens, dann ließ ich den General nach Balerna bringen. Für die Organisation und Ordnung im Lager setzte ich einen ital. A[…]-Oberst ein. Er war der einzige der von den 150 Off. noch Autorität hatte. Am Samstag morgen wurde meine Wache auf 2 Mann redu- ziert. Stelle dir vor, welch eine Arbeit! Der Druck von der Grenze wurde stets stärker. Morgens 10 Uhr erhielten wir, auch die Italiener das erste Essen, 1 Suppe; nachm. 4 Uhr nochmals 1 Suppe, damit basta. Meine liebsten Internierten waren 15
die aus Gefangenenlagern entflohenen Engländer. Junge, fröhliche, gesunde Kerle. Ich war ja weit und breit der einzige, mit dem sie englisch sprechen konnten. Sie waren nur in Lumpen gekleidet, auch an den Füssen nur Lumpen. Die Italiener hatte[n] die größte Freude an diesen Tommis. Bei ihrer Ankunft wurden sie auf die Achseln gehoben und ein ital. Off. rief aus Spaß: «Endlich haben wir die Engländer in unserer Gewalt!» In der Nacht auf den Sonntag heftiger Platzregen. Ich befahl, (ich kam mir vor wie ein Duce auf dem Balkon), indem ich mich auf das Kirchenportal stellte: alle Mann in die Kirche, wenn kein Platz mehr, in die Sakristei und in die Pfarräume. Der Platz leerte sich und in einer halben Stunde war der Kirchenboden belegt, auf der Kanzel, in den Beichtstühlen, rings um den Altar, auf den Treppen, im Kirchturm, überall, wo irgend ein Plätzchen frei war; der Rest, ca, 200 Mann, im Freien, unter Arkaden. Dann kam Befehl: Abschieben! In Kolonnen zu je 300 500 Mann, genau abgezählt, nach Mendrisio. Stelle Dir vor, welch eine Arbeit, bis ich vorher nur in den umliegenden Wirtschaften Teller und Löffel requiriert hatte für die Mahlzeiten der 1750. Keiner hatte Eßge- schirr bei sich. Weiß Gott, ob ich alles zurückgeben konnte, viel ließen die Italiener 16
mitlaufen. Sonntagmorgen früh war das Lager leer. Alle waren in Mendrisio. Neuer Befehl von unserem General: Keine Italiener mehr hereinlassen. Alle zurückweisen. Mehr als 100.000 hatten schon die Grenze überschritten. Kaum war das Lager leer, meldeten sich weitere 5 Italiener. Befehl von unserem Mayor: zurückschieben an die Grenze, wenn nötig mit Waffengewalt! Mein Gott, welch schwere Aufgabe! Die 5 knieten vor mir nieder, bittelen [bettelten] wie Kinder, weinten Tränen, zeigten das Aufgebot der Deutschen: Samstagabend 5 Uhr in Como melden. Wer nicht kommt wird standrechtlich erschossen. Telefon hin und her zum Bat. Kdt. Der Major brüllte mich schließlich an, ob ich seinen Befehl verweigere. Ich ging zurück zu den Italienern, befahl meinen Leuten die Waffen bereit zu halten und zeigte meine Pistole. Dann traten die 5 Leute vor mich hin und einer sagte: Erschießen Sie uns. Lieber von einem Schweizer als von einem Deutschen! Viel Tessinervolk hatte sich angesammelt und war in großer Erregung. Die Frauen weinten laut. Ich kann Dir sagen, es war höchst unan- genehm. Da, wie ein Engel vom Himmel, sauste im Auto ein Verbindungsoff. mit einem neuen Befehl heran: All[e] Italiener, 17
die schon in der Schweiz sind, sollen behalten werden! Sofort ans Telefon zum Mayor. Er gab mir zur Antwort, vom neuen Befehl wisse er noch nichts, wenn ich nicht fähig sei, die Italiener mit Waffen- gewalt an die Grenze zu schieben, sperre er mich ein. - Kurze Beratung mit dem Verbindungsoff. In höchstem Tempo fuhr uns ein Auto nach Balerna zum Major. Er hatte sich wieder beruhigt. Er wisse vom neuen Befehl noch nichts. Ein zweiter Engel vom Himmel: In diesem Moment fuhr der Divisionskdt. mit dem Auto vor. Kurze Unterredung: Die Italiener durften hier bleiben. Also freudig zurück mit