Die Istanbul-Konvention und Queere Geflüchtete Frauen

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Die Istanbul-Konvention und Queere Geflüchtete Frauen
Policy Report 65: June 2021

Die Istanbul-Konvention und Queere Geflüchtete
Frauen
Dr Mengia Tschalaer (University of Bristol)

Über den Kontext                                                     Die Istanbul-Konvention im Asylkontext

Lesbische, bisexuelle, trans, queere und intergeschlechtliche        •   Die Istanbul-Konvention (IK) aus dem
(LBTQI) Migrantinnen, Asylsuchende und Flüchtende sind                   Jahr 2011 gilt weithin als weitreichendstes
besonders anfällig für sexualisierte und physische Gewalt                rechtverbindliches Menschenrechtsinstrument,
– auf ihrem Weg nach Europa, während des Asylverfahrens                  um geschlechterbasierte und häusliche
und nachdem ihnen der Flüchtlings- oder humanitäre                       Gewalt zu verhindern und zu bekämpfen. Sie
Status in der Europäischen Union zuerkannt wurde. Dabei                  verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zum
handelt es sich unter anderem um Vergewaltigung und                      Handeln und dafür zu sorgen, dass Asylgründe
sexualisierte Gewalt in Flüchtlingslagern, Auffanglagern                 aus der Flüchtlingskonvention von 1951
und beim Transit, um sogenannte „Ehrenverbrechen“,                       geschlechtersensibel ausgelegt werden.
Ausbeutung als Sexarbeiter*innen durch Menschenhändler
und Einschüchterung durch Behördenmitarbeiter*innen und              •   Artikel 60 der IK legt fest, dass 1)
die Gesellschaft insgesamt.                                              geschlechterbasierte Gewalt gegen Frauen als eine
                                                                         Form der Verfolgung und als eine Form schwerer
Die im vorliegenden Bericht dargestellten zentralen                      Verletzung anerkannt wird und erfordert, dass
Erkenntnisse und Empfehlungen an die EU-Mitgliedsstaaten                 2) sämtliche in der Konvention aufgeführten
fassen die Gespräche der Online-Konferenz „The Recognition               Asylgründe geschlechtersensibel auszulegen
of Violence Against Lesbian, Bisexual, Inter and Trans People            sind. Zudem schreibt die Istanbul-Konvention 3)
within the Common European Asylum System” zusammen,                      vor, geschlechtersensible Aufnahmeverfahren
die am 13. November 2020 vom Queer European Asylum                       und Leitlinien zu gewährleisten sowie
Network organisiert wurde. Bestandteil der Konferenz war                 geschlechtersensible Verfahren zur Bestimmung
eine Diskussion zwischen dem Europarat, dem Europäischen                 des Flüchtlingsstatus bereitzustellen.
Parlament, ILGA-Europe, dem Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJF), Transgender           •   Artikel 61 der IK verlangt von den Vertragsparteien,
Europe (TGEU) und der NGO LeTRa aus München, über den                    das Völkerrechtsprinzip der Nichtzurückweisung
Anwendungsbereich der Istanbul-Konvention zum Schutz                     zu achten und sicherzustellen, dass Opfer
lesbischer und bisexueller Frauen sowie intergeschlechtlicher            geschlechterbasierter Gewalt nicht in ein Land
und trans Frauen vor geschlechterbasierter und sexualisierter            zurückgewiesen werden, in dem ihr Leben in
Gewalt im Asylkontext.                                                   Gefahr ist.

