Wann ist Erzählen eigentlich zuverlässig? Mimetisch unzuverlässiges Erzählen als graduelles Phänomen und seine Funktion in Romanen der Gegenwart

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Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 19–35

Leonhard Herrmann

Wann ist Erzählen eigentlich zuverlässig?
Mimetisch unzuverlässiges Erzählen als graduelles
Phänomen und seine Funktion in Romanen der Gegenwart

Einleitung. Die narratologische Kategorie der „Unzuverlässigkeit“ erzeugt ganz offen-
bar fortdauernden Diskussionsbedarf: Mehr als 90 Einträge listet die Bibliographie der
deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft dazu auf1 – weitaus mehr als zu vielen ande-
ren narratologischen Konzepten. Allein zwei Schwerpunkthefte des Journals of Literary
Theory2 widmen sich diesem Phänomen, darüber hinaus viele weitere exemplarische und
systematische Beiträge. Dieses Interesse zeigt offenbar zweierlei: dass der Begriff als viel-
versprechendes Hilfsmittel verstanden wird für die Auseinandersetzung mit fiktionaler
Erzählliteratur, dass jedoch hinsichtlich seiner Definition und exakten Ausdehnung im
Vergleich zu anderen narratologischen Begriffen ein geringeres Maß an Übereinstimmung
besteht.3
    Die offenen Fragen, die der Begriff des ‚unzuverlässigen Erzählens‘ aufwirft, werden
im Folgenden dadurch aufgezeigt, dass versucht wird, sein Gegenteil zu bestimmen. Seine
Verwendung legt nahe, dass er eine Kontravalenz beschreibt:4 Alle Erzähler, denen nicht das
Attribut ‚unzuverlässig‘ zukommt, sind offenbar ‚zuverlässig‘. Um dieses ‚zuverlässige Erzäh-
len‘ zu bestimmen, werden Definitionen des ‚unzuverlässigen Erzählens‘ in ihr Gegenteil
verkehrt, wobei in beiden Fällen Probleme der theoretischen Bestimmung und des prakti-
schen Nachweises deutlich werden. Darauf aufbauend wird der Beitrag ein Verständnis von
,unzuverlässigem Erzählen‘ vorschlagen, das auf die Kontravalenz des Begriffs verzichtet
und ,Zuverlässigkeit‘ resp. ,Unzuverlässigkeit‘ als graduelle, relational bestimmbare Eigen-
schaften einer Erzählinstanz betrachtet: In Abhängigkeit von noch näher zu bezeichnenden
Indikatoren besitzen Erzählinstanzen fiktionaler Texte die Eigenschaft, ,zuverlässiger‘ (resp.:
,unzuverlässiger‘) zu sein als andere. Am Beispiel von drei Gegenwartsromanen – Daniel
Kehlmanns Romandebüt Beerholms Vorstellung, Wolfgang Herrndorfs Sand und Michael
Köhlmeiers Die Abenteuer des Joel Spazierer – wird ein solches graduelles Verständnis von
Unzuverlässigkeit auf seine heuristischen Potenziale hin überprüft. Deutlich wird dabei,
dass das graduelle Verständnis des Begriffs zwar neuerliche Abgrenzungsprobleme schafft,
aber dennoch ein anwendbares Arbeitsmittel für die Auseinandersetzung mit Gegenwarts-
literatur darstellt.

1   Vgl. , Vollsuche ‚Unzuverlässigkeit‘, Stand: Januar 2020.
2   Vgl. die Sonderhefte JLT 12.1 (2018): Narrative Unreliability: Scope and Limits und JLT 5.1 (2011): Unreliable
    Narration.
3   Vgl. dazu bereits Köppe, Kindt (2011, 1).
4   Zur ‚Unzuverlässigkeit‘ als einem „Pauschalurteil“, dem gegenüber ein graduelles System zu entwickeln sei, vgl.
    Ohme (2018, 98); Ohme (2015, 269) liefert eine Typologie, die Erzählinstanzen nach ihren binnentextuellen
    Erscheinungsformen differenziert und die – so das Ziel – auch die Differenzierungsprobleme des Begriffs ‚un-
    zuverlässiges Erzählen‘ lösen soll.

© 2021 Leonhard Herrmann - http://doi.org/10.3726/92168_19 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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I. Ist zuverlässiges Erzählen definierbar? Die Einführung in die Erzähltheorie von Martínez/
Scheffel – ein Lehrbuch-Klassiker, dessen Verdienste um die Erzähltextanalyse kaum
hoch genug geschätzt werden können – definiert den ,unzuverlässigen Erzähler‘ wie folgt:
„Es gibt […] Erzähler, deren Behauptungen, zumindest teilweise, als falsch gelten müs-
sen mit Bezug auf das, was in der erzählten Welt der Fall ist. In solchen Fällen liegt ein
unzuverlässiger Erzähler vor.“5 Eine ‚zuverlässige Erzählinstanz‘ wäre damit umgekehrt
eine solche, ‚deren Behauptungen nicht, auch nicht teilweise, als falsch gelten müssen.‘
Problematisch an der Definition ist das Modalverb ‚müssen‘: Es legt nahe, dass sich der
Bericht einer Erzählinstanz durch einen zwingenden Nachweis als unzuverlässig heraus-
stellt, etwa durch eine Aussage in Bezug auf die fiktive Wirklichkeit, die sich im Nach-
hinein als fehlerhaft erweist,6 wobei in vielen Fällen offenbleibt, worin ein entsprechender
Nachweis bestehen kann. Fraglich ist dies insbesondere im Falle von homo- und autodie-
getischen Erzählinstanzen. Oskar Matzeraths Lebensbericht in Günter Grass’ Die Blech-
trommel etwa kann sich schon deshalb nicht zwingend als ,falsch‘ erweisen, weil es in dem
gesamten Roman keine Perspektive auf die diegetische Welt gibt, die nicht die der Erzähl-
instanz ist oder durch deren Wahrnehmung gefiltert ist. Allenfalls durch offensichtliche
Selbstwidersprüche der Erzählinstanz wäre die Unzuverlässigkeit eines autodiegetischen
Erzählers eine zwingende Annahme. Sind derartige Selbstwidersprüche nicht nachweis-
bar, so haben Leserinnen und Leser zwar Anlässe, an der Zuverlässigkeit zu zweifeln, aber
keinen zwingenden Nachweis dafür, dass die Erzählung tatsächlich fehlerhaft ist.
    Martínez/Scheffel unterscheiden zunächst ein „theoretisch unzuverlässiges Erzäh-
len“, das sich auf Kommentare und Bewertungen der Erzählinstanz bezieht, von einem
„mimetisch teilweise unzuverlässige[n] Erzählen“,7 bei welchem die Beschreibung der
fiktiven Wirklichkeit zweifelhaft ist. Entsprechende Erzählungen stehen im Wider-
spruch zu einer ‚logisch privilegierte[n] Erzählerrede‘ und erweisen sich dadurch als
unzuverlässig. Fraglich ist dabei, inwiefern im Falle des ‚Fehlen[s] einer privilegierten
Erzählerrede‘ noch vom unzuverlässigem Erzählen gesprochen werden kann. Dazu führen
Martínez/Scheffel die Kategorie des ‚mimetisch unentscheidbaren Erzählens‘ ein. In Er-
zählungen, die dieser Kategorie zugeordnet werden, sei „[k]eine einzige Behauptung des
Erzählers […] in ihrem Wahrheitswert entscheidbar“, stehe „keine einzige Tatsache der
erzählten Welt […] definitiv“8 fest, sei eine „stabile und eindeutige erzählte Welt“ nicht
erkennbar und daher der „Wahrheitswert der Erzählerbehauptungen unentscheidbar“.9