der Botschaft. Alle in banger Erwartung. Dann ein großer Jubel in der Bevölkerung und erst recht bei den 5 Italienern. Man drängte uns in die Wirtschaft zu einem Schluck Wein. Am Sonntagnachm[ittag] bin ich Postenchef der Grenzstation Pedrinate, in den hügeligen Grenzwäldern südlich von Chiasso. Herzlicher Empfang durch den Sindaco (Bürgermeister). Das liebliche Dörfchen ist ganz trunken in Trauben, Feigen und Pfirsichen. Wir verzichten auf das Soldatenessen. Der Bauch ist stets überladen mit den süßen, saftigen Früchten. Kaum angekommen, inspiziere ich meinen Grenzabschnitt, ca. 2 km. Die Grenze führt durch tiefes Dickicht hin- 18
durcht. Auf ital Seite, ca. 20 m jenseits der Grenzsteine ein 3 m hohes Drahtgitter, Da und dort sind Löcher darin. Zu diesen führen unzählige Trampelwege. Hier hindurch schlüpfen die Italiener, - und versuchen noch zu schlüpfen. Die Grenze führt hier über einen Aussichtspunkt. Herrlich ist`s hier oben; zu Füßen links Chiasso, rechts die feudale Stadt Como mit dem tiefblauen See. Wenn`s klar ist, sieht man von hier aus Mailand. Aber es regnet ja. Neuer Befehl: Nur noch entflohene Gefangene hereinlassen (Engländer, Griechen usw.) Alle Italiener zurückschieben. Immer wieder fangen wir Gruppen von Italienern auf, den[n] mit meinen 24 Leuten kann ich nicht die unzähligen Löcher gleichzeitig überwachen. Und stets habe ich die bittere Aufgabe, die Leute geheim, mit vorgehaltenem Gewehr, über die Grenze zu jagen. Jedesmal die gleiche Bitte und das Flehen auf Knien. Ab[er] einmal spät abends konnte ich nicht wiederstehen. Man brachte mir einen 30 jährigen Italiener, auch er hatte ein Aufgebot auf sich. Ich erklärte, er müsse zurück. Er legte sich auf den Boden und weinte bitterlich. 2 meiner Soldaten zwangen ihn auf und führten ihn durch die Büsche gegen die Grenze. Plötzlich machte er kehrt, fiel 19
auf die Knie vor mir, (ich ging nämlich mit) zog die Brieftasche hervor, gab mir die Adresse seiner Familie und die Fotos seiner Frau und 3 kleinen Kindern. Dann war es aus mit mir. Ich befahl meinen 2 Soldaten zurückzukehren und erklärte, ich übernehme die Verantwortung. Ich befahl dem Italiener sich zu verstecken bis es ganz dunkel sei, dann solle er heimlich nach Pedrinate schleichen und dort versuchen, beim Bürgermeister Unterkunft zu suchen. Letzteren verständigte ich nachher sofort und er war verständig. Bis jetzt hat sich aber der Ital. noch nicht gezeigt. Während der Nacht erhielten wir noch einige Engländer und Griechen. Um 11 Uhr nachts erschien ein Tessiner Zivilist mit einem gut aussehenden, älteren Mann. Er habe ihn soeben angetroffen im Feld, er sei ein General in Zivilkleidern. Ich nahm ihn misstrauisch zu mir auf die Wache. Er zeigte mir seine Schriften: Graf Negorino, in seinem Reisepass waren einige seiner Verwandten aufgezählt. Seine Frau war aus dem königl. Hause Savoyen. Er ein Schwager der Prinzessin Jolanda, z. Zt in Lugano. Für mich allerdings noch kein Beweis, daß er General war. Er habe seine militär. Ausweise vor 4 Tagen fortgeworfen um von den Deutschen nicht als General erkannt zu werden, er fuhr seit 4 Tagen 20
