Werkstattbericht aus dem Kartellsenat - von Daten, Schienen und Patenten GRUR Bezirksgruppe Nord
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Werkstattbericht aus dem Kartellsenat von Daten, Schienen und Patenten GRUR Bezirksgruppe Nord 31. Mai 2021 Hamburg Jan Tolkmitt
Überblick 1. Marktmacht und Datenmissbrauch § Facebook I § § 19a GWB – Modernisierung der Missbrauchsaufsicht § EU: Vorschlag für einen Digital Marktes Act 2. Standardessentielle Patente und kartellrechtliche Zwangslizenzen § FRAND-Einwand I und II 3. Kartellschadensersatz § Schadenspauschalierungsklauseln: Schienenkartell VI § Pass-on: Schienenkartell V
1. Marktmacht und Datenmissbrauch 3 Meier-Beck:
Ökonomischer Hintergrund n Daten als Schmierstoff der Digitalwirtschaft n Mehrseitige Plattformmärkte als kartellrechtliches Neuland n Die Erfahrung zeigt: Märkte der Digitalwirtschaft neigen aufgrund von Netzwerkeffekten, eines bevorzugten Zugang zu Daten (insbes. des „first movers“) und damit verbundenen Selbstverstärkungseffekten zu Konzentrationstendenzen („tipping“) 4
facebook WhatsApp Instagram off-facebook pot. Wettbewerber 5
n Zustimmung zu Nutzungsbedingungen ab Januar 2015 6
Worum geht es? n Nutzungsbedingungen gestatten: § Verwendung personenbezogener “off-Facebook“-Daten generiert aus Ø Nutzeraktivitäten in konzerneigenen Diensten (WhatsApp, Instagram, Oculus, Masquerade) Ø Nutzeraktivitäten bei „Facebook-Partnern“ mittels „Facebook Business Tools“ n BKartA untersagt auf Grundlage von § 19 Abs. 1 GWB: § Verwendung der Nutzungsbedingungen, Datenrichtlinie u. Cookie- Richtlinie, nach denen die Nutzung des sozialen Netzwerks davon abhängig ist, dass facebook „off-facebook“-generierte nutzer- und gerätebezogene Daten verknüpfen und verwenden kann § Nutzung der Daten § Maßnahmen zur Abstellung aufgegeben 7
Was bisher geschah: n BKartA, Beschluss vom 06.02.2019 – B6-22/16 § Untersagung n OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26.08.2019 – VI-Kart 1/19 (V) § Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde n BGH, Beschluss vom 23.06. 2020 – KVR 69/19 § Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung n OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.11.2020 – VI-Kart 13/20 § Hängebeschluss (vorläufige Anordnung der aufschiebenden Wirkung) n BGH, Beschluss vom 15.12.2020 – KVZ 90/20 § Zulassung der Rechtsbeschwerde (Rücknahme des Antrags) n OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24.03.2021 – Kart 2/19 (V) § Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH 8
OLG Düsseldorf n Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit n Kein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (§ 19 Abs. 1 GWB) n Marktabgrenzung und Marktbeherrschung offengelassen n Feststellungen, dass Geschäftsbedingungen von denjenigen abweichen, die sich bei wirksamen Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben, fehlen n Datenbezug aus Drittquellen stellt keine Ausbeutung der Nutzer dar; Nutzer können die Daten auch Dritten offenbaren n Kein Kontrollverlust des Nutzers, weil Datenverarbeitung mit Wissen und Wollen des Nutzers erfolge, könne von Nutzung absehen n Verstoß gegen DSGVO offengelassen, jedenfalls keine Kausalität: Hinnahme der Bedingungen beruhe auf Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit, nicht aber grade auf der Marktbeherrschung n Kein Behinderungsmissbrauch zum Nachteil der Wettbewerber ersichtlich 9
