Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +

Die Seite wird erstellt Veronika Lemke
 
WEITER LESEN
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti
Ein Trauerspiel
Gotthold Ephraim Lessing

                                      14 +

B E G L E I T M AT E R I A L Z U M S T Ü C K
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti

Es spielen:

Anton Berman			                         Camillo Rota / Pirro / Angelo / Battista / Pianist
Katrin Heinrich			                      Emilia Galotti
Niels Heuser				                        Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla
Hagen Löwe				                          Odoardo Galotti, Vater der Emilia
Thomas Pasieka			                       Graf Appiani
Franziska Ritter			                     Klaudia Galotti, Mutter der Emilia
Andrej von Sallwitz			                  Marinelli, Kammerherr des Prinzen
Danielle Schneider			                   Gräfin Orsina

Regie: Sascha Bunge Bühne + Kostüme: Angelika Wedde Komposition + Musik: Anton Ber-
man Dramaturgie + Theaterpädagogik: Stephan Behrmann Licht: Rainer Pagel Ton + Vi-
deotechnik: Sebastian Köster Regieassistenz: Susann Ebert, Johanna Thomas Inspizienz:
Anne Richter / Anita Stenzel Soufflage: Jutta Rutz Technischer Direktor: Eddi Damer Büh-
nenmeister: Henning Beckmann Maske: Karla Steudel Requisite: Jens Blau Ankleiderei: Bir-
git Wilde, Lotta Hackbeil Kostümassistenz: Clemens Leander Dramaturgiehospitanz: Marit
Buchmeier Herstellung der Dekoration: Werkstätten des Bühnenservice der Stiftung Oper
in Berlin unter der Leitung von Jörg Heinemann Herstellung der Kostüme: Firma Gewänder
Maren Fink-Wegner

Premiere: 8. März 2012 im Rahmen von
TUGEND, EHRE – SOLL & HABEN
EMILIA. MINNA. LESSING. EIN SPEKTAKEL
Bühne 1
ca. 90 Minuten
Die Aufführungsrechte liegen bei dem THEATER AN DER PARKAUE.

Premierenklasse: Profilkurs 1 Deutsch JG 11 der Carl-von-Ossietzky-Oberschule, Berlin-Kreuzberg
                                                                                                         2
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti

Inhalt

Vorbemerkung                                                                     5
Zugänge zur Inszenierung                                                         6
Lessing – ein biografischer Querschnitt                                          8
Die Galottis – Bürgertum oder Adel?                                             15
Das Herzogtum Guastalla                                                         16
Historische Vorgängerinnen Emilias                                              18
        Titus Livius: Verginia                                                  18
        Peter Sloterdijk: Über die Entstehung der res publica
        aus dem Geist der Empörung                                              21
Emilias Tod und das Trauerspiel                                                 27
        Hugh Barr Nisbet über Emilias Tod                                       27
        Joseph Vogl und Alexander Kluge: Die Fähigkeit zu Trauern               29
Anregungen für den Unterricht I                                                 31
Männer und Macht                                                                34
        Johann van der Dennen: Sex und Autorität                                34
Anregungen für den Unterricht II                                                36
Literatur                                                                       40
Hinweise für den Theaterbesuch                                                  41
Impressum                                                                       42

                                                                                      3
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti

Szenenfoto mit Anton Berman, Katrin Heinrich und Andrej von Sallwitz

                                                                                        4
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti

Vorbemerkung

Mit seinen dramatischen Texten und kritischen Essays prägte Lessing die deutsche Literatur
nachhaltig und wurde zum Vorbild vieler nachfolgender Schriftsteller. Der Toleranzgedanke,
den Lessing in vielen seiner Schriften vertritt, macht ihn für alle Zeiten relevant. So ist Lessing
auch der einzige deutsche Autor der seit Lebzeiten durchgehend in den Spielplänen der The-
ater vertreten ist.
Das Trauerspiel Emilia Galotti gehört zu den bekanntesten Theaterstücken Lessings. Es er-
zählt vom Dilemma eines jungen Mädchens, das sich zwei rigiden Systemen gegenübersieht.
Auf der einen Seite der Adel mit dem Anspruch alles besitzen und benutzen zu können, auf
der anderen Seite ihre Familie, allen voran Odoardo, Emilias Vater, der von seinem Ehrgefühl
getrieben ist. Emilia ist dazwischen nur ein „Rohstoff“, der beliebig herumgereicht, gehandelt
und benutzt werden kann.
Gleichzeitig durchlebt Emilia eine unbekannte, eine extreme Gefühlssituation. Geprägt durch
einen starren Ehrbegriff und die religiöse Erziehung ist Emilia gegen körperliche Annähe-
rung nicht gewappnet. Lust und Sexualität sind vollkommen fremde Dinge. Die Avancen des
Prinzen prallen an Emilia aber nicht spurlos ab. Ekel und Widerwillen stehen Faszination und
Anziehungskraft gegenüber.
Als Theater liegt unseren Auftrag in der Heranführung Kinder und Jugendlicher an das Format
Theater. Inszenierung sind immer Interpretationen eines Stoffes. Mit jeder Inszenierung entsteht
ein neues Kunstwerk mit eigener Lesart und eigener Gesetzmäßigkeit, das wiederum die Thea-
terzuschauer zu eigenen Deutungen und Sichtweisen einlädt. Großes Gewicht liegt, gerade auch
bei den beiden Stücken Lessings, auf der Erschließung des Materials aus heutiger Perspektive.
Das vorliegende Begleitmaterial zur Inszenierung Emilia Galotti richtet sich an Lehrer, die mit
ihren Schülern eine Vorstellung besuchen und diese vor- oder nachbereiten möchten. Es be-
schäftigt sich mit dem Autor G.E. Lessing, sowie den Hintergründen von Emilia Galotti und
den thematischen Schwerpunkten der Inszenierung. In einem gesonderten Kapitel finden Sie
Anregungen für den Unterricht in Form verschiedener Projekte, die sich mit Text und Inszenie-
rung beschäftigen.
Wenn Sie Fragen zum theaterpädagogischen Begleitmaterial oder zur Inszenierung Emilia Ga-
lotti haben oder wenn Sie Ihre Kritik und Anmerkungen mitteilen möchten, können Sie sich
gerne mit dem betreuenden Dramaturgen Stephan Behrmann in Verbindung setzen.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Schülern einen anregenden Theaterbesuch und interessante
Diskussionen danach.

Marit Buchmeier
Betreuender Dramaturg und Theaterpädagoge: Stephan Behrmann
				                      Tel: 030 – 55 77 52 -45 / E-Mail: stephan.behrmann@parkaue.de
                                                                                                      5
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti

Zugänge zur Inszenierung

„In der ‚Emilia Galotti’ wird die Schuld nicht bestraft und die Unschuld stirbt ungesühnt. [...]
Emilia war doppelt bedroht, von fremder Gewalt und von ihren eigenen Sinnen. Das macht
den Verlauf noch trauriger für die bürgerliche Ehre. Ihr Tod von der Hand des Vaters war eine
Tat der Verzweiflung, mit tragischer Schuld hatte er wenig zu tun. Dafür war er wahr. So sahen
die bürgerlichen Trauerspiele im Leben aus.“                                      Heinrich Mann