mit dem Velo umher, stets den Deutschen ausweichend, und schlich schließlich, wie ein Dieb, durch das Gitter. Er hatte ein Telegramm auf sich: „Conte Negorino soll sofort an der Schweizergrenze Einlass verlangen. Advokat Bolzani, Lugano.“ Zufällig kannte der hiesige Bürgermeister diesen Advokat vom Hörensagen. Nach einigen Anfragen und langem Suchen fand ich heraus, dass Adv. Bolzani Oberst ist und Kdt. der Territorialpolizei des Tessins. Ich konnte mit ihm sprechen durch das Telefon unseres Divisions-Kdt. Bolzani bestätigte alle[s] was der General bereits aussagte. Er habe die schönste und reichste Villa des Kts Tessin in der Nähe von Lugano. Er, Bolzani, sei der Verwalter der Liegenschaften und des Vermögens in der Schweiz des Generals. Dieser habe hier einige Millionen Schw[eizer] Fr[anken]. Er sei Kdt. gewesen der Stadt Tunis, floh dann nach Sizilien. Und nun stand der Graf wie ein armer Sünder vor mir. Sofort lud ich ihn ins Zimmer ein zum Rasieren und waschen. Die Bevölkerung brachte schönste Früchte, wichen schon zurück beim Erscheinen des Generals. Nach einem feinen Cafe Grappa meldete ich den General auf meinen höheren Kdo. Stellen. Dann musste ich ihn noch in der Nacht nach Chiasso bringen lassen. Er dankte mir und 21
lud mich ernsthaft ein, ihn nach dem Krieg in seiner Villa zu besuchen mit meiner Familie. Ich dankte und erklärte, ich sei mich nicht gewohnt, in fürstlichem Hause zu verkehren. Aber er bestand auf meinem Besuch. Um 1 Uhr ins Bett bis 6 Uhr. Vor 2 Stunden einige Italiener zurückschieben und Engländer einbringen war die Arbeit von heute morgen. Nach dem Mittagessen geh ich auf die Anhöhe. Das Wetter scheint aufzuhellen. Und die Grenze ist immer bewegt. Tausende von Italienern warten in den nahen Wäldern auf Einlass. Dann und wann, wie letzte Nacht, passiert faschistische Miliz die Grenze um flüchtige Italiener abzu- fangen. Dann gibt’s jeweils eine kleine Schießerei. Eine Patrouille von mir war heute nacht Zeuge davon. 2 junge Deutsche erschienen gestern morgen an der Grenze, motorisiert und frugen, was wir mit den Italienern machen. Oblt. Annen war dort und gab zur Antwort: Wir geben ihnen zu Essen. Hierauf prahlten die Deutschen: Wir waren schon in allen Ländern Europas, - nur noch nicht in der Schweiz: Dahin kommen wir dann auf unserer Hochzeitsreise. Oblt. Annen: Ja, ja, ich empfehle ihnen schon solange zuzuwarten. – Dann verschwanden sie 22
wieder. – Am ital. Hauptgrenzposten steht nun nur noch ein ital. Bergsaglieri-Of. Heute morgen ging ich allein zu ihm hin. Er frug mich, ob er nicht eintreten dürfe. Ich verneinte, gab ihm einen Stumpen. Dann sagte er weiter mit leiser Stimme, wenn die Kontrollen kämen, gebe er sich als Faschist aus. Aber er sei noch nie einer gewesen. Genug mit Erzählen. Es gäbe ja noch viel Interessantes. Was tut Markus. Wann hast Du das Telefon. Die meinige Nummer ist b.a.w. Pedrinate: 4.25.65. Schicke auch Socken, Ital. Wörterbuch. Vielleicht kann ich Dir auch Trauben senden. Ich erhalte ja alles gratis. Nun muss ich zum Essen! Mein Liebes, Liebes, sei unbesorgt um mich. Ich habe alles – auß[er] meiner Familie. Und recht viel Arbeit ist mein Vergnügen. Herzlich küßt Dich Erwin 23
Brief an den grossen Bruder Oskar vom 22.09.1943 24
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Oblt. Erwin Naef PEDRINATE Füs. Kp. II/86 im Feld, 22. September 1943 Mein Lieber, Ich bin seit einigen Tagen an der allersüdlichsten Spitze der Schweiz und habe Auftrag, mit meinem Zug rund 3 km. Grenze zu überwachen. Es führte zu weit, wollte ich von meinen Erlebnissen letzter Woche berichten, als ich eines frühen Morgens oberhalb Chiasso den Befehl erhielt, irgendwo ein günstiges Sammellager für Flüchtlinge zu eröffnen. Kaum hatte ich mich für einen ummauerten Vorhof einer alten Kirche entschlossen, als schon rund dreitausend Italiener, Engländer, Griechen, Juden, Jugoslaven, aufgeteilt in Kolonnen, herbeiströmten. Alle bereits entwaffnet, jede Kolonne von 3 – 5 Schweizersoldaten begleitet. Generäle und