Emilia Galotti Ein Trauerspiel 14 +
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Emilia Galotti Ein Trauerspiel Gotthold Ephraim Lessing 14 + B E G L E I T M AT E R I A L Z U M S T Ü C K
Emilia Galotti Es spielen: Anton Berman Camillo Rota / Pirro / Angelo / Battista / Pianist Katrin Heinrich Emilia Galotti Niels Heuser Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla Hagen Löwe Odoardo Galotti, Vater der Emilia Thomas Pasieka Graf Appiani Franziska Ritter Klaudia Galotti, Mutter der Emilia Andrej von Sallwitz Marinelli, Kammerherr des Prinzen Danielle Schneider Gräfin Orsina Regie: Sascha Bunge Bühne + Kostüme: Angelika Wedde Komposition + Musik: Anton Ber- man Dramaturgie + Theaterpädagogik: Stephan Behrmann Licht: Rainer Pagel Ton + Vi- deotechnik: Sebastian Köster Regieassistenz: Susann Ebert, Johanna Thomas Inspizienz: Anne Richter / Anita Stenzel Soufflage: Jutta Rutz Technischer Direktor: Eddi Damer Büh- nenmeister: Henning Beckmann Maske: Karla Steudel Requisite: Jens Blau Ankleiderei: Bir- git Wilde, Lotta Hackbeil Kostümassistenz: Clemens Leander Dramaturgiehospitanz: Marit Buchmeier Herstellung der Dekoration: Werkstätten des Bühnenservice der Stiftung Oper in Berlin unter der Leitung von Jörg Heinemann Herstellung der Kostüme: Firma Gewänder Maren Fink-Wegner Premiere: 8. März 2012 im Rahmen von TUGEND, EHRE – SOLL & HABEN EMILIA. MINNA. LESSING. EIN SPEKTAKEL Bühne 1 ca. 90 Minuten Die Aufführungsrechte liegen bei dem THEATER AN DER PARKAUE. Premierenklasse: Profilkurs 1 Deutsch JG 11 der Carl-von-Ossietzky-Oberschule, Berlin-Kreuzberg 2
Emilia Galotti Inhalt Vorbemerkung 5 Zugänge zur Inszenierung 6 Lessing – ein biografischer Querschnitt 8 Die Galottis – Bürgertum oder Adel? 15 Das Herzogtum Guastalla 16 Historische Vorgängerinnen Emilias 18 Titus Livius: Verginia 18 Peter Sloterdijk: Über die Entstehung der res publica aus dem Geist der Empörung 21 Emilias Tod und das Trauerspiel 27 Hugh Barr Nisbet über Emilias Tod 27 Joseph Vogl und Alexander Kluge: Die Fähigkeit zu Trauern 29 Anregungen für den Unterricht I 31 Männer und Macht 34 Johann van der Dennen: Sex und Autorität 34 Anregungen für den Unterricht II 36 Literatur 40 Hinweise für den Theaterbesuch 41 Impressum 42 3
Emilia Galotti Vorbemerkung Mit seinen dramatischen Texten und kritischen Essays prägte Lessing die deutsche Literatur nachhaltig und wurde zum Vorbild vieler nachfolgender Schriftsteller. Der Toleranzgedanke, den Lessing in vielen seiner Schriften vertritt, macht ihn für alle Zeiten relevant. So ist Lessing auch der einzige deutsche Autor der seit Lebzeiten durchgehend in den Spielplänen der The- ater vertreten ist. Das Trauerspiel Emilia Galotti gehört zu den bekanntesten Theaterstücken Lessings. Es er- zählt vom Dilemma eines jungen Mädchens, das sich zwei rigiden Systemen gegenübersieht. Auf der einen Seite der Adel mit dem Anspruch alles besitzen und benutzen zu können, auf der anderen Seite ihre Familie, allen voran Odoardo, Emilias Vater, der von seinem Ehrgefühl getrieben ist. Emilia ist dazwischen nur ein „Rohstoff“, der beliebig herumgereicht, gehandelt und benutzt werden kann. Gleichzeitig durchlebt Emilia eine unbekannte, eine extreme Gefühlssituation. Geprägt durch einen starren Ehrbegriff und die religiöse Erziehung ist Emilia gegen körperliche Annähe- rung nicht gewappnet. Lust und Sexualität sind vollkommen fremde Dinge. Die Avancen des Prinzen prallen an Emilia aber nicht spurlos ab. Ekel und Widerwillen stehen Faszination und Anziehungskraft gegenüber. Als Theater liegt unseren Auftrag in der Heranführung Kinder und Jugendlicher an das Format Theater. Inszenierung sind immer Interpretationen eines Stoffes. Mit jeder Inszenierung entsteht ein neues Kunstwerk mit eigener Lesart und eigener Gesetzmäßigkeit, das wiederum die Thea- terzuschauer zu eigenen Deutungen und Sichtweisen einlädt. Großes Gewicht liegt, gerade auch bei den beiden Stücken Lessings, auf der Erschließung des Materials aus heutiger Perspektive. Das vorliegende Begleitmaterial zur Inszenierung Emilia Galotti richtet sich an Lehrer, die mit ihren Schülern eine Vorstellung besuchen und diese vor- oder nachbereiten möchten. Es be- schäftigt sich mit dem Autor G.E. Lessing, sowie den Hintergründen von Emilia Galotti und den thematischen Schwerpunkten der Inszenierung. In einem gesonderten Kapitel finden Sie Anregungen für den Unterricht in Form verschiedener Projekte, die sich mit Text und Inszenie- rung beschäftigen. Wenn Sie Fragen zum theaterpädagogischen Begleitmaterial oder zur Inszenierung Emilia Ga- lotti haben oder wenn Sie Ihre Kritik und Anmerkungen mitteilen möchten, können Sie sich gerne mit dem betreuenden Dramaturgen Stephan Behrmann in Verbindung setzen. Ich wünsche Ihnen und Ihren Schülern einen anregenden Theaterbesuch und interessante Diskussionen danach. Marit Buchmeier Betreuender Dramaturg und Theaterpädagoge: Stephan Behrmann Tel: 030 – 55 77 52 -45 / E-Mail: stephan.behrmann@parkaue.de 5
Emilia Galotti Zugänge zur Inszenierung „In der ‚Emilia Galotti’ wird die Schuld nicht bestraft und die Unschuld stirbt ungesühnt. [...] Emilia war doppelt bedroht, von fremder Gewalt und von ihren eigenen Sinnen. Das macht den Verlauf noch trauriger für die bürgerliche Ehre. Ihr Tod von der Hand des Vaters war eine Tat der Verzweiflung, mit tragischer Schuld hatte er wenig zu tun. Dafür war er wahr. So sahen die bürgerlichen Trauerspiele im Leben aus.“ Heinrich Mann Emilia Galotti ist geprägt von zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Die des Hofes und die der Familie, in der Emilia aufwächst. Prinz Hettore von Gonzaga ist gelangweilt vom Leben und den Gepflogenheiten am Hofe. Sich seiner Macht aber wohl bewusst, nutzt er die Privilegien seines Status. Er betrachtet sein Umfeld als sein Eigentum und missbraucht seine Macht, um sich selbst den größtmöglichen Vorteil zu verschaffen, sei dies politisch oder privat. Emilia hat ab dem Moment, ab dem der Prinz ein Auge auf sie geworfen hat, keine Chance mehr zu entkommen. Um sein Opfer zu erlegen, ist dem Prinzen jedes Mittel recht, aufzugeben kommt nicht in Frage. Dafür lässt er Staatsgeschäfte schleifen, vergisst alles andere. Er hüpft, tanzt, rennt durch seine Welt, in der er immer wieder neue Dinge für sich entdeckt, um sie wieder fallen zu lassen und zu verges- sen. Unterstützt wird er von seinen, ihn umgebenden, Dienern und Beratern, allen voran seinem Kammerherren Marinelli. Ein Intrigant, der scheinbar ohne Moral daran arbeitet, die Macht des Prinzen und damit auch seine eigene Macht zu erweitern. Die Figur des Prinzen