Gaddafi ist ein totaler Opportunist
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18 | Migros-Magazin 36, 31. August 2009 Er kanns nicht lassen: Jean Ziegler wettert seit Jahrzehnten gegen den Kapitalismus. In seinem neusten Buch «Der Hass auf den Westen» beschreibt er «Gaddafi ist ein totaler Opportunist» Die Affäre Schweiz – Libyen erschüttert die Schweizer Politik. Menschenrechtler und Soziologe Jean Ziegler kennt Libyen und dessen Machthaber und plädiert für mehr Verständnis für das «verwundete Bewusstsein» der afrikanischen Völker.
INTERVIEW JEAN ZIEGLER | 19
das wachsende Unverständnis zwischen Nord und Süd.
enf, Place de Neuve. Dort wieder ein, um mit mir darüber zu Ich bin Soziologe und mache meine im Osten von Tripoli, einer schönen
G befindet sich das Bistro Le
Lyric, wo Uno-Diplomaten,
Banker und Intellektuelle verkeh-
diskutieren.
Erscheinen Ihre Bücher auch
Arbeit. Mit der libyschen Politik
habe ich mich noch nie solidarisch
erklärt.
Stadt übrigens, oder in seinem
Zelt, wo er am liebsten ist.
ren. Der ideale Ort, um mit Jean in arabischer Sprache? Ist Gaddafi ein angenehmer
Ziegler über sein neustes Buch zu Ja, sie werden von einem ägypti- Dann machen Sie sich immer Gesprächspartner?
sprechen. schen Verlag übersetzt und ver- allein auf die Reise? Man muss vor allem zuhören. Für
öffentlicht. Manchmal kommt auch mein mich als Soziologe ist es aber hoch
Jean Ziegler, Sie gelten als Sohn, meine Frau oder mein As- interessant zu erfahren, wie er
Libyen-Spezialist. Waren Sie schon oft in Libyen? sistent mit. über die Welt denkt, speziell über
Weshalb eigentlich? Sieben Mal. Gaddafi lädt mich Afrika.
Ich bin kein Libyen-Spezialist. jeweils ein, nicht direkt zwar, aber Und dann sprechen Sie jeweils
über die Botschaft. Ich bin auch mit Gaddafi so wie wir zwei Bundespräsident Hans-Rudolf
Woher kommt dann Ihr Ruf? zur Feier der Machtübernahme jetzt, von Angesicht zu Ange- Merz konnte nicht persönlich
Moammar al-Gaddafi ist Beduine vor 40 Jahren eingeladen worden, sicht? mit Gaddafi sprechen. Was hat
und wie die meisten Beduinen die am 1. September stattfindet. Natürlich. er falsch gemacht?
ein Autodidakt. Er liest sehr viel, Er ist von den schlauen Beduinen
unter anderem auch meine Bü- Haben Sie keine Skrupel, eine Wo? über den Tisch gezogen
cher. Deshalb lädt er mich immer solche Einladung anzunehmen? Im Untergeschoss seiner Festung worden.
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Migros-Magazin 36, 31. August 2009 INTERVIEW JEAN ZIEGLER | 21
Querdenker Jean Ziegler
Jean Ziegler (75) ist Soziologe, Politiker und Autor. Er war lange Zeit Genfer
Nationalrat für die Sozialdemokraten. Von 2000 bis 2008 war er
Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. 2008 wurde
Ziegler in den Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats gewählt,
Anfang August 2009 dann zu dessen Vizepräsidenten. Ziegler war
persönlich befreundet mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir.
Er begleitete einst auch Che Guevara bei dessen Besuch in der Schweiz.
Als Professor hat er an den Universitäten Genf und Sorbonne in Paris
gearbeitet. Ziegler hat verschiedene Sachbücher veröffentlicht, die in
mehrere Sprachen übersetzt wurden. Sein neustes Buch, das im Septem-
ber auf Deutsch erscheint, trägt den Titel «Der Hass auf den Westen»
und erscheint im Bertelsmann Verlag. Ziegler erhielt dafür Ende 2008 in
Paris den Literaturpreis für Menschenrechte.
