Radio, Spiel und Welt - Inge Arteel - Germanistische Mitteilungen

Die Seite wird erstellt Wolf Krämer
 
WEITER LESEN
Inge Arteel

                                   Radio, Spiel und Welt
                                   George Taboris Hörspiel Erste Nacht letzte Nacht

                                   Abstract: This article considers the transmedial characteristics of the radio play First Night
                                   Closing Night, the radiophonic adaptation by George Tabori and Jörg Jannings of a short
                                   story by Tabori about the rehearsals for a performance with a deadly outcome. The story
                                   addresses political, ethical and aesthetical issues: it considers the coerced collaboration of the
                                   narrator, a stagehand of the director, in the deadly staging of a theatre play. In comparison
                                   with the narrative structure of the prose text the article analyses several aspects of the multi-
                                   layered acoustic presentation of this complex problem in the radio play, such as the pathos of
                                   the spoken voice and the rehearsal of a song as part of the soundscape. The article argues that
                                   the use of these specific radiophonic features both increases the complexity of the central issue –
                                   the complicity of the stagehand – and suggests a tentative form of resistance against the deadly
                                   perfection of the play.
                                   Keywords: George Tabori – radio play – audionarratology – unnatural narratology –
                                   transmediality

                                   George Taboris Name wird sowohl in der wissenschaftlichen Forschung
                                   als auch im öffentlichen Gedächtnis nahezu ausschließlich mit dem Thea-
                                   ter in Verbindung gebracht. Dabei wird übersehen, dass von Tabori auch
                                   mehrere Hörspiele vorliegen. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren
                                   hat sich Tabori immer wieder dem Rundfunk zugewandt, und dies in ver-
                                   schiedenen Tätigkeiten: als Autor von Hörspielen, als Regisseur eigener
                                   und fremder Werke und als Schauspieler bzw. Sprechstimme.1 Neben die-
                                   sem vielseitigen Engagement im radiophonen Medium fällt auch eine pro-
                                   duktionsgenetische Besonderheit auf, die seine Werke immer wieder mit
                                   dem Radio verbindet: Aus Erzählungen oder Dramen entstehen Hörspiele
                                   oder vice versa. Oft wandert ein bestimmter Stoff transmedial durch drei
                                   Medien (Buch, Theater, Radio). Ein bekanntes Beispiel ist Taboris Erzäh-

                                   1   Die ARD-Hörspieldatenbank erwähnt 12 gesendete Hörspiele von Tabori als alleini-
                                       gem Autor. Vgl. http://hoerspiele.dra.de. Letzter Zugriff: 15. September 2019.
                                       Tabori wurde mehrmals für seine Hörspiele geehrt. 1981 bekam er den Großen
                                       Kunstpreis Berlin für seine Leistungen als Hörspielautor und Regisseur und 1985
                                       den ersten Frankfurter Hörspielpreis für sein Gesamtwerk als Autor und Regisseur.
                                       Auch einzelne Hörspiele gewannen Preise, so die Hörspielfassung von Weismann und
                                       Rotgesicht 1978 den renommierten Prix d’Italia.

                                   Germanistische Mitteilungen 45.1-2 | 2019                                                      51

                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                  © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Inge Arteel

                                                                   lung Mein Kampf, deren Handlungskern die fiktive Freundschaft zwischen
            for personal use only / no unauthorized distribution

                                                                   dem jungen Hitler und einem Juden in einem Wiener Obdachlosenasyl um
                                                                   1910 darstellt. Aus der 1986 in deutscher Übersetzung erstpublizierten Er-
                                                                   zählung wurde ein Drama (1987 am Akademietheater in Wien urauf-
                                                                   geführt) und ein Jahr später ein Hörspiel.2 Bei einem anderen berühmten
                                                                   Beispiel, Mutters Courage, kommt noch ein viertes Medium hinzu: Die Ge-
                              Winter Journals

                                                                   schichte der Rettung von Taboris Mutter Elsa Tabori vor der Deportation
                                                                   durch die Nationalsozialisten 1944 in Budapest entstand zunächst als Pro-
                                                                   satext,3 wurde 1979 als Hörspiel produziert und im selben Jahr als Büh-
                                                                   nenstück in München uraufgeführt; 1995 schließlich machte Michael Ver-
                                                                   hoeven aus der Geschichte einen Kinofilm.4
                                                                       Stoffe, Handlungs- und Erzählkerne bilden so in Taboris Schaffen ein
                                                                   transmediales Netz, wodurch die Texte auch intertextuell eng auf einander
                                                                   bezogen sind. Was in einem Text eine Nebenhandlung darstellt oder bloß
                                                                   nebenbei auftaucht, kann in einem späteren Werk zur Haupthandlung
                                                                   werden. Oder Tabori verwertet Materialien und Szenen derart wieder, dass
                                                                   daraus ein anderes Stück entsteht und zugleich auch alle vorangehenden
                                                                   Arbeiten durchscheinen. Das 1991 uraufgeführte Stück Goldberg-Variatio-
                                                                   nen, das das Prinzip der variierenden Wiederholung sogar im Titel trägt,
                                                                                                                                                    Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
                                                                   verbindet zwei Erzählstränge zu einer “Doppelhelix aus der biblischen
                                                                   Genesis der Welt und der Genese einer Theaterproduktion”.5 Auf die Fra-
                                                                   ge nach der Herkunft des Stoffes für dieses Stück antwortete Tabori zu-
                                                                   nächst: “So was kann man schwer definieren. Man kann sagen, ich habe
                                                                   vorigen Sommer im Juli angefangen, es zu schreiben. Das ist ein Anfang,

                                                                   2    Eine Koproduktion von RIAS, BR, ORF-W und SR. Regie: Jörg Jannings, Kompo-
                                                                        nist: Klaus Buhlert.
                                                                   3    Viele Stoffe und Handlungskerne seiner späteren Werke notierte Tabori schon wäh-
                                                                        rend seiner Jahre in den USA (1947-1970). Anhand eines Briefes aus dem Jahre 1951,
                                                                        den die Tabori-Biographin Anat Feinberg einsehen konnte, lassen sich die ersten
                                                                        Entwürfe für Mutters Courage auf die frühen fünfziger Jahre datieren. Sie entstanden,
                                                                        nachdem Elsa Tabori während eines Besuchs bei ihrem Sohn ihre Erinnerungen nie-
                                                                        dergeschrieben hatte. Vgl. Feinberg, Anat: George Tabori. München: Deutscher Ta-
                                                                        schenbuch Verlag 2003. S. 106. Erst 1981 wurde der Prosatext in dem Band Son of a
                                                                        Bitch. Erzählungen publiziert.
                                                                   4    Das Hörspiel wurde von RIAS, NDR und SDR produziert. Regie: Jörg Jannings,
                                                                        Komponist: Stanley Walden. Im selben Jahr wurde es im Theater der Jugend, einer
                                                                        Dependance der Münchner Kammerspiele, in der Regie des Autors uraufgeführt.
                                                                        Der Kinofilm aus dem Jahr 1995 trägt den englischsprachigen Titel My Mother’s
                                                                        Courage.
                                                                   5    Annotation der HerausgeberInnen Maria Sommer und Jan Strümpel zum Stück Gold-
                                                                        berg-Variationen in: Tabori, George: Theater – Band 2. Göttingen: Steidl 2015. S. 587.