5   Martínez, Scheffel (2020, 105–106. Vgl. auch ebd., 202–204).
6   Zur Frage der ,Interpretationsabhängigkeit‘ der Attribuierung von ,Unzuverlässigkeit‘ vgl. Petraschka (2018),
    der betont, dass es Fälle gibt, in denen unabhängig von der jeweiligen Interpretation eines Textes von ,Unzuver-
    lässigkeit‘ gesprochen werden kann, weil ein zwingender Nachweis für diese vorliegt. Die Frage zielt letztlich auf
    das klassische Problem der Unterscheidbarkeit von ,Analyse‘ und ,Interpretation‘ eines literarischen Textes ab.
    Bei dem im Folgenden zu entwickelnden ,graduellen‘ Konzept wird davon ausgegangen, dass sich eine skalier-
    bare Zuschreibung von Unzuverlässigkeit aus dem Vorhandensein verschiedener, narratologisch beschreibbarer
    Phänomene ergibt und damit von der Interpretation zu unterscheiden ist. Zugleich beruht die entsprechende
    Zuschreibung auf der Grundlage einer Funktions- und damit einer Interpretationshypothese.
7   Martínez, Scheffel (2020, 107).
8   Martínez, Scheffel (2020, 109).
9   Martínez, Scheffel (2020, 110–111).

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Anders als beim ‚mimetisch teilweise unzuverlässigen Erzählen‘ bestehe im Falle des
‚mimetisch unentscheidbaren Erzählens‘ der „Eindruck der Unzuverlässigkeit“ nicht nur
teilweise und vorübergehend, sondern bleibe „unaufgelöst bestehen“ und erzeuge „eine
grundsätzliche Unentscheidbarkeit bezüglich dessen, was in der erzählten Welt der Fall ist.“10
    Fraglich bleibt jedoch, in welchem Verhältnis das ‚mimetisch unentscheidbare Erzählen‘
zum ‚unzuverlässigen Erzählen‘ steht. Bedingung der ‚Unzuverlässigkeit‘ war, dass der Be-
richt einer Erzählinstanz zumindest teilweise als ‚falsch gelten muss‘ – ein Urteil, das im
Falle des ‚mimetisch unentscheidbaren Erzählens‘ offenbar qua definitionem nicht möglich
ist. Im Umkehrschluss würde dies jedoch bedeuten, dass es offenbar einer ‚privilegierten
Erzählerrede‘ bedarf, um ‚unzuverlässiges Erzählen‘ annehmen zu können, was eigentlich
homodiegetische Erzählinstanzen – zumindest aber alle extradiegetisch-homodiegetischen
Stimmen – ausschließen würde. Streng nach der Definition erzählerischer Unzuverlässigkeit
wäre das ,mimetisch unentscheidbare Erzählen‘ sogar als ,zuverlässig‘ zu betrachten, weil
keine der Aussagen der Erzählinstanz zwingend als falsch gelten muss – wobei grundlegend
fraglich ist, was an einem fiktionalen Erzähltext überhaupt gelten muss, oder ob nicht
vielmehr eine gewisse Menge unterschiedlicher Phänomene gleichzeitig gelten können.
    Naheliegender scheint, im Falle des ‚mimetisch unentscheidbaren Erzählens‘ die ‚Un-
zuverlässigkeit‘ des Erzählers nicht als sinnvolle Kategorie zu betrachten, weil sie sich hier
weder definitiv bestätigen noch definitiv ausschließen lässt. Doch mit Blick auf Erzähltexte
der Gegenwart – und ähnlich dürfte es sich bei vielen der ,klassischen Moderne‘ verhalten –
stellt sich die Frage, inwiefern das ,Fehlen einer privilegierten Erzählerrede‘ nicht eigentlich
den Regel-, zumindest aber einen sehr häufigen Fall beschreibt.11 Gilt dieses ,Fehlen einer
privilegierten Erzählerrede‘ wiederum als Bedingung für ,mimetisch unentscheidbares Er-
zählen‘, müssten etwa alle autodiegetischen Erzählungen zu dieser Kategorie gezählt werden.
    Auf größere Probleme in der Bestimmung von Unzuverlässigkeit verweist die Um-
kehrprobe dann, wenn neben dem Kriterium richtig/falsch noch das der Vollständigkeit
an einen Erzählerbericht angelegt wird. Im Handbook of Narratology definiert Dan Shen
‚unzuverlässiges Erzählen‘ wie folgt: „If a narrator misreports, -interprets or -evaluates, or if
she/he underreports, -interprets or -evaluates, this narrator is unreliable or untrustworthy“.12
,Zuverlässig‘ wäre eine Erzählinstanz im Sinne von Shen also dann, wenn sie genau oder
vollständig berichtet, interpretiert oder wertet. Wie ließe sich diese ‚Vollständigkeit‘ aber
praktisch belegen? Fiktionalitätstheoretisch ist jede ,mögliche Welt‘, die ein fiktionaler
Erzähltext entfaltet, notwendig unvollständig und wird erst in der Vorstellung, die der
Text bei Leserinnen und Lesern erzeugt, zu einer umfassenden fiktiven Welt.13 Ab welchem
Grad diese ,Unvollständigkeit‘ zur Bedingung von unzuverlässigem Erzählen wird, wann
sie dagegen als grundlegendes Phänomen fiktionalen Erzählens zu betrachten ist, ist nur
schwer zu entscheiden.

10 Martínez, Scheffel (2020, 110).
11 Vgl. dazu Bläss (2005, 197), der angesichts literarischer Texte, die keinen „verlässlichen, alternativen Diskurs“
   mehr aufweisen, die Frage stellt, ob diese „überhaupt noch in die ,Schubladen‘ der klassischen Dichotomie von
   verlässlichen und unzuverlässlichen [sic] Erzählern passen können“.
12 Shen (2014, 896).
13 Vgl. Doležel (1989, 232).

Peter Lang                                                             Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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II. Mimetische vs. axiologische Unzuverlässigkeit. Hintergrund der dargestellten
Definitions- und Abgrenzungsprobleme ist das Ergebnis einer längeren begriffsgeschicht-
lichen Entwicklung. Bekanntlich geht der Begriff auf Wayne C. Booths The Rhetoric of
Fiction (1961) zurück, wo er – auf schmalem Raum – eine etwaige Differenz zwischen
ethischen Werten eines Textes, resp. seines ,implied author‘, und einer Erzählinstanz be-
schreibt: „For lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for
or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s
norms), unreliable when he does not.“14 Eine Erzählinstanz kann also andere Werte und
Normen verkörpern als der Text im Ganzen. In diesem Sinne kann auch ein Erzähler, der
die Werte und Normen eines Textes nicht teilt, diese letztlich befördern – indem er ex ne-
gativo auf ihre Relevanz verweist und sie auf diese Weise zum Bestandteil einer ‚Rhetorik‘
romanhaften Erzählens macht. In seiner weiteren literaturwissenschaftlichen Anwendung
beschreibt der Begriff jedoch bald nicht mehr nur das wertebezogene Verhältnis einer Er-
zählinstanz zu der von ihr geschilderten fiktiven Wirklichkeit, sondern auch die Fähigkeit
oder Möglichkeit, die phänomenale Extension der erzählten Welt adäquat zu beschreiben.
Dem wiederum liegt die (strukturalistisch geprägte) Vorstellung zugrunde, eine Erzähl-
instanz schildere eine fiktive Wirklichkeit, die unabhängig von dieser Schilderung als
vorhanden zu denken ist.15
    Um diese Vorstellung von Unzuverlässigkeit von der bei Booth definierten zu unter-
scheiden, hat Tom Kindt (2008) das Begriffspaar ‚axiologische‘ und ‚mimetische‘ Unzu-
verlässigkeit geprägt. ,Axiologische Unzuverlässigkeit‘ bezeichnet dabei Differenzen eines
Erzählers in Bezug auf Werthorizonte innerhalb der geschilderten Wirklichkeit. ,Mimetische
Unzuverlässigkeit‘ liegt dann vor, wenn die Äußerungen einer Erzählinstanz in Bezug auf
die fiktive Welt eines Romans „nicht ausschließlich korrekte oder nicht alle relevanten
Informationen enthalten“ und dies als „Teil der Kompositionsstrategie“ eines fiktionalen
Textes zu begreifen ist. Als ,mimetisch zuverlässig‘ gilt eine Erzählinstanz dann, wenn ihre
Äußerungen „ausschließlich korrekte und alle relevanten Informationen“ enthalten und dies
wiederum als „Teil der Kompositionsstrategie“ eines Textes zu betrachten ist.16 Indem sich
die ,Unzuverlässigkeit‘ einer Erzählinstanz auf die sachliche Adäquatheit ihrer Schilderung
im Hinblick auf die fiktive Wirklichkeit bezieht, erweitert sich die heuristische Nutzbarkeit
des Konzepts ganz erheblich. Erzählerische Unzuverlässigkeit wird anwendbar auch für alle
jene Texte, zu deren Rhetorik nicht ein bestimmbares ethisches Konzept gehört, gegen das
eine Erzählinstanz verstoßen könnte, sondern beschreibt ein zweifelhaftes binnenfiktionales
Wirklichkeitsverhältnis einer Erzählinstanz. Das betrifft insbesondere die Gegenwarts-
literatur nach 1989/90, da hier Fragen nach der Erkennbarkeit, dem Erzeugtsein und der
Reichweite von Wirklichkeitsvorstellungen eine große Rolle spielen. Ein innerhalb eines
fiktionalen Textes nachweisbarer Kanon aus Werten und ethischen Überzeugungen, die
dieser Text wiederum intentional durch eine spezifische Rhetorik der Fiktion nach außen
trägt, wäre dagegen zumindest für weite Teile der Gegenwartsliteratur ein ungewöhnliches
Phänomen.