BGH - Missbrauchsprüfung n Keine abschließende Beurteilung über Rechtmäßigkeit der Amtsverfügung, Maßstab § 65 Abs. 3 GWB: „ernstliche Zweifel“ è rechtliche Plausibilität, Vertretbarkeit n Keine ernstlichen Zweifel an Marktbeherrschung im Sinne des § 18 Abs. 3a GWB aF è nationaler Markt für soziale Netzwerke (mehrseitiger Markt) n Verwendung von AGB kann Missbrauch begründen („Konditionenmissbrauch“) § Kombination aus vertikalen und horizontalen Wirkungen begründet Missbrauchsvorwurf („aufgedrängte Leistungserweiterung“) Ø Keine Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Graden der Personalisierungsintensität è Ausbeutung Ø Absicherung der Marktposition: Weiterentwicklung des Dienstes und anderer Geschäftszwecke und Technologien – „Ökosystem“; Beeinträchtigung des online- Werbemarkt zumindest nicht auszuschließen è Behinderung 10
facebook Werbetreibende Behinderung Ausbeutung pot. Wettbewerber Nutzer 11
BGH - Missbrauchsprüfung n Keine strenge Verhaltenskausalität erforderlich, keine isolierte Betrachtung der Marktseiten n Auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützte Erwartung, dass andere Vertragskonditionen bei wirksamem Wettbewerb verwendet würden, genügt, wenn angesichts des Grades der Marktbeherrschung keine Aussicht auf wirksamen Wettbewerb besteht und daher konkrete Feststellung nicht oder kaum möglich sind n Marktergebniserwartung gestützt Nutzerbefragung des BKartA: unter Wettbewerbsbedingungen Angebote auf dem Markt vorhanden, die Nutzenpräferenzen für stärkere Autonomie bei der Datenpreisgabe Rechnung tragen è Wahlfreiheit 12
BGH - Interessenabwägung n Wertungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und der DSGVO zu berücksichtigen § Hohe Bedeutung des Angebots für Kommunikation § Erforderlichkeit der Datenverarbeitung zur Vertragserfüllung: keine unbeschränkte Macht des Marktbeherrschers, durch Definition seines Leistungsangebots den Umfang der Datenverarbeitung willkürlich unter Hintanstellung der der Nutzerinteressen über das erforderliche Maß auszuweiten è Umfang der zulässigen Ausweitung der vertragscharakteristischen Leistung ist der datenschutzrechtlichen Prüfung vorgelagert § Kein Erlaubnistatbestand nach DSGVO ersichtlich, nach dem eine zustimmungsfreie Nutzung der „Mehrdaten“ möglich ist Ø Insbes. nicht Art. 6 Abs. 1 Buchst f: nicht ersichtlich, das berechtigte Interesse von facebook (zielgerichtete Werbung, Finanzierung, Messung/Analyse, Sicherheit, Forschung) nur durch Abschöpfung von „Mehrdaten“ hinreichend gewahrt werden können 13
BGH - Interessenabwägung n Facebook ist grundsätzlich nicht gehindert, sein Produkt nach eigenen Vorstellungen zu definieren n Eine intensivere Personalisierung unter Einbeziehung von Daten aus Drittquellen muss aber aufgrund der davon ausgehenden Behinderungswirkungen und den Besonderheit der Marktstrukturen (Grad der Marktbeherrschung, Netzwerk- und lock-in-Effekte) von der Einwilligung der Nutzer anhängig gemacht werden n Wahlfreiheit grds. durch Marktprozess gewährleistet è Besondere Verantwortung des Marktbeherrschers erfordert Gewährleistung der Wahlfreiheit des Nutzers è Sicherung von erwartbaren wettbewerblichen Marktergebnissen 14
§ 19a GWB – „Modernisierung der Missbrauchsaufsicht“ n Seit 19. Januar 2021 gilt neues Regulierungsinstrument für (digitale) Gatekeeper n Beweggründe: § Monopolisierungs-/Konzentrationstendenzen auf Plattformmärkten § Daten als wesentlicher Produktivitätsfaktor § Dynamische Entwicklung der Marktstrukturen n Vorfeldkontrolle: weder Marktbeherrschung noch Missbrauch müssen bereits gegeben sein, überragende marktübergreifende Bedeutung genügt (digitale Ökosysteme“) n Zweistufiges Verfahren: 1. Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung è 2. Untersagung bestimmter Verhaltensweisen 15
1. Stufe: Feststellungsverfügung n Adressateneigenschaft: überragende marktübergreifende Stellung, nicht abschließender Kriterienkatalog: § Markbeherrschung auf einem oder mehreren Märkten § Finanzkraft oder Zugang zu sonstigen Ressourcen § Vertikale Integration § Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten § Bedeutung für den Zugang Dritter zu Absatz- und Beschaffungsmärkten n Verfügung ist auf fünf Jahre zu befristen 16
