Aus Politik und Zeitgeschichte - 29 30/2007 16. Juli 2007 - BPB

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Aus Politik und Zeitgeschichte
                         29 ± 30/2007 ´ 16. Juli 2007

                        Verkehrspolitik
                                Michael Schreckenberg
                                       Stau und Panik

                        Weert Canzler ´ Andreas Knie
                     Demographie und Verkehrspolitik

                     Susanne Bæhler ´ Daniel Bongardt
    Sorgenkind Verkehr ± Maûnahmen zum Klimaschutz

                      Christian Holz-Rau ´ Ute Jansen
              Nachhaltige Raum- und Verkehrsplanung

                         Bernhard Schlag ´ Jens Schade
                   Psychologie des Mobilitåtsverhaltens

                                        Claus J. Tully
                              Leben in mobilen Welten

      Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament
Editorial
  Die Mobilitåtsgesellschaft scheint an ihre Grenzen zu stoûen.
Verstopfte Straûen und çberfçllte Flughåfen gehæren heute zum
Alltag ± nicht nur zur Urlaubszeit. Die Stadtzentren drohen am
motorisierten Individualverkehr zu ersticken. Citymautsysteme
werden installiert, wåhrend manche Landstriche aufgrund des
demographischen und wirtschaftsstrukturellen Wandels vom æf-
fentlichen Nahverkehr abgekoppelt sind. Der energieintensive
Straûengçterverkehr hat sich vervielfacht.

   Die Verkehrspolitik steht angesichts der Erfordernisse des glo-
balen Klimaschutzes am Scheideweg. Der Flugverkehr, insbe-
sondere auf Kurzstrecken, nimmt weiter sprunghaft zu. Mittler-
weile ist es preiswerter, von Hamburg nach Mailand zu fliegen
als mit der Bahn nach Berlin zu reisen. Doch Flugbenzin wird
weiterhin nicht besteuert, was der wesentlich klimafreundliche-
ren Bahn angesichts steigender Energiepreise einen zusåtzlichen,
entscheidenden Wettbewerbsnachteil zufçgt und zu ihrer Un-
attraktivitåt beitrågt. Nach wie vor ist Deutschland das einzige
Land Europas ohne Tempolimit auf allen Autobahnen. Zugleich
hat die Automobilindustrie ihre Selbstverpflichtungen zur Redu-
zierung des Schadstoffausstoûes von Neuwagen nicht erfçllt.

  Inwieweit kann Politik das Verkehrsverhalten beeinflussen
oder gar veråndern? Verkehrspolitik muss Anstæûe zu einem ef-
fektiveren Mobilitåtsmanagement geben und den Rahmen fçr
eine zeitgemåûe, nachhaltige Raum- und Siedlungspolitik setzen.
Auch wenn individuelle Verhaltensånderungen schwer fallen:
Niemand hindert die mobilen Bçrgerinnen und Bçrger daran,
der Verkehrspolitik ¹von untenª neue, auch global wirksame Im-
pulse zu verleihen. Phantasie und Intelligenz sind gefragt.

                                               Hans-Georg Golz
Michael Schreckenberg                                                     Phånomen Stau

        Stau und Panik
                                                           Das Wort Stau kommt nicht vom passiven
                                                           Sich-nicht-(vorwårts)-bewegen-Kænnen, son-
                                                           dern vom aktiven Verb ¹stauenª: ¹(Wasser)
                                                           im Lauf hemmenª und ¹(Waren) fest schich-
                                                           tenª. Daraus wurde Stau als ¹Stillstand des
         Alles Unglçck der Menschen rçhrt daher,           Wassersª. Das verwandte Verstauen (¹fest
         dass sie nicht in Ruhe allein in ihrem Zimmer     einpackenª) stammt aus der Seemannssprache
         bleiben kænnen.                                   des 19. Jahrhunderts, wobei der ¹Stauerª die
         Blaise Pascal (1623±1662)                         Schiffsladungen ¹stautª.