Der vorliegende Bericht ruft alle EU-Mitgliedsstaaten, die
die Istanbul-Konvention ratifiziert bzw. unterzeichnet haben
(und auch die EU-Staaten, die sie noch nicht ratifiziert haben),
dazu auf, lesbische, bisexuelle, queere, intergeschlechtliche
und trans Frauen gemäß der Istanbul-Konvention
als Frauen und als besonders gefährdete Gruppe vor
geschlechterbasierter Gewalt zu schützen. Zudem werden
die Mitgliedsstaaten aufgefordert, schwule, bisexuelle,
queere, intergeschlechtliche und trans Personen, die sich
als männlich identifizieren, als Gruppe anzuerkennen, die
ein hohes Maß an Ausgrenzung und Diskriminierung in
der Asylpolitik und -praxis erfährt. Der Bericht ruft auch
die Kommunalverwaltungen auf, die Istanbul-Konvention
einzuhalten, wenn sie mit asylsuchenden LBTQI-Frauen zu
tun haben.

                                                            PolicyBristol – influencing policy through world-class research
Die Istanbul-Konvention und Queere Geflüchtete Frauen
Zentrale Erkenntnisse                                                somit keinen Schutz im Sinne der IK. Nicht in der
                                                                     Lage zu sein, das erfahrene Leid oder die eigene
Es fehlt an geschlechtersensiblen Aufnahme- und                      Sexualität offenzulegen - oder diese zu spät
Asylverfahren:                                                       offenzulegen – wird von Entscheidungsträger*innen
                                                                     und Behördenmitarbeiter*innen häufig als Beweis
•   Die Gewalt, die asylsuchende lesbische,
                                                                     für mangelnde Glaubwürdigkeit ausgelegt.
    bisexuelle, queere, intergeschlechtliche und
                                                                     Zudem neigen Entscheidungsträger*innen und
    trans Frauen erfahren haben, bleibt während des
                                                                     Behördenmitarbeiter*innen dazu zu übersehen, dass
    Asylverfahrens oftmals im Verborgenen und wird
                                                                     lesbische, bisexuelle, queere, intergeschlechtliche
    im Aufnahmeverfahren selten erfasst. Es gibt eine
                                                                     und trans Frauen zögern, über Gewalt zu berichten,
    Tendenz bei Entscheidungsträger*innen und
                                                                     die sie aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung bzw.
    Behördenmitarbeiter*innen, innerfamiliäre und
                                                                     Geschlechtsidentität in ihrem Herkunftsland erlebt
    gemeinschaftliche Gewalt wie Vergewaltigung in der
                                                                     haben, aus Angst vor staatlicher Verfolgung bzw.
    Familie, Züchtigung und Selbstjustiz, welche lesbische,
                                                                     Polizeigewalt. Das Fehlen von „harten“ Beweisen (z.B.
    bisexuelle, intergeschlechtliche und trans Frauen erlebt
                                                                     Polizeiberichten oder Unterlagen über die Freilassung
    haben, nicht als Asylgrund anzuerkennen. Die Tatsache,
                                                                     gegen Kaution) in Kombination mit der Tatsache, dass
    dass sexuelle Ausrichtung bzw. Geschlechtsidentität
                                                                     Asylverfahren nicht geschlechtersensibel ausgelegt sind,
    die Gewalt gegen LBQTI-Frauen innerhalb von Familien,
                                                                     führt dazu, dass Gewalterfahrungen im Asylverfahren
    Gemeinschaften und staatlichen Kontexten in ihrem
                                                                     oft unsichtbar bleiben. Dies kann letztlich zu einer
    Herkunftsland, beim Transit und im Aufnahmestaat
                                                                     Abschiebung in Länder führen, in denen ihr Leben
    noch verschärft, bleibt oft unberücksichtigt. Das
                                                                     in Gefahr ist. Und schließlich sind beschleunigte