2. Stufe: Aufgabe von Verhaltenspflichten n Detaillierter, nicht abschließender Katalog von Regelbeispielen, darunter § Verbot, eigene Produkte bevorzugt zu behandeln (Ranking, Vorinstallation) § Verbot besonderer Behinderungspraktiken (Ausschließlichkeitsbindungen, Erschwerung der Auffindbarkeit) § Aufrollen eines noch nicht beherrschten Marktes durch leistungsfremde Mittel (Kampfpreise, Kopplungen und Exklusivitätsbindungen è keine Bindung an das Ökosystem des Gatekeepers) § Verbot, die Nutzung der eigenen Dienste von Zustimmung zur Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die aus anderen Diensten oder von Dritten generiert wurden, abhängig zu machen § Verbot, Interoperabilität von Produkten oder Portabilität von Daten zu verweigern oder zu erschweren § Spezielles Anzapfverbot n Sachliche Rechtfertigungsmöglichkeit durch Adressat, der dafür auch die Darlegungs- und Beweislast trägt 17
3. Rechtsschutz n Beschwerde zum Bundesgerichtshof § Erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit (§ 73 Abs. 5 GWB) § Für sämtliche Streitigkeiten, auch falls Kartellbehörde Verfügung parallel auf Art. 102 AEUV oder § 19 GWB stützt, auch für einstweilige Maßnahmen und alle übrigen anfechtbaren Verfahrenshandlungen (bspw. Auskunftsbeschlüsse) § Zuweisung an den Kartellsenat (§ 94 GWB) § BGH ist damit auch Tatsacheninstanz n Verfahrensrechtliche Besonderheit § Möglichkeit, eine Stellungnahme der Monopolkommission einzuholen (§ 75 Abs. 5 GWB) § Etwaigen Nachermittlungen können dem BKartA auferlegt werden 18
EU – Digital Markets Act (Entwurf) n Regulierung digitaler Gatekeeper n Ausdrücklich keine Konkretisierung der Wettbewerbsregeln (ErwG 10) è n Regelungsziel Art. 1 Nr. 1: „ensuring contestable and fair markets in the digital sector“ n Rechtsgrundlage Art. 114 AEUV (Binnenmarktharmonisierung), nicht: Art. 103 AEUV in Verbindung mit Kompetenzerweiterung nach Art. 352 AEUV n Verhältnis zu § 19a GWB unklar 19
EU – DMA-E n Zweistufiges Verfahren n 1. Stufe: Benennung eines Gatekeepers § Definition Gatekeeper (Art. 2): zentrale Plattformdienste è Online-Vermittlungsdienste, Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Video- Sharing-Plattform-Dienste, Betriebssystem, Cloud-Computing-Dienste § Plus: erheblicher Auswirkung auf Binnenmarkt, wichtiges Zugangstor zu Endnutzern; gefestigte und dauerhafte Position (Art. 3 Abs. 1) è Schwellenwerte für Jahresumsatz und Nutzerzahlen (Art. 3 Abs. 2) § Pflicht zur Selbstveranlagung und Benachrichtigung der Kommission § Einzeldesignation oder Widerlegung der Vermutung 20
EU – DMA-E n 2.Stufe: Verhaltenssteuerung durch § Per-se-Verbote (Art. 5), darunter • Dienstübergreifende Zusammenführung von personenbezogenen Daten ohne Einwilligung des Nutzers • Verbot von Meistbegünstigung und Bestpreisklauseln • Verbot der Kopplung verschiedener Plattformdienste § Konkretisierende Auflagen der Kommission (Art. 6) § Keine Rechtfertigungsmöglichkeit durch Gatekeeper § keine Berücksichtigung von Effizienzvorbringen 21
2. Standardessentielle Patente und kartellrechtliche Zwangslizenzen 22 Meier-Beck:
Hintergrund Standardisierungs- organisation FRAND- Erklärung Unterlassung Patentinhaber Implementer Lizenzeinwand Nutzer 23
Hintergrund n Standardisierungsorganisationen einigen sich für Zwecke der Interoperabilität auf einen – patentgeschützten – technischen Standard n wichtiger Anwendungsbereich: Patentpools im Mobilfunk n FRAND-Erklärung n Lizenzverhandlungen: strategisches Verhalten n Folge: kartellrechtlicher Zwangslizenzanspruch und Bestimmung der Lizenzgebühr durch Gerichte 24