Emilia Galotti ist geprägt von zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Die des
Hofes und die der Familie, in der Emilia aufwächst.
Prinz Hettore von Gonzaga ist gelangweilt vom Leben und den Gepflogenheiten am Hofe.
Sich seiner Macht aber wohl bewusst, nutzt er die Privilegien seines Status. Er betrachtet sein
Umfeld als sein Eigentum und missbraucht seine Macht, um sich selbst den größtmöglichen
Vorteil zu verschaffen, sei dies politisch oder privat. Emilia hat ab dem Moment, ab dem der
Prinz ein Auge auf sie geworfen hat, keine Chance mehr zu entkommen. Um sein Opfer zu
erlegen, ist dem Prinzen jedes Mittel recht, aufzugeben kommt nicht in Frage. Dafür lässt er
Staatsgeschäfte schleifen, vergisst alles andere. Er hüpft, tanzt, rennt durch seine Welt, in der
er immer wieder neue Dinge für sich entdeckt, um sie wieder fallen zu lassen und zu verges-
sen.
Unterstützt wird er von seinen, ihn umgebenden, Dienern und Beratern, allen voran seinem
Kammerherren Marinelli. Ein Intrigant, der scheinbar ohne Moral daran arbeitet, die Macht des
Prinzen und damit auch seine eigene Macht zu erweitern.
Die Figur des Prinzen lässt Parallelen zu Geschehnissen von heute zu. Beispiele sind die Fälle
Dominique Strauss-Kahn oder Christian Wulff. Der Skandal um den ehemaligen Bundespräsi-
denten Christian Wulff fiel in die Probenzeit. Ein Mann, der jegliche Maßstäbe aus den Augen
verloren und der bis zum Ende nicht eingesehen hat, etwas falsch gemacht zu haben. Wulffs
Sprecher und „Einflüsterer“ Olaf Glaeseker mutet dabei wie ein moderner Marinelli an.
Dem Hof gegenüber steht Emilias Elternhaus, das sich in zwei Lager teilt. Auf der einen Seite
die Mutter, Klaudia, die mit Emilia in der Stadt lebt und danach strebt ihre Tochter in die Hof-
gesellschaft einzuführen. Dies gelingt ihr durch Emilias Verlobung mit Graf Appiani. Der Vater
Odoardo wiederum lebt auf dem Land, verweigert sich der direkten Konfrontation mit dem
korrupten Hofmilieu und kann es nicht abwarten, nach der Hochzeit der Stadt und dem Hof
den Rücken zu kehren. Ist Emilia alleine mit der Mutter, darf sie sich frei und selbstständig
bewegen, sie feiert Feste wie das bei Kanzler Grimaldi, schließt Bekanntschaften am Hof, lernt
das lasterhafte höfische Leben kennen. Im Gegensatz dazu steht die streng religiöse, mora-
lische Erziehung des Vaters.
Die beiden Parteien reichen Emilia herum, entscheiden und beraten über sie, sie wird zum
Rohstoff, der gehandelt werden darf. Das Wissen, dass ihr Meinung und ihre Taten kaum Kon-
sequenzen haben, lässt sie nüchtern, fast kalt erscheinen.

                                                                                                    6
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti

Durch die Avancen des Prinzen wird Emilias Neugier geweckt. Diese aufkommenden Gefühle
machen ihr aber Angst. Der Konflikt Emilias spielt in der Inszenierung eine große Rolle. Das
Zusammentreffen zwischen Emilia und dem Prinzen in der Kirche wird von Lessing nur indirekt
erzählt – indem Emilia ihrer Mutter und der Prinz Marinelli davon berichten. Dieses Treffen ist
einer der Ausgangspunkte für alle weiteren Geschehnisse. Emilia erfährt vom Interesse des
Prinzen an ihrer Person und an ihrem Körper. An dieser Stelle beginnt ihr moralisches Dilem-
ma, Ekel und Faszination erwachen gleichermaßen. Sie bekommt eine Vorstellung davon,
wie Leidenschaft aussieht, etwas, dass sie mit ihrem Verlobten Graf Appiani noch nicht erlebt
hat. In Emilias Beziehung zu Graf Appiani spielt körperliche Anziehung eine untergeordnete
Rolle. Ihre Begegnung am Tag der Hochzeit ist von Emilias Hin- und Hergerissenheit geprägt.
Ein Wechselspiel von Annäherung an ihren zukünftigen Ehemann und Abweisung wegen un-
gerechtfertigter Schuldgefühle, die aus der Begegnung mit dem Prinzen resultieren. Sascha
Bunge erfand daher diese Szene, seine Inszenierung beginnt mit den Geschehnissen in der
Kirche.
Auch die Bühne spielt mit diesen Ebenen, indem sie sich immer weiter öffnet. In der Kirchen-
szene wird Emilia zwischen Vorhang und Prinz und dem Publikum förmlich eingequetscht. Im
Vergleich dazu weitet sich der Raum mit den Ortswechseln vom intimen, privaten Elternhaus
bis hin zum Lustschloss, einem öffentlichem, politischen Raum und Spielplatz des Prinzen.
Der Pianist ist nahezu immer auf der Bühne, reagiert mit seiner Musik auf das Geschehen oder
die Zurufe der Schauspieler und kreiert so eine Klangatmosphäre durch die ganze Inszenie-
rung. Er übernimmt die Rollen der Diener und Berater vom Prinzen, von Marinelli und Odoar-
do, die im Laufe des Geschehens die Zuspieler und Ausführer von Befehlen sind.
Der Lessing Biograf Hugh Barr Nisbet bietet eine gute Zusammenfassung der widersprüch-
lichen Charaktere:
     „Sie [die Figuren] sind alle labil, hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen Impulsen –
     der Prinz zwischen Leidenschaft und Pflicht, Emilia zwischen gefühlsmäßiger Unsicherheit
     und moralischer Entschlossenheit, Odoardo zwischen moralischer Strenge und Ehrerbietung
     gegenüber der Autorität, Klaudia zwischen Neigung zum Hofleben und Liebe zum wohlan-
     ständigen Familienleben, Orsina schließlich zwischen Liebe zum Prinzen und Rachedurst.
     Unter dem Druck rasch wechselnder Umstände kann jeder von ihnen diese oder jene Rich-
     tung einschlagen.“
                                       Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.

                                                                                                                7
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti

Lessing – ein biografischer Querschnitt

Als Lessing 18 war, feierte sein erstes Stück   1748 musste Lessing Leipzig verlassen, da
Der junge Gelehrte Premiere.                    ihm als Bürge für diverse Schauspieler die
                                                Gläubiger im Nacken saßen.
Er wurde in kürzester Zeit der bekannteste
Schriftsteller im deutschsprachigen Raum.       Als freier Schriftsteller litt er unter ständigem
                                                Geldmangel und war abhängig von Almosen
Lessing übertrug das französische Modell        von Freunden und Verwandten.
des bürgerlichen Trauerspiels nach Deutsch-
land.
                                                Der Versuch, das „Deutsche Nationalthea-
                                                ter“ über einen längeren Zeitraum hinweg zu
Als Dramaturg am neugegründeten                 etablieren, scheiterte unter anderem wegen
„Deutschen Nationaltheater“ in Hamburg          Geldmangels.
revolutionierte er mir seiner „Hamburgischen
Dramaturgie“ das (Nach-)Denken über
Theater.                                     Lessing heiratete erst mir 47 Jahren, sei-
                                             ne Frau Eva König starb im Kindbett, weni-
                                             ge Tage nach der Geburt des gemeinsamen
                                             Sohnes.

                                                An seinen Freund Johannes Joachim Eschen-
                                                bach schrieb er in dieser Zeit: „Ich wollte es
                                                auch einmal so gut haben, wie andere Men-
                                                schen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“
                                                                                 nach D. Hildebrandt

Im Folgenden eine Sammlung an Aspekten aus Lessings Leben, die das Inszenierungsteam
während der Arbeit beschäftigt hat und die teilweise einen ganz anderen Blick auf den großen
Klassiker Lessing werfen.