    Erfordernis der Beweislast erschwert die Verifizierung von
                                                                     Asylverfahren gemäß dem Neuen EU-Pakt über Migration
    geschlechterbasierter und sexualisierter Gewalt aufgrund
                                                                     und Asyl oftmals zu schnell für lesbische, bisexuelle,
    des Fehlens „harter“ Beweise. Gleichzeitig legen einige
                                                                     queere, intergeschlechtliche und trans Frauen, um ihre
    Richter*innen den Tatbestand der geschlechterbasierten
                                                                     Fälle offenzulegen oder zu dokumentieren.
    Verfolgung sehr restriktiv aus. Zudem schüren Traumata,
    Scham, stigmatische Ausgrenzung und Viktimisierung           •   Das zeigt, dass Artikel 61 der IK über das
    (d.h. Stereotypisierung, Rassismus, Sexismus,                    Zurückweisungsverbot sowie Artikel 4.3 über das
    Homo-/Transphobie usw.) Angst und schaffen im                    Diskriminierungsverbot von den Vertragsparteien nicht
    Asylverfahren Hürden für lesbische, bisexuelle, queere,          konsequent umgesetzt und überwacht werden.
    intergeschlechtliche und trans Frauen, wenn es darum
    geht, die am eigenen Leib erlebte geschlechterbasierte       Es mangelt an einem Verständnis für die Intersektionalität
    und sexualisierte Gewalt während des Asylverfahrens          verschiedener Vulnerabilitäten:
    offenzulegen.
                                                                 •   In der Theorie erfasst die Istanbul-Konvention die
•   Das zeigt, dass Artikel 60 der IK über die Anerkennung           Intersektionalität der Erfahrungen sowohl von Frauen
    von geschlechterbasierter Gewalt als Grund für                   mit Migrations- und Fluchthintergrund als auch von
    Flüchtlingsschutz und die geschlechtersensiblen                  lesbischen, queeren, bisexuellen, intergeschlechtlichen
    Auslegungs- und Unterstützungsverfahren sowie                    und trans Frauen und bietet einen umfassenderen
    Artikel 4.3 über das Diskriminierungsverbot von den              Schutz ihrer Rechte. In der Praxis gibt es allerdings in
    Vertragsparteien nicht konsequent umgesetzt und                  der IK keinen robusten Intersektionalitätsansatz im
    überwacht werden.                                                queeren Asylkontext. Frauen werden tendenziell als
                                                                     eine homogene Gruppe betrachtet, LSBTIQ-Personen
Der Grundsatz der Nicht-Zurückweisung findet bei                     als eine weitere homogene Gruppe. Lesbische, queere,
Asylverfahren von queeren Frauen selten Anwendung:                   bisexuelle, intergeschlechtliche und trans Frauen
                                                                     werden jedoch häufig Opfer geschlechterbasierter
•   Eine Folge des Versäumnisses, ein geschlechter- und
                                                                     und sexualisierter Gewalt wie Vergewaltigung,
    sexualitätssensibles Asylverfahren bereitzustellen, ist
                                                                     Züchtigung und häuslicher Gewalt, da sie als weiblich
    die Gefahr der Zurückweisung, da sich als lesbische,
                                                                     wahrgenommen werden oder sich als weiblich
    bisexuelle, queere, intergeschlechtliche und trans
                                                                     präsentieren. Zudem erleben sie Gewalt aufgrund
    Frauen, welche Asyl suchen, oft außerstande sehen,
                                                                     ihrer sexuellen Ausrichtung bzw. Geschlechtsidentität.
    ihre Geschichten zu erzählen. Sie werden tendenziell
                                                                     Dazu zählen korrektive Vergewaltigung, Zwangsehen
    nicht als Überlebende geschlechterbasierter und
                                                                     sowie erzwungene Heterosexualität; auch werden
    sexualisierter Gewalt anerkannt und bekommen
                                                                     sie häufig Opfer von Menschenhändlern. Das