                                                                   52

                                                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                                                  © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Radio, Spiel und Welt

                                   aber eigentlich geht es viel weiter zurück. Ich würde sagen, von Kannibalen
                                   ab [1968 auf Englisch uraufgeführt, IA] schreibe ich eigentlich dasselbe
                                   Stück immer wieder.”6 Einen konkreten Handlungskern und dessen Vor-
                                   geschichte identifiziert er dann aber doch etwas genauer: “Es gibt eine
                                   Kurzgeschichte, die ich vor ein paar Jahren geschrieben habe, wo gewisse
                                   Elemente des Stückes schon da sind, also die Kreuzigung als Theater-
                                   probe.”7
                                      Erste Nacht letzte Nacht heißt die Kurzgeschichte, auf die Tabori hier
                                   verweist. Sie erschien 1986 in dem Prosaband Meine Kämpfe.8 Aus ihr ent-
                                   stand noch im selben Jahr ein Hörspiel, das vom RIAS Berlin gesendet
                                   wurde. Für Taboris Hörspielarbeit erwies sich der RIAS Berlin (Rund-
                                   funk im amerikanischen Sektor Berlins), der 1946 gegründete Vorläufer
                                   des heutigen Deutschlandfunk Kultur, als ungemein wichtig. Zwischen
                                   1978 und 1991 wurden nahezu alle seine Hörspiele im RIAS produziert
                                   und erstgesendet – oft, wie bei Hörspielen üblich, in Koproduktion mit
                                   anderen (west)deutschen Sendeanstalten. Der damalige Leiter der Wort-
                                   produktion des RIAS, Jörg Jannings, der mit Tabori befreundet war,
                                   führte bei zehn Tabori-Produktionen Regie, so auch bei Erste Nacht letzte
                                   Nacht.9
                                      Um dieses Hörspiel soll es im Folgenden gehen. Dabei möchte ich
                                   untersuchen, welche gattungs- und medienspezifischen narrativen Ele-
                                   mente in der Hörspielfassung im Vergleich zur Erzählung in den Vor-
                                   dergrund treten – die Dynamik des transmedialen Bezugs also – und wie
                                   diese zur spezifischen Wirkung und Bedeutung dieses Hörspiels beitra-
                                   gen. Neuere Ergebnisse aus der Hörspielforschung und der Audionarra-
                                   tologie werden mit einbezogen.10 Außerdem möchte ich dieses Hörspiel,

                                   6   Ebd.
                                   7   Ebd., S. 588.
                                   8   Tabori, George: Erste Nacht letzte Nacht. In: Ders.: Meine Kämpfe. Berlin: Wagenbach
                                       2002. S. 101-136. [Erstausgabe München: Hanser 1986]. Zitate aus dieser Erzählung
                                       werden im Folgenden mit der Sigle EL direkt im Text wiedergegeben.
                                   9   Tabori, George/Jannings, Jörg: Erste Nacht letzte Nacht. Komponist: Klaus Buhlert.
                                       Produktion: RIAS und NDR. 90 Minuten. Erstsendung am 17.12.1986. Zitate aus
                                       dieser Hörspielproduktion werden mit der genauen Stellenangabe direkt im Text wie-
                                       dergegeben.
                                   10 Folgende Titel sind im Rahmen meines Beitrags zu erwähnen: Huwiler, Elke: Erzähl-
                                      Ströme im Hörspiel. Zur Narratologie der elektroakustischen Kunst. Paderborn: mentis 2005;
                                      Gilfillan, Daniel: Pieces of Sound. German Experimental Radio. Minneapolis: University of
                                      Minnesota Press 2009. Mildorf, Jarmila/Kinzel, Till (Eds.): Audionarratology. Interfaces
                                      of Sound and Narrative. Berlin/Boston: De Gruyter 2016 (= Narratologia 52); Mildorf,

                                                                                                                             53

                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                 © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Inge Arteel

                                   das von den Proben zu einem Theaterstück erzählt, zu Taboris Thea-
                                   terpoetik in Verbindung setzen und fragen, wie es diese Theaterpoetik
                                   im akustischen Medium verhandelt. Tabori betrachtet das Theater als ein
                                   Ritual, durch das der Text, das Wort, verkörpert werde, Fleisch werde –
                                   die biblisch-theologische Anspielung ist durchaus beabsichtigt. Kunst-
                                   erzeugung ist für ihn somit immer auch eine materielle Welterzeugung;
                                   das szenische Spiel bildet Realität nicht ab, sondern ermöglicht sie. Die
                                   von ihm beschworene Verbindung zwischen Leben (oder Realität, Sein)
                                   und Theater (oder Spiel, Ritual) bringt er mit einer an Friedrich Schillers
                                   Begriff des Spieltriebs erinnernden Definition auf den Punkt: “Spielen –
                                   das ist strukturiertes Sein”.11
                                       Dieses strukturierte Sein als Verbindung von Spiel und Welt impli-
                                   ziert für Tabori eine zutiefst körperliche und sinnliche Beteiligung der
                                   Schauspieler. Die Rolle ahmt Realität nicht nach, sondern verlängert und
                                   verstärkt sie, bringt sozusagen Leben hervor. Tabori bevorzugt deswe-
                                   gen das englischsprachige Verb to act und das Substantiv actor gegenüber
                                   schauspielen und Schauspieler und betrachtet sich selbst nicht als Regisseur,
                                   sondern als “Spielmacher”.12 Dieser Auffassung des Theaterspiels woh-
                                   nen außerdem Momente der Improvisation, der Zufälligkeit und der
                                   Unvollkommenheit inne. Wie äußert sich diese Theaterauffassung in der
                                   Konfrontation mit dem akustischen Medium, zumal bei einem Text wie
                                   Erste Nacht letzte Nacht, der metareferenziell das theatrale Ritual der
                                   Verkörperung zum Thema hat? Wie verlegt das Hörspiel die visuell-ma-
                                   terielle Realität des Körpers im Raum des Theaters in die akustisch-mate-
                                   rielle Dimension von Stimme und Klang? Und lassen sich in die ‘Kon-
                                   serve’ des radiophonen Mediums überhaupt Elemente des Imperfekten
                                   und Unvorhersagbaren einbringen?

                                        Jarmila/Kinzel, Till (Eds.): Forum: Audionarratology. In: Partial Answers 15.1 (2017). S.
                                        61-188; Bernaerts, Lars/Mildorf, Jarmila (Eds.): Audionarratology. Lessons from Audio
                                        Drama. Columbus: Ohio State University Press 2020 (im Druck).
                                   11 Tabori: Theater – Band 2, S. 568. Von Schiller stammen die folgenden Worte: “Denn,
                                      um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller
                                      Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.” Schiller,
                                      Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In:
                                      Ders.: Sämtliche Werke. Band 5. München: Carl Hanser 2004, S. 618. Hervorhebung
                                      im Original.
                                   12 Tabori, George: An die Schauspieler (1977). In: Ders.: Bett und Bühne. Über das Theater
                                      und das Leben. Berlin: Klaus Wagenbach 2007. S. 141-145. Hier S. 141.

                                   54

                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                  © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Radio, Spiel und Welt

                                   Nähe und Distanz im Erzählerbericht
                                   Erste Nacht letzte Nacht erzählt – darin gleichen sich der Prosatext und das
                                   Hörspiel – die Geschichte einer Freiluft-Theaterprobe außerhalb von
                                   Jerusalem.13 Die Probe läuft nicht ab wie erwartet. Statt der geplanten
                                   Inszenierung – die ungenannt bleibt – wird wegen allerhand widriger
                                   Umstände in letzter Minute, am Donnerstagabend vor der Generalprobe
                                   am Freitagmorgen, auf ein anderes Stück umgeplant. Es ist die Kreuzi-
                                   gung Christi, die jetzt auf die Bühne gebracht werden soll, und zwar
                                   möglichst authentisch. Die Theatertruppe gehorcht den Anweisungen
                                   des Regisseurs, der auf Echtheit drängt, und kreuzigt während der Pre-
                                   miere am Freitagabend einen in Verruf geratenen Rabbi, der in den dar-
                                   auffolgenden Stunden langsam stirbt. Das Menschenopfer wird vollzo-
                                   gen, ohne dass sich die Beteiligten darüber wundern. Nur der Ich-Er-
                                   zähler scheint sich des mörderischen Geschehens und seiner eigenen,
                                   ganz konkreten Beteiligung daran bewusst zu sein. Als Inspizient des
                                   Regisseurs hat er während der Premiere den Rabbi zur Kreuzigung
                                   hochgehoben; nach der Aufführung nimmt er den Toten vom Kreuz
                                   und übergibt ihn dessen Eltern.
                                       Der Titel Erste Nacht letzte Nacht nennt die für eine Theaterproduktion
                                   wichtigen Einschnitte des Premierenabends (auf Englisch opening night),
                                   wenn zum ersten Mal ‘echt’ und vor Publikum gespielt wird, und des letz-
                                   ten Abends (oder closing night), nach dem eine Inszenierung aufhört zu
                                   bestehen, oder genauer: nur noch in der Erinnerung oder in ihrer Doku-
                                   mentation weiterlebt. Unweigerlich schwingt – in der für Tabori typischen
                                   Verbindung von Leben und Theater – im Titel auch die existenzielle Ebe-
                                   ne von Leben und Sterben mit. Und gerade die Verflechtung der beiden
                                   Ebenen, des Theaterspiels und der Existenz, ist Gegenstand der Erzäh-
                                   lung: In seiner ersten Nacht als Schauspieler, in der Rolle des Gekreuzig-
                                   ten, wird der Rabbi wirklich zu Tode gebracht; der Premierenabend ist zu-
                                   gleich seine letzte Nacht geworden. Auch für den daran beteiligten Erzäh-
                                   ler stellt die Premiere – in der Erfahrung der Beteiligung an diesem Tod –
                                   einen tiefen existenziellen Einschnitt dar.
                                       Die Prosafassung dieser Geschichte weist eine narrativ höchst hybride
                                   Struktur auf. Der etwas mehr als 33 Buchseiten lange Text enthält 16
                                   kurze, nicht-nummerierte, aber jeweils mit einem Zwischentitel versehene

