Parteiausschlussverfahren im Spannungsfeld von Identitätsfindung und Transformation

 
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Parteiausschlussverfahren im
Spannungsfeld von Identitätsfindung
und Transformation
Simon Franzmann                                                2023-03-17T16:29:09

Seit es Parteien gibt, gibt es Parteiausschlussverfahren. In den letzten Jahren
haben sich jedoch prominente Fälle gehäuft. Es scheint, dass die öffentliche
Aufmerksamkeit für solche Verfahren stark zugenommen hat, wie die jüngsten
Beispiele von Schröder, Palmer und Maaßen zeigen. Früher waren solche Verfahren
in der Regel auf Parteien des linken Spektrums wie die SPD beschränkt, aber jetzt
gerät auch die CDU verstärkt in die Schlagzeilen.

Eine mögliche Erklärung ist der beschleunigte Wandel der politischen Landschaft,
der die Identität der Parteien besonders herausfordert. Parteiausschlussverfahren
spiegeln stets ein Ringen um die Parteiidentität wider. Stets entsteht das Dilemma,
Meinungsvielfalt zuzulassen ohne zugleich einen Präzedenzfall zu schaffen,
von der offiziellen Parteilinie straflos abzuweichen. In der Vergangenheit ging es
bei der SPD häufig um die Verfassungstreue und die Auseinandersetzung um
einen revolutionären oder demokratisch-reformorientierten Kurs. Dies betraf eher
jüngere Parteimitglieder, und der Ausschluss wurde als „Erziehungsmaßnahme“
betrachtet. Heute stehen eher ältere Mitglieder im Fokus, die bereits Ämter für die
Partei und das Land ausgeübt haben. Bei solch prominenten Politiker*innen sind
Ausschlussverfahren stets eine Gratwanderung zwischen berechtigen öffentlichen
Interesse und internen Entscheidungsprozessen.

Wenn ein ehemaliger Ministerpräsident oder gar ein Bundeskanzler ausgeschlossen
wird, ist das ungleich spektakulärer als bei einem „normalen“ Mitglied. Auch der
Strukturwandel der öffentlichen Debattenkultur durch die Etablierung sozialer
Medien verstärkt dies sicherlich. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, warum nun
zunehmend die Parteiprominenz Gegenstand der Ausschlussverfahren wird. Und da
scheint der sich wandelnde gesellschaftliche wie politische Kontext eine erhebliche
Rolle zu spielen.Was in der Politikwissenschaft als Wandel des politischen Raums
bezeichnet wird, ist im Alltag oft schwer zu erfassen. Dieser Wandel umfasst die
Abkehr von der Konfliktkonstellation des Industriezeitalters um die Ausgestaltung
des Wirtschaftssystems und des Sozialstaats hin zu kulturellen Fragen, der
Einbindung des Nationalstaats in eine entgrenzte Welt und der Transformation der
Wirtschaft in eine klimaneutrale, digitale Wissensgesellschaft. Diese fundamentale
Transformation bringt alte Gewissheiten und Parteiloyalität ins Wanken.

Die öffentliche Austragung von Parteiausschlussverfahren gibt dem Drama eine
Bühne, wie Parteien versuchen, sich an die rasant verändernden Umstände
anzupassen, dabei Wählerschaften verlieren, manchmal gewinnen, aber stets darum
bemüht sind, ihre Identität zu erhalten.

                                        -1-
Erziehungsmaßnahme Benneter vs. Sündenbock
Schröder
Wie unterschiedlich Parteiausschlussverfahren die Identitätsfragen einer Partei
früher und heute widerspiegeln, lässt sich prototypisch an den SPD-Fällen Benneter
und Schröder illustrieren. Erfolgt der Ausschluss Benneters vor dem Hintergrund
klassischer sozialdemokratischer Narrative in Abgrenzung zum Kommunismus,
geht es bei Schröder um seine politischen „Sünden“ der früheren Agendapolitik und
heutigen Russlandnähe.

Benneter wurde 1977 als Juso-Vorsitzender aus der SPD ausgeschlossen. Wie
bei zahlreichen Verfahren innerhalb der SPD zuvor ging es um die Abgrenzung
gegenüber kommunistischen Strömungen und Parteien. Die damalige SPD-Führung
war um die Unterstützung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung besorgt –
so wie es Jahrzehnte zuvor in der SPD stets Auseinandersetzungen zwischen den
reformorientierten und revolutionären Flügeln gab.

                                              1)
Benneter als Vertreter des Stamo-Kap-Flügels galt hier als verdächtig – vor
allem, nachdem er den Aufruf zu einer Abrüstungsdemonstration des „Komitees für
Frieden, Freiheit und Abrüstung“ unterstützt und Kommunisten als Gegner, aber
nicht Feinde, bezeichnet hatte. Trotz Rücknahme seines Aufrufs und seiner guten
politischen Vernetzung wurde er ausgeschlossen.