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Die Istanbul-Konvention und Queere Geflüchtete Frauen
Unvermögen von Entscheidungsträger*innen und
    Behördenmitarbeiter*innen, die Intersektionalität              Anwendbarkeit der Istanbul-Konvention auf LBTIQ-
    verschiedener Vulnerabilitäten zu verstehen, setzt             Frauen im Asylkontext
    lesbische, bisexuelle, queere, intergeschlechtliche und
    trans Frauen einem hohen Maß an Vorurteilen und                •    Die IK erwähnt lesbische, bisexuelle, queere,
    Diskriminierung aus. Außerdem sind sie während des                  intergeschlechtliche und trans Frauen nicht
    Asylverfahrens anfällig für unterschiedliche Formen                 ausdrücklich, sondern referenziert ein binäres
    von Diskriminierung – so bekommen sie unter anderem                 Geschlechterverständnis. In Artikel 4.3 werden
    keinen Zugang zu Schutzunterkünften oder Leistungen                 jedoch Sex, Geschlecht, sexuelle Orientierung
    für Opfer geschlechterbasierter und häuslicher Gewalt.              und Geschlechtsidentität explizit als unzulässige
                                                                        Gründe für Diskriminierung genannt.
•   Das zeigt, dass Artikel 4.3 über das
    Diskriminierungsverbot von den Vertragsparteien nicht          •    Die IK verfügt, dass alle Parteien den Schutz und
    konsequent umgesetzt und überwacht wird.                            die Unterstützung auf trans und homosexuelle
                                                                        Frauen, die Opfer geschlechterbasierter
Es gibt gesetzliche Ungereimtheiten bei der Durchsetzung                Gewalt geworden sind, ausweiten, so dass alle
und Vollstreckung der Istanbul-Konvention und der                       Frauen, einschließlich lesbischer, bisexueller,
Neufassung der EU-Richtlinie (2011):                                    intergeschlechtlicher und trans Frauen, Zugang zu
                                                                        Hilfsleistungen bekommen und ihr Recht auf ein
•   Trotz der Tatsache, dass die IK einen überaus robusten              gewaltfreies Leben ausüben können.
    Rechtsrahmen darstellt, der den Begriff ‚Geschlecht‘
    sehr weit fasst – einschließlich sexueller Orientierung        •    Artikel 4, Satz 53 des Erläuternden Berichts zur IK
    und Geschlechteridentität– führt das Fehlen eines                   räumt ein, dass „schwule, lesbische und bisexuelle
    intersektionalen Ansatzes dazu, dass der Schutz von                 Opfer häuslicher Gewalt häufig aufgrund ihrer
    lesbischen, bisexuellen, queeren, intergeschlechtlichen             sexuellen Ausrichtung von Hilfsleistungen
    und trans Frauen entweder geschlechtsspezifisch                     ausgeschlossen werden.“
    ausgelegt wird (IK) oder dass sie einer bestimmten
    sozialen Gruppe zugewiesen werden (Neufassung                  •    Artikel 4, Satz 53 des Erläuternden Berichts zur
    der Richtlinie 2011/95/EU). Dadurch, dass es zwischen               IK weist zudem darauf hin, dass “[…] bestimmte
    der IK und der Neufassung der EU-Richtlinie (2011)                  Personengruppen auch aufgrund ihrer
    Durchsetzungs- und Vollstreckungslücken gibt, verliert              Geschlechtsidentität Opfer von Diskriminierung
    man die Bedürfnisse derjenigen, die an den Grenzen                  werden können, wenn sie sich, einfach gesagt, mit
    ankommen und internationalen Schutz beanspruchen,                   einem Geschlecht identifizieren, welches nicht
    aus den Augen. Darüber hinaus spricht die LSBTIQ-                   ihrem bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht
    Strategie der EU konkret von internationalem Schutz von             entspricht. Hierzu zählen Kategorien von Personen
    LSBTIQ-Personen, erwähnt jedoch nicht die IK, weil deren            wie Transsexuelle, Transvestiten und sonstige
    Ratifizierung derzeit ein politisch umstrittenes Thema              Personengruppen, die nicht dem entsprechen,
    innerhalb der EU darstellt.                                         was die Gesellschaft als den Kategorien “männlich”
                                                                        oder “weiblich” zugehörig anerkennt.“
•   Das zeigt, dass der Grundsatz des
    Zurückweisungsverbots in Artikel 4.3. sowie                    •    Artikel 2, Satz 2 des Erläuternden Berichts zur
    Artikel 60 und 61 der Istanbul-Konvention von den                   Konvention ermutigt die Parteien, die Konvention
    Vertragsparteien nicht konsequent umgesetzt und                     auch auf Männer und Kinder anzuwenden. Die
    überwacht wird.                                                     Istanbul-Konvention ist jedoch in Bezug auf
                                                                        männliche Opfer von Gewalt – minderjährig oder
                                                                        erwachsen – nicht rechtsverbindlich, es sei denn
                                                                        ein Staat entscheidet sich dafür, den Schutz auf
                                                                        diese Gruppe auszuweiten. Hierzu zählen schwule
                                                                        und bisexuelle Männer. Die Istanbul-Konvention
                                                                        bleibt unkonkret in Bezug auf den Schutz von trans
                                                                        Männern.