Ein Leben zwischen künstlerischem Anspruch
und der ökonomischen Lebenswirklichkeit
Gotthold Ephraim Lessings Leben liest sich als großartige Erfolgsgeschichte, aber auch als
Leidensgeschichte. Lessing gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Dichter der deut-
schen Aufklärung. Es gelang ihm, die in vielen Bereichen überlieferten Anschauungen in Frage
zu stellen. Bei ihm standen der Glaube an die Toleranz, die Freiheit, das „Ich“ als Individuum
im Mittelpunkt. Dies wird in seinen Theaterstücken deutlich, in denen er den Privat- den Fa-
milienraum in den Mittelpunkt stellte. Ein weiteres Beispiel sind seine theologischen Schriften,
                                                                                                       8
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti

in denen er zu mehr Toleranz gegenüber anderen Religionen aufruft. Vieler dieser Ansätze
bringt Lessing in seinem philosophischen Werk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“
zusammen.
Abgesehen von wenigen Festanstellungen verdingte Lessing sich sein Brot als freier Schrift-
steller, als einer der ersten Auftragsautoren. So war sein Leben trotz seines Erfolges und Be-
kanntheitsgrades immer auch von Geldnöten geprägt, die Lessing dazu zwangen über Jahre
hinweg Anstellungen anzunehmen, die vor allem dem Broterwerb dienten. So war er unter
anderem Sekretär des Generals Tauentzien, dem Kommandanten von Breslau und späteren
Gouverneur Schlesiens und Hofbibliothekar des Herzogs von Braunschweig in Wolfenbüttel.
Es war ihm unmöglich, bedingt sowohl durch die ungünstige Marktlage für freie Schriftsteller,
als auch durch seine Unfähigkeit vorauszuplanen, als Autor seinen Lebensunterhalt zu be-
streiten, „ohne auf die Möglichkeit zu verzichten, die Überzeugungen zu Papier zu bringen,
die für ihn die wichtigsten waren.“ (Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008).

Lessing – der Spieler
Lessing hatte eine große Leidenschaft für das Glückspiel, er schrieb dem Spielen schon bei-
nahe therapeutische Wirkung zu. Karl Lessing beschrieb diese Spielsucht ausführlich in der
Biografie über seinen Bruder.

Zitiert nach: Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008
Allein seinen Freunden ist doch nichts so aufgefallen, wie seine Spielsucht, die in Breslau ihren
Anfang und zu Wolfenbüttel ihr Ende genommen haben soll. Sein liebstes Spiel war Pharao,
das seinen ganzen Reiz vom hohen Gewinne zu haben scheint. [...] Dem, der es nicht selbst
gespielt, muß es der fadeste Zeitvertreib dünken; und wer gar nur pointiert, um zu gewinnen,
wird das Gegenteil von dem bezwecken, worauf er ausgeht.
Was vermochte Lessing also dazu? Die Sorge um seine Gesundheit. – Wird man nicht lachen?
Und noch mehr, wenn man bedenkt, daß er mit großer Leidenschaft spielte. Einer seiner
Freunde, der ihn bei dem Pharaotische beobachtete, sah einmal, wie ihm die Schweißtrop-
fen vom Gesichte herunterliefen. Er sah auch, daß er nicht im Unglücke war, sondern diesen
Abend sehr glücklich spielte. Als sie miteinander nach Hause gingen, tadelte er ihn, daß er
nicht bloß seine Börse, sondern noch etwas Wichtigeres, seine Gesundheit ruinieren würde.
Gerade das Gegenteil, antwortete Lessing. Wenn ich kaltblütig spielte, würde ich gar nicht
spielen; ich spiele aber aus Grund so leidenschaftlich. Die heftige Bewegung setzt meine sto-
ckende Maschine in Tätigkeit, und bringt die Säfte in Umlauf; sie befreit mich von einer körper-
lichen Angst, die ich zuweilen leide. – Dem Boshaften wird dabei der ehrliche Basedow einfal-
len, welcher seine Trunkenheit fast ebenso verteidigte. Spielte Lessing zum Zeitvertreibe und
gleichgültig, so mußte der Schweiß, den man an ihm bemerkte, aus ganz andern Ursachen
entstehn; entstand er durch die Gefahr des Spiels, so konnte er, nach dem ordentlichen Laufe
der Natur, wohl nicht zur Gesundheit gereichen. Es scheint vielmehr, daß diesen Schweiß das
warme Zimmer, welches voller Menschen und Tabakraucher war, veranlaßt habe.
 [...] Ist Lessings eigne Aussage von Gewicht, so gestand er, in Breslau oft und hoch gespielt,
aber im Durchschnitte wenig oder gar nichts verloren zu haben. Sein General habe ihm sogar
sein hohes Spielen vorgehalten; er habe ihm aber stets erwidert: es sei einerlei, ob man hoch
                                                                                                                9
Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
Emilia Galotti

oder niedrig spiele; ja, das hohe Spiel habe den Vorteil, daß es die Aufmerksamkeit erhalte,
das kleine aber zerstreue sehr leicht.

Lessing und das Theater
Im 18. Jahrhundert wurde das deutsche Theater stark von Entwicklungen anderer Länder
geprägt, eine typisch deutsche Ausprägung, deutsche Stücke fehlten. Neben den Hofthea-
tern, gab es zahlreiche Wandertruppen. Den Schauspielern als wanderndes Volk wurde in der
Bevölkerung meist großes Misstrauen entgegen gebracht. Die Stücke dieser Truppen hatten
volkstümlichen Inhalt, große Teile bestanden aus Improvisationen. Für diejenigen, die nicht
dem Adel angehörten und dadurch keinen Zugang zu einem Hoftheater hatten, war das Wan-
dertheater der einzige Berührungspunkt mit dem Theater.
Lessing folgte 1767 dem Ruf nach Hamburg, wo die Idee eines bürgerlichen Hoftheaters in
Form eines Nationaltheaters in die Tat umgesetzt werden sollte. Lessing wurde dort als Dra-
maturg eingesetzt. Obwohl das Projekt bereits nach zwei Jahren scheiterte, schrieb Lessing
dort seine „Hamburgische Dramaturgie“, die er in 104 Teilen veröffentlichte. Neben Stück- und
Inszenierungsbesprechungen, beschäftigte sich Lessing unter anderem ausführlich mit der
Dramentheorie und beschrieb, welche Wirkung das Theater auf das Publikum haben solle.
Lessing kritisierte die Volkstümlichkeit der Wandertruppen, er plädierte für das Literaturthe-
ater. Im Gegensatz zu Johann Christoph Gottsched allerdings, wollte Lessing dabei nicht an
der französischen Klassik festhalten. Ganz entscheidend war auch, dass sich Lessing gegen
Gottsched Idee der Ständeklausel stellte. Gottsched war der Meinung, dass in der Tragödie
die Schicksale von Königen, Fürsten und hohen Standespersonen verhandelt werden sollten,
dem Leben der Bürgerlichen fehle es an Größe, an Bedeutung und an „Fallhöhe“. Im Ge-
gensatz dazu sollten die Geschichten bürgerlicher Personen nur in Komödien auf die Bühne
gebracht werden.
Lessing entwarf ein Gegenmodell mit der Veröffentlichung des Stücks „Miss Sara Sampson“
im Jahr 1755, das als das erste bürgerliche Trauerspiel gilt. Er vertrat die Meinung, dass das
Publikum nur dann mitleide, wenn es sich selbst auf der Bühne wieder erkennt, wenn die auf
der Bühne verhandelten Geschichten, auch die Geschichten des Publikums sein könnten. Er
orientierte sich an den aristotelischen Begriffen ‚eleos‘ und ‚phobos‘ und prägte sie mit seiner
Übersetzung in ‚Furcht‘ und ‚Mitleid‘ neu. „Furcht erweckt nach Lessing all das, was, wenn
sie es an anderen sehen, Mitleid weckt. Und umgekehrt erweckt das in uns Mitleid, was, wenn
es uns selbst treffen würde Furcht macht.“ [Stegemann, Bernd: Lektionen 1 – Dramaturgie.
Berlin: Theater der Zeit, 2009]. Dieses Prinzip setzt voraus, dass Bürger die Protagonisten des
Dramas sind. So fürchtet der Zuschauer, dass ihm das gleiche Schicksal widerfahren könnte,
wie den Protagonisten auf der Bühne. Daraus resultiert, dass der Zuschauer mit sich selbst
Mitleid empfindet. Ohne die Furcht ist dieses Mitleid nicht möglich. Lessing schrieb darüber:
     „Die Tragödie soll unsere Fähigkeit erweitern, Mitleid zu fühlen… Sie soll uns fühlbar machen,
     dass der Unglückliche zu allen Zeiten und unter allen Gestalten rühren und für sich einnehmen
     kann.“
                 (Für eine detaillierte Beschreibung siehe u.a. Fick, Monika: Lessing Handbuch: Leben-Werk-Wirkung.
              Stuttgart: J.B. Metzler, 2000. Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.)