14 Booth (1961, 158 f.).
15 Vgl. dazu v. a. Zipfel (2011).
16 Kindt (2008, 51).

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   Doch mit dieser Bedeutungsveränderung weg von der ‚axiologischen‘ hin zur
‚mimetischen‘ Unzuverlässigkeit stellt sich die Frage, wie solche ‚Fehler‘ oder umgekehrt
die ‚Korrektheit‘ bzw. ‚Vollständigkeit‘ im Bericht einer Erzählinstanz nachweisbar wären,
um ,mimetische Unzuverlässigkeit‘ oder ,Zuverlässigkeit‘ annehmen zu können. Auf-
bauend auf die Unterscheidung von ,mimetischer‘ und ,axiologischer‘ Unzuverlässigkeit
differenzieren Tilmann Köppe und Tom Kindt (2014) zwischen drei verschiedenen Formen
unzuverlässigen Erzählens, wobei der ,axiologischen Unzuverlässigkeit‘ zwei Formen der
,mimetischen Unzuverlässigkeit‘ gegenübergestellt werden – das ,täuschende (unzuver-
lässige) Erzählen‘ und das ,offen unzuverlässige Erzählen‘. Erstere wird wie folgt definiert:
„Ein Erzähltext ist genau dann täuschend (unzuverlässig) erzählt, wenn der Text seinen Lesern
(vorübergehend) gute Gründe für falsche Annahmen über fiktive Tatsachen gibt.“17 Eine Be-
hauptung einer Erzählinstanz wird also im weiteren Verlauf des Textes als unzutreffend
ausgewiesen. Ist dabei nicht eindeutig entscheidbar, welche ‚Version‘ der geschilderten
Wirklichkeit die zutreffende ist, so sprechen Köppe/Kindt vom „‚unentscheidbaren (un-
zuverlässigen) Erzählen‘“18, wobei sie auf Martínez’/Scheffels Konzept des ‚mimetisch
unentscheidbaren Erzählens‘ verweisen. Wie gezeigt, bleibt das Konzept bei diesen jedoch
latent unterbestimmt, indem einerseits nicht ganz klar wird, welche Texte genau keine
‚privilegierte Erzählinstanz‘ haben, und indem andererseits offenbleibt, in welcher Weise
‚unentscheidbare‘ Texte Hinweise darauf liefern können, dass eine Erzählinstanz ‚falsche
Annahmen‘ nahelegt. ‚Zuverlässiges Erzählen‘ läge im Umkehrschluss genau dann vor,
wenn diese ‚Unentscheidbarkeit‘ nicht gegeben ist und/oder keine ‚guten Gründe‘ für die
Zweifel an der Glaubwürdigkeit vorliegen.
   Vom ,offen unzuverlässigen Erzählen‘ sprechen Köppe/Kindt dann, „wenn der Text in
offensichtlicher Weise falsche Angaben über fiktive Tatsachen enthält“19 – ein Phänomen, das
in den meisten Fällen mit einer im Text selbst greifbaren Erzählfigur verbunden sei.20 Zu
einer solchen, offensichtlich unzutreffenden Wiedergabe von Umständen aus der fiktiven
Wirklichkeit zählen Köppe und Kindt auch die autodiegetische Erzählung Oskar Matze-
raths. ‚Offensichtlich falsch‘ sind für Köppe/Kindt Angaben einer Erzählerinstanz also auch
dann, wenn aufgrund der narrativen Struktur des Textes objektive Belege für ihre Fehler-
haftigkeit ausbleiben müssen und Leserinnen und Leser sie im Sinne von ‚guten Gründen‘
aus einer Indizienkette schließen können. Dabei gestehen Köppe/Kindt ein, dass in der
Praxis zwischen beiden Formen der Unzuverlässigkeit eine Fülle nur schwer voneinander
unterscheidbarer Übergangsphänomene besteht und ferner eine exakte Taxonomie unzu-
verlässigen Erzählens kaum möglich ist.21 Streng nach der eigenen Definition habe sogar

17 Köppe, Kindt (2014, 239). Hervorheb. i. O.
18 Köppe, Kindt (2014, 241).
19 Köppe, Kindt (2014, 246). Hervorheb. i. O.
20 Köppe und Kindt sprechen Erzähltexten ohne personal greifbare Erzählinstanz das Vorhandensein einer solchen
   ab, vgl. dazu etwa Köppe, Kindt (2011). Spätere Ansätze (Ohme [2015]; Jacke [2018]) unterscheiden zwischen
   Erzählinstanzen, die als Personen greifbar sind oder aber eigenschaftslos bleiben.
21 „Das Nutzen von Taxonomien unzuverlässigen Erzählens […] stößt jedoch recht bald an seine Grenzen: Nütz-
   licher als eine Klassifikation dürfte in vielen Fällen eine differenziertere Beschreibung (und Interpretation) der
   fiktiven Unzuverlässigkeitsdimensionen der jeweils in Rede stehenden Figur sein“ (Köppe, Kindt [2014, 247]).