Wie konnte so etwas suchte, trug er ein T-Shirt mit ei- dank den Ölmultis möglich, vor Oh, das ist ein sehr wichtiger Un-
passieren? nem Foto des Anführers eines allem dank Shell. terschied. Ich spreche von einem
Merz hat sich in Macho-Manier in Aufstandes gegen die Italiener im rationalen, von einem Vernunft
Pose setzen wollen. Er hat gesagt: Jahr 1931. Wir Europäer würden Ist das nicht ein bisschen geleiteten Hass. Es gibt auch einen
Die Diplomaten haben versagt, sagen: Der spinnt ja. Aber für die schlicht gedacht? Müssen nicht krankhaften Hass.
jetzt regle ich das mit Gaddafi von Menschen in Nordafrika war das auch die Entwicklungsländer
Mann zu Mann. Das ist schiefge- eine Geste von höchster Symbol- selbst dafür sorgen, dass ihr Schön, aber was genau ist der
laufen. kraft. Das verwundete Bewusst- Haus in Ordnung ist? Unterschied?
sein dieser Menschen ist heute Natürlich sind die Afrikaner ge- Der vernunftgeleitete Hass richtet
War die Verhaftung von Gadda- noch eine politische Kraft. nau so in die Verantwortung ge- sich gegen ein Unterdrückungs-
fis Sohn tatsächlich eine Panne? bunden wie wir. Das ist sonnen- system, gegen strukturelle Gewalt.
Ja, die Genfer Polizei ist vom Das verwundete Bewusstsein in klar. Aber gerade die nigerianische Der krankhafte Hass der Al Qaida,
israelischen Geheimdienst mani- Ehren, aber gerade Libyen ist Elite wird von den Ölgiganten im Taliban und so weiter ist ein
puliert worden und hat überre- heute dank Öl ein sehr reiches grossen Stil korrumpiert. Deswe- perverser Hass gegen Menschen-
agiert. Land und kann sein Schicksal gen werden sie von den Völkern gruppen, gegen Juden, Christen,
doch selbst in die Hand nehmen. gehasst. Mir geht es um die Völker Weisse, was auch immer. Um die-
Sind die Hausangestellten gar Bis ins Jahr 2003 haben Sie unter und deren verwundetes Bewusst- sen Hass geht es nicht in meinem
nicht misshandelt worden? einem totalen Embargo gelitten. sein, nicht um korrupte Eliten. Buch. Dieser krankhafte Hass
Gaddafis Sohn soll ein verzogener muss mit allen Mitteln bekämpft
fils à papa sein und sehr arrogant. Dabei hat der Terroranschlag Warum ist dieses verwundete werden.
Ich kann mir schon vorstellen, von Lockerbie im Dezember Bewusstsein heute noch wichtig?
dass er seine Angestellten schlecht 1988 eine wichtige Rolle Die Erinnerung an Sklaverei und Das tönt in der Theorie gut. In
behandelt. Das weiss ich aber gespielt. Kolonialismus werden heute zum der Praxis gibt es einen Diktator
Ja, und dann kam Motor der Geschichte. Diese Völ- wie Mugabe in Zimbabwe, der
die Tinner-Ge- ker wollen Wiedergutmachung. dank vernunftgeleitetem Hass
«Gaddafis Sohn soll schichte,
Schmuggel von
der Ich will Ihnen ein Beispiel schil-
dern: Als der französische Staats-
an die Macht gekommen ist und
sein Land in das totale Elend
ein verzogener Material für eine
Atombombe von
präsident Nicolas Sarkozy 2007
zum ersten Mal nach Algerien
geführt hat.
Mugabe ist eine tragische Gestalt,
fils à papa sein.» Pakistan nach Li-
byen. Gaddafi ist
reiste, verlangte der algerische
Präsident Bouteflika, ein sehr zivi-
er hat als ehrlicher Vertreter sei-
nes Volkes mit berechtigten Anlie-
ein totaler Oppor- lisierter Mann, als erstes eine Ent- gen begonnen und wurde immer
nicht. Sicher ist, dass die Genfer tunist und hat sich sofort dem schuldigung für ein fürchterliches paranoider. Er hat den Boden un-
Polizei viel zu heftig reagiert hat. Westen gefügt. Heute hätte er die Massaker der französischen Ar- ter den Füssen verloren. Heute ist
Mittel, aus Libyen einen souverä- mee im Algerienkrieg. Sarkozy er ein gefährlicher Spinner.
Der Fall Gaddafi und die nen Staat zu machen. geriet völlig aus dem Konzept,
Schweiz steht quer zur These doch Bouteflika blieb hart und Werden nicht alle von vernünfti-
Ihres jüngsten Buches. Sie In Ihrem Buch schildern Sie auch sagte: Das Gedächtnis sei wich- gem Hass geleiteten Menschen
wollen eigentlich Verständnis das Beispiel Nigeria. Das Land tiger als die Geschäfte. Frankreich gefährliche Spinner, sobald sie
für den Hass der Entwicklungs- ist dank Öl auch sehr reich, hat sich nicht entschuldigt, und an die Macht gelangen?
länder auf den Westen wecken. trotzdem leben die meisten bis heute hat es keine Verhandlun- Nein, Nelson Mandela wurde eine
Mir geht es um das verwundete Menschen in grösster Armut. gen gegeben. Lichtgestalt. Der bolivianische
Bewusstsein dieser Völker. Das ist Was kann der Westen dafür? Präsident Ivo Morales, der erste
bei den Berbern sicher der Fall. Die Militärjunta und die Herr- Wo liegt der Unterschied von Indianer-Präsident in Süd-
Als Gaddafi kürzlich Italien be- schaft einer Oligarchie sind nur Hass und Fanatismus? amerika, ist ebenfalls ein
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«Die
Landwirtschaft
könnte doppelt
so viele
Menschen
ernähren.»