                                                                                                                        10
Emilia Galotti

Lessing – der Journalist
Neben den philosophischen Texten und seinen Dramen wird gerne vergessen, dass Lessing
auch Journalist war. Er prägte eine Sparte, die bis heute in keiner Zeitung fehlen darf, das
Feuilleton. 1722 wird die ‚Berlinische Privilegierte Zeitung‘ (BPZ) gegründet, Lessing war für
den „Gelehrten Artikel“, den Rezensionsteil zuständig. Zudem führte Lessing einen weiteren
Rezensionsteil ein, „Das Neueste aus dem Reiche des Witzes“, das sowohl aus Rezensionen
von Veröffentlichungen aller Art, als auch aus eigenen Texten Lessings bestand.

Jakob Augstein berichtete in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ vom Journalisten Lessing.

Die gelehrten Sachen
Gottfried Ephraim Lessing: der erste Großkritiker der Presse
Von Jakob Augstein: Die gelehrten Sachen - Gottfried Ephraim Lessing: der erste Großkritiker der Presse /
Serie, Teil V. In: Süddeutsche Zeitung, 7. Januar 2003.
[…]
Einer seiner [Lessings] ersten Zeitungsartikel, den Gedichten von Johann Christoph Gott-
sched gewidmet, endet 1751 mit den Worten: „Diese Gedichte kosten in den Vossischen
Buchläden zwei Taler und vier Groschen. Mit zwei Talern bezahlt man das Lächerliche und mit
vier Groschen ungefähr das Nützliche.“
Das ist erstens immer noch ziemlich lustig, was ja etwas heißen will, weil nicht viele Witze 250
Jahre halten, und zweitens ist es für Lessings Modernität kennzeichnend, weil Gottsched sel-
ber die Kritik erst ein paar Jahrzehnte zuvor in Deutschland etabliert hatte, gleichsam wie ihr
Papst in Leipzig thronte und nun von seinem eigenen Epigonen rücksichtslos wegrasiert wur-
de. Gotthold Ephraim Lessing, geboren 1729 in Kamenz, Sachsen, gestorben 1781 in Berlin,
war nicht der erste, aber der erste vernichtende Kritiker deutscher Sprache.
[...]
Unter dem Dach des aufgeklärten Absolutismus wuchs eine autonome bürgerliche Sphäre
heran. Und die Menschen lernten das Lesen: Der Analphabetismus ging zurück, Bücher und
Zeitschriften wurden zur bürgerlichen Unterhaltung.
[...]
Eine Reihe junge Leute ist in den letzten 250 Jahren Journalist geworden, bevor sie später
was Anständiges gemacht haben. Lessing hat damit den Anfang gemacht. Von seinen Rezen-
sionen und Kritiken in der Vossischen Zeitung sind es 20 Jahre bis zur Hamburgischen Dra-
maturgie und 30 bis zum Nathan. Und als er 1748 bei seinem Vetter Mylius vorstellig wurde,
begründete er nebenbei eine Existenzform, die gerade für Berlin bis heute typisch ist: Die des
freischaffenden Schriftstellers und Journalisten.
Viel verdienen konnte man damit schon damals nicht - aber viel brauchte er auch nicht: „Was
tut mir das, ob ich in der Fülle lebe oder nicht, wenn ich nur lebe“, schrieb Lessing an seinen
Vater. Noch so ein Satz, der Goethe nicht eingefallen wäre.

                                                                                                                    11
Emilia Galotti

[...]
Als Lessing 1750 das Angebot bekam, so etwas wie der Chefredakteur der Berlinischen pri-
vilegierten Zeitung zu werden, lehnte er wegen der Zensur ab; er habe keine Lust, seine Zeit
„mit solchen politischen Kleinigkeiten zu verderben“.
Die Berlinische privilegierte erschien dreimal wöchentlich, dienstags, donnerstags und am
Samstag. 1751 wurde das Blatt nach einem Verlegerwechsel in Vossische Zeitung umbenannt
und hieß so bis zur letzten Ausgabe am 31. März 1934. Die Vossische hat einen guten Anteil
am Ruf Berlins als Zeitungsstadt.
Der Verleger und Buchhändler Johann Heinrich Voß fügte seiner Neuerwerbung schnell ein
Ressort hinzu, das er „Die gelehrten Sachen“ nannte, man würde heute sagen ein Feuilleton.
Aus dem bis dahin offiziösen Nachrichtenorgan für Staats- und Hofangelegenheiten wurde ein
„Intelligenzblatt“, mithin eine Art moderner Tageszeitung.
In erstaunlicher Parallele zu heutigen Verhältnissen bot das Feuilleton schon damals dem
abweichenden Denken mehr Raum als der politische Teil und darum wurde Lessing 1751 der
erste Feuilleton-Ressortleiter. Und weil er offenbar nicht nur ein begnadeter Kritiker war, son-
dern auch ein geschickter Blattmacher, erfand er eine neue monatliche Beilage: „Das Neueste
aus dem Reich des Witzes“.
In späteren Jahre legte sich Lessing ein Kürzel zu: „Fll“. Seine Opfer leiteten das von „Flegel“
ab, er selbst meinte das Lateinische „flagellum“, Geißel. Man ahnt schon, dass es kein Ver-
gnügen war, diesem Mann unter die Feder zu fallen.
Ein typischer Artikel Lessings begann etwa so: „Man dachte, die Hudemannische Muse wäre
gar vollends eingeschlafen. Aber sie hat sich noch einmal aufgerichtet, sich ausgedehnt und
gegähnet. Sie muss aber doch sehr schlaftrunken gewesen sein, weil sie gleich wieder einge-
schlafen ist.“ Wer dem Kritiker das Recht gibt, so mit dem Autor zu verfahren? Er sich selbst.
Nur geschundene Autoren können auf die Idee kommen, der Kritiker müsse sich rechtferti-
gen. Lessings Biograph Willi Jasper schreibt ein bisschen enttäuscht: „Ein neues Literatur-
programm hatte er nicht zu bieten...Er dachte und formulierte überspitzt, undogmatisch und
scharf - aber wenig programmatisch.“ Lessing hatte seinen Geschmack und sonst keine Maß-
stäbe. Auch da war er ein Heutiger.
Das Bemerkenswerte an Lessing ist, dass er seinen Ruhm trotz seiner Polemik und Kritik er-
rungen hat. Seine Landsleute konnten damit nämlich bald nicht mehr viel anfangen: Das deut-
sche Gemüt des 19. Jahrhunderts hatte es lieber waldig-raunend als spöttisch-schneidend.
Seinen Platz im Pantheon der Klassik erhielt Lessing als Trauerspieldichter der Emilia und als
Moral-Dramatiker des Nathan. Der andere Lessing, der eines Voltaire und Diderot würdig war,
den retuschierten die Deutschen lieber weg.
So wie 1929 jener Braunschweiger Mediziner, der die Ferndiagnose anstellt, Lessings wider-
sprüchlicher Charakter sei eine typische Eigenschaft des „cyklothymen Pyknikers“, und sol-
che Menschen neigten nun mal zu jener Krankheit, „die man als manisch-depressives Irresein
bezeichnet.“

                                                                                                   12
Emilia Galotti

Wahrheitssucher
Ein Wahrheitssucher wurde Lessing gern genannt, ein Wahrheitssucher allerdings, der seine
Aussagen nie als dogmatisch begriff, sondern der eine gewisse Skepsis gegenüber allem
bewahrte. Hannah Arendt erhielt am 28. September 1959 den Lessing-Preis der Freien und
Hansestadt Hamburg. In ihrer Rede sprach sie auch über Lessing:
     „Was Lessing betrifft, so hat ihn das gefreut, was die Philosophen seit eh und je [...] so be-
     kümmert hat, nämlich daß die Wahrheit, sobald sie geäußert wird, sich sofort in eine Meinung
     unter Meinungen verwandelt, bestritten wird, umformuliert, Gegenstand des Gesprächs ist
     wie andere Gegenstände auch. Nicht nur die Einsicht, daß es die eine Wahrheit innerhalb der
     Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, daß es sie nicht gibt und das unend-
     liche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen über-
     haupt gibt, kennzeichnet die Größe Lessings.“
                        Hannah Arendt: Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises
                                 der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1999