                                                                   •    Weder die Istanbul-Konvention noch der
                                                                        Erläuternde Bericht erwähnen direkt den Schutz
                                                                        von intergeschlechtlichen Personen.

      PolicyBristol – influencing policy through world-class research
Empfehlungen                                                         Lesbische, bisexuelle, queere, intergeschlechtliche und
                                                                     trans Frauen dürfen nicht in Gebiete zurückgeschickt
Geschlechter- und sexualitätssensible Auslegung von Gewalt           werden, in denen sie Gewalt befürchten müssen
in LBTQI-Asylverfahren:                                              – oder in denen ihnen Gewalt angedroht wird
                                                                     – von der Familie, Gemeinschaft und vom Staat.
Die Vertragsparteien müssen sicherstellen, dass
                                                                     Gesetzgebung, Entscheidungsträger*innen und
Entscheidungsträger*innen und Behördenmitarbeiter*innen
                                                                     Behördenmitarbeiter*innen müssen die Vorschriften
die IK diskriminierungsfrei und inklusiv anwenden und
                                                                     der Istanbul-Konvention befolgen und sicherstellen,
alle LSBTQI-Asylanträge auf geschlechterbasierte und
                                                                     dass LBTQI-Frauen, die Opfer von geschlechterbasierter
sexualisierte Gewalt überprüfen, ganz besonders jedoch
                                                                     und sexualisierter Gewalt geworden sind, Beratung
bei lesbischen, queeren, bisexuellen, intergeschlechtlichen
                                                                     bekommen, um ihre Gewalterfahrungen offenzulegen
und trans Frauen. Angst und Hindernisse bei der Preisgabe
                                                                     und die Gefahr der Zurückweisung zu minimieren.
ihrer sexuellen Ausrichtung bzw. Geschlechtsidentität
                                                                     Beschleunigte Asylverfahren dürfen generell nicht
sowie bei der Offenlegung der vor Ort erlebten Gewalt
                                                                     auf Frauen und LBTQI-Frauen, welche Asyl suchen,
müssen minimiert werden. Zu diesem Zweck müssen
                                                                     angewendet werden. Die Staaten müssen sicherstellen,
Entscheidungsträger*innen, Behördenmitarbeiter*innen
                                                                     dass der Gesetzgeber in der Praxis (nicht in der Theorie!)
und Dolmetscher*innen in Bezug auf eingefahrene
                                                                     ausreichenden und wirksamen Schutz bereitstellt, um
Stereotypen und Vorstellungen über Homosexualität,
                                                                     einschätzen zu können, ob die in den Aufnahmeländern
Geschlechtsidentität, Verfolgung und Coming-Out geschult
                                                                     angebotenen Schutzstandards, die in der IK dargelegt
werden. Nationale und Kommunalregierungen müssen
                                                                     sind, als Richtschnur genutzt werden können, um
lesbischen, queeren, bisexuellen, intergeschlechtlichen und
                                                                     festzustellen, ob die im Herkunftsland existierenden
trans Frauen – und LSBTIQ-Personen insgesamt – folgende