Peter Lang                                                              Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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jeder Ich-Erzähler als unzuverlässig zu gelten – eine Annahme, die Köppe/Kindt aber ab-
lehnen und stattdessen „eher den Standard der absoluten Zuverlässigkeit“22 aufgeben wollen.
   Den derzeit vermutlich anspruchsvollsten Versuch einer Taxonomie unzuverlässigen Erzäh-
lens legt Janina Jacke (2018) vor. Um mögliche Anwendungsgebiete des Konzepts der Unzu-
verlässigkeit systematisch zu bestimmen, unterscheidet sie zwischen fakten- und wertbasierter
Unzuverlässigkeit, die jeweils auf der Äußerungs-, der kognitiven und der Handlungsebene
einer Erzählinstanz potenziell nachweisbar sind; da sich faktenbezogene Unzuverlässigkeit
logischerweise nicht auf der Handlungsebene einer Erzählinstanz abbilden kann, ergeben
sich daraus fünf Formen der Unzuverlässigkeit.23 Um deren Reichweite zu bestimmen, grenzt
Jacke acht Erzählertypen voneinander ab, die sich aus vier verschiedenen Differenzen ergeben
– neben ‚homo-/heterodiegetisch‘ treten ‚persönlich/unpersönlich‘, ‚begrenzt/allwissend‘ sowie
‚wiedergebend/schöpferisch erzählend‘. Aus diesem Raster folgert Jacke einen weitreichenden
Anwendungsbereich des Konzepts und reagiert dabei insbesondere auf Debatten um die ,Un-
zuverlässigkeit‘ heterodiegetischer Erzählinstanzen.24 Dennoch bleiben Nachweisprobleme:
Analog zu den oben genannten Definitionen mimetischer Unzuverlässigkeit stellt sich erneut die
Frage, inwiefern eine ,faktenorientierte‘ Unzuverlässigkeit auf ,objektivierbaren‘ Falschaussagen
einer Erzählinstanz basiert oder auch anders nachweisbar sein kann. Ferner scheint fraglich, ob
sich für alle Erzähler- und Unzuverlässigkeitstypen in der Praxis Unterscheidungsmerkmale
bestimmen lassen oder ob hier nicht abermals von Idealtypen auszugehen ist, die sich über-
wiegend in Form von Übergangs- und Mischphänomenen konkretisieren.

III. Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit als graduelle Phänomene. Der Weg zur Beschrei-
bung von mimetischer Unzuverlässigkeit als einem graduell unterscheidbaren Phänomen
scheint mit der bei Köppe/Kindt artikulierten Skepsis in Bezug auf die Taxonomierbarkeit
und ‚Absolutheit‘ von Unzuverlässigkeit bereits aufgezeigt. Auch Bo Petterson hält Un-
zuverlässigkeit – entgegen eines aus seiner Sicht weit verbreiteten Forschungskonsenses
– nicht für eine absolute Norm, sondern für eine Eigenschaft, die immer nur kontextuell
und in Relation zu anderen Texten und/oder Erzählinstanzen bestimmt werden kann.25
   Im Folgenden sollen Definitionen von Unzuverlässigkeit jenseits des literaturwissen-
schaftlichen Sprachgebrauchs dazu beitragen, ein Verständnis von Unzuverlässigkeit zu
entwickeln, das zwischen den Polen ,Zuverlässigkeit‘ auf der einen und ,Unzuverlässigkeit‘
auf der anderen Seite ein Spektrum eröffnet, innerhalb dessen prinzipiell jede Erzählinstanz
eines fiktionalen Erzähltexts verortet werden kann, wobei für die entsprechende Zuordnung
bestimmte, narratologisch ermittelbare Indizien26 – im Sinne von Köppe/Kindt ließe sich
auch von ,guten Gründen‘ sprechen – anzuführen sind. Die hypothetische Unterstellung
bestimmter ‚Funktionen‘ dieser Unzuverlässigkeit27 wäre dabei der Anlass, das entsprechende
Spektrum heuristisch zu nutzen.

22   Köppe, Kindt (2014, 248). Hervorheb. i. O.
23   Zur Übersicht Jacke (2018, 10).
24   Vgl. Jacke (2018, 28).
25   Vgl. Petterson (2016, 80).
26   Heyd (2011, 11 f.) spricht von ‚Markern‘ für Unzuverlässigkeit.
27   Zu einer mit der Diagnose des ‚unzuverlässigen Erzählens einhergehenden Funktionshypothese‘ vgl. Köppe,
     Kindt (2014, 254), die die erzählerische Selbstreflexion als zentrale Funktion vermuten.

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    Der Duden bestimmt Unzuverlässigkeit als „Mangel“ und „Vernachlässigung von
Pflichten“,28 ,zuverlässig‘ wiederum als so beschaffen, „dass man sich auf ihn, darauf ver-
lassen kann“ oder aber, dies vermutlich im Hinblick auf Berichte und Erzählungen, als
„mit großer Sicherheit zutreffend, richtig“.29 Die deutschsprachige Wikipedia nennt vier
Bereiche, in denen der Begriff der Unzuverlässigkeit eine Rolle spielt: (1) in der Ethik, (2)
im Recht, (3) in der Telekommunikation und (4) in der Technik,30 wobei die juristische
und die technikwissenschaftliche Begriffsverwendung für die genannten Probleme des
literaturwissenschaftlichen Konzepts besonders aufschlussreich sind.
    Im rechtlichen Sinne bezeichnet ‚Zuverlässigkeit‘ eine vorauszusetzende Eigenschaft
dafür, dass eine bestimmte Person eine bestimmte Tätigkeit ausüben darf, die mit beson-
deren Gefahren verbunden ist. Anders als in der Literaturwissenschaft muss dabei in aller
Regel nicht die ,Unzuverlässigkeit‘, sondern die ,Zuverlässigkeit‘ nachgewiesen werden;
die Gesetze und Verordnungen des Bundes führen an über 600 Einzelstellen die ,Zuver-
lässigkeit‘31 als Kriterium auf, an lediglich 56 die ‚Unzuverlässigkeit‘.32 Der Nachweis von
,Zuverlässigkeit‘ erfolgt durch das Nichtvorhandensein bestimmter Merkmale oder Eigen-
schaften, die die in Frage stehende Tätigkeit potenziell beeinträchtigen: Wer etwa Pilotin
oder Pilot werden möchte, ist im rechtlichen Sinne u. a. dann ,zuverlässig‘, wenn er oder sie
nicht wegen Verbrechen oder größerer Straftaten vorbestraft ist und keinen Drogen- oder
Alkoholmissbrauch betreibt.33 Für die Annahme von ,Unzuverlässigkeit‘ genügen im recht-
lichen Sinne also Indizien, die die Wahrscheinlichkeit einer zuverlässigen Pflichterbringung
reduzieren – der Nachweis einer tatsächlichen Pflichtverletzung ist nicht nötig.
    In der technikwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs beschreibt ‚Zuverlässigkeit‘
die Wahrscheinlichkeit, mit der ein komplexes System eine bestimmte Funktion unter
definierten Voraussetzungen über einen definierten Zeitraum hinweg ausfallfrei ausüben
kann.34 Die Angabe, inwiefern dies der Fall ist, erfolgt als statistische Größe, die das Risiko
für einen Ausfall des Systems beschreibt. Zuverlässigkeit ist dabei immer ein relativer, nie
ein absoluter Wert: Von identischen Systemen, die unter identischen Bedingungen eine
identische Funktion besitzen, fallen im zeitlichen Verlauf ihrer Operation immer einige
aus, andere nicht. Bestimmt man dieses Ausfallrisiko als einen statistischen Wert, können
auf seiner Grundlage Reparatur- und Wartungszyklen, Reservekapazitäten und die Lebens-
dauer des Systems insgesamt bestimmt werden, die dann dazu dienen, ein System trotz
einer gewissen Ausfallwahrscheinlichkeit sicher betreiben zu können.
    Überträgt man die Annahme von ,Zuverlässigkeit‘ und ,Unzuverlässigkeit‘ als graduell
bestimmbare Werte auf Erzähltexte, und nimmt die rechtliche Bestimmung hinzu, die
nicht von einer nachweisbaren Fehlleistung ausgeht, sondern von der Wahrscheinlichkeit
zu einer solchen, ließe sich mimetisch zuverlässiges Erzählen definieren als relativ hohe

28   , zuletzt: 19.5.2020.
29   , zuletzt: 19.5.2020.
30   , zuletzt: 19.5.2020; sicherlich gibt es weitere.
31   Volltextsuche nach ‚Zuverlässigkeit‘, vgl. , zuletzt: 19.5.2020.
32   Volltextsuche nach ‚Unzuverlässigkeit‘, vgl. , zuletzt: 19.5.2020.
33   Vgl. § 18 LuftPersV.
34   Vgl. Birolini (2007, 1–3).