Der Lessing-Biograf Hugh Barr Nisbet hat sich die Mühe gemacht, einmal alle Betätigungs-
felder Lessings aufzuzählen, wie das folgende Zitat eindrücklich beweist:
     „Lessing war Dichter und Dramatiker, Literaturtheoretiker, Kritiker, Historiker der Literatur,
     Kunst und Religion, klassischer und mediävistischer Philologe, Paläograph, Bibliothekar und
     Archivar, Philosoph und Ästhetiker, gut informierter Amateur in Theologie und Patristik, Über-
     setzer aus mehreren Sprachen und außerordentlich produktiv als Rezensent und Herausge-
     ber. Zu den Literaturgattungen, in denen er sich auszeichnete, gehören die Ode, das Lied,
     das Lehrgedicht, die Verserzählung, das Epigramm, die Fabel, der Aphorismus, die Komödie
     und Tragödie, das Parabelstück, Dialog, Satire und Polemik; die einzigen seinerseits gängigen
     Gattungen, in denen er sich auffälligerweise nicht versuchte, waren der Roman und das Ver-
     sepos.“
                                         Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.

                                                                                                                  13
Emilia Galotti

Szenenfoto mit Hagen Löwe und Danielle Schneider

                                                                    14
Emilia Galotti

Die Galottis – Bürgertum oder Adel?

Obwohl Lessing seine Emilia Galotti nur mit „ein Trauerspiel“ untertitelte, wird das Stück mei-
stens als „bürgerliches Trauerspiel“ eingeordnet. Ein naheliegender Interpretationsansatz ist
daher immer der Konflikt zwischen Adel und Bürgertum. Tatsächlich wird die Bürgerlichkeit
der Familie Galotti in verschiedenen Interpretationen angezweifelt.

     „Ein verbreitetes Mißverständnis war es, besonders in den 1960er und 1970er Jahren, als
     marxistisches Gesellschaftsdenken weithin en vogue war, den Unterschied zwischen den bei-
     den Kreisen als Klassenunterschied zu verstehen, nämlich den von Mittelklasse oder Bürger-
     tum einerseits und Aristokratie andererseits. Mittlerweile herrscht jedoch Übereinstimmung
     darüber, daß die Galotti aus dem niederen Landadel stammen. Odoardo hat Grundbesitz und
     trat als solcher den territorialen Ambitionen des Prinzen öffentlich entgegen, was undenkbar
     wäre, wenn er nicht dem Adel angehörte, und wenn Lessing ihn als „Nicht-Adligen hätte
     darstellen wollen, hätte er ihn eindeutig als solchen gekennzeichnet, um der selbstverständ-
     lichen Annahme des Publikums zuvorzukommen, daß er ein Landadliger ist. Der entschei-
     dende Unterschied in Emilia Galotti ist nicht der von Klassen, sondern der von Herrschern
     und Untertanen, öffentlicher und privater Sphäre und vor allem von höfischer Gesellschaft
     und Familienleben im kleinen Kreis und den entsprechenden wechselseitig unvereinbaren
     Wertvorstellungen.“
                                     Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.

     „Schwieriger sind die Galotti zu bestimmen. Sind sie begüterte Bürger oder kleine Adlige?
     Oberst konnte man als Bürger so gut wie als Adliger werden – und es mutet wie eine absicht-
     liche Nichtfestlegung an, daß Lessing nur den militärischen, nicht den gesellschaftlichen Rang
     angibt. Auch daß Odoardo ein Landgut besitzt und sich darauf zur Ruhe gesetzt hat, definiert
     seine Standeszugehörigkeit nicht eindeutig. Der soziale Abstand zum Grafengeschlecht der
     Appiani ist beträchtlich. Appianis Verbindung Emilia, „ohne Vermögen und ohne Rang“, wird
     in Standeskreisen als „Mißbündnis“ angesehen (I, 6). Andererseits spricht der Prinz vom „Ge-
     schlecht“ der Galotti (I, 6), wird Claudia „Gnädige Frau“ tituliert (II, 8+9), das war normalerwei-
     se Adligen vorbehalten.“
                                     Gerhard Bauer: G.E. Lessing – „Emilia Galotti“. München: Wilhelm Fink, 1987.

Die Bezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“ hat folglich weniger mit dem Gegensatz Adel und
Bürgertum zu tun, vielmehr ist der Rückzug ins Private charakteristisch. Wie bereits erwähnt,
lag der Fokus in Tragödien lange auf dem höfischen Leben, das gleichzeitig auch immer ein
öffentliches Leben war. In Emilia Galotti fehlt jegliche politische Perspektive, der Fokus liegt
auf dem privaten Schicksal eines jungen Mädchens und ihrer Familie. Ob diese nun bürgerlich
sind oder nicht, spielt eine untergeordnete Rolle.

                                                                                                                    15
Emilia Galotti

Das Herzogtum Guastalla

Vielleicht ist Italien als Spielort der Emilia Galotti eine Anlehnung an die Verginia-Legende,
sicher ist aber, dass Lessing vermeiden wollte, einen direkten Zusammenhang zwischen sei-
nem Drama und der gegenwärtigen Situation im deutschen Staat herzustellen, um eventuelle
Zensur zu umgehen. Zumal Lessing zum Zeitpunkt der Premiere als Bibliothekar der her-
zoglichen Büchersammlung Angestellter des regierenden Herzogs Karl I. von Braunschweig-
Lüneburg war.
Mit der Verlegung nach Italien sollte nicht explizit auf dort herrschende Missstände aufmerk-
sam gemacht werden – vermutlich hätte die Geschichte überall seinen Lauf nehmen können.

II. Machtkampf, Pattgesetzt
Von Gerhard Bauer: G.E. Lessing – „Emilia Galotti“. München: Wilhelm Fink, 1987.

Der „Prinz“ – Lessing gebraucht das Wort im Sinne von ‚Fürst’ – ist eben als solcher eindeutig
bestimmt. Es ist einer der zahlreichen Gebieter von kleinen Fürstentümern, die die politische
Wirklichkeit zu Lessings Zeit dominierten. Es wird in einem real existierenden winzigen Her-
zogtum in Oberitalien angesiedelt. Das wirkliche Guastalla, eine Residenzstadt von 2000 –
4000 Seelen mit nur wenig umliegenden Gebieten, auf die sich die Herrschaft erstreckte, hatte
seine Bedeutung vor allem als Teil eines politischen Plurals. Es gehörte zu den Höfen und Fe-
stungen, die sich vom Kaiser oder von anderen, mächtigen Städten für Bündnisse gewinnen
ließen, meist gegen das bedrohliche, reiche Milano. (Seine lokale Bedeutung für die Sicherung
des fruchtbaren Landes gegen die Fluten des Po blieb im Drama außer Betracht). Lessings
„Prinz“ gehört einem Geschlecht an, das dort wirklich vom 16. Jahrhundert an regiert hatte
und Mitte des 18. Jahrhunderts ausgestorben war, einer Nebenlinie der berühmten Gonza-
ga, die in Mantua und weiteren Stadtgebieten (darunter Sabbioneta) herrschten. Die Guasal-
lischen Gonzaga galten als ziviler und weniger „brutal“ als die mächtigen Vettern in Mantua;
sie werden bis heute (oder heute wieder) von „ihrer“ Stadt hoch verehrt. Lessing erteilt seinem
Helden einen Vornamen (Hettore), der gut italienisch klingt, doch in dieser Familie nicht vorge-
kommen war, die italienische Form von Hektor, dem Helden des alten Troja, von dem die gan-
ze Tradition von Homer bis auf Lessings Zeiten nur Positives zu berichten wußte. Mit diesen
halb realen, halb fiktiven Festlegungen war das Spielgeschehen hinreichend bestimmt und
genügend allgemein und vage gehalten. Die gegenwärtige Obrigkeit wurde nicht mit der Nase
darauf gestoßen, daß sie selbst gemeint sein könnte, und das Publikum konnte sich seinen
Teil denken. Lessings gebildete Zeitgenossen waren es gewohnt, ihre Verhältnisse in fremden
Ländern, auch in weit exotischeren als Italien, gezeichnet zu finden. Die leisen Anklänge an
die Renaissance und die Verwendung eines Familiennamens, den es nicht mehr gab, ließen
kaum an vergangene Zeiten denken. Dazu waren die dargestellten Zustände, die Form der
Konflikte und ihre Austragung, die Denk- und Sprechweise viel zu gegenwärtig. Lessing stellt
ein Exemplar des Herrschers auf die Bühne, wie dieser damals prinzipiell, seiner gesellschaft-
                                                                                                    16
Emilia Galotti