lässt Parallelen zu Geschehnissen von heute zu. Beispiele sind die Fälle Dominique Strauss-Kahn oder Christian Wulff. Der Skandal um den ehemaligen Bundespräsi- denten Christian Wulff fiel in die Probenzeit. Ein Mann, der jegliche Maßstäbe aus den Augen verloren und der bis zum Ende nicht eingesehen hat, etwas falsch gemacht zu haben. Wulffs Sprecher und „Einflüsterer“ Olaf Glaeseker mutet dabei wie ein moderner Marinelli an. Dem Hof gegenüber steht Emilias Elternhaus, das sich in zwei Lager teilt. Auf der einen Seite die Mutter, Klaudia, die mit Emilia in der Stadt lebt und danach strebt ihre Tochter in die Hof- gesellschaft einzuführen. Dies gelingt ihr durch Emilias Verlobung mit Graf Appiani. Der Vater Odoardo wiederum lebt auf dem Land, verweigert sich der direkten Konfrontation mit dem korrupten Hofmilieu und kann es nicht abwarten, nach der Hochzeit der Stadt und dem Hof den Rücken zu kehren. Ist Emilia alleine mit der Mutter, darf sie sich frei und selbstständig bewegen, sie feiert Feste wie das bei Kanzler Grimaldi, schließt Bekanntschaften am Hof, lernt das lasterhafte höfische Leben kennen. Im Gegensatz dazu steht die streng religiöse, mora- lische Erziehung des Vaters. Die beiden Parteien reichen Emilia herum, entscheiden und beraten über sie, sie wird zum Rohstoff, der gehandelt werden darf. Das Wissen, dass ihr Meinung und ihre Taten kaum Kon- sequenzen haben, lässt sie nüchtern, fast kalt erscheinen. 6
Emilia Galotti Durch die Avancen des Prinzen wird Emilias Neugier geweckt. Diese aufkommenden Gefühle machen ihr aber Angst. Der Konflikt Emilias spielt in der Inszenierung eine große Rolle. Das Zusammentreffen zwischen Emilia und dem Prinzen in der Kirche wird von Lessing nur indirekt erzählt – indem Emilia ihrer Mutter und der Prinz Marinelli davon berichten. Dieses Treffen ist einer der Ausgangspunkte für alle weiteren Geschehnisse. Emilia erfährt vom Interesse des Prinzen an ihrer Person und an ihrem Körper. An dieser Stelle beginnt ihr moralisches Dilem- ma, Ekel und Faszination erwachen gleichermaßen. Sie bekommt eine Vorstellung davon, wie Leidenschaft aussieht, etwas, dass sie mit ihrem Verlobten Graf Appiani noch nicht erlebt hat. In Emilias Beziehung zu Graf Appiani spielt körperliche Anziehung eine untergeordnete Rolle. Ihre Begegnung am Tag der Hochzeit ist von Emilias Hin- und Hergerissenheit geprägt. Ein Wechselspiel von Annäherung an ihren zukünftigen Ehemann und Abweisung wegen un- gerechtfertigter Schuldgefühle, die aus der Begegnung mit dem Prinzen resultieren. Sascha Bunge erfand daher diese Szene, seine Inszenierung beginnt mit den Geschehnissen in der Kirche. Auch die Bühne spielt mit diesen Ebenen, indem sie sich immer weiter öffnet. In der Kirchen- szene wird Emilia zwischen Vorhang und Prinz und dem Publikum förmlich eingequetscht. Im Vergleich dazu weitet sich der Raum mit den Ortswechseln vom intimen, privaten Elternhaus bis hin zum Lustschloss, einem öffentlichem, politischen Raum und Spielplatz des Prinzen. Der Pianist ist nahezu immer auf der Bühne, reagiert mit seiner Musik auf das Geschehen oder die Zurufe der Schauspieler und kreiert so eine Klangatmosphäre durch die ganze Inszenie- rung. Er übernimmt die Rollen der Diener und Berater vom Prinzen, von Marinelli und Odoar- do, die im Laufe des Geschehens die Zuspieler und Ausführer von Befehlen sind. Der Lessing Biograf Hugh Barr Nisbet bietet eine gute Zusammenfassung der widersprüch- lichen Charaktere: „Sie [die Figuren] sind alle labil, hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen Impulsen – der Prinz zwischen Leidenschaft und Pflicht, Emilia zwischen gefühlsmäßiger Unsicherheit und moralischer Entschlossenheit, Odoardo zwischen moralischer Strenge und Ehrerbietung gegenüber der Autorität, Klaudia zwischen Neigung zum Hofleben und Liebe zum wohlan- ständigen Familienleben, Orsina schließlich zwischen Liebe zum Prinzen und Rachedurst. Unter dem Druck rasch wechselnder Umstände kann jeder von ihnen diese oder jene Rich- tung einschlagen.“ Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008. 7
Emilia Galotti Lessing – ein biografischer Querschnitt Als Lessing 18 war, feierte sein erstes Stück 1748 musste Lessing Leipzig verlassen, da Der junge Gelehrte Premiere. ihm als Bürge für diverse Schauspieler die Gläubiger im Nacken saßen. Er wurde in kürzester Zeit der bekannteste Schriftsteller im deutschsprachigen Raum. Als freier Schriftsteller litt er unter ständigem Geldmangel und war abhängig von Almosen Lessing übertrug das französische Modell von Freunden und Verwandten. des bürgerlichen Trauerspiels nach Deutsch- land. Der Versuch, das „Deutsche Nationalthea- ter“ über einen längeren Zeitraum hinweg zu Als Dramaturg am neugegründeten etablieren, scheiterte unter anderem wegen „Deutschen Nationaltheater“ in Hamburg Geldmangels. revolutionierte er mir seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ das (Nach-)Denken über Theater. Lessing heiratete erst mir 47 Jahren, sei- ne Frau Eva König starb im Kindbett, weni- ge Tage nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes. An seinen Freund Johannes Joachim Eschen- bach schrieb er in dieser Zeit: „Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Men- schen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“ nach D. Hildebrandt Im Folgenden eine Sammlung an Aspekten aus Lessings Leben, die das Inszenierungsteam während der Arbeit beschäftigt hat und die teilweise einen ganz anderen Blick auf den großen Klassiker Lessing werfen. Ein Leben zwischen künstlerischem Anspruch und der ökonomischen Lebenswirklichkeit Gotthold Ephraim Lessings Leben liest sich als großartige Erfolgsgeschichte, aber auch als Leidensgeschichte. Lessing gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Dichter der deut- schen Aufklärung. Es gelang ihm, die in vielen Bereichen überlieferten Anschauungen in Frage zu stellen. Bei ihm standen der Glaube an die Toleranz, die Freiheit, das „Ich“ als Individuum im Mittelpunkt. Dies wird in seinen Theaterstücken deutlich, in denen er den Privat- den Fa- milienraum in den Mittelpunkt stellte. Ein weiteres Beispiel sind seine theologischen Schriften, 8