                                   13 Die Geschichte wird nicht konkret in der Zeit situiert und mehrere historische Ebe-
                                      nen werden zusammen gedacht, aber bestimmte historische und politische Anspie-
                                      lungen (vgl. auch infra) erlauben u.a. eine Verbindung mit dem Ende der 1940er
                                      Jahre des 20. Jahrhunderts.

                                                                                                                      55

                                             Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Inge Arteel

                                   Abschnitte, in denen jeweils eine Handlung oder ein Ereignis in einer
                                   bestimmten Konstellation oder Szene im Mittelpunkt steht. Diese Struktur
                                   erweckt den Eindruck einer lockeren Abfolge szenischer Fragmente,
                                   wobei vieles ausgespart bleibt. Ein homodiegetischer Ich-Erzähler erzählt
                                   rückblickend die Geschichte, ohne dass dies für eine erzähltechnische
                                   Homogenität bürgt. Je nach Szene oder Abschnitt – und auch noch inner-
                                   halb der Szenen – schwankt der Erzählmodus stark zwischen unter-
                                   schiedlichen (Misch)Formen des epischen telling und mimetischen showing.
                                   Der übergreifende Erzählmodus ist ein rekapitulierendes telling durch den
                                   Ich-Erzähler, der im Präteritum von den besonderen Umständen und dem
                                   Zustandekommen der Show sowie vom Tag nach der besagten Theater-
                                   aufführung und seiner eigenen Beteiligung daran berichtet. Innerhalb die-
                                   ses Erzählerberichts finden sich mehrere dialogische Passagen – Wieder-
                                   gaben der Unterhaltungen und Diskussionen innerhalb der Theatertruppe
                                   in direkter Rede, die einem mimetischen showing näherkommen –, aber
                                   auch ein Traumkapitel und weiter zurückliegende Erinnerungen des Er-
                                   zählers, zum Beispiel an die Anfänge seiner Theaterkarriere und an seine
                                   Geliebte.
                                       So schiebt der Ich-Erzähler im 6. Abschnitt, “Der Haken an Hitler”
                                   (EL 114-116), nach einer Unterhaltung während der Probenarbeit wie ne-
                                   benbei eine rückblickende Erzählung über seine Bekanntschaft als Jugend-
                                   licher mit Adolf Hitler in einem Wiener Obdachlosenasyl ein.14 Die anek-
                                   dotenhafte Binnengeschichte klärt über einen wichtigen Moment in der
                                   Biographie des Ich-Erzählers auf, als er noch glaubte, durch Liebe und
                                   Zuneigung die Selbstgerechtigkeit des schnell gekränkten jungen Hitler
                                   mildern zu können. Der weitere Verlauf der Geschichte hat ihn inzwi-
                                   schen eines Besseren belehrt. Die Analepse wird eingefügt, nachdem der
                                   junge römische Regisseur der Inszenierung die eintätowierte Nummer auf
                                   dem Arm des Erzählers bemerkt hat; sie wird aber nicht so sehr dem Re-
                                   gisseur und den anderen Mitgliedern der Truppe erzählt, sondern vor al-
                                   lem den Lesern – darauf deuten das Fehlen der Anführungszeichen für die
                                   direkte Rede sowie das Ausbleiben jeglicher Interaktion mit den anderen
                                   Figuren hin. Unmittelbar danach folgt im 7. Abschnitt schon die nächste
                                   Binnengeschichte, die allerdings einen ganz anderen narrativen Status hat:
                                   Sie wird vom Ich-Erzähler im Präsens als Tempus des gleichzeitigen Zei-
                                   gens wiedergegeben und lässt sich zeitlich nicht direkt in der umrahmen-

                                   14 Tabori komprimiert hier als Binnengeschichte den situativen Handlungskern seiner
                                      Erzählung – und seines späteren Dramas – Mein Kampf (cf. supra), die im Sammel-
                                      band Meine Kämpfe der Erzählung Erste Nacht letzte Nacht vorangeht.

                                   56

                                             Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Radio, Spiel und Welt

                                   den Geschichte verorten. Der Titel des Abschnitts, “Der galiläische
                                   Traum” (EL 116-118), weist sie als Traumerzählung aus. Da der darauf-
                                   folgende 8. Abschnitt vom Freitagmorgen berichtet und damit den Faden
                                   der Haupterzählung wieder aufgreift, handelt es sich vermutlich um einen
                                   Traum des Ich-Erzählers in der Nacht von Donnerstag zu Freitag.
                                       Nicht nur durch den präsentischen Erzählmodus sticht das Traumka-
                                   pitel hervor. Inhaltlich nimmt es die ethische Problematik der bevorste-
                                   henden Theateraufführung quasi vorweg; vor allem wird der Ich-Erzäh-
                                   ler darin proleptisch und auf alptraumhafte Weise mit seiner Beteiligung
                                   daran konfrontiert. Denn auch der Traum handelt von der Probenarbeit
                                   für eine Theateraufführung; auch hier wird auf der Bühne die Frage nach
                                   der Darstellbarkeit von Tod und Mord sowie die changierende Rolle von
                                   Opfer, Komplize und Täter verhandelt. Im Traum wird der Ich-Erzähler
                                   gegen seinen Willen als “Killer” (EL 117) engagiert; bevor er bei der Pro-
                                   be die anderen umbringen kann, stürmen jedoch “Bullen in Blau mit Ma-
                                   schinengewehren” die Bühne und erschießen alle. “Bäche von Blut
                                   rinnen zwischen den Körpern entlang”, aber gleich danach “setzen sich
                                   alle auf und nehmen ihre Masken ab” (EL 118). Die Frage, wo die Fik-
                                   tion endet und die Realität anfängt, steht unbeantwortet im Raum, denn
                                   das Spiel wird immer wieder zur Realität. Dass sich der Ich-Erzähler
                                   nicht als “Schauspieler” (EL 117) versteht, sondern “nur” als “ein Büh-
                                   nen-Arbeiter” (EL 118), passt zu dieser Vermischung von Fiktion und
                                   Realität; ihm fehlen die kühle Distanz des professionellen Schauspielers
                                   zu seiner Rolle und der auf Perfektion ausgerichtete Darstellungswille. In
                                   jeder Probe ist unweigerlich auch sein Sein, seine Existenz, impliziert.
                                       Gegen Ende der Erzählung, im vorletzten Abschnitt unter dem Titel
                                   “Die erste der Ersten Nächte” (EL 131-135), berichtet der Erzähler in
                                   einer vermeintlichen Rückblende von seiner ersten Stelle als Bühnen-
                                   arbeiter. Schnell entpuppt sich der Bericht als die fiktive Beschreibung
                                   einer allegorischen Inszenierung, in der die Schöpfung der Welt, die Ver-
                                   treibung aus dem Paradies und das Opfer von Abraham aufgeführt wer-
                                   den, mit dem Schlachten eines lebendigen Lammes als skandalösem Hö-
                                   hepunkt. Als der Bühnenarbeiter die von Gott – der hier als Regisseur
                                   auftritt – geforderte Perfektion nicht liefern kann, wird er nach der Pre-
                                   miere entlassen, nicht ohne dass Gott ihm zuvor damit gedroht hat, bei
                                   der nächsten Aufführung ihn anstatt eines Lammes zu schlachten. Auch
                                   hier handelt es sich um die Realität des Spiels und um die tödliche Quali-
                                   tät, die es annimmt, wenn es auf Perfektion – hier: in der Form des rea-
                                   len Tötens – angelegt ist. Nur ein Spiel, das an seiner eigenen Verwirkli-
                                   chung scheitert, steht auf der Seite des Lebens.