Obersten liefen in den Kolonnen mit. Wie sollte ich mit meinen noch verfügbaren 11 Mann diese Situation meistern! Und die Leute hatten alle Hunger und kein Essgeschirr. Weiss der Teufel wieviel Wirtschaften wir ausräumten für Teller und Löffel. Der Arzt und seine Gehilfen waren Tag und Nacht im Einsatz für die san. Untersuchungen. Um Mitternacht begann es in Strömen zu regnen. Ich befahl die unabsehbare Meute in die Kirche. Sie lagen und hockten um und auf dem Altar, in den Beichtstühlen, überall. Ein Grossteil musste draussen im Regen bleiben. Auch muss ich fest- halten, dass ich nur mit grösster Mühe die einheimischen Frauen und Mädchen wegjagen musste. Mittlerweile erhielt ich Mitteilung, dass der Flüchtlingsdruck an der Grenze stündlich zunehme und 28
bereits über 15`000 Mann in die Bahnunterführungen in Chiasso gepfercht wurden. Am Sonntag erhielt ich Befehl, das Kommando direkt an der Grenze zu übernehmen. Weitere rund 50`000 Italiener wurden eingelassen, entwaffnet soweit sie die Waffen nicht bereits weggeworfen hatten, dann Uebergabe an die schweiz. Begleitmannschaften. Nach weiteren 30 Stunden kam Befehl, die Grenze nur noch für entwichene Kriegsge- fangene offen zu halten --! Nun kamen erst die Probleme. Wie sollte ich erkennen, ob es sich um entwichene Kriegsgefangene handelte? Mein Zug, nunmehr auf 43 Mann verstärkt, ohne Schlaf, z.T. mutig mit und ohne Erfolg gegen Erschöpfung kämpfend. Was nun auf uns zukam, war das Traurigste, das mir je begegnete. Heute Nachmittag erschienen im Dickicht der Grenze in einer Gruppe ca. 20 Juden, bepackt mit schweren Koffern, schmutzig, durchnässt. Sie irrten in den Wäldern umher in den Gewitternächten. Ich hatte Befehl, und zwar äusserst strikten, alle mit Waffengewalt zurückzuweisen. Meine Wache führte die erschrockene Gruppe auf das Grenzwachlokal. Es waren: 1 Familie mit Kindern von 2, 5, 7 und 10 Jahren, Vater und Mutter. Laut Befehl musste ich die Kinder unter 6 Jahren und die Mutter hereinlassen – die übrigen zurückjagen. – 1 Familie mit Eltern, 5-jähriger Tochter und 13-jährigem Sohn. Mutter und Tochter konnte ich herein lassen – die andern zurück. – 1 Familie mit Mutter, 2-jährigem Kind und 60-jähriger Grossmutter, die vor Erschöpfung nicht mehr stehen, geschweige gehen konnte. Mutter und Kind 29
hereinlassen, Grossmutter zurückjagen. Ich telefonierte von Pontius zu Pilatus. Ueberall die gleiche Antwort: «Gehorchen, zurück, wer zurück musste – wenn nötig mit Waffengewalt.[«] Lieber Oskar, schildern lässt sich dieser seelische Stress, den ich und meine Leute durchmachten, nicht. Welchen Stellenwert haben eigentlich in dieser nie erprobten und nie sich vor- gestellten Situation die sogenannte Pflicht und der sogenannte mil. Gehorsam? 20 Mann der Wache liess ich laden und befahl, die Familien zu trennen. Herz- zerreissendes Schreien der Mütter, Weinen der Kinder. Die Väter knieten vor mir nieder und flehten. Sie wussten, was ihnen drüben blüht – was mir in den letzten Tagen dutzende Male von Flüchtlingen erzählt wurde. Juden und Refraktäre werden ohne weiteres in Massen erschossen. Aus ihren Gesichtern sprach grauen- hafte Angst. Ich befahl meinen Soldaten, die Leute mit dem Bajonett zurückzu- drängen. Meine guten Soldaten, nur wenige weinten nicht, aber sie gehorchten. Dann legten sich auf einmal die Flüchtlinge auf den Boden und ein Mann schrie, ich solle Befehl geben um alle zu erschiessen, um nicht von den Deutschen ge- martert zu werden. Dazwischen schrien die Frauen herzzerreissend nach ihren Kindern, die zurück sollten. Das war der Moment, da ich nicht mehr konnte -. Ich befahl meinen Leuten, das Bajonett einzustecken und zu warten. Ich orientierte telefonisch meinen Mayor und fragte ihn klar und deutlich, ob er die Verant- wortung eines Blutbades übernehme. Sofort erklärte er selbst zu kommen. 