           Stau und Panik ± die beiden Worte erzeugen         Heute stellt sich das Thema Stau deutlich
           Unbehagen, wenn nicht Furcht. Fçr sich al-      anders, ja genau umgekehrt dar. Nicht wir
           lein genommen werden sie ståndig verwen-        stauen oder verstauen etwas, sondern wir
           det, obwohl sie auch als Paar in Erscheinung    werden ¹gestautª. So sind wir vom Tåter
           treten. In einem Fahrzeug im Stau auf der       zum Opfer geworden. Und das årgert uns:
           Autobahn ist man gefangen, man kann es          Mit allen technischen und wissenschaftlichen
           nicht einfach verlassen und sich entfer-        Mitteln versuchen wir, Herr çber den Stau zu
           nen. Und eine gewisse Perspektivlosigkeit       werden, håufig mit zweifelhaften Erfolgsaus-
           schwingt auch mit, denn man weiû nicht, wie     sichten. Doch Stau ist etwas ganz Natçrli-
                                   lange der Zustand       ches, çberall in der Natur ist er pråsent. Ob
                                   noch andauern wird.     Kieselsteine, Kærner oder Sand, ob Ameisen,
         Michael Schreckenberg                             Mikroben oder Tiere auf dem Weg zur Was-
                                   Dies sind die wesent-
 Dr. rer. nat., geb. 1956; Profes-                         serstelle, çberall behindert eins das andere.
                                   lichen Ingredienzen
sor für die Physik von Transport                           Ohne die anderen gåbe es keine Probleme,
                                   fçr das Auftreten
  und Verkehr, Universität Duis-                           und so årgern wir uns hauptsåchlich çber die
                                   eines psychologischen
 burg-Essen, Campus Duisburg,                              anderen, die uns am Fortkommen hindern.
                                   Zustands, den man
                  Lotharstraûe 1,                          Doch am Ende sind wir alle der Stau, auch
                                   gemeinhin und eher
                 47057 Duisburg.                           wir selbst.
                                   salopp als ¹panischª
     schreckenberg@traffic.uni-
                                   bezeichnet.
                   duisburg.de                               Zu den ganz groûen Erfindungen der
                                                           Menschheit zåhlt zweifellos das Rad. Doch
                                   Doch auch umge-
                                                           ohne die dazu gehærige Straûe (via strata, ge-
         kehrt betrachtet ergibt sich ein Zusammen-
         hang. Menschen in Panik, zumal in einer gro-       1 Fçr diesen Text wurde folgende Literatur verwendet:
         ûen Masse, handeln egoistisch, ohne Rçck-
                                                           Hermann Engl/Frank Låmmel, Highway Deutsch-
         sicht auf andere. Das Gedrånge an Engstellen      land, Holzkirchen 1996; Sigmund Freud, Massen-
         vermindert den Durchsatz enorm und er-            psychologie und Ich-Analyse, Leipzig 1924; Clauss-
         zeugt schlieûlich: Stau. Håufig mit unabseh-      Siegfried Grommek (Hrsg.), Panik ± Ein vernach-
         baren Folgen, denn am Ende wird ¹panischª         låssigtes Phånomen?, Rothenburg/Oberlausitz 2005;
         gedrçckt, geleitet von der irrigen physikali-     Hans Hitzer, Die Straûe. Vom Trampelpfad zur Auto-
                                                           bahn, Mçnchen 1971; Dietmar Klenke, ¹Freier Stau fçr
         schen Annahme, mehr Druck erzeuge mehr
                                                           freie Bçrgerª ± Die Geschichte der bundesdeutschen
         Durchfluss. Menschen sind transporttech-          Verkehrspolitik, Darmstadt 1995; Tobias Kretz,
         nisch aber eher als ¹sperrigª einzustufen, so     Pedestrian Traffic ± Simulation and Experiments, Diss.,
         dass das Gegenteil eintritt: Verstopfung, und     Universitåt Duisburg-Essen 2006; Maxwell G. Lay,
         damit Stau.                                       Die Geschichte der Straûe, Frankfurt/M.±New York
                                                           1994; Michael Schreckenberg/Som Deo Sharma,
                                                           Pedestrian and Evacuation Dynamics, Heidelberg 2002;
           Von beidem soll hier die Rede sein, von         Rainer Stommer (Hrsg.), C.G. Philipp, Reichsautobahn
         Stau und von Panik, von Menschen in Fahr-         ± Pyramiden des Dritten Reiches, Marburg 1982; Walter
         zeugen und als Fuûgånger. Stau und Panik          Tiedemann, Panik ± Erkennen-verhçten-abwehren,
         haben miteinander zu tun. Sie kænnen allei-       Lçbeck 1968; Nathalie Waldau, Massenpanik in
                                                           Gebåuden, Diplomarbeit, TU Wien 2002; dies./Peter
         ne auftreten, aber auch gemeinsam. Fakten         Gattermann/Hermann Knoflacher/Michael Schre-
         und Zusammenhånge legen die Verbindun-            ckenberg, Pedestrian and Evacuation Dynamics 2005,
         gen des Systems Verkehr mit Stau und              Heidelberg 2007. Vgl. auch www.rimea.de; www.ped-
         Panik nahe. 1                                     net.org und www.autobahn.nrw.de.