                                                                                                                57

                                            Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                               © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Inge Arteel

                                       Die 16 Abschnitte der Erzählung reihen sich übergangslos, wie mit
                                   harten Filmschnitten aneinander. Ihre Zwischentitel markieren erzähl-
                                   technisch jeweils den Schnitt. Diese Zwischentitel bringen auch eine ex-
                                   tra- und metadiegetische Erzählposition in die Geschichte ein, die das
                                   Erzählte tentativ ordnet und subtil interpretiert. Aus den Zwischentiteln
                                   geht vorwiegend eine zeitliche Anordnung hervor, vom Donnerstag bis
                                   zum Morgen nach der Premiere, dem Samstagmorgen, aber immer wie-
                                   der unterbrochen und retardiert durch die Binnengeschichten. Diese Er-
                                   zählstruktur dehnt und schichtet den Zeitverlauf und verleiht dem nicht
                                   sehr langen Text eine Qualität der Dauer. Zugleich bleibt zwischen den
                                   Abschnitten vieles ausgespart und entsteht so der Eindruck einer Ver-
                                   mittlung der Darstellung und einer Verdichtung auf eine Reihe wesentli-
                                   cher Handlungs-, Erinnerungs- und Erfahrungskerne. Letzterer Befund
                                   lässt sich auch mit dem Titel der Erzählung – als äußerster Raffung einer
                                   Entwicklung, in der die erste Nacht mit der letzten zusammenfällt – in
                                   Verbindung bringen.
                                       Die narrative Besonderheit der Erzählung Erste Nacht letzte Nacht lässt
                                   sich dahingehend zusammenfassen, dass ihre hybride erzähltechnische
                                   Form zwischen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit des Dargestellten chan-
                                   giert, zwischen Nähe und Distanz zum Geschehen, bis zur Ununter-
                                   scheidbarkeit der beiden Kategorien. Sie korrespondiert folglich mit der
                                   ambivalenten Position des Erzählers. Stimme und Blick sind an den Ich-
                                   Erzähler gebunden, der in der Handlung zwar keine tragende Rolle spielt –
                                   er ist nicht der Regisseur, sondern einer der Bühnenarbeiter –, dessen
                                   Beteiligung an der und Verwicklung in die Kreuzigung aber zunehmend in
                                   den Vordergrund treten. Die lebendige Verkörperung, die Tabori als
                                   Merkmal seiner Theaterästhetik befürwortet, kehrt sich hier um und äußert
                                   sich als perverse Perfektionierung im toten Körper des verstorbenen
                                   Gekreuzigten, dessen Blut der Erzähler entsorgen muss. Auch in den
                                   eingeschobenen Erzählkernen (im Traumkapitel und in der Erzählung
                                   über die allegorische Inszenierung) soll das Spiel nicht als bloße Probe,
                                   sondern als perfekte Darstellung gespielt werden. Die Erzählung lässt sich
                                   somit durchaus als kritische Auseinandersetzung des Autors mit dem
                                   Theater lesen oder genauer: als Warnung vor einer Auffassung des Thea-
                                   terspiels als perfektionierter Darstellung. Die vom Regisseur verlangte Per-
                                   fektion, die er mit dem Einsatz vermeintlicher Echtheit erreichen will,
                                   kommt einem Todesurteil gleich. Der sich allmächtig gebende Regisseur
                                   nimmt – unter Beteiligung seiner Bühnenarbeiter – nicht das Als-ob des
                                   Theaters als Realität an, sondern ersetzt dieses Als-ob durch eine gewalt-
                                   sam richtende Wirklichkeit.

                                   58

                                             Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Radio, Spiel und Welt

                                       Die brisante Thematik der Erzählung ist explizit mit der langen Ge-
                                   schichte der Judenverfolgung verbunden: Die Erzählung handelt vom
                                   Schuldigwerden eines Bühnenarbeiters, der selbst Opfer des Holocaust ist,
                                   an einem verfolgten Mitglied des eigenen Volks, in einem hierarchischen,
                                   ja gewalttätigen Kontext der Fremdbestimmung. Die Aufforderung, zu
                                   proben, bis “es klappt” (EL 118, EL 124), geht von dem römischen
                                   Regisseur aus, einem “Junggenie” (EL 110), der mit einem Hubschrauber
                                   am Ort der Probe landet und in Wortwahl und Benehmen an den histori-
                                   schen Imperialismus der antiken Römer und ihre Herrschaft über Paläs-
                                   tina im 1. Jahrhundert n. Chr. erinnert.15 Der römische Regisseur streitet
                                   sich voller Wut mit einem britischen Scharfrichter über die richtige Art der
                                   Hinrichtung durch Kreuzigung, womit auf die britische Mandatsherrschaft
                                   in Palästina in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (1920-1947)
                                   angespielt wird. Die jüdischen Mitglieder der Truppe reagieren anfänglich
                                   mit schwachem Protest, machen schließlich aber alle mit, verführt durch
                                   die Aussicht auf materielle Entschädigung seitens des Regisseurs. Auch der
                                   Erzähler rettet den Rabbi nicht – aus Feigheit, wie er sich selbst eingesteht.
                                   In diesem Moment ist er auch kein Bühnenarbeiter mehr: “[I]ch wollte ihn
                                   [den Rabbi] halten, leicht wie eine Braut, bis sie kommen und mir das
                                   Rückgrat brechen, aber ich bin kein Schauspieler, ich bin ein Feigling” (EL
                                   127). In der darauffolgenden Nacht schläft er einen tiefen, langen Schlaf.
                                       Wie lässt sich diese Erzählung eines pervertierten Spiels und dessen
                                   Zuspitzung auf die changierende Opfer-Täter-Position, auf die Implika-
                                   tion eines Handlangers, der auch selbst Opfer war, ins radiophone Me-
                                   dium übertragen wird? Verschärfen die Direktheit und Intimität des akus-
                                   tischen Mediums die Brisanz der Darstellung oder mildert die auffällige
                                   Technizität einer Hörspielproduktion die Schärfe ab? Was tragen die
                                   musikalischen und klanglichen Modi zur Komplexität der Thematik bei,
                                   wie verändern sie diese? Entscheidend ist also die Frage, ob und wie das in
                                   der Erzählung pervertierte Ritual des Theaters im Hörspiel zum Tragen
                                   kommt und was dies eventuell über die Problematik der Mitschuld aussagt.

                                   15 Die mörderische Inszenierung, von der der Erzähler im Traumkapitel träumt, spielt
                                      die Belagerung durch die römischen Besatzer der rebellischen jüdischen Festung
                                      Massada im Jahre 73/74 n. Chr. nach. Die belagerten Juden brachten sich selbst um
                                      anstatt sich zu ergeben. Per Los wurden diejenigen Männer bestimmt, die die ande-
                                      ren und schließlich sich selbst umbringen sollten. Im Traum wird der Erzähler auf
                                      genau diese Weise zum Töten des eigenen Volkes bestimmt: “In der dritten Szene
                                      losen wir”, sagt der Regisseur, “derjenige, der den mit dem Kreuz versehenen Zettel
                                      zieht, ist der Killer, du bist der Killer.” (EL 117) – Die römische Herrschaft über
                                      Palästina dauerte in unterschiedlicher Intensität bis ins 7. Jahrhundert n. Chr. an.