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Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Erzählinstanz die Gegebenheiten in der fiktiven Wirk-
lichkeit ihres Erzählberichts ,angemessen‘ schildert – ‚angemessen‘ im Sinne der erkenntnis-
theoretischen Größe der adaequatio rei intellectus, die ‚fiktive Wirklichkeit‘ als gegebene
Größe, auf die sich diese ‚Angemessenheit‘ bezieht. Unzuverlässig ist ein Erzählerbericht,
wenn die Wahrscheinlichkeit für einen ‚adäquaten‘ Bericht geringer ist. Indizien wären so-
wohl für die Zuverlässigkeit als auch für die Unzuverlässigkeit anzuführen; und der Anlass
für eine Suche nach entsprechenden Indizien wäre eine Funktionshypothese, die Zuver-
lässigkeit wie Unzuverlässigkeit eine bestimmte Intention oder Wirkungsabsicht unterstellt.
   Die Frage, ob und inwiefern ‚Unzuverlässigkeit‘ eine zwingende Annahme ist, stellt sich
auf diese Weise nicht mehr. Es genügt, Indizien anzuführen, die es – relativ zu anderen
Indizien – wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen, dass ein Erzählbericht die
fiktive Wirklichkeit angemessen schildert. Als skalierbares Phänomen begriffen, lässt sich
die ,Unzuverlässigkeit‘ einer Erzählinstanz zudem einerseits nach dem Grad der wahr-
scheinlichen Fehlerhaftigkeit, andererseits nach dem Grad der vermuteten Ausdehnung
innerhalb des Erzählberichts genauer bestimmen: Möglicherweise gibt es Erzählinstanzen,
deren Zuverlässigkeit nur in Bezug auf einen kleinen Ausschnitt der fiktiven Wirklichkeit
eingeschränkt scheint, und dieser Ausschnitt der fiktiven Wirklichkeit wiederum könnte
nur hinsichtlich einiger, letztlich unwesentlicher Details unzutreffend sein; dann wäre Un-
zuverlässigkeit nur in einem geringen Ausmaß gegeben. In anderen Fällen dagegen mag
es naheliegen, an der Adäquatheit des Erzählberichts in seiner gesamten Ausdehnung zu
zweifeln, und diese Zweifel beziehen sich nicht allein auf Unwesentliches, sondern auf die
gesamte Struktur der fiktiven Welt. In beiden Fällen läge ‚Unzuverlässigkeit‘ vor, jedoch
in deutlich voneinander zu unterscheidenden Graden.

IV. Indizien für graduelle Unzuverlässigkeit. Das Vorhandensein von Indizien oder ‚guten
Gründen‘ für die Annahme der Unzuverlässigkeit einer Erzählinstanz, resp. das Nicht-
Vorhandensein dieser Indizien für die Annahme ihre Zuverlässigkeit, ist für die oben
genannte Definition zentral. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, einige dieser
Indizien strukturell zu benennen, bevor sie in einem weiteren Abschnitt exemplarisch auf-
gezeigt werden.
   Die Frage nach erzählerischer Unzuverlässigkeit steht in engem Zusammenhang mit
anderen Kategorien zur Beurteilung der ,Stimme‘ eines Erzähltextes – dem Grad der
Beteiligung der Erzählinstanz am Erzählten und der Ebene dieser Erzählstimme im Ver-
hältnis zu anderen Erzählinstanzen innerhalb desselben Textes. Bereits in den bisherigen
Definitionen von Unzuverlässigkeit ist ferner deutlich geworden, dass die Grundlage für
mimetische Unzuverlässigkeit in vielen Fällen in einer eingeschränkten und gleichzeitig
verzerrten Perspektive einer Erzählinstanz auf die erzählte Wirklichkeit liegt.35 Die Fokali-
sierung eines Erzählerberichts – als Bestandteil der Beschreibung von dessen ,Modus‘ – ist
ein erstes, aber für sich genommen noch nicht hinreichendes36 Indiz für ein gewisses Maß

35 Zur Frage, inwiefern auch nullfokalisierende oder ‚allwissende‘ Erzähler unzuverlässig sein können vgl. Jacke
   (2018).
36 Vgl. dazu auch Lang (2018, 67), die intensiv erörtert, inwiefern eine heterodiegetische, intern fokalisierende
   Erzählerzählinstanz unzuverlässig sein kann, aber nicht muss.

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Leonhard Herrmann: Mimetisch unzuverlässiges Erzählen als graduelles Phänomen | 27

an mimetischer Unzuverlässigkeit,37 das sich steigert, sobald Anhaltspunkte für eine ver-
zerrte Wahrnehmung vorhanden sind; gleiches gilt für die Homo- oder die Autodiegese.
Eine Nullfokalisierung bei einer heterodiegetischen Erzählinstanz dagegen spricht für ein
hohes Maß an Zuverlässigkeit.
    Per Krogh Hansens Unterscheidung von vier verschiedenen Erzeugungsweisen
erzählerischer Unzuverlässigkeit macht deutlich, auf welchen Textebenen Hinweise für
Zuverlässigkeit zu finden sein können. Zunächst unterscheidet Hansen zwischen (1)
intranarrativer und (2) internarrativer Unzuverlässigkeit38 und zeigt damit auf, dass sich
ein Erzählerbericht einerseits aus sich selbst heraus, andererseits durch die Konfrontation
mit einer oder mehreren weitere(n) Erzählinstanz(en) als unzuverlässig erweisen kann –
indem er entweder in sich selbst widersprüchlich ist oder aber in Widerspruch steht zu
anderen Erzählerberichten und -ebenen innerhalb desselben Textes. Als eine Form für die
internarrative Unzuverlässigkeit kommt das multiperspektivische Erzählen in Frage, das
die Perspektiven verschiedener Erzähl- und/oder Wahrnehmungsinstanzen miteinander
konfrontiert und im Falle von Widersprüchen einzelne dieser Instanzen als unzuverlässig
ausweisen kann. In ähnlicher Weise gilt dies für das Erzählen auf unterschiedlichen Erzähl-
ebenen: Intra- bzw. Metadiegesen können durch Widersprüche zu den ihr vorgelagerten
Erzählinstanzen entweder diese oder aber sich selbst als unzuverlässig markieren. Anders
als im Falle des multiperspektivischen Erzählens muss jedoch jener Erzählinstanz, die diese
widersprüchlichen Binnenerzählungen in die eigene Erzählebene integriert, ein Wissen um
diese Widersprüche unterstellt werden.
    Als zwei weitere Formen bestimmt Hansen die (3) intertextuelle und (4) extratextuelle
Unzuverlässigkeit.39 Intertextuelle Unsicherheit kommt aufgrund von typisierten Eigen-
schaften von Erzählinstanzen zustande – etwa verrückt oder naiv zu sein. Extratextuelle
Unzuverlässigkeit basiert auf dem außerliterarischen Weltwissen von Leserinnen und Lesern,
das den Bericht einer Erzählinstanz als unzuverlässig ausweist. Beide Kategorien liefern
in den seltensten Fällen objektive Hinweise auf eine tatsächliche Fehlerhaftigkeit, sondern
Indizien dafür, dass der entsprechende Bericht wahrscheinlich nicht vollkommen adäquat
ist. Mithilfe beider Kategorien etwa wäre Günter Grass’ Ich-Erzähler aus Die Blechtrommel
auch dann als hochgradig ‚unzuverlässig‘ zu bezeichnen, wenn keine intra- oder internarrativ
objektivierbaren Widersprüche zu seinem Bericht vorhanden sind. Basis dafür ist einerseits
das ‚Weltwissen‘ von Leserinnen und Lesern, dass Insassen von ‚Heil- und Pflegeanstalten‘
als unzuverlässige Berichterstatter gelten können, da ihr Beurteilungsvermögen patho-
logisch getrübt sein mag. Und andererseits kommt im Falle von Oskar Matzerath eine
intertextuelle Dimension von Unzuverlässigkeit zum Tragen: Er spielt auf die literarischen
Figuren des Narren und des Schelms an, deren Zuverlässigkeit konventionalisierter Weise
in Frage steht. Weder das Weltwissen noch die literaturgeschichtlichen Kenntnisse von
Leserinnen und Lesern liefern dabei Belege für eine objektiv gegebene Fehlerhaftigkeit
von Oskars Bericht – denn auch ein Wahnsinniger kann die Wahrheit sagen –, aber sie