lichen Funktion nach beschaffen war, wie er in Italien ebenso vorkam wie in Deutschland. Viele
Leser und Zuschauer aus den verschiedensten Fürstentümern des Reiches (nicht einmal die
Stadtstaaten ausgenommen) reagierten auf die Darstellung so, als sei ihnen dieser Typ aus
ihren eigenen spezifischen Erfahrungen bestens bekannt.

                                                                                                 17
Emilia Galotti

Historische Vorgängerinnen Emilias

Verginia
Der römische Geschichtsschreiber Livius berichtet über die Legende der Plebejerin Verginia,
die von ihrem Vater ermordet wurde. Grund war die Behauptung des römischen Decemvirs
Appius Claudius, Verginia sei in Wirklichkeit die Tochter einer Sklavin. Die Decemviri war eine
Kommission aus zehn Männern, die die Aufgabe hatten mündlich überlieferte Gesetzestexte
in Schriftform zu bringen. Wäre der Behauptung Glauben geschenkt worden, hätte Verginia
nicht nur ihre Ehre, sondern vielmehr auch ihre Bürgerrechte verloren, so dass der Vater nur
den Tod seiner Tochter als Ausweg sah. Der Fall hatte den Sturz der Decimviri und im Zuge
dessen die Wiedereinführung der Republik zur Folge.
Verginia verkörperte lange das Ideal der sittsamen Frau. Zahlreichen Autoren diente die Le-
gende der Verginia als Vorlage für Dramen und auch Lessing beschäftigte sich ausführlich
damit.
In einem Brief an Friedrich Nicolai schrieb Lessing:
     „Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Verginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er
     hat nemlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für
     den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die
     von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihrer Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon
     tragisch genug, und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein
     Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte. [...]“
                              zitiert nach Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.

Lessing wollte mit Emilia Galotti eine moderne, bürgerliche Verginia schaffen, dabei aber eine
politische Dimension zu Gunsten des Privaten vermeiden. Indem er auf den Staatsstreich
verzichtete, richtete er die volle Konzentration auf das Schicksal der Figuren, ganz im Sinne
seines 14. Briefes der Hamburgischen Dramaturgie.
     „Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber
     zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen
     am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn
     wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als
     mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht
     interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie
     erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere
     Empfindungen.“
                        Projekt Gutenberg: Gotthold Ephraim Lessing – Hamburgische Dramaturgie, 14. Brief, 1767

                                                                                                                    18
Emilia Galotti

Römische Geschichte
Kapitel 44 – 48 (in Auszügen)
Von Titus Livius: Römische Geschichte übersetzt von Konrad Heusinger, Bd. 1. Braunschweig, Vieweg, 1821.

Dem Appius Claudius gab die Liebe zu einer Jungfrau vom bürgerlichen Stande den Ent-
schluß, sie zu entehren. Ihr Vater Lucius Virginius stand bei dem Heere im Algidus als einer der
Hauptleute vom höhern Range; zu Hause und im Felde ein musterhafter Mann. Eben so war
seine Frau erzogen, und so erzogen sie auch ihre Kinder. Die Tochter hatte er dem gewesenen
Tribun, Lucius Icilius, verlobt, einem unternehmenden Manne und um die Partei der Bürger-
lichen von bewährtem Verdienste. Als Appius, der vor Liebe glühend dies erwachsene, au-
ßerordentlich schöne, Mädchen durch Geschenke und Versprechungen zu verführen suchte,
jeden Zugang durch Keuschheit versperrt sah, so entschloß er sich zu einer grausamen, alles
niedertretenden Gewaltthat. Seinem Schützlinge, Marcus Claudius, gab er den Auftrag, sich
des Mädchens als seiner Sklavinn zu versichern und nicht nachzugeben, wenn man bis zur
Entscheidung ihrer Freiheit Aufschub fordere: da die Abwesenheit des Vaters, wie er hoffte,
seine Ungerechtigkeit begünstigte. Als das Mädchen auf den Markt kam – denn dort standen
unter den Krambuden auch Schulstuben – legte der Kuppler des Decemvirs, indem er sie als
seine Sklavinn anredete, da sie eine Tochter seiner Sklavinn sei, Hand an sie, und befahl ihr,
ihm zu folgen; im Weigerungsfalle werde er sie mit Gewalt fortführen. Während das Mädchen
vor Schrecken starrte, entstand auf das Geschrei ihrer Amme, welche nach Hülfe rief, ein Auf-
lauf. Ihres Vaters Virginius, ihres Bräutigams Icilius beliebter Name wurde laut genannt. Alle,
die sie kannten, machte das Wohlwollen für jene, und den Haufen der Unwille zu Freunden
des Mädchens. Schon war sie vor Gewalt sicher, als der Kläger anfing: „Das zusammengelau-
fene Volk sei hier ganz unnöthig. Er verfahre nach Recht, nicht mit Gewalt.“ – Er forderte das
Mädchen vor Gericht. Da selbst die, welche sich ihrer annahmen, ihr riethen, mitzugehen, so
kam man vor des Appius Richterstuhl.
Der Kläger sagte seine dem Richter, als Erfinder des Stücks, bekannte Rolle auf. „Diese in
seinem Hause geborene, ihm gestohlne und dem Virginius ins Haus gebrachte Sklavinn, sei
diesem als Kind untergeschoben. [...]“
47. In der Stadt geleitete am frühen Morgen, als die Bürger von Erwartung gespannt schon auf
dem Markte standen, Virginius im Anzuge eines Beklagten, seine Tochter, ebenfalls in veral-
tetem Kleide, auf den Markt, mit einem Gefolge von mehreren Frauen und vielen Hülfswilligen.
[...]
Gegen dies Alles verhärtet bestieg Appius (so sehr hatte – die Tollheit, möchte man eher
sagen, als – die Liebe, seinen Verstand verrückt) den Richterstuhl; und da der Kläger ganz
kurz sich sogar beschwerte, daß man ihm gestern, um sich gefällig zu machen, sein Recht
vorenthalten habe, so nahm schon, ohne jenen sein Gesuch zu Ende bringen zu lassen, oder
dem Virginius Zeit zur Gegenrede zu gestatten, Appius das Wort. Es kann sein, daß uns ältere
Geschichtschreiber die Erörterung, die er seinem Ausspruche zum Gewande gab, der Wahr-
heit gemäß überliefert haben. Weil ich aber nirgend eine finde, die einem so abscheulichen
Spruche nur eine erträgliche Wahrscheinlichkeit gäbe, so wird es am Besten sein, das, worin
alle übereinkommen, ohne Hülle darzulegen, daß er dem Kläger das Recht zugesprochen
habe, sich seiner Sklavinn zu bemächtigen.