Emilia Galotti in denen er zu mehr Toleranz gegenüber anderen Religionen aufruft. Vieler dieser Ansätze bringt Lessing in seinem philosophischen Werk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ zusammen. Abgesehen von wenigen Festanstellungen verdingte Lessing sich sein Brot als freier Schrift- steller, als einer der ersten Auftragsautoren. So war sein Leben trotz seines Erfolges und Be- kanntheitsgrades immer auch von Geldnöten geprägt, die Lessing dazu zwangen über Jahre hinweg Anstellungen anzunehmen, die vor allem dem Broterwerb dienten. So war er unter anderem Sekretär des Generals Tauentzien, dem Kommandanten von Breslau und späteren Gouverneur Schlesiens und Hofbibliothekar des Herzogs von Braunschweig in Wolfenbüttel. Es war ihm unmöglich, bedingt sowohl durch die ungünstige Marktlage für freie Schriftsteller, als auch durch seine Unfähigkeit vorauszuplanen, als Autor seinen Lebensunterhalt zu be- streiten, „ohne auf die Möglichkeit zu verzichten, die Überzeugungen zu Papier zu bringen, die für ihn die wichtigsten waren.“ (Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008). Lessing – der Spieler Lessing hatte eine große Leidenschaft für das Glückspiel, er schrieb dem Spielen schon bei- nahe therapeutische Wirkung zu. Karl Lessing beschrieb diese Spielsucht ausführlich in der Biografie über seinen Bruder. Zitiert nach: Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008 Allein seinen Freunden ist doch nichts so aufgefallen, wie seine Spielsucht, die in Breslau ihren Anfang und zu Wolfenbüttel ihr Ende genommen haben soll. Sein liebstes Spiel war Pharao, das seinen ganzen Reiz vom hohen Gewinne zu haben scheint. [...] Dem, der es nicht selbst gespielt, muß es der fadeste Zeitvertreib dünken; und wer gar nur pointiert, um zu gewinnen, wird das Gegenteil von dem bezwecken, worauf er ausgeht. Was vermochte Lessing also dazu? Die Sorge um seine Gesundheit. – Wird man nicht lachen? Und noch mehr, wenn man bedenkt, daß er mit großer Leidenschaft spielte. Einer seiner Freunde, der ihn bei dem Pharaotische beobachtete, sah einmal, wie ihm die Schweißtrop- fen vom Gesichte herunterliefen. Er sah auch, daß er nicht im Unglücke war, sondern diesen Abend sehr glücklich spielte. Als sie miteinander nach Hause gingen, tadelte er ihn, daß er nicht bloß seine Börse, sondern noch etwas Wichtigeres, seine Gesundheit ruinieren würde. Gerade das Gegenteil, antwortete Lessing. Wenn ich kaltblütig spielte, würde ich gar nicht spielen; ich spiele aber aus Grund so leidenschaftlich. Die heftige Bewegung setzt meine sto- ckende Maschine in Tätigkeit, und bringt die Säfte in Umlauf; sie befreit mich von einer körper- lichen Angst, die ich zuweilen leide. – Dem Boshaften wird dabei der ehrliche Basedow einfal- len, welcher seine Trunkenheit fast ebenso verteidigte. Spielte Lessing zum Zeitvertreibe und gleichgültig, so mußte der Schweiß, den man an ihm bemerkte, aus ganz andern Ursachen entstehn; entstand er durch die Gefahr des Spiels, so konnte er, nach dem ordentlichen Laufe der Natur, wohl nicht zur Gesundheit gereichen. Es scheint vielmehr, daß diesen Schweiß das warme Zimmer, welches voller Menschen und Tabakraucher war, veranlaßt habe. [...] Ist Lessings eigne Aussage von Gewicht, so gestand er, in Breslau oft und hoch gespielt, aber im Durchschnitte wenig oder gar nichts verloren zu haben. Sein General habe ihm sogar sein hohes Spielen vorgehalten; er habe ihm aber stets erwidert: es sei einerlei, ob man hoch 9
Emilia Galotti oder niedrig spiele; ja, das hohe Spiel habe den Vorteil, daß es die Aufmerksamkeit erhalte, das kleine aber zerstreue sehr leicht. Lessing und das Theater Im 18. Jahrhundert wurde das deutsche Theater stark von Entwicklungen anderer Länder geprägt, eine typisch deutsche Ausprägung, deutsche Stücke fehlten. Neben den Hofthea- tern, gab es zahlreiche Wandertruppen. Den Schauspielern als wanderndes Volk wurde in der Bevölkerung meist großes Misstrauen entgegen gebracht. Die Stücke dieser Truppen hatten volkstümlichen Inhalt, große Teile bestanden aus Improvisationen. Für diejenigen, die nicht dem Adel angehörten und dadurch keinen Zugang zu einem Hoftheater hatten, war das Wan- dertheater der einzige Berührungspunkt mit dem Theater. Lessing folgte 1767 dem Ruf nach Hamburg, wo die Idee eines bürgerlichen Hoftheaters in Form eines Nationaltheaters in die Tat umgesetzt werden sollte. Lessing wurde dort als Dra- maturg eingesetzt. Obwohl das Projekt bereits nach zwei Jahren scheiterte, schrieb Lessing dort seine „Hamburgische Dramaturgie“, die er in 104 Teilen veröffentlichte. Neben Stück- und Inszenierungsbesprechungen, beschäftigte sich Lessing unter anderem ausführlich mit der Dramentheorie und beschrieb, welche Wirkung das Theater auf das Publikum haben solle. Lessing kritisierte die Volkstümlichkeit der Wandertruppen, er plädierte für das Literaturthe- ater. Im Gegensatz zu Johann Christoph Gottsched allerdings, wollte Lessing dabei nicht an der französischen Klassik festhalten. Ganz entscheidend war auch, dass sich Lessing gegen Gottsched Idee der Ständeklausel stellte. Gottsched war der Meinung, dass in der Tragödie die Schicksale von Königen, Fürsten und hohen Standespersonen verhandelt werden sollten, dem Leben der Bürgerlichen fehle es an Größe, an Bedeutung und an „Fallhöhe“. Im Ge- gensatz dazu sollten die Geschichten bürgerlicher Personen nur in Komödien auf die Bühne gebracht werden. Lessing entwarf ein Gegenmodell mit der Veröffentlichung des Stücks „Miss Sara Sampson“ im Jahr 1755, das als das erste bürgerliche Trauerspiel gilt. Er vertrat die Meinung, dass das Publikum nur dann mitleide, wenn es sich selbst auf der Bühne wieder erkennt, wenn die auf der Bühne verhandelten Geschichten, auch die Geschichten des Publikums sein könnten. Er orientierte sich an den aristotelischen Begriffen ‚eleos‘ und ‚phobos‘ und prägte sie mit seiner Übersetzung in ‚Furcht‘ und ‚Mitleid‘ neu. „Furcht erweckt nach Lessing all das, was, wenn sie es an anderen sehen, Mitleid weckt. Und umgekehrt erweckt das in uns Mitleid, was, wenn es uns selbst treffen würde Furcht macht.“ [Stegemann, Bernd: Lektionen 1 – Dramaturgie. Berlin: Theater der Zeit, 2009]. Dieses Prinzip setzt voraus, dass Bürger die Protagonisten des Dramas sind. So fürchtet der Zuschauer, dass ihm das gleiche Schicksal widerfahren könnte, wie den Protagonisten auf der Bühne. Daraus resultiert, dass der Zuschauer mit sich selbst Mitleid empfindet. Ohne die Furcht ist dieses Mitleid nicht möglich. Lessing schrieb darüber: „Die Tragödie soll unsere Fähigkeit erweitern, Mitleid zu fühlen… Sie soll uns fühlbar machen, dass der Unglückliche zu allen Zeiten und unter allen Gestalten rühren und für sich einnehmen kann.“ (Für eine detaillierte Beschreibung siehe u.a. Fick, Monika: Lessing Handbuch: Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, 2000. Nisbet, Hugh Barr: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008.) 10