Sein Verfahren war durchaus typisch. Bis 1990 erwischte es häufig
Vertreter*innen des linken SPD-Flügels und des vermeintlich oder tatsächlich
zu kommunistenfreundlichen Juso-Nachwuchses, die als Erziehungsmaßnahme
und zur Abschreckung von Nachahmern aus der SPD ausgeschlossen wurden.
Hatte diese Erziehungsmaßnahme gewirkt, konnten Ausgeschlossene wieder
zurückkommen. Der Fall Benneter ist hier in gewissem Sinne spektakulär: Auf
Betreiben seines Nachfolgers als Juso-Vorsitzender, dem späteren Bundeskanzler
Gerhard Schröder, kehrte Benneter zurück in die Sozialdemokratische Partei.
Seine Verfassungstreue wurde nicht mehr angezweifelt. Benneter stieg sogar
2004 bis 2005 zeitweilig zum Generalsekretär der SPD auf. Derjenige, dessen
programmatische Ausrichtung einst als zu problematisch für die Zukunft der
SPD galt, war nun genau für ebendiese aktuelle und künftige programmatische
Ausrichtung zuständig.

Die Kontrastfolie zur „Erziehungsmaßnahme“ Benneter liefert ausgerechnet sein
alter Förderer Gerhard Schröder. In seinem Fall geht es nicht mehr um die künftige
Ausrichtung, sondern um eine Mischung aus Vergangenheitsbewältigung und
persönlicher Wirkung.

Schröder war ursprünglich durch seine Wirtschaftsnähe und dann spätestens mit
der Agenda 2010, die zur Abspaltung der WASG (offizieller Name: Arbeit & soziale
Gerechtigkeit – Die Wahlalternative) und nach deren Zusammenschluss mit der
vormaligen PDS zur Partei Die Linke führte, für Teile der SPD verdächtig geworden.

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Die späteren Wahlniederlagen wurden dem Kompetenz- und Vertrauensverlust in
der Sozialpolitik der SPD durch die Agenda-Politik zugerechnet.

Aber nicht seine Agenda-Politik, sondern sein energiepolitisches Engagement
holt Schröder nun ein. Seine Nähe zu Russland und seine langjährige Tätigkeit
für GAZPROM werden ihm angesichts des russischen Angriffskrieges gegen
die Ukraine als parteischädigendes Verhalten ausgelegt. Anders als im oben
beschriebenen Fall Benneter ist hier aber klar, dass Schröder nicht mehr die künftige
Politik der SPD und ihren ideologischen Kurs aktiv beeinflussen möchte. Teile der
SPD wollen sich von der Person Schröder distanzieren aus der Furcht heraus,
ansonsten für seine unpopuläre Russlandnähe an den Wahlurnen bestraft zu
werden, ähnlich wie es bei der Agenda-Politik der Fall war.

Aber es geht in diesem Verfahren nicht nur darum, Schröder als Sündenbock zu
nutzen, es geht auch hier um die Identität der Partei, um die Idee, zu den „Guten“ zu
gehören. Und diese Identität ist in unsicheren Zeiten nicht nur in der SPD gefährdet.

Der Wandel des politischen Raums und
Parteiausschlussverfahren
Die Zeiten sind unsicher angesichts des massiven gesellschaftlichen und
politischen Wandels – schon vor dem außenpolitischen Zeitenbruch angesichts
des Ukrainekriegs. Seit der Hoch-Zeit der Beschäftigung im Industriesektor
in den 1960er und 1970er Jahren hat sich das Hauptfeld der politischen
Auseinandersetzung allmählich von ökonomischen Fragen zu kulturellen
Lebensstilfragen, der Umwelt- und Klimapolitik sowie des Umgangs mit offenen
Grenzen und Migration verschoben. Diese Themen dominieren nun die Agenda und
spalten die politischen Lager.

Die öffentlich ausgetragenen Diskussionen zum Parteiausschluss reflektieren diesen
Wandel: Palmer, Sarrazin, Wagenknecht, Maaßen. Alle vier aufgeführten Fälle sind
kulturelle „Rechtsabweichler“ in ihren Parteien.

Die Fälle Sarrazin und Wagenknecht sind ein Symptom des Wandels. Im alten,
industriepolitisch geprägten Paradigma deutscher Politik kamen ihre Themen nicht
auf die Agenda. Erst die Politisierung der gesellschaftlich-kulturellen Fragen zu
Migration und der Rolle Deutschlands in der Welt lässt heute die Sollbruchstellen zu
ihren eigenen Parteien erkennen.