                                                                                            APuZ 29 ± 30/2007        3
pflasterter Weg) håtte es gar nicht zu seiner        straûen und mit getrennten Richtungsfahr-
    heutigen Bedeutung gelangen kænnen. Das              bahnen ausgeweitet. Dieses Konzept trug be-
    Problem der frçhen Straûen bestand darin,            reits wesentliche Merkmale der spåteren
    dass auf ihnen alle Verkehre gleichzeitig abge-      Autobahn, wie sie in Anlehnung an die
    wickelt wurden, ja sogar Kinder spielten. Die        Reichsbahn genannt wurde. Dieser Begriff
    Oberflåche der Straûen war, hauptsåchlich            wurde 1929 erstmals von dem Hannoveraner
    durch Pferdefuhrwerke, in einem bedauerns-           Professor fçr Statik und Eisenbau Robert
    werten Zustand. Wåhrend des Ersten Welt-             Otzen offiziell benutzt. Die Bauarbeiten be-
    kriegs vernachlåssigt, konnten die Verkehrs-         gannen 1912 auf einem Gelånde zwischen
    wege mit der rasanten technischen Entwick-           Charlottenburg und Wannsee. Aufgrund des
    lung des Automobils danach nicht mithalten,          Weltkrieges wurde die fast zehn Kilometer
    waren sie doch noch auf dem Niveau von Last-         lange Strecke jedoch erst 1921 fertig gestellt.
    karren und napoleonischen Kriegsfahrzeugen.          Am 24. September 1921 fand das erste offi-
    Unçbersichtlichkeit, Unebenheit und Staub-           zielle AVUS-Rennen statt.
    entwicklung lieûen fçr die in den 1920er Jahren
    immer håufiger anzutreffenden Automobile                Das Vorbild fçr den Bau von Autobahnen
    nur niedrige Geschwindigkeiten und wenig             hatte der Italiener Piero Puricelli entworfen.
    Komfort zu. So ist es verståndlich, dass der         1922 grçndete er mit staatlicher Unterstçt-
    Ruf nach hochwertigen ¹Nur-Autostraûenª              zung eine Autobahn-Gesellschaft, um ein gan-
    immer lauter wurde. Auf diesen sollten keine         zes Netz von Nur-Kraftwagen-Straûen (auto-
    Pferdefuhrwerke mehr verkehren dçrfen.               strade) zu realisieren: lange Geraden, weite
                                                         Kurven, groûe Spurbreiten, glatte, feste und
       In diese Zeit fållt die Installation der ersten   staubfreie Oberflåchen, keine Kreuzungen,
    deutschen Ampel, die am 20. Oktober 1924             geringe Steigungen und Tankstellen direkt
    am Potsdamer Platz in Berlin in Betrieb ging.        neben der Fahrbahn. Allerdings gab es, im
    Deutschland hinkte damit mehr als 55 Jahre           Unterschied zu den spåteren Reichsautobah-
    hinter der Inbetriebnahme der weltweit ers-          nen, noch keine Trennung der Richtungsfahr-
    ten Ampel in London vor dem Parlamentsge-            bahnen. Nach reiflicher Ûberlegung entschied
    båude (1868) hinterher. Dort war der Grund           man sich fçr die Verbindung zwischen Mai-
    fçr die neue Technik in den sich håufenden           land und den oberitalienischen Seen, insbe-
    Unfållen insbesondere mit Polizisten zu              sondere zwischen Mailand und Como sowie
    sehen, die eigentlich den Verkehr regeln soll-       zwischen Mailand und Varese. Die letztge-