Jean Ziegler zur Tatsache, dass
sich allein im letzten Jahrhundert
die Anzahl Menschen vervierfacht
hat.
sehr positives Beispiel. Ich Westen muss seine Verantwortung könnte ja sogar doppelt so viele stände hervorruft, sondern bloss
will mit meinem Buch dazu wahrnehmen. Menschen ernähren. die Symptome.
beitragen, dass die Europäer die-
sen vernünftigen Hass verstehen. Wie denn? Mit Rockstars wie Wenn es mit der Entwicklungs- Was genau muss man
Nur so kann man den krankhaften Bono und Hilfsprogrammen wie hilfe nicht so recht klappt, angreifen?
Hass vermeiden. dem UN-Milleniumprogramm? was müsste dann geschehen? Den Kapitalismus und die kanni-
Die Ziele dieses Programmes wer- Der Westen müsste weniger steh- balische Weltordnung.
Was ist mit Hugo Chavez in den ja nicht erfüllt. Die Zahl der len.
Venezuela und Fidel Castro in Menschen, die Hunger leiden, Sie reisen oft in diese Entwick-
Kuba? sollte bis 2015 halbiert sein. Tat- Es gibt ja auch eine lungsländer. Haben Sie
Ich zähle sie ebenfalls zu den Ver- sächlich hungern heute doppelt so konservative Kritik an der nicht manchmal Lust zu sagen:
tretern des vernünftigen Hasses. viele Menschen wie zu Beginn Entwicklungshilfe. Für He, Jungs, jetzt jammert
Wenn wir sie nicht ernst nehmen, dieses Jahrhunderts. Milliarden Schlagzeilen sorgt etwa die nicht, krempelt die Ärmel hoch?
werden sie durch viel gefährli- von Menschen befinden sich am Afrikanerin Dambisa Moyo, die Es gibt in diesen Ländern heute
chere Vertreter des krankhaften Rande der Unterernährung. Alle sagt, diese schade mehr als schon sehr viele Menschen, die
Hasses ersetzt. fünf Sekunden stirbt ein Kind. Das dass sie nütze. ihre Ärmel hochkrempeln. Die
sagen die Statistiken der Welt- Das ist gefährliche Demagogie. Es Befreiungsbewegung Polisario
Woran denken Sie? ernährungsorganisation. Die glei- ist sicher richtig, dass es in Afrika beispielsweise hat im südlichen
Heute gibt es eine unglaubliche che Statistik sagt auch, dass es auf Länder gibt, die de facto von Afrika eine unglaubliche Dynamik
Renaissance des Islam. Dabei gibt dem Planeten Erde genügend nicht-staatlichen Hilfsorganisati- entwickelt.
es einerseits einen sehr zivilisier- Nahrung gäbe, um zwölf Milliar- onen, den NGOs, geführt wer-
ten Islam, gehen Sie einmal nach den Menschen satt zu machen. den. Sie unterhalten die Spitäler, Trotzdem hat selbst US-
Damaskus. Es gibt aber auch die sorgen für geniessbares Trink- Präsident Barack Obama
Taliban, Traditionen wie Hände- Das Problem der Überbevölke- wasser. Es stimmt auch, dass die Afrikaner zu mehr
abschneiden, Frauen steinigen rung, die Tatsache, dass sich deswegen der Staat unterent- Selbsthilfe aufgerufen.
und so weiter. Die gewinnen, allein im letzten Jahrhundert die wickelt bleibt. Und es stimmt Das ist gut. Die korrupten Macht-
wenn wir die Anliegen des von Zahl der Menschen auf der schliesslich auch, dass da und haber sind eine Pest. Die müssen
Vernunft geleiteten Hasses nicht Erde vervierfacht hat, beun- dort abgezockt wird. Aber Kriti- angegriffen werden, die müssen
zur Kenntnis nehmen, wenn wir ruhigt Sie nicht? ker wie Moyo bleiben lediglich an weg. Da hat Präsident Obama völ-
sie mit westlicher Arroganz abblit- Überhaupt nicht. Weshalb sollte der Oberfläche. Sie greifen nicht lig Recht. Interview Philipp Löpfe
zen lassen. Das ist gefährlich. Der es auch? Die Landwirtschaft das System an, das diese Miss- Bilder Fred MerzSie können auch lesen