Emilia Galotti Lessing – der Journalist Neben den philosophischen Texten und seinen Dramen wird gerne vergessen, dass Lessing auch Journalist war. Er prägte eine Sparte, die bis heute in keiner Zeitung fehlen darf, das Feuilleton. 1722 wird die ‚Berlinische Privilegierte Zeitung‘ (BPZ) gegründet, Lessing war für den „Gelehrten Artikel“, den Rezensionsteil zuständig. Zudem führte Lessing einen weiteren Rezensionsteil ein, „Das Neueste aus dem Reiche des Witzes“, das sowohl aus Rezensionen von Veröffentlichungen aller Art, als auch aus eigenen Texten Lessings bestand. Jakob Augstein berichtete in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ vom Journalisten Lessing. Die gelehrten Sachen Gottfried Ephraim Lessing: der erste Großkritiker der Presse Von Jakob Augstein: Die gelehrten Sachen - Gottfried Ephraim Lessing: der erste Großkritiker der Presse / Serie, Teil V. In: Süddeutsche Zeitung, 7. Januar 2003. […] Einer seiner [Lessings] ersten Zeitungsartikel, den Gedichten von Johann Christoph Gott- sched gewidmet, endet 1751 mit den Worten: „Diese Gedichte kosten in den Vossischen Buchläden zwei Taler und vier Groschen. Mit zwei Talern bezahlt man das Lächerliche und mit vier Groschen ungefähr das Nützliche.“ Das ist erstens immer noch ziemlich lustig, was ja etwas heißen will, weil nicht viele Witze 250 Jahre halten, und zweitens ist es für Lessings Modernität kennzeichnend, weil Gottsched sel- ber die Kritik erst ein paar Jahrzehnte zuvor in Deutschland etabliert hatte, gleichsam wie ihr Papst in Leipzig thronte und nun von seinem eigenen Epigonen rücksichtslos wegrasiert wur- de. Gotthold Ephraim Lessing, geboren 1729 in Kamenz, Sachsen, gestorben 1781 in Berlin, war nicht der erste, aber der erste vernichtende Kritiker deutscher Sprache. [...] Unter dem Dach des aufgeklärten Absolutismus wuchs eine autonome bürgerliche Sphäre heran. Und die Menschen lernten das Lesen: Der Analphabetismus ging zurück, Bücher und Zeitschriften wurden zur bürgerlichen Unterhaltung. [...] Eine Reihe junge Leute ist in den letzten 250 Jahren Journalist geworden, bevor sie später was Anständiges gemacht haben. Lessing hat damit den Anfang gemacht. Von seinen Rezen- sionen und Kritiken in der Vossischen Zeitung sind es 20 Jahre bis zur Hamburgischen Dra- maturgie und 30 bis zum Nathan. Und als er 1748 bei seinem Vetter Mylius vorstellig wurde, begründete er nebenbei eine Existenzform, die gerade für Berlin bis heute typisch ist: Die des freischaffenden Schriftstellers und Journalisten. Viel verdienen konnte man damit schon damals nicht - aber viel brauchte er auch nicht: „Was tut mir das, ob ich in der Fülle lebe oder nicht, wenn ich nur lebe“, schrieb Lessing an seinen Vater. Noch so ein Satz, der Goethe nicht eingefallen wäre. 11
Emilia Galotti [...] Als Lessing 1750 das Angebot bekam, so etwas wie der Chefredakteur der Berlinischen pri- vilegierten Zeitung zu werden, lehnte er wegen der Zensur ab; er habe keine Lust, seine Zeit „mit solchen politischen Kleinigkeiten zu verderben“. Die Berlinische privilegierte erschien dreimal wöchentlich, dienstags, donnerstags und am Samstag. 1751 wurde das Blatt nach einem Verlegerwechsel in Vossische Zeitung umbenannt und hieß so bis zur letzten Ausgabe am 31. März 1934. Die Vossische hat einen guten Anteil am Ruf Berlins als Zeitungsstadt. Der Verleger und Buchhändler Johann Heinrich Voß fügte seiner Neuerwerbung schnell ein Ressort hinzu, das er „Die gelehrten Sachen“ nannte, man würde heute sagen ein Feuilleton. Aus dem bis dahin offiziösen Nachrichtenorgan für Staats- und Hofangelegenheiten wurde ein „Intelligenzblatt“, mithin eine Art moderner Tageszeitung. In erstaunlicher Parallele zu heutigen Verhältnissen bot das Feuilleton schon damals dem abweichenden Denken mehr Raum als der politische Teil und darum wurde Lessing 1751 der erste Feuilleton-Ressortleiter. Und weil er offenbar nicht nur ein begnadeter Kritiker war, son- dern auch ein geschickter Blattmacher, erfand er eine neue monatliche Beilage: „Das Neueste aus dem Reich des Witzes“. In späteren Jahre legte sich Lessing ein Kürzel zu: „Fll“. Seine Opfer leiteten das von „Flegel“ ab, er selbst meinte das Lateinische „flagellum“, Geißel. Man ahnt schon, dass es kein Ver- gnügen war, diesem Mann unter die Feder zu fallen. Ein typischer Artikel Lessings begann etwa so: „Man dachte, die Hudemannische Muse wäre gar vollends eingeschlafen. Aber sie hat sich noch einmal aufgerichtet, sich ausgedehnt und gegähnet. Sie muss aber doch sehr schlaftrunken gewesen sein, weil sie gleich wieder einge- schlafen ist.“ Wer dem Kritiker das Recht gibt, so mit dem Autor zu verfahren? Er sich selbst. Nur geschundene Autoren können auf die Idee kommen, der Kritiker müsse sich rechtferti- gen. Lessings Biograph Willi Jasper schreibt ein bisschen enttäuscht: „Ein neues Literatur- programm hatte er nicht zu bieten...Er dachte und formulierte überspitzt, undogmatisch und scharf - aber wenig programmatisch.“ Lessing hatte seinen Geschmack und sonst keine Maß- stäbe. Auch da war er ein Heutiger. Das Bemerkenswerte an Lessing ist, dass er seinen Ruhm trotz seiner Polemik und Kritik er- rungen hat. Seine Landsleute konnten damit nämlich bald nicht mehr viel anfangen: Das deut- sche Gemüt des 19. Jahrhunderts hatte es lieber waldig-raunend als spöttisch-schneidend. Seinen Platz im Pantheon der Klassik erhielt Lessing als Trauerspieldichter der Emilia und als Moral-Dramatiker des Nathan. Der andere Lessing, der eines Voltaire und Diderot würdig war, den retuschierten die Deutschen lieber weg. So wie 1929 jener Braunschweiger Mediziner, der die Ferndiagnose anstellt, Lessings wider- sprüchlicher Charakter sei eine typische Eigenschaft des „cyklothymen Pyknikers“, und sol- che Menschen neigten nun mal zu jener Krankheit, „die man als manisch-depressives Irresein bezeichnet.“ 12