37 Zur Debatte, inwiefern nicht allein einer Erzählinstanz, sondern einer ‚Reflektorfigur‘ ‚Unzuverlässigkeit‘
   unterstellt werden kann vgl. Ohme (2015, 135).
38 Vgl. Hansen (2007, 241).
39 Vgl. Hansen (2007, 242 f.).

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
28 | Leonhard Herrmann: Mimetisch unzuverlässiges Erzählen als graduelles Phänomen

legen mit hoher Wahrscheinlichkeit nahe, dass Matzerath nicht immer die Wahrheit sagt.
Damit ergeben sich aus der ‚extratextuellen‘ und der ‚intratextuellen‘ Unzuverlässigkeit im
Sinne Hansens mögliche Hinweise, die die Zuverlässigkeit eines Erzählberichts auch dann
in Frage stellen, wenn durch Fokalisierung oder Autodiegese keine ‚internarrative‘ Unzu-
verlässigkeit nachweisbar ist.
   Ein problematischer Indikator für Unzuverlässigkeit ist die Metalepse: Ein narrativer
,Kurzschluss‘ zwischen zwei eigentlich getrennten Erzählebenen kann einerseits als Erzähl-
verfahren betrachtet werden und würde als ein solches für eine hochgradige Unzuverläs-
sigkeit der entsprechenden Erzählinstanz sprechen, kann jedoch andererseits ein Ereignis
innerhalb der fiktiven Wirklichkeit darstellen, das zwar den Regeln der äußeren Wirklich-
keit widerspricht, aber innerhalb der fiktiven Wirklichkeit als real zu gelten hat; als ein in der
fiktiven Welt reales Ereignis wäre die Metalepse loszulösen von der Frage nach der Zuver-
lässigkeit der Erzählinstanz. Denn ob ein erzähltes Ereignis dem Wirklichkeitsverständnis
von Leserinnen und Lesern entspricht oder nicht, ist von der Frage der Zuverlässigkeit der
Erzählinstanz zu unterscheiden. In fiktionalen Texten können Erzählinstanzen auf eine
‚zuverlässige‘ Weise Umstände schildern, die jenen Regeln widersprechen, die Leserinnen
und Leser für ihre Wirklichkeit annehmen.

V. Funktionen graduell unzuverlässigen Erzählens in der Gegenwart. Anhand dreier Beispiele
sollen abschließend unterschiedliche Grade mimetischer Unzuverlässigkeit voneinander
unterschieden und hinsichtlich hypothetischer Funktionen gedeutet werden. Sämtliche
der im Folgenden besprochenen Texte weisen Erzählinstanzen auf, die zwar aufgrund von
Indizien als ‚unzuverlässig‘ bestimmbar sind, denen jedoch wegen der narrativen Struktur
der Texte kein objektiver Irrtum nachzuweisen ist.
   Daniel Kehlmanns Romanerstling Beerholms Vorstellung (zuerst 1997) liefert ein Beispiel
für ein hochgradig unzuverlässiges Erzählen, das Autodiegese und Metalepse, darüber hin-
aus Phänomene des fantastischen Erzählens kombiniert und die Strukturen der erzählten
Wirklichkeit grundlegend in Frage stellt. Ob Handlung und Figureninventar, von denen
der Ich-Erzähler Arthur Beerholm berichtet, binnenfiktional tatsächlich existieren, oder
aber eine ‚Vorstellung‘, einen Wahn oder eine bewusste Imagination darstellen, bleibt
systematisch offen. Gleiches gilt für die grundlegenden Realitätsparadigmen der erzählten
Wirklichkeit: Ob diese in Analogie zur Wirklichkeitserfahrung von Leserinnen und Lesern
gestaltet sind oder aber nach gänzlich anderen, nur in Ansätzen kenntlich gemachten
Gesetzen funktioniert, bleibt ebenso offen.
   Auf der Aussichtsplattform eines Turmes sitzend, berichtet Arthur Beerholm autobio-
grafisch von seinem Leben, dem er, sobald sein Bericht abgeschlossen ist, ein Ende zu
machen gedenkt. Als Schüler hatte er sich zunächst für die Mathematik interessiert, dann
ein Theologiestudium aufgenommen und schließlich eine Ausbildung beim berühmtesten
Zauberer seiner Zeit gemacht, wo er den Grundstein für eine Karriere als Bühnenmagier
legte. Doch diese Lebensgeschichte ist durch eine Reihe von Indizien äußerst zweifelhaft –
und gleiches gilt für die fiktive Wirklichkeit als solche. In seinen Selbstreflexionen ist sich
Beerholm seinerseits unsicher, ob er seine Künste nur dergestalt vervollkommnet, dass er
selbst seine Tricks unterbewusst ausübt, oder aber ob er die physikalischen Gesetze seiner

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Leonhard Herrmann: Mimetisch unzuverlässiges Erzählen als graduelles Phänomen | 29

Welt beeinflussen kann.40 Die gesamte äußere Welt, die Beerholm beschreibt, ist permanent
von Übergängen zwischen Wirklichkeit und Illusion geprägt: Jenes Kloster, in das er zu
Beginn seiner Theologenlaufbahn eintritt, stellt zunächst eine bewusste Imagination dar,
mit der sich Beerholm vor den anstehenden Schulabschlussprüfungen beruhigen möchte,41
wird jedoch, ausgehend von dieser Imagination, zu einem unbestreitbaren Gegenstand
innerhalb der erzählten Wirklichkeit und verfügt über Eigenschaften, die auch Beerholm
zunächst unbekannt sind. Auch der Zauberer, bei dem er in die Lehre geht, bleibt eine
rätselhafte Figur; sie erinnert Beerholm schließlich selbst daran, eine Imagination zu sein.42
Andererseits schildert Beerholm Umstände, die nicht – oder zumindest: nicht in seiner
Erinnerung – durch ihn selbst bewusst gestaltet sind. Auf dem Höhepunkt seiner Zauber-
künste geschieht ein Unfall, der ihm seine unvorstellbaren Kräfte raubt und seine Karriere
beendet. Inwiefern diese Kräfte weiterhin vorhanden sind, jemals vorhanden waren und
wie weit sie (noch) reichen, ist ihm selbst nicht klar – ein Sturz von der Aussichtsterrasse
wird es ihn wissen lassen.
   Nichts an dieser Erzählung ist im mimetischen Sinn ‚zuverlässig‘ – eine stabile fiktive
Wirklichkeit unabhängig von der ‚Vorstellung‘ Arthur Beerholms ist nicht erkennbar. Wo-
möglich ist Beerholm nichts von dem gewesen, was er vorgibt, sondern stellt ‚eigentlich‘
eine geistig verwirrte Person dar, die auf der Aussichtsplattform sitzt und eine Autobiografie
verfasst, die sich in keinem einzigen Detail mit der Wirklichkeit deckt. Zwar gibt es keine
alternative Perspektive, die den Bericht des Protagonisten als ‚falsch‘ entlarven könnte. Doch
insbesondere die Metalepsen markieren den Text als hochgradig unzuverlässig. Die Möglich-
keit, dass Beerholm korrekte Aussagen trifft, ist damit kaum anzunehmen. Vielmehr liegt
es nahe, dass die Strukturen der äußeren Wirklichkeit in keinerlei Hinsicht angemessen
geschildert werden – am ,wahrscheinlichsten‘ ist es gar, sofern diese Kategorie in Bezug auf
diesen Text überhaupt sinnvoll genutzt werden kann, dass sie gänzlich unerzählt bleiben.
   Unzuverlässiges Erzählen hat dabei die Funktion, die Grenzen zwischen Realität und
Imagination als durchlässig aufzuzeigen. In dieser Hinsicht spielt Kehlmanns Roman auf
Arthur Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung an. Dies geschieht
einerseits durch den Vornamen des Protagonisten, andererseits durch den Titel, der den
Begriff der ‚Vorstellung‘ in seinem doppelten Sinn aufgreift: als Imagination und als
Performance, die sich hier beide nur im Akt des Erzählens realisieren. In seiner radikal
unzuverlässigen, grundlegend metaleptischen Erzählstruktur kann der Roman gedeutet
werden als eine narrative Veranschaulichungsform der Kardinalthese Schopenhauers, dass
die ‚Welt‘ im Sinne eines Erkenntnisobjekts von der Vorstellung des erkennenden Subjekts
nicht zu unterscheiden ist. Diese Annahme Schopenhauers wird für Leserinnen und Leser
von Kehlmanns Roman zu einer Lektüreerfahrung.
   Wolfgang Herrndorfs Roman Sand (2011) ist über weite Strecken von unvollständigem
Wissen – in Shens Sinne: von ,underreporting‘ – geprägt: Im Zentrum des Romans steht
eine männliche Figur, die Opfer eines Gewaltverbrechens ist und aus der Bewusstlosigkeit