                                                                                                                19
Emilia Galotti

Anfangs waren Alle vor Staunen über das Unbegreifliche einer solchen Scheußlichkeit erstar-
ret, und es erfolgte eine tiefe Stille. Als aber Marcus Claudius hinging, das von Frauen um-
ringte Mädchen zu greifen und mit einem kläglichen Geheule der Weiber empfangen wurde,
so rief Virginius mit gegen den Appius emporgestreckten Händen: „Appius! dem Icilius habe
ich meine Tochter versprochen, nicht dir! und erzogen habe ich sie zur Ehe, nicht zur Schän-
dung! Machst du das zur Sitte, daß man wie das Vieh, wie das Wild, über Alles, was weiblich
ist, wollüstig herfällt? Ob man dir das hier gestatten werde, weiß ich nicht; doch hoffe ich, daß
es die nicht dulden sollen, welche Waffen in den Handen haben.“ Während den verfolgenden
Kläger der Haufe von Weibern und umherstehenden Freunden zurückstieß, ward durch den
Herold Stille geboten.
48. Der Decemvir, außer für die Eingebungen der Wollust, taub gegen Alles, fing an: „Nicht
bloß durch das gestrige Widerbellen des Icilius, nicht bloß durch den Ungestüm des Virginius,
worüber er jetzt das Römische Volk zu Zeugen nehme, sondern durch zuverlässige Aussa-
gen habe er in Erfahrung gebracht, daß sich während der ganzen Nacht Rotten in der Stadt
zusammengethan hätten, um Aufruhr zu erregen. Auf diesen Kampf gefaßt habe er sich mit
Bewaffneten eingefunden; nicht, um irgend Einem der ruhigen Bürger wehe zu thun, sondern
um die Störer der öffentlichen Ruhe der Würde seines Oberbefehls gemäß zu beschränken.
Also rathe ich euch,“ – so fuhr er fort – „ruhig zu sein! Dorthin, Lictor! schlag den Haufen aus
einander und schaffe Platz, daß der Eigenthümer seine Sklavinn greifen kann!“
Als er diese Worte in vollem Zorne herabgedonnert hatte, trat die Menge von selbst aus einan-
der; und das Mädchen stand verlassen da, der Mishandlung zum Raube. Da sprach Virginius,
wie er nirgend Hülfe sah: „Ich bitte dich, Appius, zuerst dem väterlichen Schmerze zu verzei-
hen, wenn ich mich zu hart gegen dich herausgelassen habe: dann aber erlaube mir, hier im
Angesichte des Mädchens die Amme zu befragen, wie die Sache möglich sei; damit ich, wenn
ich mit Unrecht Vater geheißen habe, so viel eher beruhigt hier abtreten kann.“ Auf erhaltene
Erlaubniß führte er Tochter und Amme auf die Seite, neben dem Tempel der Cloacina zu den
Krambuden, die jetzt die Neuen heißen, und da er hier bei einem Fleischer ein Messer wegriß,
sprach er: „Kind, dies einzige Mittel blieb mir, deine Freiheit zu retten.“ Dann durchstach er
dem Mädchen die Brust und rief, zum Richterstuhle hinaufblickend: „Auf dich, Appius, und
dein Haupt lade ich den Fluch dieses Blutes!“ Appius, durch das über die schreckliche That
erhobene Geschrei aufgeregt, gab Befehl, den Virginius zu greifen. Er aber bahnte sich, wo er
ging, mit dem Messer den Weg, bis er, selbst von der nacheilenden Menge gedeckt, das Thor
erreichte.
Icilius und Numitorius, die den entseelten Körper aufnahmen, zeigten ihn dem Volke und
machten unter Thränen die Gräuelthat des Appius, die unglückliche Schönheit des Mädchens,
die dem Vater gebietende Noth zum Vorwurfe ihrer Klagen. Die Frauen zogen hinterher und
schrieen: „Dazu also sollten sie Kinder gebären? dies sei der Keuschheit Lohn?“ und mehr
dergleichen, wie es ihnen in solchen Fällen der weibliche Schmerz, je inniger er bei ihrem
weicheren Herzen ist, zu so viel rührenderen Klagen eingiebt. Desto lauter war das Geschrei
der Männer, besonders des Icilius, über die dem Volke entrissene tribunicische Macht und
Ansprache, und ihr Unwille über die Lage des Staats.


                                                                                                    20
Emilia Galotti

Lucretia
Während der Vorbereitungen und Proben beschäftigte sich das Team mit der Legende der
Lucretia, die sich im 6. Jahrhundert vor Christus zugetragen haben soll.
Lucretia wurde von Sextus Tarquinius, einem Verwandten ihres Mannes, vergewaltigt. Nach-
dem sie ihrem Mann und ihrem Vater von der Tat berichtete und diese ihr glaubten und ver-
ziehen, erstach sie sich selbst, da ihre Geschichte nicht zur Ausrede untreuer Frauen werden
sollte. Die Auswirkung dieser Tat war ein Aufstand des Volkes und die Stürzung des beste-
henden Regimes.
Der folgende Text stellt Bezüge zwischen der Legende und der heutigen Zeit her.

Über die Entstehung der res publica aus dem Geist der Empörung
                                                        Von Peter Sloterdijk in: Kunstforum Internatio-
                                                        nal, Band 212, 2011.

                                                        Abb. 1: TIZIAN, Tarquinius und Lucretia,
                                                        1568 – 1571, Öl auf Leinwand, 189 × 145 cm.

                                                                                                          21
Emilia Galotti

[...]
Wer Rom erwähnt, sagt zugleich res publica, und wer von dieser spricht, sollte nicht ver-
säumen, nach dem Geheimnis ihrer Anfänge zu fragen. Versuchen wir also zu erklären, wie
es kam, dass die exemplarische "öffentliche Sache" Alteuropas mit einem bedenkenswerten
Affektsturm begann: Der Sohn des letzten römisch-etruskischen Königs, Tarquinius Superbus
junior, war auf die Reize einer jungen römischen Matrone namens Lucretia aufmerksam ge-
worden, nachdem er durch die Prahlereien ihres Gatten Collatinus von deren Schönheit und
Sittsamkeit erfahren hatte. Offensichtlich wollte er nicht hinnehmen, dass ein Untergebener
erotisch glücklicher sein sollte als er selbst, der Spross aus königlichem Haus.
Der Rest ist dank Livius Weltgeschichte und dank Shakespeare Weltliteratur: Der junge Tarqui-
nius dringt in Lucretias römische Wohnung ein und nötigt sie durch eine infame Erpressung,
in ihre Vergewaltigung einzuwilligen (Abb. 1). Nach der erlittenen Entehrung ruft die junge
Frau ihre Verwandten zusammen, berichtet ihnen von den Vorfällen und erdolcht sich vor den
Augen der Versammelten (Abb. 3 bis 6). Eine beispiellose Welle der Erschütterung verwandelt
nun das harmlose Hirten- und Bauernvolk der Römer in eine revolutionäre Menge. Tarquinius
Superbus wird vertrieben, die etruskische Vorherrschaft ist für immer beendet (Abb. 2).
Nie wieder werden Hochmütige an der Spitze des Gemeinwesens geduldet sein. Der Name
des Königs wird für alle Zeiten geächtet – nicht nur ad personam, sondern im Hinblick auf die
monarchische Funktion als solche.
Aus der Konvulsion der Bürger erwächst eine folgenschwere Idee: Die Gemeinwesenlenkung
wird künftig allein von Römern ausgeübt werden, sie wird pragmatisch und profan erfolgen.
Zwei Konsuln halten sich gegenseitig in Schach, ihre jährliche Neuwahl beugt jeder erneuten
Verwechslung von Amt und Person vor. Der religiöse Überbau implodiert, bis auf die Staats-
orakel, ohne dies es auch in der Republik nicht geht; für immer bleibt die königliche Superbia
verbannt. Die produktiven Energien des Hochmuts werden auf das Format des Strebens nach
Ansehen durch Vortrefflichkeit zurückgeschraubt, wie in Meritokratien üblich.
[...]
Eine bedeutsame Information sollte der heutige Leser dieser Geschichte festhalten: Die Lu-
cretia-Legende handelt von der Geburt der res publica aus dem Geist der Empörung. Was
man später Öffentlichkeit nennen wird, ist anfangs ein Epiphänomen des Bürgerzorns. Aus
dem Unmut der zusammenströmenden Menge bildete sich das erste Forum. Die erste Tages-
ordnung umfasste nur einen einzigen Punkt: die Zurückweisung einer herrscherlichen Infamie.
Aus ihrer synchronen Erregung über den zügellosen Hochmut der Machthaber lernten die
einfachen Leute, dass sie von nun an Bürger heißen wollen. Der consensus, mit dem alles
anfängt, was wir bis heute öffentliches Leben nennen, war die zivile Einmütigkeit hinsichtlich
eines unerträglichen Affronts gegen die ungeschriebenen Gesetze des Anstands und des Her-
zens.
[...]