FRAND-Einwand I und II n BGH: Orange-Book-Standard n EuGH: Huawei/ZTE § Marktbeherrschender SEP-Inhaber § Missbrauch durch Patentverletzungsklage dann ausgeschlossen, wenn èVerletzungshinweis èSchriftliches Lizenzangebot zu FRAND-Bedingungen an den lizenzwilligen „Verletzer“ èFehlende Reaktion des nutzenden „Verletzers“ entsprechend Treu und Glauben und ohne Verzögerungstaktik (konkretes FRAND-Gegenangebot, angemessene Sicherheitsleistung, außergerichtliche Streitbeilegung) 25
FRAND-Einwand I und II n Unterschiedliche Rezeption des EuGH-Urteils § Striktes Verhandlungsprogramm als „Vorverfahren zum Patentverletzungsprozess“ § BGH: flexibles System zur Förderung der einvernehmlichen Streitbeilegung und Wahrung eines gerechten Interessenausgleichs § Test: Hat SEP-Inhaber einen Lizenzvertrag zu FRAND-Bedingungen verweigert? Nicht: Hat der Patentinhaber ein FRAND-Angebot gemacht? § Lizenzwilligkeit als zentrales Kriterium, um strategisches Verhalten zu verhindern, das gilt für beide Seiten 26
FRAND-Einwand I und II n Berücksichtigung der Verhandlungssituation und der systematischen Unkenntnis dessen, was wirklich FRAND ist n Das erste Angebot muss noch nicht FRAND sein n Lizenzwilligkeit muss dauerhaft bestehen: Beide Seiten müssen nach den Grundsätzen von Treu und Glauben dazu beitragen, dass ein angemessener Ausgleich durch Abschluss eines Lizenzvertrages zu FRAND-Bedingungen ausgehandelt werden kann è hinreichendes Bemühen muss erkennbar sein n Parteien müssen abweichende Vorstellungen begründen und erläutern 27
n Globale Portfoliolizenz ist nicht von vornherein missbräuchlich n Sondersituation Verletzungsprozess § Auswahl einiger stellvertretender Klagepatente § Jurisdiktionelle Beschränkung n Schieds- oder Schlichtungsverfahren vorzugswürdig n Transformation eines ausschließliches Rechts: property rule vs. liability rule n Setzt starke Streitschlichtungsmechanismen voraus è Beispiel: urheberrechtliche Verwertungsgesellschaften, Schiedsstelle, Tarife, Hinterlegung etc. 28
LG Düsseldorf, EuGH-Vorlage Rechtssache C-128/21 Standardisierungs- Implementer organisation Zulieferer Tier 2 FRAND- Implementer Erklärung Zulieferer Tier 1 Unterlassung Patentinhaber Implementer Fahrzeughersteller Lizenzeinwand Nutzer 29
3. Kartellschadensersatz 30 Meier-Beck:
Pass-on Schienenkartell IV/V Kartellpreis Subvention Öff. Hand Abnehmer Abtretung erhöhte Fahrpreise? Fahrgäste Fahrgä ste
Pass-on Schienenkartell IV/V n Bislang nur Entscheidungen zum „alten Recht“ - § 33c GWB gilt nur für nach dem 26. Dezember 2016 entstandene Ansprüche (Ausnahme § 33c Abs. 5) n Pass-on als Ausprägung der Vorteilsausgleichung (ORWI) n Dem Geschädigten sind in gewissem Umfang diejenigen Vorteile zuzurechnen sind, die ihm in adäquat-kausalem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zufließen. n Ziel: gerechter Ausgleich zwischen den bei einem Schadensfall widerstreitenden Interessen 32
Pass-on Schienenkartell IV/V n Der Geschädigte darf grds. nicht bessergestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stünde è schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot n Andererseits sind nicht alle durch das Schadensereignis bedingten Vorteile auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, sondern nur solche, deren Anrechnung mit dem jeweiligen Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt, d.h. dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht unangemessen entlastet werden. n Differenzierung zwischen ökonomischem und rechtlichem Schadensbegriff 33