40 Vgl. Kehlmann (2007, 39 f.).
41 Vgl. Kehlmann (2007, 63 f.).
42 Vgl. Kehlmann (2007, 150).

Peter Lang                                                 Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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erwacht, ohne irgendeine Erinnerung an die eigene Person zu besitzen. Name, Familie,
Beruf, Alter und Herkunft des Protagonisten sind unbekannt, ebenso der Grund für den
Überfall, der offenbar zu einer Bewusstlosigkeit geführt hat. Durch die konsequente in-
terne Fokalisierung besitzen Leserinnen und Leser denselben Kenntnisstand wie die Figur
selbst. Zentrales Handlungsmoment sind die Bemühungen Carls, wie die Figur schließ-
lich genannt wird, seine Identität zu rekonstruieren. Verschiedene weitere Figuren werden
vorgestellt, die in einem fiktiven Ort in Nord- oder Nordwestafrika agieren und teilweise
interagieren, ohne dass eine übergreifende Handlungs- oder Motivkette erkennbar wäre.
Für Leserinnen und Leser liegt es nahe, eine Identität Carls mit einer der zuvor vorgestellten
Figuren anzunehmen, wobei unterschiedliche Hinweise gegeben werden, die sich gegen
Ende des Romans verdichten – offenbar ist Carl identisch mit einem Polizeibeamten, der zu
Beginn des Romans einen Mordfall aufklären soll, der aber mit dem zur Bewusstlosigkeit
führenden Überfall in keinem ursächlichen Zusammenhang steht. Über weite Strecken
unklar bleibt auch die Rolle einer weiblichen Figur namens Helen, die Carl bei sich auf-
nimmt und ihn bei seiner Suche nach der eigenen Geschichte unterstützt. Ihre Motive
bleiben aber lange fragwürdig, und auch der Grund, weshalb sie sich überhaupt in jenem
nord- oder westafrikanischen Land aufhält, erhellt sich erst am Ende des Textes. Auch
warum Carl verfolgt, festgenommen und gefoltert wird, bleibt lange unklar. Verschiedene
Hinweise legen die Annahme nahe, dass Carl in irgendeine Agententätigkeit verstrickt ist,
die mit der Herstellung von Atomwaffen durch ein fiktives nordafrikanisches Regime in
Zusammenhang steht – explizit erläutert wird dies jedoch an keiner Stelle.
   Die vielen Leerstellen im Wissen von Leserinnen und Lesern entstehen hier durch eine
komplexe Kombination von externer und interner Fokalisierung: Wer Herrndorfs Text
liest, erfährt zwar, was die Figuren zum Zeitpunkt der Handlung denken, aber nicht mehr
als das. Allein die Unvollständigkeit des Einblicks in die fiktive Wirklichkeit ist jedoch
noch nicht als mimetische Unzuverlässigkeit zu deuten – vielmehr stehen die eng auf die
Außen- und Innenwahrnehmungen der Figuren fokalisierten Erzählerberichte in aller Regel
in Einklang mit der je gewählten Perspektive. Nur einzelne der aus der Binnenperspektive
der Figur geschilderten Erlebnisse sind hinsichtlich ihrer Adäquatheit fraglich – etwa Carls
Begegnung mit einem rätselhaften, in der Wirklichkeit von Leserinnen und Lesern nicht
anzutreffenden Wüstentier, das er, zunächst als Mythos im Alltagsleben einer kleinen Stadt
präsent, tatsächlich antrifft (oder: anzutreffen glaubt).
   Stärker unzuverlässig wird die gesamte Erzählinstanz erst im Hinblick auf ihre ,Stim-
me‘: In einem der etwa 40 Kapitel berichtet vollkommen unerwartet ein homodiegetischer
Erzähler, der als siebenjähriger Junge Teile der Handlung beobachtet haben will,43 wäh-
rend er sich mit seinen Eltern zum Zeitpunkt der Handlung im Jahr 1972 in der besagten
Stadt aufgehalten hat. Unerwartet ist dieser Ich-Erzähler insbesondere deshalb, weil bis zu
diesem Punkt der gesamte Text Merkmale aufweist, die typischerweise mit einem hetero-
diegetischen Erzähler verbunden sind44 – vor allem die wechselnde interne Fokalisierung.

43 Vgl. Herrndorf (2011, 47 f.).
44 Zu Übergangsphänomenen zwischen homo- und heterodiegetischen Erzählstimmen, der Uneindeutigkeit
   binnenfiktionaler Faktualität und dem Zusammenhang von beidem mit unzuverlässigem Erzählen vgl. Löwe
   (2018).