Emilia Galotti Wahrheitssucher Ein Wahrheitssucher wurde Lessing gern genannt, ein Wahrheitssucher allerdings, der seine Aussagen nie als dogmatisch begriff, sondern der eine gewisse Skepsis gegenüber allem bewahrte. Hannah Arendt erhielt am 28. September 1959 den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg. In ihrer Rede sprach sie auch über Lessing: „Was Lessing betrifft, so hat ihn das gefreut, was die Philosophen seit eh und je [...] so be- kümmert hat, nämlich daß die Wahrheit, sobald sie geäußert wird, sich sofort in eine Meinung unter Meinungen verwandelt, bestritten wird, umformuliert, Gegenstand des Gesprächs ist wie andere Gegenstände auch. Nicht nur die Einsicht, daß es die eine Wahrheit innerhalb der Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, daß es sie nicht gibt und das unend- liche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen über- haupt gibt, kennzeichnet die Größe Lessings.“ Hannah Arendt: Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1999 Der Lessing-Biograf Hugh Barr Nisbet hat sich die Mühe gemacht, einmal alle Betätigungs- felder Lessings aufzuzählen, wie das folgende Zitat eindrücklich beweist: „Lessing war Dichter und Dramatiker, Literaturtheoretiker, Kritiker, Historiker der Literatur, Kunst und Religion, klassischer und mediävistischer Philologe, Paläograph, Bibliothekar und Archivar, Philosoph und Ästhetiker, gut informierter Amateur in Theologie und Patristik, Über- setzer aus mehreren Sprachen und außerordentlich produktiv als Rezensent und Herausge- ber. Zu den Literaturgattungen, in denen er sich auszeichnete, gehören die Ode, das Lied, das Lehrgedicht, die Verserzählung, das Epigramm, die Fabel, der Aphorismus, die Komödie und Tragödie, das Parabelstück, Dialog, Satire und Polemik; die einzigen seinerseits gängigen Gattungen, in denen er sich auffälligerweise nicht versuchte, waren der Roman und das Ver- sepos.“ Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008. 13
Emilia Galotti Szenenfoto mit Hagen Löwe und Danielle Schneider 14
Emilia Galotti Die Galottis – Bürgertum oder Adel? Obwohl Lessing seine Emilia Galotti nur mit „ein Trauerspiel“ untertitelte, wird das Stück mei- stens als „bürgerliches Trauerspiel“ eingeordnet. Ein naheliegender Interpretationsansatz ist daher immer der Konflikt zwischen Adel und Bürgertum. Tatsächlich wird die Bürgerlichkeit der Familie Galotti in verschiedenen Interpretationen angezweifelt. „Ein verbreitetes Mißverständnis war es, besonders in den 1960er und 1970er Jahren, als marxistisches Gesellschaftsdenken weithin en vogue war, den Unterschied zwischen den bei- den Kreisen als Klassenunterschied zu verstehen, nämlich den von Mittelklasse oder Bürger- tum einerseits und Aristokratie andererseits. Mittlerweile herrscht jedoch Übereinstimmung darüber, daß die Galotti aus dem niederen Landadel stammen. Odoardo hat Grundbesitz und trat als solcher den territorialen Ambitionen des Prinzen öffentlich entgegen, was undenkbar wäre, wenn er nicht dem Adel angehörte, und wenn Lessing ihn als „Nicht-Adligen hätte darstellen wollen, hätte er ihn eindeutig als solchen gekennzeichnet, um der selbstverständ- lichen Annahme des Publikums zuvorzukommen, daß er ein Landadliger ist. Der entschei- dende Unterschied in Emilia Galotti ist nicht der von Klassen, sondern der von Herrschern und Untertanen, öffentlicher und privater Sphäre und vor allem von höfischer Gesellschaft und Familienleben im kleinen Kreis und den entsprechenden wechselseitig unvereinbaren Wertvorstellungen.“ Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008. „Schwieriger sind die Galotti zu bestimmen. Sind sie begüterte Bürger oder kleine Adlige? Oberst konnte man als Bürger so gut wie als Adliger werden – und es mutet wie eine absicht- liche Nichtfestlegung an, daß Lessing nur den militärischen, nicht den gesellschaftlichen Rang angibt. Auch daß Odoardo ein Landgut besitzt und sich darauf zur Ruhe gesetzt hat, definiert seine Standeszugehörigkeit nicht eindeutig. Der soziale Abstand zum Grafengeschlecht der Appiani ist beträchtlich. Appianis Verbindung Emilia, „ohne Vermögen und ohne Rang“, wird in Standeskreisen als „Mißbündnis“ angesehen (I, 6). Andererseits spricht der Prinz vom „Ge- schlecht“ der Galotti (I, 6), wird Claudia „Gnädige Frau“ tituliert (II, 8+9), das war normalerwei- se Adligen vorbehalten.“ Gerhard Bauer: G.E. Lessing – „Emilia Galotti“. München: Wilhelm Fink, 1987. Die Bezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“ hat folglich weniger mit dem Gegensatz Adel und Bürgertum zu tun, vielmehr ist der Rückzug ins Private charakteristisch. Wie bereits erwähnt, lag der Fokus in Tragödien lange auf dem höfischen Leben, das gleichzeitig auch immer ein öffentliches Leben war. In Emilia Galotti fehlt jegliche politische Perspektive, der Fokus liegt auf dem privaten Schicksal eines jungen Mädchens und ihrer Familie. Ob diese nun bürgerlich sind oder nicht, spielt eine untergeordnete Rolle. 15
Emilia Galotti Das Herzogtum Guastalla Vielleicht ist Italien als Spielort der Emilia Galotti eine Anlehnung an die Verginia-Legende, sicher ist aber, dass Lessing vermeiden wollte, einen direkten Zusammenhang zwischen sei- nem Drama und der gegenwärtigen Situation im deutschen Staat herzustellen, um eventuelle Zensur zu umgehen. Zumal Lessing zum Zeitpunkt der Premiere als Bibliothekar der her- zoglichen Büchersammlung Angestellter des regierenden Herzogs Karl I. von Braunschweig- Lüneburg war. Mit der Verlegung nach Italien sollte nicht explizit auf dort herrschende Missstände aufmerk- sam gemacht werden – vermutlich hätte die Geschichte überall seinen Lauf nehmen können. II. Machtkampf, Pattgesetzt Von Gerhard Bauer: G.E. Lessing – „Emilia Galotti“. München: Wilhelm Fink, 1987. Der „Prinz“ – Lessing gebraucht das Wort im Sinne von ‚Fürst’ – ist eben als solcher eindeutig bestimmt. Es ist einer der zahlreichen Gebieter von kleinen Fürstentümern, die die politische Wirklichkeit zu Lessings Zeit dominierten. Es wird in einem real existierenden winzigen Her- zogtum in Oberitalien angesiedelt. Das wirkliche Guastalla, eine Residenzstadt von 2000 – 4000 Seelen mit nur wenig umliegenden Gebieten, auf die sich die Herrschaft erstreckte, hatte seine Bedeutung vor allem als Teil eines politischen Plurals. Es gehörte zu den Höfen und Fe- stungen, die sich vom Kaiser oder von anderen, mächtigen Städten für Bündnisse gewinnen ließen, meist gegen das bedrohliche, reiche Milano. (Seine lokale Bedeutung für die Sicherung des fruchtbaren Landes gegen die Fluten des Po blieb im Drama außer Betracht). Lessings „Prinz“ gehört einem Geschlecht an, das dort wirklich vom 16. Jahrhundert an regiert hatte und Mitte des 18. Jahrhunderts ausgestorben war, einer Nebenlinie der berühmten Gonza- ga, die in Mantua und weiteren Stadtgebieten (darunter Sabbioneta) herrschten. Die Guasal- lischen Gonzaga galten als ziviler und weniger „brutal“ als die mächtigen Vettern in Mantua; sie werden bis heute (oder heute wieder) von „ihrer“ Stadt hoch verehrt. Lessing erteilt seinem Helden einen Vornamen (Hettore), der gut italienisch klingt, doch in dieser Familie nicht vorge- kommen war, die italienische Form von Hektor, dem Helden des alten Troja, von dem die gan- ze Tradition von Homer bis auf Lessings Zeiten nur Positives zu berichten wußte. Mit diesen halb realen, halb fiktiven Festlegungen war das Spielgeschehen hinreichend bestimmt und genügend allgemein und vage gehalten. Die gegenwärtige Obrigkeit wurde nicht mit der Nase darauf gestoßen, daß sie selbst gemeint sein könnte, und das Publikum konnte sich seinen Teil denken. Lessings gebildete Zeitgenossen waren es gewohnt, ihre Verhältnisse in fremden Ländern, auch in weit exotischeren als Italien, gezeichnet zu finden. Die leisen Anklänge an die Renaissance und die Verwendung eines Familiennamens, den es nicht mehr gab, ließen kaum an vergangene Zeiten denken. Dazu waren die dargestellten Zustände, die Form der Konflikte und ihre Austragung, die Denk- und Sprechweise viel zu gegenwärtig. Lessing stellt ein Exemplar des Herrschers auf die Bühne, wie dieser damals prinzipiell, seiner gesellschaft- 16