                                                                                                                       59

                                             Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Inge Arteel

                                   Pathos der Stimme
                                   Die Hörspielforschung hat auf die mediale Ambivalenz des Mediums Ra-
                                   dio hingewiesen, das einen starken Effekt unvermittelter auditiver Wahr-
                                   nehmung mit seiner technologischen Vermitteltheit verbindet.16 Anders als
                                   ein gedruckter Text spricht das Akustische der Stimmen und Klänge uns
                                   scheinbar direkt an, dringt unvermittelt ins Ohr; zugleich stellt radiophone
                                   Kunst oft ihre Machart aus, zum Beispiel anhand von Techniken wie
                                   Fading, Mixing, der Positionierung gegenüber dem Mikrophon und dem
                                   Gebrauch von Klangeffekten oder Stille. Im deutschen Sprachraum hat
                                   die semiotische und narratologische Hörspielanalyse akustische Zeichen-
                                   systeme wie Stimme, Musik und Geräusche in ihrer Medienspezifizität
                                   erforscht.17 In jüngster Zeit haben wichtige Impulse aus der sogenannten
                                   unnatural narratology die Forschung vorangetrieben. Dieser Strang der Nar-
                                   ratologie untersucht nicht-realistische Erzählweisen und nicht-menschliche
                                   Erzählinstanzen, wie sie zum Beispiel von medienspezifischen Technolo-
                                   gien produziert werden. Die Interaktion von Sprechstimme, Hörerposition
                                   und radiophoner Technik, sowie die narrative Qualität von Klangland-
                                   schaften sind ein paar Forschungsgebiete, die von der ‘unnatürlichen’ Nar-
                                   ratologie studiert werden.18 Ausgehend von diesem Forschungsstand wer-
                                   de ich in der nachfolgenden Analyse zwei wichtige Elemente des Hörspiels
                                   Erste Nacht letzte Nacht untersuchen – Elemente, die einen großen Unter-
                                   schied im Vergleich zum Prosatext ausmachen und zugleich auch allge-
                                   mein zu den wichtigsten medienspezifischen Charakteristiken narrativer
                                   Hörspiele gehören: die Erzählstimme in ihrer narrativen Position und ra-
                                   diophonen Positionierung und die Soundscape als raum- oder weltschaf-
                                   fendes Phänomen.

                                   16 Mildorf, Jarmila/Kinzel, Till: Audionarratology: Prolegomena to a Research Paradigm Explo-
                                      ring Sound and Narrative. In: Mildorf/Kinzel (Eds.): Audionarratology, S. 1-26. Hier
                                      S. 14.; Huwiler, Elke: A Narratology of Audio Art: Telling Stories by Sound. In: Mil-
                                      dorf/Kinzel (Eds.): Audionarratology, S. 99-115. Hier S. 100.
                                   17 Die erste gründliche semiotische Studie stammt von Götz Schmedes: Medientext Hör-
                                      spiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel von Radioarbeiten von Alfred Behrens. Mün-
                                      ster: Waxmann 2002. Elke Huwiler erweitert in ihrer Studie diesen semiotischen
                                      Zugang und ergänzt ihn um narratologische Perspektiven (Huwiler: Erzähl-Ströme).
                                   18 Vgl. exemplarisch für die Verbindung von unnatural narratology und Hörspielfor-
                                      schung: Bernaerts, Lars: Voice and Sound in the Anti-Narrative Radio Play. In: Mildorf/
                                      Kinzel (Eds.): Audionarratology, S. 133-148. Für das Forschungsfeld der unnatural
                                      narratology sei hier exemplarisch folgendes Buch erwähnt: Richardson, Brian: Unnatu-
                                      ral Voices. Extreme Narration in Modern and Contemporary Fiction. Columbus: Ohio State
                                      UP 2006.

                                   60

                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                 © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Radio, Spiel und Welt

                                        In erster Linie transponiert die Hörspieladaption von Erste Nacht letzte
                                   Nacht den Lesetext in einen Hörtext; Text und Struktur der Erzählung be-
                                   hält sie fast vollständig bei. Auch hier folgen die Abschnitte abrupt aufein-
                                   ander, durch ein paar Sekunden Stille voneinander getrennt; auch hier wer-
                                   den sie vorwiegend von einem homodiegetischen Ich-Erzähler erzählt,
                                   dessen monologischer Retrospektivbericht sich im Sprechen des schriftli-
                                   chen Textes gestaltet, unterbrochen von dialogischen Gesprächsszenen,
                                   die etwas mehr Raum für improvisierende Abweichungen von der schrift-
                                   lichen Vorlage lassen. Ausgeprägter allerdings als beim gedruckten Text
                                   tritt die Erzählstimme als kommunikative und individualisierte, führende
                                   Erzählinstanz in den Vordergrund.19 Die besondere Prosodie verleiht der
                                   Stimme einen wiedererkennbaren akustischen Charakter und dem Erzäh-
                                   ler sozusagen ein akustisches Gesicht, eine akustische Maske: Der leise,
                                   schleifende Ton der Stimme (es ist jene von George Tabori selbst, der die
                                   Rolle des Erzählers spricht), ihre etwas nuschelnde, weiche Qualität ver-
                                   bindet die Szenen und sticht als dominantes akustisches Element der Pro-
                                   duktion hervor. Anders als im Prosatext bekommt diese Stimme auch
                                   einen doppelten Namen: Vom Regisseur wird sie Giorgio gerufen, wäh-
                                   rend der Erzähler selbst auf den Namen Schlomo (den Namen, den er
                                   auch in der Prosafassung trägt) besteht.
                                        Aus dem Zusammenspiel von stimmlicher Qualität und doppelter Na-
                                   mensgebung ergibt sich eine ironisch wirkende Metalepse zwischen Fik-
                                   tion und Biographie: Der fiktive Erzähler Schlomo wird von einer anderen
                                   fiktiven Figur als Giorgio angesprochen, mit einem Namen also, der expli-
                                   zit auf den biographischen Autor verweist. Und gerade auf diese biogra-
                                   phische Ebene verweist auch die physische Stimme von Schlomo-Giorgio.
                                   Vielleicht erkennen nicht nur die Zuhörer des Hörspiels die Stimme von
                                   George Tabori wieder, sondern hat womöglich auch der fiktive, intradie-
                                   getische Regisseur seinen Bühnenarbeiter sozusagen metaleptisch als Gior-
                                   gio erkannt. Der akustische Modus bewirkt hier auf jeden Fall ein verstärk-
                                   tes existentielles Pathos: In die fiktive Geschichte über das Schuldig-Wer-
                                   den eines Bühnenarbeiters ist auch derjenige verwickelt, der diese Rolle
                                   stimmlich spielt. Das Als-ob des Spiels lässt sich von der realen Erfahrung
                                   des Spielers, von seinem ‘Sein’ nicht trennen, allerdings ohne dass die bei-
                                   den Ebenen deswegen ungebrochen zusammenfielen.20

                                   19 Bei der Transposition eines textuellen Erzählers ins akustische Medium des Hör-
                                      spiels scheint der Effekt einer gewissen Individualisierung und Psychologisierung
                                      durch die menschliche Stimme unvermeidbar, vgl. Bernaerts: Voice and Sound, S. 136.
                                   20 Eine ähnlich komplexe (existenzielle) Realität des (fiktionalen) Spiels zeigt sich im
                                      körperlich-materiellen Medium des Theaters, namentlich in den Inszenierungen, in

                                                                                                                        61

                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                 © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Inge Arteel