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Ist dieser Ich-Erzähler, der sich nur in einem einzigen Kapitel als ein solcher ausgibt, iden-
tisch mit der Erzählinstanz der übrigen Kapitel (und letztlich gibt es daran keine Zweifel),
dann hätte die gesamte Erzählung binnenfiktional ein authentisches Erlebnis zum Kern, das
die Erzählinstanz zum Anlass nimmt, daraus eine fiktive Handlungskette zu entwickeln.
Inwiefern dieses Erzählen, das mit Jacke (2018) als ,schöpferisch‘ zu bezeichnen wäre, unter
diesen Umständen unzuverlässig ist, bleibt wiederum offen – nachweisbar ist lediglich, dass
es binnenfiktional fiktiv ist.
   In enger Analogie zu Beerholms Vorstellung besitzt die Lückenhaftigkeit und latente Un-
zuverlässigkeit des Erzählberichts von Sand erkenntnistheoretische Hintergründe: In den
oft vergeblichen Versuchen von Leserinnen und Lesern, Carls Identität zu rekonstruieren,
legt der Roman offen, wie wir beim Lesen eines fiktionalen Textes fiktive Wirklichkeiten
konstruieren, indem wir einzelne Angaben zu komplexeren Handlungsketten zusammen-
fügen. Dabei spielen präexistente Wahrnehmungsschemata eine erkenntnisleitende Rolle,
die im Falle von Sand aus populären literarischen Genres stammen: dem Kriminalroman
und dem Agententhriller. Womöglich möchte der Roman damit nahelegen – und dies wäre
eine noch näher zu begründende Funktionshypothese unzuverlässigen Erzählens –, dass
ein ähnlicher Konstruktionsprozess auch in Bezug auf unsere je eigenen, nicht-fiktiven
Welten stattfindet, die aus unvollständigen Wahrnehmungen und apriorischen Wahrneh-
mungs- und Deutungsmustern entstehen. Dass sich die Erzählinstanz überraschend als
homodiegetisch zu erkennen gibt, ist eines von vielen Indizien dafür, die Zuverlässigkeit
ihres Berichts zu hinterfragen.
   Ein Beispiel für ein graduell abermals weniger stark ausgeprägtes unzuverlässiges
Erzählen liefert der Ich-Erzähler aus Michael Köhlmeiers Roman Die Abenteuer des Joel
Spazierer (2013). Der autodiegetisch berichtende Protagonist, der seinen bisherigen Lebens-
lauf schildert, ist ein Hochstapler und gesteht sein flexibles Verhältnis zur Wahrheit ganz
offen ein. Sein ganzes Leben, das ihn aus dem Ungarn der Stalin-Ära über Österreich in
das Ost-Berlin der DDR führt, ist von Lüge und Verstellung geprägt. Es liegt daher nahe
anzunehmen, dass auch Spazierers Lebensbericht zumindest in Einzelfällen von Übertrei-
bungen, Ausschmückungen und Lügen geprägt ist. Gesteigert wird die Wahrscheinlichkeit
einer gewissen Unzuverlässigkeit noch dadurch, dass sich Spazierer beim Abfassen seines
Berichts in dramaturgischer Hinsicht Rat holt bei dem Schriftsteller Sebastian Lukasser,
der ihm freundschaftlich zur Seite steht. Diese Figur begegnet Leserinnen und Lesern
auch in anderen Romanen Köhlmeiers und kann als Alter Ego des Autors gelten. Doch
die exakten Ausdehnungen und Grade der ‚mimetischen Unzuverlässigkeit‘ bleiben in
Köhlmeiers Roman unbestimmbar.
   Unglaubwürdig sind die Berichte Spazierers jedoch nicht allein deshalb, weil er als litera-
rische Gestalt des Hochstaplers etwa an Thomas Manns Felix Krull erinnert, sondern auch,
weil das Erzählte nur schwer in Einklang zu bringen ist mit den Wirklichkeitserwartungen
von Leserinnen und Lesern. Die eigentlich unglaubliche Karriere Spazierers steht im Wi-
derspruch zu seinen inneren Überzeugungen: Er ist gläubiger Christ und im Laufe seines
Lebens zunehmend von der Existenz Gottes überzeugt – er glaubt gar, Gott persönlich
getroffen zu haben. Dass Spazierer dennoch Dozent für ,Wissenschaftlichen Atheismus‘ im
Ost-Berlin der DDR-Zeit wird, mag an seinen Verstellungskünsten liegen oder kann als
Ausdruck seines Zynismus erklärt werden, ist aber darüber hinaus auf der pragmatischen

Peter Lang                                                 Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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Kommunikationsebene des Textes als ironische Kommentierung der ideologischen Verhält-
nisse in der späten DDR zu verstehen, die dem Autor Michael Köhlmeier zuzuschreiben ist.
   Unzuverlässig ist Köhlmeiers autodiegetischer Erzähler also deshalb, weil es wahrschein-
lich ist, dass er es mit der Wahrheit nicht immer so genau nimmt – exakte Nachweise dafür
aber fehlen. Die Funktion dieser latenten Infragestellung des Erzählerberichts ist auch hier
erkenntnistheoretischer Art. Der Roman will, so die Deutungshypothese, Anlass sein, das
Verhältnis von Glauben und Wissen zu reflektieren, auf das Joel Spazierer mehrfach explizit
Bezug nimmt: Sein Gottesglaube vermittelt ihm eine Gewissheit, die ihm die Ausdrucks-
formen des ,objektiven‘ Wissens nicht bieten können, da diesen die Anschaulichkeit fehlt,
die der Glaube für ihn besitzt.45 Dass der Glaube für Spazierer stärkere Überzeugung als
das abstrakte Wissen produziert, spiegelt sich in der latenten Fehlerhaftigkeit seines eigenen
Berichts: Leserinnen und Leser ,glauben‘ ihm – auch deshalb, weil sie keine Alternative
haben –, obwohl sie wissen, dass das, was er erzählt, zumindest in Teilen, falsch sein könnte.

VI. Chancen, Risiken und Grenzen graduell-mimetischer Unzuverlässigkeit. Zusammenfas-
send lässt sich festhalten, dass ein graduelles Konzept mimetisch unzuverlässigen Erzäh-
lens das epistemische Verhältnis einer Erzählinstanz zu der von ihr berichteten fiktiven
Wirklichkeit differenzierter beurteilen kann als kontravalente Vorstellungen. Mit einem
graduellen Konzept ist das Ergebnis einer narratologischen Analyse der Zuverlässigkeit
einer Erzählinstanz die Angabe der Wahrscheinlichkeit, mit der davon auszugehen ist,
dass diese Erzählinstanz ihre fiktionsinterne Umwelt angemessen (resp: unangemessen)
beschreibt; und auch Ausdehnung und der Grad von Unzuverlässigkeit resp. Zuverläs-
sigkeit innerhalb der Erzählung sind unterscheidbar. Interne oder externe Fokalisierung,
Multiperspektivität, Homo- oder Autodiegese, intradiegetisches und metaleptisches Er-
zählen reduzieren diese Wahrscheinlichkeit, ohne dass per se von einer ‚Unzuverlässigkeit‘
ausgegangen werden kann. Doch insbesondere in Kombination mit intertextuellen und/
oder extratextuellen Hinweisen auf eine Trübung des Wahrnehmungsvermögens der ent-
sprechenden Erzählinstanz machen sie erzählerische Unzuverlässigkeit in hohem Maße
wahrscheinlich. Fehlt eine Fokalisierung und gibt es darüber hinaus keinerlei Hinwei-
se auf ein getrübtes Wahrnehmungsvermögen der Erzählinstanz, dann ist deren Bericht
jedoch als zuverlässig einzustufen.
   Wie an den drei Beispieltexten vorgeführt, kommt einer solchen graduell zu diffe-
renzierenden Unzuverlässigkeit die Funktion zu, auf dem Wege fiktionalen Erzählens
erkenntnistheoretische Fragen zu veranschaulichen:46 Den entsprechenden Texten wird
die Wirkungsabsicht unterstellt, dass Leserinnen und Leser die Erfahrung der Unzuver-
lässigkeit von der fiktionalen Welt auf ihr eigenes Weltverhältnis übertragen sollen. Unzu-
verlässiges Erzählen ist damit ein textuell induziertes, aber letztlich rezeptionsästhetisches

45 Vgl. Köhlmeier (2013, 394).
46 Vgl. dazu auch Bläss (2005, 189), der als eine von drei möglichen Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit
   die „Thematisierung und Literarisierung von epistemologischer Skepsis“ aufführt. Zur Einsicht in die Perspek-
   tivität von Wissen als epistemologischer Funktion von Unzuverlässigkeit vgl. Nünning (2017, 100). Aumüller
   (2018) unterscheidet grundlegend eine ‚geschlossene‘ und eine ‚offene‘ Funktion unzuverlässigen Erzählens,
   wobei die ‚offene Funktion‘ als Phänomen der Moderne für die „Unerzählbarkeit von Welt“ (148) stehe.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                                  Peter Lang
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