Pass-on Schienenkartell IV/V n Voraussetzungen § Adäquater Kausalzusammenhang zwischen kartellbedingtem Preisaufschlag und höheren Preis auf der nachfolgenden Stufe („Anschlussmarkt“) § Darlegungslast bei Verteidigung liegt beim Kartellbeteiligten • Strengen Anforderungen: greifbare Anhaltspunkte erforderlich, die für einen pass-on sprechen • Marktverhältnisse auf dem Absatzmarkt, Nachfrageelastizität, Preisentwicklung etc. è Detaillierungsgrad muss der Komplexität der ökonomischen Zusammenhänge Rechnung tragen, kein allgemeiner Erfahrungssatz für die Wahrscheinlichkeit einer Schadenswälzung • Aber: keine überschießenden Anforderungen, weil Einwand grundsätzlich zulässig ist; i.Ü. es gilt § 287 ZPO ohnehin immer nur Wahrscheinlichkeitsbetrachtung 34
Pass-on Schienenkartell IV/V § Grds. Zurückhaltung bei Annahme sekundärer Darlegungslasten der anspruchstellenden Geschädigten („ORWI“) § Aber bejaht bei Subventionsfällen: öffentliche Auftraggeber subventionieren Kläger, die den öff. Nahverkehr betreiben • Pass-on kommt nur in Betracht, wenn die Subventionen und auch auch ihre Höhe zweckgebunden und in Abhängigkeit des Beschaffungsvorgangsgewährt wird • Dann muss Kläger ggfls. zu Modalitäten der Zuwendungen vortragen § Verneint bei „Streuschäden“ 35
Pass-on Schienenkartell IV/V n Prozessuale Besonderheiten bei Zuwendungsverhältnissen § Klage „hilfsweise“ gestützt auf Abtretung von Schadensersatzansprüchen der Zuwendungsgeber § Typischerweise Eventualverhältnis, das zur vollständigen Prüfung des in erster Linie geltend gemachten Anspruchs zwingt, zwei Streitgegenstände, so dass Einwand des pass-on bzgl. des Hauptanspruchs nicht offen bleiben kann § Aber: Bündelung sämtlicher Ansprüche in einer Hand, Klagebegehren ist auf Kompensation des vollständigen Schadens gerichtet § Dann meint „hilfsweise“ meint typischerweise zwingend Eventualverhältnis § Falls Eventualverhältnis gewollt ist, muss das klargestellt werden 36
Pass-on Schienenkartell IV/V Kartellpreis Subvention Öff. Hand Abnehmer Abtretung erhöhte Fahrpreise? Fahrgä ste
Pass-on Schienenkartell IV/V n Problem Fixkosten § Nicht ausgeschlossen, dass höhere Fixkosten weitergereicht werden è auch Fixkosten müssen durch die Erlöse gedeckt werden § Wegen der Komplexität des Preisbildungsmechanismus allerdings schwieriger nachzuweisen als pass-on variabler Kostbestandteile è typischerweise nur mit ökonometrischen Studien § grade bei Anlagegütern, die über einen sehr langen Zeitraum abgeschrieben werden und die nur einen äußerst geringen Kostenfaktor bilden, bei Fahrpreisen des öff. Nahverkehrs zudem: sozialpolitische Preisbildungsgesichtspunkte § Messbar? Allenfalls schätzbar mit erheblichen Unsicherheiten 38
Pass-on Schienenkartell IV/V n Problem „Streuschäden“ § Atomisierung der kartellbedingten Preiserhöhung durch Verteilung auf unüberschaubare Vielzahl von Abnehmern § Schwierigkeiten der Feststellung/Bezifferung der Schäden § Bislang keine tauglichen/erprobten Instrumente für kollektiven Rechtsschutz (Abtretungsmodell, Musterfeststellungsklage, Vorteilsabschöpfung durch Verände nach § 34a GWB, EU- Verbrauchersammelklage) § Fehlende Anreize der „Streugeschädigten“ (typischerweise, aber nicht notwendig Endverbraucher), den Schaden zu liquidieren 39
Pass-on Schienenkartell IV/V Kartellpreis Abnehmer erhöhte Fahrpreise? Fahrgäste Fahrgä ste
Pass-on Schienenkartell IV/V n Zielkonflikt § Kompensation des Geschädigten § Vermeidung einer Mehrfachinanspruchnahme des Schädigers § Bereicherungsverbot § Vollständiger Ersatz des kartellbedingten Schadens § keine („unbillige“) Entlastung des Schädigers § Negative Anreize für Primärgeschädigten zur Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen 41 Meier-Beck:
Pass-on Schienenkartell IV/V n Normativer Ausschluss bei “Streuschäden“ § Zwecke des kartellrechtlichen Schadensersatzanspruch è nicht auf kompensatorische Funktion beschränkt, integraler Bestandteil des Systems zur effektiven Durchsetzung kartellrechtlicher Verbotstatbestände § Auch dieser Zweck ist bei der wertenden Betrachtung im Rahmen der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen (“Zweck des Ersatzanspruchs“) § Wertungsmaßstab zur Auflösung des Zielkonflikts 42 Meier-Beck:
Pass-on Schienenkartell IV/V n Auflösung des Zielkonflikts: Normativer Ausschluss des Einwands der Schadenswälzung § bei „Streuschäden“ § Wenn nicht zu erwarten ist, dass Abnehmer auf nachgelagerten Marktstufen den Schaden liquidieren § Kein absoluter Vorrang des Bereicherungsverbots è der präventiven Funktion des kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs ist im Zweifel Vorrang vor dem Verbot der Überkompensation einräumen. 43
Pass-on Offene Fragen n Übertragbar auf weitere Konstellationen? § Muss sich bspw. Käufer eines LKW entgegenhalten lassen, den kartellbedingt erhöhten Kaufpreis auf Fracht oder Bauleistungen umgelegt zu haben? § Weiterverkauf, Leasing? n Angriffssituation: mittelbarer Abnehmer als Kläger § Grundgedanke Art. 14 Abs. 2, § 33 Abs. 2 GWB è Vermutung der Abwälzung, sofern Verstoß, kartellbedingte Preiserhöhung und Erwerb von Waren nachgewiesen wird, die Gegenstand des Verstoßes waren 44
Pass-on n Pass-on und Richtlinie 2014/104/EU § Prinzip der Vorteilsausgleichung steht in Einklang mit Art. 13 § Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1: Recht zum vollständigen Schadensersatz für jedermann § Art. 3 Abs. 3: Verbot der Überkompensation, Mehrfachinanspruchnahme und Strafschadensersatz; näher Art. 12 Abs. 2 è Überkompensation muss auf jeder Vertriebsstufe verhindert werden § Kollisionsmechanismus Art. 15 unvollkommen è keine Lösung für Streuschadenproblematik § Primärrechtliches Gebot der effektiven Durchsetzung der Wettbewerbsregeln 45
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n relevante Klausel "Wenn der Auftragnehmer aus Anlass der Vergabe nachweislich eine Abrede getroffen hat, die eine unzulässige Wettbewerbsbeschränkung oder eine unlautere Verhaltensweise darstellt, hat er 5 v. H. der Abrechnungssumme als pauschalierten Schadensersatz an den Auftraggeber zu zahlen, es sei denn, dass ein Schaden in anderer Höhe nachgewiesen wird.“
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Klassische AGB-Prüfung ü Einbeziehung • unproblematisch ü Teilbarkeit • Abgrenzung von UWG-Verstößen ü Wirksamkeit (+) • Auslegung • Angemessenheit • Transparenz
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Teilbarkeit Nur dann, wenn der als wirksam anzusehende Rest im Gesamtgefüge des Vertrags nicht mehr sinnvoll, insbesondere der als unwirksam beanstandete Klauselteil von so einschneidender Bedeutung ist, dass von einer gänzlich neuen, von der bisherigen völlig abweichenden Vertragsgestaltung gesprochen werden muss, ergreift die Unwirksamkeit der Teilklausel die Gesamtklausel. Hier è UWG-Verstöße von Kartellverstößen ohne weiteres sachlich trennbar
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Vor die Klammer: Auslegungsbedürftigkeit der Klausel objektive Auslegung: Auslegung nach objektivem Inhalt und typischem Sinn; Ausgangspunkt Wortlaut; nicht maßgeblich: individueller Vertrag, Willen der Vertragsparteien etc. Verständnishorizont: durchschnittlicher Vertragspartners, bestimmte Personenkreise, Kaufleute sind mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen vertraut und typischerweise mit besonderem Wissen ausgestattet ist è Hier verständige, im Umgang mit öffentlichen und privaten Beschaffungsvorgängen vertrauten - und redliche - Vertragspartner der Klägerin Grenze: außer Betracht zu bleiben haben solche Verständnismöglichkeiten, die zwar theoretisch denkbar, praktisch aber fernliegend und daher nicht ernstlich in Betracht zu ziehen sind.