Emilia Galotti lichen Funktion nach beschaffen war, wie er in Italien ebenso vorkam wie in Deutschland. Viele Leser und Zuschauer aus den verschiedensten Fürstentümern des Reiches (nicht einmal die Stadtstaaten ausgenommen) reagierten auf die Darstellung so, als sei ihnen dieser Typ aus ihren eigenen spezifischen Erfahrungen bestens bekannt. 17
Emilia Galotti Historische Vorgängerinnen Emilias Verginia Der römische Geschichtsschreiber Livius berichtet über die Legende der Plebejerin Verginia, die von ihrem Vater ermordet wurde. Grund war die Behauptung des römischen Decemvirs Appius Claudius, Verginia sei in Wirklichkeit die Tochter einer Sklavin. Die Decemviri war eine Kommission aus zehn Männern, die die Aufgabe hatten mündlich überlieferte Gesetzestexte in Schriftform zu bringen. Wäre der Behauptung Glauben geschenkt worden, hätte Verginia nicht nur ihre Ehre, sondern vielmehr auch ihre Bürgerrechte verloren, so dass der Vater nur den Tod seiner Tochter als Ausweg sah. Der Fall hatte den Sturz der Decimviri und im Zuge dessen die Wiedereinführung der Republik zur Folge. Verginia verkörperte lange das Ideal der sittsamen Frau. Zahlreichen Autoren diente die Le- gende der Verginia als Vorlage für Dramen und auch Lessing beschäftigte sich ausführlich damit. In einem Brief an Friedrich Nicolai schrieb Lessing: „Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Verginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er hat nemlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihrer Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte. [...]“ zitiert nach Hugh Barr Nisbet: Lessing – Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2008. Lessing wollte mit Emilia Galotti eine moderne, bürgerliche Verginia schaffen, dabei aber eine politische Dimension zu Gunsten des Privaten vermeiden. Indem er auf den Staatsstreich verzichtete, richtete er die volle Konzentration auf das Schicksal der Figuren, ganz im Sinne seines 14. Briefes der Hamburgischen Dramaturgie. „Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.“ Projekt Gutenberg: Gotthold Ephraim Lessing – Hamburgische Dramaturgie, 14. Brief, 1767 18
Emilia Galotti Römische Geschichte Kapitel 44 – 48 (in Auszügen) Von Titus Livius: Römische Geschichte übersetzt von Konrad Heusinger, Bd. 1. Braunschweig, Vieweg, 1821. Dem Appius Claudius gab die Liebe zu einer Jungfrau vom bürgerlichen Stande den Ent- schluß, sie zu entehren. Ihr Vater Lucius Virginius stand bei dem Heere im Algidus als einer der Hauptleute vom höhern Range; zu Hause und im Felde ein musterhafter Mann. Eben so war seine Frau erzogen, und so erzogen sie auch ihre Kinder. Die Tochter hatte er dem gewesenen Tribun, Lucius Icilius, verlobt, einem unternehmenden Manne und um die Partei der Bürger- lichen von bewährtem Verdienste. Als Appius, der vor Liebe glühend dies erwachsene, au- ßerordentlich schöne, Mädchen durch Geschenke und Versprechungen zu verführen suchte, jeden Zugang durch Keuschheit versperrt sah, so entschloß er sich zu einer grausamen, alles niedertretenden Gewaltthat. Seinem Schützlinge, Marcus Claudius, gab er den Auftrag, sich des Mädchens als seiner Sklavinn zu versichern und nicht nachzugeben, wenn man bis zur Entscheidung ihrer Freiheit Aufschub fordere: da die Abwesenheit des Vaters, wie er hoffte, seine Ungerechtigkeit begünstigte. Als das Mädchen auf den Markt kam – denn dort standen unter den Krambuden auch Schulstuben – legte der Kuppler des Decemvirs, indem er sie als seine Sklavinn anredete, da sie eine Tochter seiner Sklavinn sei, Hand an sie, und befahl ihr, ihm zu folgen; im Weigerungsfalle werde er sie mit Gewalt fortführen. Während das Mädchen vor Schrecken starrte, entstand auf das Geschrei ihrer Amme, welche nach Hülfe rief, ein Auf- lauf. Ihres Vaters Virginius, ihres Bräutigams Icilius beliebter Name wurde laut genannt. Alle, die sie kannten, machte das Wohlwollen für jene, und den Haufen der Unwille zu Freunden des Mädchens. Schon war sie vor Gewalt sicher, als der Kläger anfing: „Das zusammengelau- fene Volk sei hier ganz unnöthig. Er verfahre nach Recht, nicht mit Gewalt.“ – Er forderte das Mädchen vor Gericht. Da selbst die, welche sich ihrer annahmen, ihr riethen, mitzugehen, so kam man vor des Appius Richterstuhl. Der Kläger sagte seine dem Richter, als Erfinder des Stücks, bekannte Rolle auf. „Diese in seinem Hause geborene, ihm gestohlne und dem Virginius ins Haus gebrachte Sklavinn, sei diesem als Kind untergeschoben. [...]“ 47. In der Stadt geleitete am frühen Morgen, als die Bürger von Erwartung gespannt schon auf dem Markte standen, Virginius im Anzuge eines Beklagten, seine Tochter, ebenfalls in veral- tetem Kleide, auf den Markt, mit einem Gefolge von mehreren Frauen und vielen Hülfswilligen. [...] Gegen dies Alles verhärtet bestieg Appius (so sehr hatte – die Tollheit, möchte man eher sagen, als – die Liebe, seinen Verstand verrückt) den Richterstuhl; und da der Kläger ganz kurz sich sogar beschwerte, daß man ihm gestern, um sich gefällig zu machen, sein Recht vorenthalten habe, so nahm schon, ohne jenen sein Gesuch zu Ende bringen zu lassen, oder dem Virginius Zeit zur Gegenrede zu gestatten, Appius das Wort. Es kann sein, daß uns ältere Geschichtschreiber die Erörterung, die er seinem Ausspruche zum Gewande gab, der Wahr- heit gemäß überliefert haben. Weil ich aber nirgend eine finde, die einem so abscheulichen Spruche nur eine erträgliche Wahrscheinlichkeit gäbe, so wird es am Besten sein, das, worin alle übereinkommen, ohne Hülle darzulegen, daß er dem Kläger das Recht zugesprochen habe, sich seiner Sklavinn zu bemächtigen. 19