                                       Noch auf einer anderen Ebene ermöglicht der akustische Modus die
                                   narrative Metalepse zwischen unterschiedlichen Erzählniveaus und somit
                                   unterschiedlichen Subjektpositionen. Im Prosatext sind die dialogischen
                                   Passagen – die Wiedergaben der Gespräche unter den Theaterleuten –
                                   meistens als in den retrospektiven Bericht des Ich-Erzählers eingebettet
                                   markiert: durch die vielen Inquit-Formeln wie “sagte ich” und “sagte er”,
                                   und durch die Verwendung der Anführungszeichen. Diese Markierungen
                                   fallen im Hörspiel weitgehend weg; nur gelegentlich werden die Inquit-
                                   Formeln beibehalten. So verschiebt sich die Position des Erzählers
                                   regelmäßig unvermittelt von seinem extradiegetischen Standpunkt als
                                   retrospektivem Erzähler zur intradiegetischen Position eines am Ge-
                                   spräch und an der Handlung Beteiligten. Auch ein Lesetext könnte diese
                                   Shifts suggerieren. Aber dadurch, dass die Sprechstimme hier auf beiden
                                   Ebenen deutlich hörbar dieselbe bleibt – sogar seine zentrale Positionie-
                                   rung zum Mikrophon ändert sich nicht –, verstärkt sich der Eindruck der
                                   Simultaneität der Erzählebenen sowie ihres nicht-hierarchischen Neben-
                                   einanders statt einer Unterordnung. Da die gleiche Stimme immer wieder
                                   unmarkiert die Position in der Erzählordnung wechselt, aber im akusti-
                                   schen Raum auf demselben Platz bleibt, verstärkt sich beim Hören der
                                   Eindruck ihrer Verwicklung in den eigenen Bericht, von der es auch in
                                   der Retrospektive keine Erlösung gibt. Anders ausgedrückt: Das Schul-
                                   dig-Werden, von dem die Geschichte des Bühnenarbeiters handelt, wirkt
                                   als Erlebnis auch rückblickend noch immer nach, und gerade das Pathos
                                   der einen, unvermittelt zwischen den Positionen changierenden Stimme
                                   enthält das tragische Bewusstsein dieser Schuld.

                                        denen Tabori selbst mitspielte, so zum Beispiel in Mein Kampf und Goldberg Variatio-
                                        nen. Dieses gemeinsame Dasein von Als-ob und Realität scheinen Theater und Radio
                                        als Medien miteinander zu teilen – beide könnte man present-tense Medien nennen (vgl.
                                        Lutostański, Bartosz: A Narratology of Radio Drama: Voice, Perspective, Space. In: Mil-
                                        dorf/Kinzel (Eds.): Audionarratology, S. 117-132. Hier S. 119. Lutostański zitiert aus
                                        Crisell, Andrew: Understanding Radio. London: Routledge 21994, S. 9). Ein medialer
                                        Unterschied liegt allerdings darin vor, dass in der vorab aufgenommenen Radiosen-
                                        dung die Anwesenheit im Jetzt mittels Abwesenheit erzeugt wird, während im
                                        Theater die Körper der Schauspieler (meistens) tatsächlich anwesend sind. Im Ge-
                                        brauch von Video- und Klangaufnahmen experimentiert allerdings auch das (inter-
                                        mediale) Theater mit dem Realitätseffekt eines Spiels in absentia. Zur ‘gespensti-
                                        schen’ Präsenz der Tonbandstimme im Radio vgl. Frahm, Ole/Michaelsen, Torsten:
                                        Hört die anderen Wellen! Zur Verräumlichung der Stimme im Radio. In: Stuhlmann, Andreas
                                        (Hg.): Radio-Kultur und Hör-Kunst. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923-2001.
                                        Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. S. 39-61.

                                   62

                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                  © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Radio, Spiel und Welt

                                   Stimmen, Klänge und Improvisationen
                                   Die Stimme des Erzählers spielt in diesem Hörspiel also eine wesentliche
                                   Rolle beim Aushandeln der Problematik des Schuldig-Werdens im Spiel.
                                   Diese Stimme ist aber nicht die einzige im Hörspiel und schon gar nicht
                                   die einzige klangliche Komponente. Während einerseits die wiederer-
                                   kennbare Stimme des Erzählers die Handlung narrativ ordnet, fügen sich
                                   mehrere akustische Elemente zu intra- und extradiegetischen Soundsca-
                                   pes zusammen, die die narrative Komposition noch vielschichtiger ma-
                                   chen.
                                       Im Prosatext wird der Ernst des Erzählten durchgängig mit humoris-
                                   tischen Elementen aus der Populärkultur aufgelockert, die mal vom Er-
                                   zähler vermittelt, mal in den dialogischen Szenen von anderen Figuren ge-
                                   äußert werden: schwarzer, auf den Holocaust bezogener Humor, ras-
                                   sistisch und sexistisch angehauchte Witze, absurde Zufälligkeiten usw.
                                   Auch die Soundscape des Hörspiels adaptiert bestimmte Genrekonven-
                                   tionen aus der Populärkultur. So spielen tiefe, drohend klingende und nur
                                   für die Hörer wahrnehmbare Geräuschstränge deutlich auf die Konven-
                                   tion der suggestiven Spannungssteigerung im Krimi an. Ebenso extradie-
                                   getisch kommentierend wirken die improvisierten orientalischen Musik-
                                   klänge. Sie gehorchen der konventionellen Suggestion eines exotischen
                                   Ambientes oder dem Stereotyp ethnischer Figurendarstellung.21 Aber im-
                                   mer wieder wird die Musik ausgeblendet oder mit dem drohenden
                                   Brummton vermischt, oder die Klänge werden mittels der harten Schnitte
                                   der Stille zwischen den Abschnitten abgebrochen, bevor sie sich zu einer
                                   charakteristischen Melodie entwickeln können. Diese akustischen Elemen-
                                   te in der Erzählordnung des Hörspiels zu verorten, ist schwierig. Die
                                   Klänge und Geräusche kommentieren nicht den Erzähler, sondern sie be-
                                   gleiten dessen Erzählung und modellieren und kommentieren das Gesche-
                                   hen, die darin auftretenden Figuren und deren Handlungen. Ob der Er-
                                   zähler sie hört, bleibt unklar. Sie tragen also wesentlich zur narrativen
                                   Vermittlung der Geschichte bei, ohne dass sie von dem homodiegetischen
                                   Erzähler als zentraler Erzählinstanz ausgingen; den Zwischentiteln in der

                                   21 Bei der Figur der japanischen Bühnenbildnerin wird die ethnische Stereotypisierung
                                      auf der sprachlichen Ebene noch verstärkt durch den deutlich hörbaren Sprachfehler
                                      – das r- spricht sie als l- aus –, ein Klischee aus Comedy und Comics, das im Prosa-
                                      text nicht vorkommt. Auch die Prosodie der Stimmen der intradiegetischen Figuren
                                      weist manchmal komödienhafte Genderstereotypen auf.

                                                                                                                       63

                                             Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Inge Arteel

                                   Textfassung nicht unähnlich, stellen sie im radiophonen Medium eine me-
                                   dienspezifische, technisch realisierte höhere Erzählebene dar.22
                                       Auch auf der intradiegetischen Ebene tritt Musik nicht in einer voll-
                                   endeten Form, sondern als Improvisation auf: Im Abschnitt “Der Albi-
                                   nosong” improvisiert einer der aus Damaskus (!) zugereisten antisemiti-
                                   schen (!) Studenten,23 der sogenannte Albino, mehrere Melodien zu dem
                                   Kriegsgedicht Epitaph for an Army of Mercenaries (1922) des britischen
                                   Dichters A. E. Housman24, während ihm der Erzähler, der vergeblich ein
                                   Gespräch mit ihm anzuknüpfen versucht, zuhört. Dreimal hebt der
                                   Student zu singen an, zwei dieser drei Fragmente rücken akustisch in den
                                   Vordergrund, an den zentralen Platz vor dem Mikrophon: Sie verlassen
                                   die Ebene der retrospektiven Erzählung und werden damit den Hörern
                                   des Hörspiels sozusagen direkt vorgespielt – erzähltechnisch vollziehen
                                   sie somit eine Art akustische Metalepse. Auch der Prosatext enthält diese
                                   Improvisationsszene, gibt allerdings nur die Verszeilen (in deutscher
                                   Übersetzung) wieder und enthält keine Beschreibung, keine “verbal mu-
                                   sic”25 des dazu improvisierten Liedes. Im Hörspiel wird dagegen der
                                   spielerische Charakter der improvisierten Vertonung hörbar als ein Ver-
                                   such zu singen, als Versuch, der Toten in einem Lied zu gedenken. Der
                                   antisemitische Sänger und Gitarrist (Stimme: Klaus Fischer) schafft das
                                   aber nur mit Unterbrechungen, in drei Anläufen. Dass aus den Fragmen-
                                   ten kein vollendetes, zu Ende gesungenes Lied wird, verhindert, dass
                                   sich ein heldenhaft-pathetischer Ton einschleicht26 oder auch dass das
                                   Gedicht über den Ersten Weltkrieg gedankenlos für eine politische oder
                                   identitätszentrierte Ideologie eingesetzt würde.