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI „Abreden, die eine unzulässige Wettbewerbsbeschränkung darstellen“ è jegliche Verstöße gegen Vorschriften des GWB und des AEUV? n Zweck des Vergabeverfahrens Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots (“bestes Preis-Leistungsverhältnis“) unter der Voraussetzung funktionsfähigen Wettbewerbs, insbes. Preiswettbewerb n Daraus folgt: Klausel erfasst Preis-, Quoten- oder Kundenschutzkartelle sowie Gebietsabsprachen, die als bezweckte Beschränkungen des Wettbewerbs darauf gerichtet sind, den wettbewerblichen Preisbildungsmechanismus ganz oder teilweise außer Kraft zu setzen und damit den Auftraggeber daran zu hindern, das bei funktionierendem Wettbewerb günstigste erzielbare Angebot zu erkennen.
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Abreden “aus Anlass der Vergabe“ è Bezug auf bestimmte Auftragsvergaben erforderlich? n Eindeutig: Submissionsabsprachen im Hinblick auf bestimmte Ausschreibung n Aber auch: Preis-, Quoten-, Kundenschutz- oder Gebietskartell, die unabhängig von einer bestimmten Auftragsvergabe getroffen werden è vernünftiger und vor allem redlicher Vertragspartner wird annehmen, dass ein unabhängig von einer einzelnen Auftragsvergabe, aber in Erwartung zukünftiger Auftragsvergaben getroffene Abrede mit umfassender oder sogar mglw. weitreichenderer Koordinierung des Marktverhaltens der Kartellbeteiligten vom Anwendungsbereich der Klausel ebenso und erst recht erfasst werde soll. n Begriff der Vergabe ist weit zu verstehen: sämtliche Formen, nicht nur Ausschreibungen
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB è Rückbesinnung auf den Begriff der nach Treu und Glauben unangemessenen Benachteiligung: Eine unangemessene Benachteiligung liegt vor, wenn der Verwender missbräuchlich eigene Interessen auf Kosten des Vertragsgegners durchzusetzen versucht, ohne dessen Interessen ausreichend zu berücksichtigen und ihm einen angemessenen Ausgleich zuzugestehen.
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI § 309 Nr. 5 BGB: Vereinbarung eines pauschalierten Anspruchs des Verwenders auf Schadensersatz ist unwirksam, wenn (a) die Pauschale den in den geregelten Fällen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Schaden übersteigt oder (b) dem anderen Vertragsteil nicht ausdrücklich der Nachweis gestattet wird, ein Schaden sei überhaupt nicht entstanden oder wesentlich niedriger als die Pauschale. Die Pauschale darf der Höhe nach den normalerweise eintretenden branchentypischen Durchschnittsschaden nicht übersteigen. è Vorschrift nicht unmittelbar anwendbar, weil kaufmännischer Verkehr, aber Wertungen im Rahmen des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB zu berücksichtigen; Nachweis keines oder eines geringeren Schadens muss nicht ausdrücklich vorbehalten werden; Besonderheiten der kartellrechtlichen Schadensersatzansprüche zu berücksichtigen
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Sinn und Zweck der Pauschalierungsklauseln Verringerung von Zeitaufwand und Kosten zur erleichterten, rationalisierten Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen n Interessenabwägung Verwender: Schwierigkeiten, den sich aus einer Kartellabrede ergebenden Preishöhenschaden zu berechnen è kontrafaktisches Szenario lässt auch nur eine annäherungsweise, aber keine mathematische genaue Ermittlung des Schadens zu è Informationsdefizit des Verwenders: Höhe des Schadens hängt von Umständen ab, die ihm notwendigerweise unbekannt sind (anders als bei Verletzung vertragstypischer Pflichten) è Hoher sachlicher und finanzieller Aufwand erforderlich è Klauselzweck in besonderem Maße einschlägig Vertragspartner: Vermeidung von Überkompensation