Emilia Galotti Anfangs waren Alle vor Staunen über das Unbegreifliche einer solchen Scheußlichkeit erstar- ret, und es erfolgte eine tiefe Stille. Als aber Marcus Claudius hinging, das von Frauen um- ringte Mädchen zu greifen und mit einem kläglichen Geheule der Weiber empfangen wurde, so rief Virginius mit gegen den Appius emporgestreckten Händen: „Appius! dem Icilius habe ich meine Tochter versprochen, nicht dir! und erzogen habe ich sie zur Ehe, nicht zur Schän- dung! Machst du das zur Sitte, daß man wie das Vieh, wie das Wild, über Alles, was weiblich ist, wollüstig herfällt? Ob man dir das hier gestatten werde, weiß ich nicht; doch hoffe ich, daß es die nicht dulden sollen, welche Waffen in den Handen haben.“ Während den verfolgenden Kläger der Haufe von Weibern und umherstehenden Freunden zurückstieß, ward durch den Herold Stille geboten. 48. Der Decemvir, außer für die Eingebungen der Wollust, taub gegen Alles, fing an: „Nicht bloß durch das gestrige Widerbellen des Icilius, nicht bloß durch den Ungestüm des Virginius, worüber er jetzt das Römische Volk zu Zeugen nehme, sondern durch zuverlässige Aussa- gen habe er in Erfahrung gebracht, daß sich während der ganzen Nacht Rotten in der Stadt zusammengethan hätten, um Aufruhr zu erregen. Auf diesen Kampf gefaßt habe er sich mit Bewaffneten eingefunden; nicht, um irgend Einem der ruhigen Bürger wehe zu thun, sondern um die Störer der öffentlichen Ruhe der Würde seines Oberbefehls gemäß zu beschränken. Also rathe ich euch,“ – so fuhr er fort – „ruhig zu sein! Dorthin, Lictor! schlag den Haufen aus einander und schaffe Platz, daß der Eigenthümer seine Sklavinn greifen kann!“ Als er diese Worte in vollem Zorne herabgedonnert hatte, trat die Menge von selbst aus einan- der; und das Mädchen stand verlassen da, der Mishandlung zum Raube. Da sprach Virginius, wie er nirgend Hülfe sah: „Ich bitte dich, Appius, zuerst dem väterlichen Schmerze zu verzei- hen, wenn ich mich zu hart gegen dich herausgelassen habe: dann aber erlaube mir, hier im Angesichte des Mädchens die Amme zu befragen, wie die Sache möglich sei; damit ich, wenn ich mit Unrecht Vater geheißen habe, so viel eher beruhigt hier abtreten kann.“ Auf erhaltene Erlaubniß führte er Tochter und Amme auf die Seite, neben dem Tempel der Cloacina zu den Krambuden, die jetzt die Neuen heißen, und da er hier bei einem Fleischer ein Messer wegriß, sprach er: „Kind, dies einzige Mittel blieb mir, deine Freiheit zu retten.“ Dann durchstach er dem Mädchen die Brust und rief, zum Richterstuhle hinaufblickend: „Auf dich, Appius, und dein Haupt lade ich den Fluch dieses Blutes!“ Appius, durch das über die schreckliche That erhobene Geschrei aufgeregt, gab Befehl, den Virginius zu greifen. Er aber bahnte sich, wo er ging, mit dem Messer den Weg, bis er, selbst von der nacheilenden Menge gedeckt, das Thor erreichte. Icilius und Numitorius, die den entseelten Körper aufnahmen, zeigten ihn dem Volke und machten unter Thränen die Gräuelthat des Appius, die unglückliche Schönheit des Mädchens, die dem Vater gebietende Noth zum Vorwurfe ihrer Klagen. Die Frauen zogen hinterher und schrieen: „Dazu also sollten sie Kinder gebären? dies sei der Keuschheit Lohn?“ und mehr dergleichen, wie es ihnen in solchen Fällen der weibliche Schmerz, je inniger er bei ihrem weicheren Herzen ist, zu so viel rührenderen Klagen eingiebt. Desto lauter war das Geschrei der Männer, besonders des Icilius, über die dem Volke entrissene tribunicische Macht und Ansprache, und ihr Unwille über die Lage des Staats. 20
Emilia Galotti Lucretia Während der Vorbereitungen und Proben beschäftigte sich das Team mit der Legende der Lucretia, die sich im 6. Jahrhundert vor Christus zugetragen haben soll. Lucretia wurde von Sextus Tarquinius, einem Verwandten ihres Mannes, vergewaltigt. Nach- dem sie ihrem Mann und ihrem Vater von der Tat berichtete und diese ihr glaubten und ver- ziehen, erstach sie sich selbst, da ihre Geschichte nicht zur Ausrede untreuer Frauen werden sollte. Die Auswirkung dieser Tat war ein Aufstand des Volkes und die Stürzung des beste- henden Regimes. Der folgende Text stellt Bezüge zwischen der Legende und der heutigen Zeit her. Über die Entstehung der res publica aus dem Geist der Empörung Von Peter Sloterdijk in: Kunstforum Internatio- nal, Band 212, 2011. Abb. 1: TIZIAN, Tarquinius und Lucretia, 1568 – 1571, Öl auf Leinwand, 189 × 145 cm. 21
Emilia Galotti [...] Wer Rom erwähnt, sagt zugleich res publica, und wer von dieser spricht, sollte nicht ver- säumen, nach dem Geheimnis ihrer Anfänge zu fragen. Versuchen wir also zu erklären, wie es kam, dass die exemplarische "öffentliche Sache" Alteuropas mit einem bedenkenswerten Affektsturm begann: Der Sohn des letzten römisch-etruskischen Königs, Tarquinius Superbus junior, war auf die Reize einer jungen römischen Matrone namens Lucretia aufmerksam ge- worden, nachdem er durch die Prahlereien ihres Gatten Collatinus von deren Schönheit und Sittsamkeit erfahren hatte. Offensichtlich wollte er nicht hinnehmen, dass ein Untergebener erotisch glücklicher sein sollte als er selbst, der Spross aus königlichem Haus. Der Rest ist dank Livius Weltgeschichte und dank Shakespeare Weltliteratur: Der junge Tarqui- nius dringt in Lucretias römische Wohnung ein und nötigt sie durch eine infame Erpressung, in ihre Vergewaltigung einzuwilligen (Abb. 1). Nach der erlittenen Entehrung ruft die junge Frau ihre Verwandten zusammen, berichtet ihnen von den Vorfällen und erdolcht sich vor den Augen der Versammelten (Abb. 3 bis 6). Eine beispiellose Welle der Erschütterung verwandelt nun das harmlose Hirten- und Bauernvolk der Römer in eine revolutionäre Menge. Tarquinius Superbus wird vertrieben, die etruskische Vorherrschaft ist für immer beendet (Abb. 2). Nie wieder werden Hochmütige an der Spitze des Gemeinwesens geduldet sein. Der Name des Königs wird für alle Zeiten geächtet – nicht nur ad personam, sondern im Hinblick auf die monarchische Funktion als solche. Aus der Konvulsion der Bürger erwächst eine folgenschwere Idee: Die Gemeinwesenlenkung wird künftig allein von Römern ausgeübt werden, sie wird pragmatisch und profan erfolgen. Zwei Konsuln halten sich gegenseitig in Schach, ihre jährliche Neuwahl beugt jeder erneuten Verwechslung von Amt und Person vor. Der religiöse Überbau implodiert, bis auf die Staats- orakel, ohne dies es auch in der Republik nicht geht; für immer bleibt die königliche Superbia verbannt. Die produktiven Energien des Hochmuts werden auf das Format des Strebens nach Ansehen durch Vortrefflichkeit zurückgeschraubt, wie in Meritokratien üblich. [...] Eine bedeutsame Information sollte der heutige Leser dieser Geschichte festhalten: Die Lu- cretia-Legende handelt von der Geburt der res publica aus dem Geist der Empörung. Was man später Öffentlichkeit nennen wird, ist anfangs ein Epiphänomen des Bürgerzorns. Aus dem Unmut der zusammenströmenden Menge bildete sich das erste Forum. Die erste Tages- ordnung umfasste nur einen einzigen Punkt: die Zurückweisung einer herrscherlichen Infamie. Aus ihrer synchronen Erregung über den zügellosen Hochmut der Machthaber lernten die einfachen Leute, dass sie von nun an Bürger heißen wollen. Der consensus, mit dem alles anfängt, was wir bis heute öffentliches Leben nennen, war die zivile Einmütigkeit hinsichtlich eines unerträglichen Affronts gegen die ungeschriebenen Gesetze des Anstands und des Her- zens. [...] 22