1 Stunde banges Warten. Danach telefonierte auch er an hohe und höchste Kommandostellen: Vergebens! Von neuem: Bajojett [Bajonett] auf! Die Soldaten zerrten und schleppten die Frauen und Kinder von den nicht zugelassenen Familienangehörigen weg. Die Mütter rauften sich die Haare und eine stand auf mit ihrem Kind und verlangte mit ihrem Mann und dem 13-jährigen Sohn zurückzugehen ins grauenhafte Ungewisse. Die Situation war dermassen, dass sich die hiesigen Grenzwächter und einige meiner 30
Soldaten abwendeten und wegliefen, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Plötzlich war da neben mir der Major auch nur noch Mensch, mit Tränen in den Augen. Krebsrot im Gesicht schrie er ein «Halt» in das wüste Treiben. Dann befahl mein Bat. Kdt. mit erregter Stimme, dass die ganzen Familien kontakt hierbehalten [überschrieben] werden müssen – auf seine Verantwortung. Mit stockendem Herz waren wir Zeugen, wie bereits eine Familie mit 5-jährigem Kind und 13-jährigem Sohn 50 Meter von uns entfernt von den ital. Grenzwächtern in Empfang genommen und abtransportiert wurde. Auch die alleinstehenden Erwachsenen, Frauen zwischen 15 und 40 Jahren, waren drüben. Die Grossmutter und die beiden anderen Väter mit den 7- und 9.-jährigen Kindern klebten noch auf Schweizerboden – sie waren gerettet. Genau so ging es her und zu, für Euch vielleicht kaum möglich, nicht zu fassen. Aber ich habe nun selbst erlebt, was Flüchtlingslos ist ---. Für heute genug. Gruss Euer Erwin 31
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Balerno, Sonntagabend. Meine liebste Frau- Gestern wurde ich gottseidank abgelöst. Bin jetzt Reserve. In der vergangenen Woche erlebte ich das Traurigste, was mir je im Leben begegnete. Erst wurden endlose ital. Flüchtlinge in Zivil wieder über die Grenze geschoben. Denn es wurde bekannt, dass nur die Italiener von den Deutschen bestraft würden, die sich trotz persönlichem Aufgebot nicht stellten. Einmal zog während einer ganzen Nacht eine Kolonne zurück über die Grenze. Ich hörte, nur noch ca. 20.000 Mann dürften in der Schweiz bleiben. Dafür liessen wir noch viele entwichene Kriegsgefangene, meistens Engländer der Armee Montgomery, Griechen und Neger der französ. Kolonialarmee eintreten. Als ich jeweils die Engländer auf Englisch ansprach, waren diese ganz entzückt vor Freude. Furchtbar war jedoch die Bestimmung, auch die Juden zurückzuweisen. Diese waren meistens deutschen Judenlagern entsprungen und nach unseligen Leiden irgendwo im Dickicht an unserer Grenze durch ein Loch im Drahtgehege geschlüpft, sanken hier vor Müdigkeit um. Eines Tages stellte sich eine Gruppe von 20 Juden. Ich erhielt Befehl, Kinder unter 6 Jahren und deren Mütter hereinzulassen und die andern zurückzujagen. Da waren zuerst Mädchen im Alter von 15 bis 30 Jahren, ihrer 6 Personen, mit zerrissenen Kleidern, zerschundenem Gesicht, ausgehungert und erschöpft. Dies meldete ich den massgebenden oberen Stellen in Chiasso. Befehl: Mit Waffengewalt zurück! Die Mädchen knieten wahrhaftig vor mir nieder und weinten und flehten. Ich befahl meinen Soldaten Bajonett auf und mit Gewalt abführen an das Grenzgehege. Mit Verwünschungen auf die Schweiz, heulend und sich wehrend verliessen sie unseren Boden und wurden jenseits von ital. Grenzwächtern empfangen. Eine Familie