Kosovo: Transnationale Identität als Katharsis Iva Milutinovic

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Kosovo: Transnationale Identität als Katharsis
Iva Milutinovic

Der Kosovo ist ein Spannungsfeld. Noch heute herrscht trotz eines
mittlerweile geklärten völkerrechtlichen Status große Uneinigkeit über
den historischen Anspruch auf das vormalige Teilgebiet des
ehemaligen Jugoslawiens. Ein mittlerweile über hundertjähriger Streit
zwischen der serbischen und der albanischen Bevölkerung des Kosovo
ist im Jahre 1999 in einem brisanten Konflikt eskaliert. Seitdem hat es
einige große Veränderungen in der Region sowie in der serbischen
Politik gegeben. Angehörige westlicher Organisationen haben sich
enorm um eine Verbesserung der Lage in der Konfliktregion bemüht,
doch die verbuchten Erfolge stehen in einem klaren Missverhältnis
zum erbrachten Aufwand, denn die Zukunft des Kosovo ist nach wie
vor ungewiss.

Ein Staat mit zwei Geschichtsbildern
Das Verhältnis zwischen dem serbischen und dem kosovoalbanischen
Volk gilt auch heutzutage als sehr kompliziert. Die Gründe dafür sind
zahlreich. Als eine der bedeutenderen Ursachen des Konfliktes
erweisen sich vor allem die sich widersprechenden Geschichtsbilder
beider Nationen. Sowohl die Serben als auch die Albaner verweisen
auf eine frühere Besiedelung des Kosovos durch ihr eigenes Volk und
bestehen daher auf ihrem historischen Recht. In beiden Gesellschaften
ist man sich einig: Der Kosovo ist und bleibt die Wiege der eigenen
Nation. Auch fundierte wissenschaftliche Berichte, die eine mögliche
Vorherrschaft beider Völker im frühen 6. Jahrhundert dementieren,
stoßen zumeist bei Serben wie Albanern gleichermaßen auf wenig bis
gar keine Beachtung.
Doch worin liegt die besondere Überzeugung begründet, die beide
Nationen im Bezug auf den Kosovo entwickelt haben? Woraus
entsteht eine so feste Entschlossenheit und ein derart ungebremster
Handlungswille im Kampf um den Erhalt des eigenen historischen
Kernlandes? Wie so häufig steckt auch in diesem Fall das über
unzählige Generationen tradierte Gedenken an ein gemeinsam
erfahrenes Schicksal und das Bewusstsein einer Verantwortung, die
dadurch entstanden ist und das jedem einzelnen Mitglied der
Gesellschaft übertragen wird, hinter dem starken Zusammenhalt des
Volkes.

Der Kosovo und die Macht der Mythen
Der Ursprung des Mythos, der das serbische Volk in der Geschichte
schon viele Male vereint und gestärkt hat, liegt weit zurück: Eine
Niederlage des serbischen Volkes gegen das osmanische Heer im
späten 14. Jahrhundert sollte schon kurze Zeit später an enormer
Bedeutung gewinnen. Die blutige Schlacht, die sich im Übrigen an
dem sagenumwobenen        Ort   des Amselfeldes     (Kosovo    Polje)
zugetragen hatte, forderte auf beiden Seiten viele Todesopfer ein und
brachte den Verlust der Herrscher beider Völker mit sich.
Insbesondere Letzteres hinterließ einen enormen Eindruck auf die
serbischen Zeitgenossen: in kürzester Zeit entstand eine Vielzahl von
Erzählungen und Lyriken über das Ableben des eigenen Fürsten, auf
deren Inhalte man sich zum Teil noch heute beruft. Die Rede ist von
der Uneinigkeit des eigenen Volkes, vom Verrat, aber auch vom
Heldentum der Serben. Unterstützt von der Serbischen Orthodoxen
Kirche, die den Fürsten sogar heilig sprach, entwickelte sich
schließlich ein Mythos, der in seiner Wirkung auf die damalige wie
heutige Gesellschaft kaum zu übertreffen ist. Er führte so weit, dass
sich die Serben als ein auserwähltes Volk verstanden, dem bei der
Schlacht auf dem Amselfeld Unrecht widerfahren war. Das Resultat
dieser Denkweise war schließlich die Überzeugung, dass man sich in
einem ständigen Kampf gegen äußere Feinde befinde und sich
gemeinsam zur Wehr setzen müsse. In den vergangenen Jahrzehnten
also insbesondere gegen die Kosovoalbaner, die sich mit einer
deutlich höheren Bevölkerungsrate für einen autonomen Kosovo
einsetzten. Politisch instrumentalisiert wurde der Mythos nun zu einer
äußerst gefährlichen Waffe in den Händen der serbischen Politiker, die
Ende der Achtziger Jahre an der Macht waren. Insbesondere Slobodan
Milošević verstand es wohl, mit dieser Waffe umzugehen und sie für
seine persönlichen Machtbestrebungen einzusetzen.
Seit einigen Jahren aber lässt sich ein neuer Trend in der serbischen
Politik verzeichnen, der da heißt: Weg vom Mythos. Insbesondere im
Hinblick auf die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen
wie den Vereinten Nationen oder der Europäischen Union, weiß man
in Serbien, dass man von den alten Strukturen ablassen und neue
Wege finden muss, um einen Fortschritt des eigenen Staates erlangen
zu können.