                                                                                                 22
Emilia Galotti

Empörter Bürger trägt seine Dissidenz auf öffentliche Plätze

                                                               Abb. 8: Deutsche Lucretia (II):
                                                               Ein Polizeibeamter stoppt eine
                                                               als Clown verkleidete Anti-
                                                               AKW-Aktivistin Foto: ddp

                                                               Abb. 10: Deutsche Lucretia (IV):
                                                               Eine "Stuttgart 21"-
                                                               Demonstrantin flüchtet vor dem
                                                               Strahl eines Wasserwerfers.
                                                               In einer Sitzblockade versuchen
                                                               die Demonstranten sein Vorrü-
                                                               cken zu verhindern.
                                                               Foto: Uwe Anspach, dpa

                                                                                                  23
Emilia Galotti

                                                                    Foto: https://astrologieklassisch.
                                                                    wordpress.com/2010/10/07/
                                                                    warnung-an-den-spin-doctor-
                                                                    den-stuttgart-einstellt-wegen-
                                                                    stuttgart-21/

Bürgerausschaltung mittels Resignation als Spiel mit dem Feuer
Wer versucht, inmitten der Polemiken Beobachterruhe zu wahren, gewinnt ein Bild, das die
verschiedenen Konfliktherde zu einer kohärenten Szene zusammenzieht: Auf breiter Front
sieht man dieselben Bunkerreflexe gegen die Störung der Routinen, dasselbe Ausweichen ins
Mobbing gegen die Träger „unerwünschter Meinungen", dasselbe Unbehagen an der Worter-
greifung der Unberufenen, dieselbe Verwechslung von Verstopfung mit Charakterfestigkeit.
Über so viel eingehauste Dumpfheit kann nur eine genauere Analyse des politischen Systems
und seiner Paradoxien hinausführen. Diese würde beginnen mit der Erklärung, warum die
moderne repräsentative Demokratie in der Regel außerstande ist, zu bewirken, was den Cae-
saren noch scheinbar spielend gelang: Diese waren jahrhundertelang imstande, den syste-
mischen Imperativ der postrepublikanischen Bürgerausschaltung mit dem psychopolitischen
Imperativ der thymotischen Bürgerbefriedigung zu verbinden. Die Modernen scheitern an die-
ser Aufgabe, seit ihnen die Ausflucht in die nationale Selbstüberhöhung nicht mehr so leicht
fällt wie vor hundert Jahren. Daher stehen ihnen nur zwei Auswege offen, von denen einer
ökonomisch ruinös, der andere psychopolitisch unberechenbar ist: die Bürgerausschaltung
durch Stillhalteprämien und die Bürgerlähmung durch Resignation.
Wie Prämien funktionieren, weiß jeder, der die aktuellen Debatten über den Alimentenstaat
beobachtet. Auch wie die Resignation erzielt wird, ist kein Geheimnis. Diese gleicht oberfläch-
lich der Zufriedenheit unter einer guten Regierung. Sie unterscheidet sich von ihr durch die
mutlos grollende Stimmung, nach deren Urteil die da oben im Grunde doch alle gleich sind.
In solchem Klima können Wahlbeteiligungen, wie in den USA üblich, auf unter 50% absinken,
ohne dass die politische Klasse Grund sähe, sich zu beunruhigen.
Bürgerausschaltung mittels Resignation ist ein Spiel mit dem Feuer, da sie jederzeit in ihr
Gegenteil, die offene Empörung und den manifesten Bürgerzorn umschlagen kann. Hat der
Zorn erst einmal sein Thema gefunden, lässt er sich nicht mehr leicht davon ablenken. Für die

                                                                                                         24
Emilia Galotti

politische Klasse kommt die Erschwerung hinzu, dass die moderne Bürgerausschaltung sich
als „Einbeziehung" des Bürgers präsentieren will. Dessen Entpolitisierung muss mit so viel
restlicher Politisierung verbunden bleiben, wie zur Selbstreproduktion des politischen Appa-
rats nötig ist.

Die Steuerbürger in der Position von ewigen Schuldnern
In keiner Hinsicht sind die Bürger unserer Hemisphäre so ausgeschaltet wie in ihrer Eigen-
schaft als Steuerzahler. Es ist dem modernen Staat gelungen, seine Angehörigen im Moment
ihrer materiellsten Zuwendung zum Gemeinwesen, im Augenblick ihres Einzahlens in die ge-
meinsame Kasse, die passivste Rolle aufzudrängen, die er zu vergeben hat: Statt die Geber-
qualität der Zahlenden zu hervorzuheben und den Gabe-Charakter von Steuern respektvoll
zu betonen, belasten die modernen Fiskalstaaten ihre Steuerzahler mit der entwürdigenden
Fiktion, sie hätten bei der öffentlichen Kasse massive Schulden, so hohe Schulden, dass sie
dieselben nur in lebenslangen Raten tilgen können. Im Zentrum des modernen Bürgeraus-
schaltungsgeschehens findet man ein psychopolitisch völlig falsch konstruiertes Steuerwe-
sen. Es raubt den steueraktiven Bürgern den Stolz und drängt sie in die Position von ewigen
Schuldnern des Leviathans. Je leistungsfähiger sie sich zeigen, desto tiefer stehen sie in der
Kreide, je mehr sie zu geben haben, desto mehr sind sie im Minus.
Im übrigen werden die Steuerbürger neuerdings nicht nur im Augenblick ihres Einzahlens in
die Gemeinschaftskasse zur Passivität verdammt, sie erleiden eine Passivität zweiten Grades,
seitdem der Staat sie hinterrücks an die Galeere der öffentlichen Schulden gefesselt hat.
Ohne zu begreifen, wie ihnen geschah, sehen sich die Gebenden in eine Schicksalsgemein-
schaft neuen Typs verstrickt. Sie bilden ab sofort eine Kollektivschuldgruppe, die morgen und
bis zu ihrem letzten Atemzug für das bezahlen werden, was die Bürgerausschalter von heute
ihnen aufbürden.
Man sage nicht, die heutige Politik habe keine Visionen mehr. Noch gibt es eine Utopie für un-
ser Gemeinwesen. Wenn das Glück auf unserer Seite ist und alle alles tun, was in ihrer Macht
steht, gelingt am Ende sogar das Unmögliche, die Staatsbankrottvermeidung. Sie ist von nun
an der rote Stern am Abendhimmel der Demokratie.

Durch Zorn entstehen neue Architekturen politischer Teilhabe
Unzählige Kommentare haben seit der 2008 aufgebrochenen Finanzkrise die Gefährlichkeit
der Spekulation an den Finanzmärkten beschworen. Von der gefährlichsten der Spekulationen
war nie die Rede: Die meisten heutigen Staaten spekulieren, durch keine Krise belehrt, auf
die Passivität der Bürger. Westliche Regierungen wetten darauf, dass ihre Bürger weiter in die
Unterhaltung ausweichen werden; die östlichen wetten auf die unverwüstliche Wirksamkeit
offener Repression. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, in welchem Maß die Zukunft
vom Wettbewerb zwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen Modus der Bür-
gerausschaltung bestimmt sein wird. Beide Verfahren gehen davon aus, man könne das Auf-
klärungsgebot der Repräsentation von positivem Bürgerwillen und gutem Bürgerwissen im
Regierungshandeln umgehen, indem man weiter mit hoher Bürgerpassivität rechnet.
                                                                                                 25
Sie können auch lesen