                                   22 Vgl. Bernaerts, Lars: Narrative Mediation and the Case of Audio Drama. In: Bernaerts/
                                      Mildorf (Eds.): Audionarratology (im Druck).
                                   23 Die Erzählung bringt, wie oft bei Tabori, Juden und Antisemiten gemeinsam in einer
                                      Szene, auf einer Bühne, zusammen.
                                   24 A.E. Housman (1859-1936) war ein englischer Altphilologe und Forscher der
                                      lateinischen Lyrik. Seine eigene Lyrik handelt oft vom Leben und Sterben junger
                                      Soldaten, so auch in den Gedichten, die er nach dem Ersten Weltkrieg verfasste.
                                   25 Scher, Steven Paul: Notes toward a Theory of Verbal Music. In: Comparative Literature 22.2
                                      (1970). S. 147-156.
                                   26 Man kann das Gedicht als eine glorreiche Feier des britischen Soldatentums lesen
                                      oder aber vor allem die bitteren und ironischen Töne wahrnehmen. Vgl. Kendall,
                                      Tim: An Epitaph on Epitaphs on an Army of Mercenaries. 31.01.2009. Unter: http://war-
                                      poets.blogspot.com/2009/01/epitaph-on-epitaphs-on-army-of.html Letzter Zugriff:
                                      15. September 2019.

                                   64

                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                 © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Radio, Spiel und Welt

                                       Das auffallendste Element der radiophonen Adaptation der Ge-
                                   schichte betrifft ebenfalls den Versuch, ein Lied zu singen. Es weicht als
                                   einziges Element radikal vom Prosatext ab und fügt dem Hörspiel eine
                                   zusätzliche mediale und erzähltechnische Ebene hinzu. Das Hörspiel
                                   beginnt nämlich nicht mit der retrospektiven Erzählung durch den ho-
                                   modiegetischen Erzähler, sondern unvermittelt mit einem Ausschnitt aus
                                   einer ganz anderen akustischen Szene: der Probe des jiddischen Wider-
                                   standslieds Sog nicht kejnmol (1943) durch eine Sängerin und einen Kom-
                                   ponisten/Gitarristen. Erst über dem langsamen Ausblenden dieser Pro-
                                   benarbeit erklingt dann, nach etwa einer Minute, die Titelansage des
                                   Hörspiels, “Erste Nacht letzte Nacht. Ein Radiostück von George Tabo-
                                   ri und Jörg Jannings” (1’01’’), was die Szene als eine Art Prolog des Hör-
                                   spiels ausweist.27
                                       Dieser Anfang stellt in mehrfacher Hinsicht eine bedeutungsvolle
                                   Modifikation des Prosatextes dar. Das intradiegetische Setting einer Thea-
                                   terprobe wird auf einer höheren Erzählebene um eine Probenarbeit im
                                   akustischen Medium des Lieds ergänzt. Dem medialen Rahmen des Thea-
                                   ters wird so ein weiterer medialer Rahmen hinzugefügt, der die Aufmerk-
                                   samkeit auf die Kunst des Singens – statt des Spielens – lenkt sowie auf
                                   deren radiophone Aufnahme und Rezeption: In ihrer suggerierten real life-
                                   Wiedergabe bewirkt die kurze Szene, dass die Hörer direkte Zeugen,
                                   Ohrenzeugen, dieser Probenarbeit werden. Deutlich hörbar ändert sich
                                   zum Beispiel die Positionen der Sängerin (Stimme: Ursula Höpfner) und
                                   des Komponisten (Stimme: Klaus Buhlert) zum Mikrophon des Radiostu-
                                   dios, manches Gesagtes und Gesungenes wird dadurch weniger verständ-
                                   lich. Bezeichnenderweise gelingt auch hier das Singen nicht: Die Melodie
                                   klingt falsch, der richtige Ton und Rhythmus ist nicht zu finden, die Stim-
                                   me zögert, und schließlich seufzt die Sängerin lachend, aber kaum hörbar:
                                   “Die Seele fehlt” (1’00’’).
                                       Noch vor dem Sprechen des Erzählers und vor dem Hauptnarrativ der
                                   Theaterprobe lenkt die Liedszene das Ohr der Zuhörer auf die ungeheuere
                                   Realität der Shoah: Geprobt wird ein in dieser Realität verortetes Wider-
                                   standslied, das, wie Ruth Klüger es formuliert hat, für die Hörer zugleich

                                   27 Das auf Jiddisch verfasste Partisanenlied Sog nicht kejnmol wurde 1943 von Hirsh Glik,
                                      einem Ausbrecher aus dem Getto von Wilna (Vilnius), geschrieben und später von
                                      Dimitri Pokrass, einem jüdischen Komponisten aus der damaligen Sowjetunion,
                                      vertont. Glik schrieb den Text anlässlich des Aufstands der Juden im Warschauer
                                      Getto 1943.

                                                                                                                         65

                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                 © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Inge Arteel

                                   auch zu einer Elegie auf die Toten wird.28 Auch dieses Lied wird nicht zu
                                   Ende gesungen. Im Unfertigen setzt sich die Szene mit der Schwierigkeit
                                   der Nachgeborenen – bei denen “die Seele”, die reale Erfahrung, fehlen
                                   mag – auseinander, der Toten wahrhaft und ohne unrechtmäßige Aneig-
                                   nung zu gedenken. Indem die Probe schon nach einer Minute ausgeblen-
                                   det wird, scheint das Hörspiel auch das Scheitern des Widerstands und die
                                   Ermordung der vielen Leben anzudeuten, und das trotz des starken Über-
                                   lebenswillens, der aus dem Liedtext spricht. Auch hier wird jeder Anklang
                                   an Heldentum vermieden. Die Tatsache, dass diese Realität nicht in Form
                                   eines gesprochenen Narrativs vermittelt wird, sondern in Gestalt vokaler
                                   und instrumentaler Musik, genauer: eines jiddischen Lieds in unfertiger
                                   Ausführung, verstärkt die sinnlich-affektive Wirkung.29
                                      Trotz Ähnlichkeiten zwischen dieser Liedprobe und der oben schon
                                   kommentierten intradiegetischen Vertonung des Housman-Gedichts über
                                   den Ersten Weltkrieg (Krieg und Tod von vielen, das Problem des an-
                                   gemessenen Gedenkens), überwiegen die Unterschiede, und sie sind be-
                                   deutungsvoll. Der Dialog des Erzählers mit dem antisemitischen Studen-
                                   ten, der, wie er sagt, am liebsten Horrorfilme mag (EL 109; 19’46”), bringt
                                   Unwissen und Gleichgültigkeit bezüglich des historischen Kontexts des
                                   Gedichts an den Tag; dessen Vertonung gleicht einer Spielerei aus Lange-
                                   weile. Die Sängerin dagegen setzt sich, wie der Hinweis auf das Fehlen der
                                   Seele zeigt, explizit mit dem Bezug zwischen Lied und Existenz aus-
                                   einander. Und eine weitere strukturelle Einbindung der Liedprobe in das
                                   Hörspiel legt nahe, dass sie nicht aufgibt: Ausgerechnet an der Stelle, wo in
                                   der Prosafasssung der Erzähler in einer anekdotenreichen Vorgeschichte
                                   von seiner Bekanntschaft mit dem jungen Hitler in Wien erzählt (EL 114-
                                   116) und damit die Frage “Du bist nicht ausgekommen mit Hitler?” des
                                   unwissenden, antisemitischen Regisseurs beantwortet (EL 114) – ausge-
                                   rechnet an dieser Stelle erklingt erneut das Widerstandslied (30’20”-
                                   31’04”). Deutlicher und kräftiger als am Anfang singt die Sängerin die erste
                                   Strophe, wonach in einer chorischen Passage mehrere Stimmen gemein-
                                   sam die Melodie summen. Kurz schweigt der Erzähler, die fiktionalen

                                   28 Das Lied ist, so Ruth Klüger, “ein einzigartiges Kampflied, weil es in den Ohren der
                                      Heutigen (und besonders der wenigen Überlebenden) gleichzeitig zu einer Elegie für
                                      die Toten wird.” Klüger, Ruth: Hirsh Glik: “Partisanenlied”. FAZ 01.06.2018. Unter:
                                      https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/frankfurter-
                                      anthologie-partisanenlied-von-hirsh-glik-15618349.html Letzter Zugriff: 15 Septem-
                                      ber 2019.
                                   29 Die Hörer mögen außerdem mit der melodisch berührend wirkenden Klezmer-Mu-
                                      sik vertraut sein und das Liedfragment damit in Verbindung bringen.