mit Kindern von 3, 5, 7 und 10 Jahren, Vater und Mutter. Nochmals erkundigte ich mich, ob nicht wenigstens diese Familie beisammen gelassen werden könnte. Antwort: unter keinen Umständen. Also mit Waffengewalt hinaus. Ich kann Dir die Szene nicht beschreiben, wie sich die beiden älteren Kinder an ihre Mutter klammerten, diese an ihren Gemahl. Denn abführen und hinauswerfen bedeutete, auf Nimmerwiedersehn. – Dann ein Kindchen von 2 Jahren, in Lumpen gehüllt, die Mutter 30 Jahre, die Grossmutter 60 Jahre, krank und kaum noch fähig zu stehen. Auf meine dringende Bitte in Chiasso, auch die Grossmutter hereinlassen zu dürfen, erhielt ich eine abschlägige Antwort. – Dann eine Familie mit 5 jährig. Mädchen und 13jährigem Sohn, Vater und Mutter. Vater und Sohn sollten hinaus. Eine Ausführung dieser Befehle war auch mit der Waffe nicht möglich. Denn die Leute legten sich auf den Boden und baten uns sie zu erschiessen. Sie zogen dies den Martyren [sic] der Deutschen vor. Ich telefonierte an Major Werdmüller, damit er die Verantwortung trage falls Blut fliesse. Er hiess mich warten. In einer Stunde war er hier mit dem Pferd. Auch er versuchte bei höchsten Stellen um Gewährung des Eintrittes für die Familien. Nutzlos! – Wiederum befahl ich den Soldaten die Abschiebung mit Gewalt. 36
Kurzes Handgemenge und schreckliches Kreischen der Frauen und Kinder. Das war auch für den Major zuviel. Wahrlich kugelten Tränen über seine Backen (Ich hatte mich schon oft abgewendet, um meine Tränen abzuwischen). Dann befahl er, dass die Familie mit den 4 Kindern und diejenige mit der Grossmutter hier bleiben dürfen. Jene mit dem 13jährigen Sohne ebenfalls, jedoch ohne den Sohn. Hierauf reckte sich der jüd. Vater dieses Sohnes und erklärte, er gebe keines seiner Kinder preis. Eher kehre er mit der ganzen Familie um, um sich von den Deutschen totschiessen zu lassen. So ging auch diese Familie verloren. Am vergangenen Freitagnachmittag 1 Uhr. Ich wurde alarmiert. Eine Gruppe von 8 Juden wurde im Walde abgefasst. Ich liess sie ins Rist. Paradiso führen, stellte 5 holländ., 1 belg. und 2 deutsche Juden fest. Komplett erschöpft. Mit schweren Koffern beladen, zerlumpt und verzweifelt. Ich telefonierte nach Chiasso. Befehl: Ohne Ausnahme zurück. Die Leute baten und flehten wahrlich auf den Knien. Der Vater der holländ. Familie bat eindringlich, wenigstens seine Kinder, Söhne von 12 und 14 Jahren, 1 Tochter von 16 Jahren hierlassen zu dürfen. Er selbst gebe nichts auf sein Leben. Sie seien von Holland nach Frankreich geflüchtet. Nach der ital. Kapitulation von Italienern über die savoyischen Alpen verschleppt worden, von den Deutschen in Konzentrationslager gesteckt, 2mal entwichen mangels ungenügender Bewachung. Wieder eingefangen und mit vielen Hunderten von Juden in Güterwagen gesteckt. Auf einer Station aus dem Wagen entwichen und in ein[en] Personenzug geflüchtet. Dieser sei nachts abgefahren und plötzlich waren sie in Mailand. Niemand getraute sich ihrer anzunehmen. Flucht in die Wälder. Nahrung durch gestohlene Früchte, meistens Trauben. Endlich in der Schweiz. – Es nützte nichts. Ich musste meine Wache alarmieren. Bajonett auf. Ich befahl das Gepäck aufzunehmen und der Wache zu folgen. Mit lautem Gekreische mussten die Frauen davongeschleppt werden. Furchtbare Verwünschungen auf die Schweiz. Der alte 62jährige Jude mit dem schweren Gepäck konnte kaum mehr gehen. Er weinte laut und flehte. Eine Frau, die Deutsche, wehrte sich wie sie konnte und schrie. Die Soldaten schleppten sie etwa 50 Meter am Boden. Dann erreichten wir, ca 