Emilia Galotti Empörter Bürger trägt seine Dissidenz auf öffentliche Plätze Abb. 8: Deutsche Lucretia (II): Ein Polizeibeamter stoppt eine als Clown verkleidete Anti- AKW-Aktivistin Foto: ddp Abb. 10: Deutsche Lucretia (IV): Eine "Stuttgart 21"- Demonstrantin flüchtet vor dem Strahl eines Wasserwerfers. In einer Sitzblockade versuchen die Demonstranten sein Vorrü- cken zu verhindern. Foto: Uwe Anspach, dpa 23
Emilia Galotti Foto: https://astrologieklassisch. wordpress.com/2010/10/07/ warnung-an-den-spin-doctor- den-stuttgart-einstellt-wegen- stuttgart-21/ Bürgerausschaltung mittels Resignation als Spiel mit dem Feuer Wer versucht, inmitten der Polemiken Beobachterruhe zu wahren, gewinnt ein Bild, das die verschiedenen Konfliktherde zu einer kohärenten Szene zusammenzieht: Auf breiter Front sieht man dieselben Bunkerreflexe gegen die Störung der Routinen, dasselbe Ausweichen ins Mobbing gegen die Träger „unerwünschter Meinungen", dasselbe Unbehagen an der Worter- greifung der Unberufenen, dieselbe Verwechslung von Verstopfung mit Charakterfestigkeit. Über so viel eingehauste Dumpfheit kann nur eine genauere Analyse des politischen Systems und seiner Paradoxien hinausführen. Diese würde beginnen mit der Erklärung, warum die moderne repräsentative Demokratie in der Regel außerstande ist, zu bewirken, was den Cae- saren noch scheinbar spielend gelang: Diese waren jahrhundertelang imstande, den syste- mischen Imperativ der postrepublikanischen Bürgerausschaltung mit dem psychopolitischen Imperativ der thymotischen Bürgerbefriedigung zu verbinden. Die Modernen scheitern an die- ser Aufgabe, seit ihnen die Ausflucht in die nationale Selbstüberhöhung nicht mehr so leicht fällt wie vor hundert Jahren. Daher stehen ihnen nur zwei Auswege offen, von denen einer ökonomisch ruinös, der andere psychopolitisch unberechenbar ist: die Bürgerausschaltung durch Stillhalteprämien und die Bürgerlähmung durch Resignation. Wie Prämien funktionieren, weiß jeder, der die aktuellen Debatten über den Alimentenstaat beobachtet. Auch wie die Resignation erzielt wird, ist kein Geheimnis. Diese gleicht oberfläch- lich der Zufriedenheit unter einer guten Regierung. Sie unterscheidet sich von ihr durch die mutlos grollende Stimmung, nach deren Urteil die da oben im Grunde doch alle gleich sind. In solchem Klima können Wahlbeteiligungen, wie in den USA üblich, auf unter 50% absinken, ohne dass die politische Klasse Grund sähe, sich zu beunruhigen. Bürgerausschaltung mittels Resignation ist ein Spiel mit dem Feuer, da sie jederzeit in ihr Gegenteil, die offene Empörung und den manifesten Bürgerzorn umschlagen kann. Hat der Zorn erst einmal sein Thema gefunden, lässt er sich nicht mehr leicht davon ablenken. Für die 24
Emilia Galotti politische Klasse kommt die Erschwerung hinzu, dass die moderne Bürgerausschaltung sich als „Einbeziehung" des Bürgers präsentieren will. Dessen Entpolitisierung muss mit so viel restlicher Politisierung verbunden bleiben, wie zur Selbstreproduktion des politischen Appa- rats nötig ist. Die Steuerbürger in der Position von ewigen Schuldnern In keiner Hinsicht sind die Bürger unserer Hemisphäre so ausgeschaltet wie in ihrer Eigen- schaft als Steuerzahler. Es ist dem modernen Staat gelungen, seine Angehörigen im Moment ihrer materiellsten Zuwendung zum Gemeinwesen, im Augenblick ihres Einzahlens in die ge- meinsame Kasse, die passivste Rolle aufzudrängen, die er zu vergeben hat: Statt die Geber- qualität der Zahlenden zu hervorzuheben und den Gabe-Charakter von Steuern respektvoll zu betonen, belasten die modernen Fiskalstaaten ihre Steuerzahler mit der entwürdigenden Fiktion, sie hätten bei der öffentlichen Kasse massive Schulden, so hohe Schulden, dass sie dieselben nur in lebenslangen Raten tilgen können. Im Zentrum des modernen Bürgeraus- schaltungsgeschehens findet man ein psychopolitisch völlig falsch konstruiertes Steuerwe- sen. Es raubt den steueraktiven Bürgern den Stolz und drängt sie in die Position von ewigen Schuldnern des Leviathans. Je leistungsfähiger sie sich zeigen, desto tiefer stehen sie in der Kreide, je mehr sie zu geben haben, desto mehr sind sie im Minus. Im übrigen werden die Steuerbürger neuerdings nicht nur im Augenblick ihres Einzahlens in die Gemeinschaftskasse zur Passivität verdammt, sie erleiden eine Passivität zweiten Grades, seitdem der Staat sie hinterrücks an die Galeere der öffentlichen Schulden gefesselt hat. Ohne zu begreifen, wie ihnen geschah, sehen sich die Gebenden in eine Schicksalsgemein- schaft neuen Typs verstrickt. Sie bilden ab sofort eine Kollektivschuldgruppe, die morgen und bis zu ihrem letzten Atemzug für das bezahlen werden, was die Bürgerausschalter von heute ihnen aufbürden. Man sage nicht, die heutige Politik habe keine Visionen mehr. Noch gibt es eine Utopie für un- ser Gemeinwesen. Wenn das Glück auf unserer Seite ist und alle alles tun, was in ihrer Macht steht, gelingt am Ende sogar das Unmögliche, die Staatsbankrottvermeidung. Sie ist von nun an der rote Stern am Abendhimmel der Demokratie. Durch Zorn entstehen neue Architekturen politischer Teilhabe Unzählige Kommentare haben seit der 2008 aufgebrochenen Finanzkrise die Gefährlichkeit der Spekulation an den Finanzmärkten beschworen. Von der gefährlichsten der Spekulationen war nie die Rede: Die meisten heutigen Staaten spekulieren, durch keine Krise belehrt, auf die Passivität der Bürger. Westliche Regierungen wetten darauf, dass ihre Bürger weiter in die Unterhaltung ausweichen werden; die östlichen wetten auf die unverwüstliche Wirksamkeit offener Repression. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, in welchem Maß die Zukunft vom Wettbewerb zwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen Modus der Bür- gerausschaltung bestimmt sein wird. Beide Verfahren gehen davon aus, man könne das Auf- klärungsgebot der Repräsentation von positivem Bürgerwillen und gutem Bürgerwissen im Regierungshandeln umgehen, indem man weiter mit hoher Bürgerpassivität rechnet. 25
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