Der Fall Boris Palmer hat wiederum einen eigenen Charakter. Palmers Abweichen
in kulturellen Fragen bedroht direkt das Selbstverständnis der Grünen als
Partei universalistischer Werte. Palmer stellt die orthodoxe Interpretation grüner
Kernthemen infrage. Mit der Alltagsexpertise eines Bürgermeisters kann er
mutmaßliche Grenzen grüner Migrationspolitik benennen. Rabiat bringt er dies
öffentlich zum Ausdruck – und verschärft damit den ohnehin stets schwelenden
Flügel- und Richtungsstreit bei den Grünen.

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Bei Palmer geht es um mehr als um einen Richtungsstreit. Ihm wird vorgeworfen, in
einer Buchveröffentlichung den Boden des Grundgesetzes verlassen zu haben, als
er von Migranten ein „gesetzestreueres Verhalten“ als von den Deutschen verlangte.
Auch hier ist es eine Identitätsfrage, die über die Personalie Palmer ausgetragen
wird. Bis Ende 2023 ruht die Parteimitgliedschaft Palmers.

Seit seines abermaligen Wahlerfolges als Tübinger Bürgermeister als
unabhängiger Kandidat gibt es Bemühungen, ihn wieder zu integrieren. Innerhalb
der Grünen findet er für seine Positionen zunehmend Unterstützung bei
Kommunalpolitiker*innen. Die Diskussion um Palmer veranschaulicht für ein großes
Publikum das Ringen zwischen den grünen Idealen in der Flüchtlingspolitik und den
Realerfordernissen bei der Flüchtlingsunterbringung.

Die Identitätssuche der CDU
Angesichts des fundamentalen Wandels der politischen Landschaft verwundert es
nicht, dass eine der aktuell spektakulärsten Diskussionen um einen Parteiausschluss
in der CDU stattfindet. Die Auseinandersetzung über Hans-Georg Maaßen führte
zu Forderungen nach Ausschluss und Gegenausschlussverfahren. So verlangte
die südthüringische CDU jüngst den Ausschluss der schleswig-holsteinischen
Bildungsministerin Karin Prien, weil sie im Bundestagswahlkampf 2021 indirekt
dazu aufgefordert habe, Maaßens Gegenkandidaten Frank Ullrich (SPD) zu wählen.
Freilich kam diese Gegenforderung erst 15 Monate nach der Wahl und war somit
eher ein Instrument der Medieninszenierung.

Ein Muster wiederholt sich hier im Fall Maaßen, wie wir sie aus den anderen
diskutieren Fällen kennen: eine ehemalige Person der Exekutive – allerdings kein
Minister – vertritt Positionen, die für die Mehrheit der Partei nicht akzeptabel ist.

Der Fall Maaßen ist die Personifizierung der Auseinandersetzung über die
gesellschaftspolitische Modernisierung der CDU in den Merkel-Jahren. Die
programmatische Entkernung, die von der Werteunion beklagt wird, ist eine, die sich
vor allem auf konservative Positionen im Bürgerschaftsrecht bezieht. Es geht hier
um den Markenkern damit um die Debatte, was in der Vergangenheit Wählerrückhalt
gekostet hat und künftig ebendiesen erhalten kann. Die Unterstützer*innen von
Maaßen sehen den Erfolg der AfD (nicht ganz zu Unrecht) als Folge der Politik
der Merkel-Jahre und der (vermuteten) Aufgabe alter Positionen im konservativen
Spektrum. Die Gegner wiederum können den gesellschaftlichen Wertewandel
anführen, dass die alten konservativen Positionen selbst in der Union nicht mehr
mehrheitsfähig waren und die 16jährige Regierungsführerschaft 2005 bis 2021 ohne
diesen Kurs nie zustande gekommen wäre.

Während die einen also den Verlust der Regierungsbeteiligung auf die
Modernisierung zurückführen, fürchten die anderen, in Zukunft nicht mehr
mehrheitsfähig zu sein, sollte die CDU einen hart konservativen Kurs einschlagen. In
der Person Maaßen kristallisiert sich der Kampf um Vergangenheit und Zukunft der
CDU.

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Parteiausschlussverfahren bei prominenten Persönlichkeiten sind stets eine
Gratwanderung zwischen notwendiger öffentlicher Auseinandersetzung und internen
Entscheidungsprozessen. Neben der höheren Transparenz dieser Verfahren gibt es
mutmaßlich einen gesellschaftlichen Nutzen: Im persönlichen Drama prominenter
Politiker*innen in der Auseinandersetzung mit ihrer Partei wird der Kampf um die
Anpassung in einer zunehmend komplexen politischen Landschaft sichtbar und für
ein großes Publikum nachvollziehbar.

Für die Partei selbst ergibt sich zudem das Dilemma, Meinungsvielfalt zuzulassen
ohne zugleich einen Präzedenzfall zu schaffen, wie stark von der offiziellen
Parteilinie und Identität straflos öffentlich abgewichen werden kann.

References

  • STAMOKAP – Staatsmonopolistischer Kapitalismus.

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