100m von der Grenze entfernt den steilen Wurzelweg am Waldrande. Hier fiel das Mädchen zu Boden, auch der Alte, dann der Vater der Familie. Nur noch die Mutter der Familie ging stolz einher und sprach ihren Kindern Mut zu. – Dann befahl ich der Wache halt! Wir untersuchten die Daliegenden. Das Mädchen hatte ein dick aufgeschwollenes Bein. Die beiden alten Männer redeten überhaupt nicht mehr und die eine Frau wälzte sich am Boden. Dann rannte ich zurück nach Pedrinate um zu telefonieren ans oberste Kommando von Chiasso. Befehl: Die kranken Leute solle man bis an die Grenze tragen. Ich erklärte, das sei unmöglich, ich wünsche von meinem Posten abgerufen zu werden. Ein Major erklärte mir, ich solle sofort einen Arzt von meinem Bat. rufen lassen und auf weiteren Befehl warten. Ich telefonierte sofort dem Bürgermeister von Pedrinate um die Hilfe des roten Kreuzes. In ¼ Stunde standen 4 Mädchen in FHD Uniform da und Rotkreuzbinde und Bahre. Die Führerin, ein 21jähriges Mädchen, Tochter meiner Philisterin ordnete alles nötige an. Meine Soldaten trugen die Kranken nacheinander zurück in eine Wirtschaft. Die Gemeinde übernahm die Verpflegung. Um 8 Uhr abends 37
Befehl von meinem Major, die Gemeinde soll für Nachtunterkunft sorgen. In einem dunklen Lokal mit 1 Tisch, 10 Stühlen und Stroh am Boden wurden alle untergebracht. Um 10 Uhr nachts Befehl von Chiasso, um 9 Uhr morgens müsse die Gruppe unter allen Umständen abgeschoben werden. Um 11 ½ Uhr Befehl von Chiasso, dass um 9 Uhr am Samstag neuer Befehl zu erwarten sein. Ich besprach nämlich heimlich mit dem 21jährigen FHD Mädchen die Lage, dass hier nur noch die holländ. Gesandtschaft helfen könne. Ich jedoch dürfe nichts unternehmen. Das sei Sache des roten Kreuzes. Kurz entschlossen telefonierte sie beim Pfarrer dem holl. Konsul in Lugano, dieser telef. nach Bern. Bern zum 21jährigen Mädchen, das ging hin und her, bis 2 Uhr morgens. Samstag früh 5 Uhr Tagwache. Sofort besuche ich die Flüchtlinge. Voll Erwartung schauen sie zu mir auf. Ich rede ihnen Mut zu. Der Zug Oblt. Annen sollte mich bis 10 Uhr morgens ablösen. Punkt 9 Uhr Befehl von Chiasso: Alle Flüchtlinge bleiben hier! Welch ein Jubel, ich wehrte mich, denn alle, auch die Männer wollten mir um den Hals fallen. Ich verwies auf das flotte Mädchen, dass alles arrangiert habe. Eine Frau und das Mädchen konnten nicht gehen, wurden mit dem Auto nach Chiasso verbracht. Ich muss noch nachholen, dass am Vorabend ein Arzt unseres Bat. alle untersuchte und bei allen vollständige körperliche Erschöpfung feststellte. Um 10 Uhr durfte ich weg und bin nun wieder in Chiasso. In Pedrinate hatte ich unzählige Freunde gewonnen, besonders die Gemeindebehörden. Der Bürgermeister hat, wie er mir erzählte, Dir ohne meines Wissens einen Traubengruss gesandt. Meine Philisterin gab mir stets das feinste Essen, am Morgen Kaffee komplet, Pilz speisen usw. Die schönste und grösste Traube überreichte mir der Bürgermeister. Du wirst sie inzwischen erhalten haben. Morgen früh muss ich alle unsere Grenzpatrouillen inspizieren. Von Ponte Faloppia über Pedrinate, Laghetto bis Chiasso. Am 1. Okt. kommt unsere Kp. nach Mendrisio und spätestens am 2. Okt. geht mein Zug mit mir für 24 Stunden in den Urlaub. Dann wieder an die Grenze. Mir fehlen Hemden, Socken, kurze Unterhosen. Nach kurzem Gewitter scheint plötzlich die Sonne wieder. Ich gehe noch etwas hinaus mit Henggeler, gegen Sant Antonia, wo ich mein Interniertenlager führe. Herzlich grüsst Dich und lieber Kuss Dein Erwin 38
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