Der Westen mischt sich ein: Die Entstehung einer Demokratie
Während in der ersten Jahreshälfte 1999 im Kosovo noch der Krieg
tobte, suchte man im Westen bereits nach Lösungen für das
Kosovoproblem. Man einigte sich schließlich darauf, den Kosovo der
Schutzherrschaft der Vereinten Nationen zu unterstellen und eine
internationale Verwaltung im Kosovo einzurichten. Das langfristige
Ziel sollte dabei ein unabhängiger und demokratischer Staat Kosovo
sein. Ebendies wurde aber zum schärfsten Streitpunkt zwischen
Serbien und dem Westen. Im ersteren fühlte man sich erneut verraten,
unverstanden und als Opfer äußerer Feinde. Der ewige Kreislauf
schien kein Ende zu nehmen.
Im Kosovo fand unterdessen einer der ersten und bedeutendsten
globalen Einsätze statt. Allein im Jahr 2000 fanden sich mehr als
100.000 Angehörige der Vereinten Nationen sowie zahlreicher
Nichtregierungsorganisationen ein, um die Entstehung der neuen
Demokratie   tatkräftig   zu   unterstützen. Auch    die   finanzielle
Unterstützung fiel weitaus umfangreicher aus als es bis dato für
andere Nachkriegsgesellschaften üblich war.
Dennoch sah sich die von den Vereinten Nationen entsendete Mission
im Kosovo vor einen unüberwindbaren Berg von Problemen gestellt.
Trotz Aufwendung umfangreicher Mittel konnten die dringendsten
Probleme     wie    die    Wirtschaftskrise,   der     Mangel      an
Energievorkommen, die hohe Arbeitslosenrate, die Rechtsstaatlichkeit
sowie die ethnischen Spannungen nicht gelöst werden.
Doch immerhin konnten weitere Unruhen zwischen den Ethnien
verhindert werden. Darüber hinaus nahm man sich sehr konzentriert
der   Etablierung   eines   kosovarischen    Parlaments    mit    einem
Präsidenten und einer Regierung mit Ministerien sowie einer lokalen
Polizei an und wirkte auf sämtliche gesellschaftliche Bereiche der
Kosovaren ein.
Mit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar
2008 konnte das Kosovoproblem jedoch keineswegs vollständig
gelöst werden. Denn nur weil man es eine Zeit lang in den
Hintergrund geschoben und ihm nicht die volle Aufmerksamkeit
geschenkt hatte, heißt es nicht, dass es einfach nicht mehr existent
war. Serbien hat bis heute die Unabhängigkeit des Kosovo nicht
anerkannt und arbeitet auch weiterhin auf die Teilung des Gebietes
hin, um wenigstens einen Teil des historischen Kernlandes für sich
beanspruchen zu können. Doch die Mühe scheint vergeblich: Die
Unabhängigkeit des Kosovo wurde mittlerweile von 58 Staaten
anerkannt. Dennoch bedarf der junge Staat noch umfangreicher
Unterstützung und es ist noch nicht gewiss, ob sich ein wirtschaftlich
derart desolates System mit einer übermäßig hohen Geburtenrate und
einer starken organisierten Kriminalität auf Dauer halten kann.

Transnationale Identität als Lösung interkultureller Spannungen?
Der völkerrechtliche Status des Kosovo scheint mit der Deklaration
der Unabhängigkeit geklärt. Doch wie steht es um das Problem
zwischen den Ethnien? Unter den aktuellen Voraussetzungen scheint
ein multiethnisches Kosovo, wie es sich die UNO erwünschte, kaum
realisierbar. Der albanische Teil der Gesellschaft dominiert in
sämtlichen Bereichen und der serbische nimmt bewusst Abstand von
den neuen Strukturen und orientiert sich weiter an der serbischen
Regierung. Die Teilnahme an kosovarischen Wahlen empfinden die
Serben als Zumutung und nehmen sie nicht wahr. Unter diesen
Voraussetzungen gestaltet sich die Versöhnung beider Völker als
bedeutend schwieriger als es Beobachtern begreifbar ist. Dabei ist eine
Lösung des Kosovoproblems nur durch eine solche möglich. Dafür
bedarf es aber eines besonderen, von den nationalen Strukturen
losgelösten Rahmens. Doch wo finden wir einen solchen Rahmen?
Die Antwort auf diese Frage könnte lauten: Europa. Die Idee, die sich
dahinter verbirgt, ist eine Vereinigung beider Völker in einer
transnationalen Identität. Das alte Modell der nationalen Identitäten
scheint in solchen Streitfällen nicht mehr zu greifen und man muss
sich auf die Suche nach neuen machen. Dies bedeutet zunächst sich
mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, um sie zu
bewältigen, aber auch die Sicht des anderen zu akzeptieren. Im Fall
des Kosovo bedeutet dies vor allem, die unterschiedlichen
Geschichtsbilder als gegeben anzunehmen und sich von den alten
Ansprüchen loszulösen. Nur dann ist mithilfe der Unterstützung durch
die Europäische Union eine schrittweise Annäherung und eine
langfristige Versöhnung beider Nationen möglich.
Weiterführende Literatur:

Džihić, Vedran/ Kramer, Helmut (2006): Die Kosovobilanz. Wien:
LIT Verlag.

Funke, Hajo (1999): Unter unseren Augen: ethnische Reinheit: die
Politik des Regime Milosevic und die Rolle des Westens. Berlin: Das
Arabische Buch.

Meier, Viktor (2001): Jugoslawiens Erben. München: C.H. Beck.

Schmitt, Oliver Jens (2008): Kosovo. Kurze Geschichte einer
zentralbalkanischen Landschaft. Wien: Böhlau Verlag.

Sundhaussen, Holm (2008): Serbiens extremes Zeitalter in: Becker,
Jens; Engelberg, Achim: Serbien nach den Kriegen. Frankfurt am
Main: Suhrheim Verlag.
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