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Interessenabwägung (Forts.) § Primärrechtliches Gebot der effizienten Durchsetzung von der Wettbewerbsregeln zu berücksichtigen (Art. 101 AEUV); abzugrenzen vom allgemeinen Äquivalenz- und Effektivitätsgebot § Zweck des kartellzivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs ist nicht auf Kompensationsinteresse beschränkt § Ansprüche müssen mit einem Grad an Wirksamkeit durchsetzbar sein, der sicherstellt, dass Unternehmen sie als regelmäßige und erwartbare Folge einer wettbewerbsbeschränkenden Handlung - ebenso wie bei anderen schwerwiegenden Delikten - in Rechnung stellen. § Dem Interesse des Verwenders an effizienter Schadensbezifferung kommt der daher besonderes Gewicht zu
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Folge: Besonderer Maßstab für die Bemessung der Schadenspauschale § Keine Pflicht zur Darlegung eines branchentypischen Schadens § Bezugnahme auf ökonomisch fundierte allgemeine Analysen über kartellbedingte Preisaufschläge kann genügen § Gefahr einer Über- oder Unterkompensation (wg. Streubreite der Kartellaufschläge) zwingt Verwender nicht dazu, bei der Bemessung der Pauschale eine Überkompensation schlechthin oder weitgehend auszuschließen è damit auch keine Orientierung am geringsten denkbaren Verstoß § Interesse des Vertragspartners an Vermeidung einer Überkompensation wird durch Möglichkeit, geringeren Schaden nachzuweisen, hinreichend berücksichtigt § Beweislastumkehr für den unredlichen Vertragspartner hinnehmbar, weil er die Ursache für die Störung der Koordinierungsfunktion von Angebot und Nachfrage verantwortlich ist und er die daraus resultierenden Schwierigkeiten verantwortet
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Höhe der Schadenspauschale è bis zu 15 Prozent ok n empirisch-ökonomische Studien geben Anhaltspunkte für Wahrscheinlichkeit, dass Kartellaufschlag typischerweise nicht geringer und nicht größer ist è Risiko für beide Seiten n Unvollkommen, aber keine besseren Erkenntnisse für Verwender n Empirische Unsicherheit muss nicht zu Lasten des Verwenders gehen und steht einer Pauschalierung nicht prinzipiell im Wege, andererseits auch keine Kontrollfreiheit der Klauseln
Quelle: Coppik/Heimeshoff, WuW 2020, 584 58
Quelle: Boyer/Kotchonie Rev Ind Organ (2015) 47, 119 ff. 59
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Beweislastumkehr nicht bezüglich der Höhe des Schadens n Auf Grundlage einer wirksamen Pauschalierungsklausel ist auch davon auszugehen, dass dem Verwender überhaupt ein Schaden entstanden ist n è auch insofern steht dem Vertragspartner der Gegenbeweis offen 60
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Pauschale gilt auch für “gemischte Aufträge“, bei denen erkennbar nur zum Teil kartellierte Waren geliefert oder Dienstleistungen erbracht werden, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der kartellierte Preis auch auf die übrigen gelieferten Dienstleistungen erbracht n Verwender muss etwaigen Vorteilsausgleich nicht von vornherein in die Pauschale einrechnen
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Vertragspartner kann einen geringeren oder einen gänzlich fehlenden Schaden nachweisen, ebenso wie der Verwender einen höheren Schaden nachweisen kann n Für den Beweis eines höheren Schadens ebenso wie für den Gegenbeweis gelten die allgemeinen Grundsätze è umfassende Würdigung aller für und gegen die jeweilige Behauptung sprechenden Indizien
Schadenspauschalierung Schienenkartell VI n Keine Intransparenz nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB § „Abrechnungssumme“ (KZR 94/18: „Auftragssumme“) § fehlende Berücksichtigung von Skonti
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! 64
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