                                   66

                                             Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Radio, Spiel und Welt

                                   Hitler-Anekdoten fehlen in der Hörspielfassung. Als er wieder spricht,
                                   erzählt er den Traum, in dem er die Rolle eines Killers spielt und aufge-
                                   fordert wird, alle seine Mitspieler zu ermorden. Das gesummte Lied läuft
                                   unter seiner Erzählung noch eine Weile weiter (31’05”-32’00”).
                                       Dieses in der Prosafassung so zentrale Traumkapitel (vgl. oben) nimmt
                                   auch im Hörspiel eine bedeutende Stelle ein. Und zwar vollzieht sich hier
                                   eine metaleptische Vermischung der extradiegetischen Erzählebene der
                                   Liedprobe, mit der das Hörspiel angefangen hat und die hier wieder er-
                                   tönt, mit der intradiegetisch eingeschobenen Traumgeschichte des Erzäh-
                                   lers. Zögernd und äußerst langsam, wie eine Anamnese im Halbschlaf, re-
                                   kapituliert der Erzähler den furchtbaren Traum. Über wiete Strecken
                                   klingt gleichzeitig das Widerstandslied, aber nicht – oder nicht nur – als
                                   extradiegetische Soundscape, sondern auch als Teil der Traumwelt: In der
                                   geträumten Theaterprobe singt und summt Naomi, die Geliebte des Er-
                                   zählers, das jiddische Widerstandslied als “den Blues, der die Geschichte
                                   erzählt” (EL 117; 36’45”), dabei vom improvisierenden Gitarristen
                                   begleitet (34’50”-39’42”). Bald ist die Musik unter der Traumerzählung
                                   hörbar, bald rückt sie in den Mittelpunkt, direkt ans Mikrophon.
                                       Eine narrative Gleichzeitigkeit geschichtlicher Ebenen, widersprüchli-
                                   cher Subjektpositionen und affektiver Wirkungen tut sich hier auf.30 Die
                                   geträumte Probe eines Theaterstücks über den jüdischen Aufstand in Mas-
                                   sada im 1. Jahrhundert verbindet sich mit dem Lied über den Warschauer
                                   Aufstand von 1943. Beide Aufstände handeln von kollektivem Widerstand
                                   und von vielen Opfern. Im Traum probt der Erzähler gezwungenermaßen
                                   das eigene Schuldigwerden am eigenen Volk in der historisch weit zu-
                                   rückliegenden Katastrophe, während seine Geliebte eine Elegie auf die To-
                                   ten der Katastrophe singt, deren Opfer der Erzähler war. Von der Probe
                                   berichtet die erschöpft und alt wirkende Stimme des Erzählers in einer
                                   äußerst mimetisch-direkten Weise, ganz nah am Mikrophon; das Lied da-
                                   gegen wird ebenso direkt von der nunmehr geübten, jung anmutenden
                                   Sängerin/Geliebten ins Mikrophon gesungen, heiter und lebendig.31

                                   30 Caroline Kita erläutert, wie im radiophonen Medium gerade die akustischen Leit-
                                      motive der Soundscape eine komplexe Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeitebenen
                                      und Räumlichkeiten und fiktionaler und realer Elemente bewirken können. Vgl. Kita,
                                      Caroline: Simultaneity and the Soundscapes of Audio Fiction. In: Bernaerts/Mildorf (Eds.):
                                      Audionarratology, im Druck.
                                   31 Vgl. Bluijs, Siebe: Earwitnessing: Focalization in Radio Drama (in: Bernaerts/Mildorf
                                      (Eds.): Audionarratology, im Druck) über die Möglichkeit, im akustischen Medium
                                      verschiedene Arten der Fokalisierung gleichzeitig zu präsentieren.

                                                                                                                             67

                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                 © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Inge Arteel

                                   Akustische Metalepsen zwischen Nähe und Distanz
                                   Wie oben dargelegt, verstärkt in diesem Hörspiel – im Vergleich zur Text-
                                   fassung – die metaleptische Beweglichkeit der Erzählstimme bei einer
                                   weitgehend stabilen akustisch-technischen Positionierung an zentraler Stel-
                                   le vor dem Mikrophon den Eindruck der unwiderruflichen Verwicklung
                                   des Erzählers in die Problematik der Mitschuld, aus der ihn auch das Ver-
                                   gehen der Zeit nicht befreit. Für die Hörer gewinnt dieser Eindruck durch
                                   die besondere Prosodie und konkrete Materialität der Sprechstimme – die
                                   man biographisch mit der Stimme des Autors gleichsetzen darf – eine
                                   zusätzliche existentielle Dimension, die eine reale Erfahrung im fiktionalen
                                   Sprechen suggeriert. Obwohl die Handlung also unüberhörbar von einem
                                   Erzähler narrativ geordnet wird, erzeugt die Eigenart der radiophonen
                                   Stimme einen starken Effekt der Nähe und der mimetischen Unmittel-
                                   barkeit.
                                       Damit verglichen bringt die Soundscape mehrmals einen stärker distan-
                                   zierenden Effekt hervor. In ihrer kommentierenden Funktion explizieren
                                   manche extradiegetischen Elemente der Soundscape, zum Beispiel akus-
                                   tische Anspielungen auf Konventionen der Populärkultur, eine hierar-
                                   chisch höhere Erzählebene. Die Soundscape kann aber auch Nähe erzeu-
                                   gen, zum Beispiel wenn das Lied des sogenannten Albinos oder das Wi-
                                   derstandslied mimetisch direkt an die Hörer gerichtet werden und in einer
                                   Art akustischen Metalepse aus der intradiegetischen Vermittlung somit
                                   eine direkte Performance wird. Anhand des Motivs der Liedprobe, das
                                   neben der Sprechstimme den wichtigsten Unterschied zur Prosafassung
                                   der Geschichte darstellt, lässt sich dieser Wechsel zwischen – bzw. die
                                   Gleichzeitigkeit von – Nähe und Distanz am besten erläutern:32 Führt sie
                                   zu Beginn eine zusätzliche narrative Ebene ein, die in ihrer Akustik direkt
                                   affektiv auf die Hörer wirkt, so wirkt sie in ihrer Position als Prolog auch
                                   als eine Art Reflektionsebene für die nachfolgende Erzählung. Im Traum-
                                   kapitel verschiebt sich die Liedprobe auf die intradiegetische Ebene, behält
                                   jedoch zugleich als akustische Performance ihre direkte Wirkung auf die
                                   Hörer bei, während sie den Erzähler nicht zu berühren scheint – wenig-
                                   stens kommentiert er das Lied mit keinem Wort, als höre er es nicht.
                                       Die Struktur und Position der Liedprobe in der komplexen narrativen
                                   Situation des Hörspiels regt dazu an, ihre Kontrastwirkung zur Theater-
                                   probe zu reflektieren: Gilt für die Theaterprobe die autoritäre Aufforde-

                                   32 Vgl. Bernaerts: Narrative Mediation (im Druck) über die narrative Vermittlung im
                                      Hörspiel als fließenden Prozess.

                                   68

                                             Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 45 (2019), Ausgabe 1&2
                                                © 2019 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Sie können auch lesen