                                                                     Schutzmaßnahmen wirksam sind oder nicht.
Dinge bereitstellen: Informationen über die rechtlichen
Schutzregelungen, die für das Asylverfahren von Bedeutung        Es mangelt an einem Verständnis für die Intersektionalität
sind; die Möglichkeit, Einzelinterviews zu führen, wenn          verschiedener Vulnerabilitäten:
sie in Gruppen ankommen; und die Möglichkeit, eigene
Schutzansprüche aus geschlechterspezifischen Gründen             •   Die Staaten müssen sicherstellen, dass Gesetzgebung
vorzubringen. Zudem müssen Geschlechterleitlinien                    und Entscheidungsträger*innen die Vorschriften der
ausgearbeitet und Grundlagenschulungen für                           IK umsetzen. Dabei sind die komplexen Schnittstellen
Entscheidungsträger*innen angeboten werden.                          von ethnischer Herkunft, Sexualität, Geschlecht,
Richter*innen und Entscheidungsträger*innen in den                   sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität
EU-Mitgliedsstaaten müssen verpflichtet werden,                      zu berücksichtigen. Die Vertragsparteien müssen
die bestehenden nationalen und internationalen                       gewährleisten, dass sie LBTQI-Frauen unterstützen
Rechtsvorschriften hinsichtlich geschlechterbasierter                und die Komplexitäten deren Diskriminierung
Verfolgung in der EU inklusiv auszulegen und anzuwenden,             anerkennen. Zudem muss mit Hilfe von Schulungen
um sicherzustellen, dass lesbische, bisexuelle,                      und Geschlechterrichtlinien institutioneller und
queere, intergeschlechtliche und trans Frauen, die                   systematischer Rassismus anerkannt werden, der
geschlechterbasierte und sexualisierte Gewalt erlebt haben,          es LBTQI-Frauen „of Color“ verwehrt, während ihres
Anspruch auf Asyl haben. Geschlechtersensible Richtlinien            Asylverfahrens glaubwürdig aufzutreten. Ferner muss
müssen Themen wie Aufnahme, Unterbringung und                        der Staat Politiker*innen und Behörden mit Hilfe von
Asylverfahren beinhalten – einschließlich einer inklusiven           Schatten- und Kontrollberichten zur Rechenschaft
Definition von geschlechterbasierter Verfolgung.                     ziehen, um Diskriminierung und Gewalt gegen lesbische,
                                                                     bisexuelle, intergeschlechtliche und trans Frauen
Das Verbot der Zurückweisung findet in den Asylverfahren             institutionell und systematisch anzugehen.
von queeren Frauen nicht ausreichend Anwendung:
                                                                 Es gibt gesetzliche Ungereimtheiten bei der Durchsetzung
•   Alle Vertragsparteien müssen sicherstellen, dass sie jene    und Vollstreckung der Istanbul-Konvention und der
    in der IK enthaltenen Vorschriften berücksichtigen, die      Neufassung der EU-Richtlinie (2011):
    das Ziel haben, Frauen und Frauen mit multisektionalen
    Schwierigkeiten und Diskriminierungserfahrungen zu           •   Die Vertragsparteien und die EU müssen die Istanbul-
    befähigen, ihre Geschichten in einer Art und Weise zu            Konvention ratifizieren und in Asylverfahren lesbischer,
    erzählen, dass sie gehört und verstanden werden. Das             bisexueller, intergeschlechtlicher und trans Frauen
    ist notwendig, um ihre Erfahrungen gerecht zu eruieren           die Diskriminierungsverbotsvorschriften im Bereich
    und die Gefahr der Zurückweisung zu minimieren.                  Migration und Asyl als rechtlichen Schutzrahmen in

                                                           PolicyBristol – influencing policy through world-class research
Policy Report 65: June 2021

Verbindung mit der Neufassung der Richtlinie 2011/95/           dieses Thema schaffen. In allen Mitgliedsstaaten müssen
EU nutzen. Es bedarf einer Ausweitung der IK auf die            Politiker*innen und Zivilgesellschaft alles in ihrer Macht
Politikfelder Asyl und Integration – beispielsweise im          Stehende tun, um Unwahrheiten hinsichtlich Migration,
bevorstehenden Neuen Pakt über Migration und Asyl.              Geschlecht und Sexualität entgegenzuwirken und gute
Insofern sollte die neue LSBTIQ-Gleichstellungsstrategie        Praxisbeispiele zu schaffen und zu verbreiten.
der EU die Vorschriften der Istanbul-Konvention
aufgreifen. Alle Vertragsparteien müssen darauf
hinwirken, den Kampf gegen geschlechterbasierte Gewalt
in die EU-Gesetzgebung zu integrieren – in Form einer
                                                                Lesbische Frauen erfahren oft eine Doppeld-
Richtlinie gegen geschlechterbasierte Gewalt auf EU-
Ebene, die Aspekte von Migration und Asyl hinsichtlich          iskriminierung weil sie Frauen und lesbisch sind.
der sexuellen Ausrichtung, Geschlechtsidentität und             Lesbische Frauen die zum Beispiel in Uganda
Geschlechtsmerkmale beinhaltet. Letzteres impliziert,
intergeschlechtliche Personen und trans Männer in den           inhaftiert waren, wurden zum Teil von zehn
IK-Rahmen mit einzubeziehen. Außerdem müssen die                Männern am Tag vergewaltigt, mit dieser Ansage
Mitgliedsstaaten, die die IK bereits ratifiziert haben,
                                                                von: “Wenn du nur oft genug von einem Mann
eine öffentliche Debatte über die GREVIO-Berichte
in Bezug auf Asylfälle von lesbischen, bisexuellen,             vergewaltigt wirst” dann wirst du irgendwann
intergeschlechtlichen und trans Frauen anstoßen. In den         wieder heterosexuell.”
Mitgliedsstaaten, in denen die IK noch nicht ratifiziert
wurde, sollten Behördenmitarbeiter*innen und NROs               LeTRa, München
ebenfalls ihre Vorschriften umsetzen und Bewusstsein für

Weitere Informationen
Grundlage für den vorliegenden Bericht sind Gespräche, die auf der Online-Konferenz “The Recognition of Violence
Against Lesbian, Bisexual, Inter and Trans People within the Common European Asylum System” geführt wurden und
an der folgende Personen teilgenommen haben: Louise Hooper (Europaratsexpertin), Terry Reintke (Europäisches
Parlament), Akram Kubanychbekov (ILGA-Europe), Dr. Anna Mrozek (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend (BMFSJF), Jorge Maria Londoño (Transgender Europe (TGEU)) und Julia Serdarov (LeTRa).

Mit Beiträgen von: Magdalena Müssig (Bundesstiftung Magnus Hirschfeld), Danijel Cubelic (European Coalition of
Cities Against Racism) und Dr. Marie-Luise Löffler (Amt für Chancengleichheit Heidelberg)

Die im vorliegenden Bericht dargestellten Meinungen spiegeln ausschließlich die Sichtweisen der Autorin wider.

Weitere Informationen über “The Recognition of Violence Against Lesbian, Bisexual, Inter and Trans People within the
Common European Asylum System” und das Queer European Asylum Network, unter deren Schirmherrschaft diese
Veranstaltung organisiert wurde, finden Sie unter: www.queereuropeanasylum.org

Kontakt
Dr. Mengia Tschalaer, Assistant Professor am John Jay College an der City University of New York, Honorary Research
Fellow an der University of Bristol und Koordinatorin beim Queer European Asylum Network: mengia.tschalaer@
bristol.ac.uk

Übersetzung aus dem Englischen: Bettina von Arps-Aubert

                                                policy-bris@bristol.ac.uk | bristol.ac.uk/policybristol | @policybristol
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