    ten. Zwei Jahre spåter gab es auf der Leipzi-        nannte, 49,2 Kilometer lange Verbindung
    ger Straûe Richtung Potsdamer Platz die erste        wurde am 21. September 1924 von Kænig Vit-
    Grçne Welle, um den Verkehr zu verflçssi-            torio Emanuele eræffnet. In den europåischen
    gen. Bemerkenswerterweise haben Ampeln               Nachbarlåndern (und darçber hinaus) wurde
    nach çber achtzig Jahren ihre Form und An-           der Autobahngedanke nach der Realisierung
    mutung mit den drei Farben Rot-Gelb-Grçn             in Italien von ¹Autobahnverfechternª leiden-
    trotz aller technischen Weiterentwicklungen          schaftlich aufgegriffen, so auch in Deutsch-
    fast unveråndert behalten und sind weltweit          land. Dort gab es inzwischen zahlreiche Inte-
    vorzufinden. Heute werden an vielen Orten            ressenverbånde und Gesellschaften, die sich
    Ampelkreuzungen durch Kreisverkehre er-              mit der Planung von Nur-Autostraûen befass-
    setzt, die als sicherer und in der Wartung als       ten. Nach vielen Anlåufen und Rçckschlågen
    deutlich gçnstiger gelten.                           wurde am 6. August 1932 vom damaligen Kæl-
                                                         ner Oberbçrgermeister und spåteren Bundes-
       Die eindrucksvollste Entwicklung auf dem          kanzler Konrad Adenauer die erste ¹kreu-
    Weg zum Stau war indes die der Autobahnen,           zungsfreie Straûe nur fçr Kraftfahrzeugeª
    die als Straûen ohne Kreuzungen und nur fçr          zwischen Kæln und Bonn (die heutige A 555)
    Automobile geplant waren. So wurde schon             eræffnet. Heute umfasst das deutsche Auto-
    1909 in Berlin die Gesellschaft ¹Automobil-          bahnnetz rund 12 000 Kilometer, und es wird
    Verkehrs- und Uebungsstraûeª (AVUS) mit              immer weiter ausgebaut.
    dem Ziel gegrçndet, eine Automobilrenn-
    strecke zu bauen. Die Plåne beschrånkten               Die ¹kreuzungsfreienª Fernstraûen sind als
    sich zunåchst auf eine reine Rennstrecke, sie        einzige Straûen in der Lage, Stauentstehung
    wurden spåter aber zu einer æffentlichen Au-         in seiner reinsten Form zu ermæglichen:
    tomobilstraûe ohne Kreuzungen und Quer-              Ohne åuûere Einflçsse wie Ampeln, Kreu-

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zungen, Baustellen oder widrige Wetterbe-            Damit aber noch nicht genug. Zåhflieûen-
dingungen bilden sich dort Staus; man spricht     der Verkehr erzeugt nicht nur eine Stauwelle,
håufig gar vom ¹Stau aus dem Nichtsª. Dies        sondern wirkt wie eine Pumpe: Ein Stau nach
ist aber eine Tåuschung: Versuchen zu viele       dem anderen wird ¹ausgesandtª. Man kennt
Fahrzeuge zur selben Zeit in derselben Rich-      das Phånomen, ¹nach dem Stau ist vor dem
tung dieselbe Strecke zu benutzen, so erreicht    Stauª, etwas freier interpretiert. Das ist nicht
sie ihre Kapazitåtsgrenze, und eine spezielle     das, was man unter ¹Stop-and-Goª-Verkehr
Dynamik setzt ein. An Stellen, an denen sich      versteht, damit ist die Dynamik innerhalb
die Dichte lokal erhæht, etwa an Auffahrten,      eines Staus gemeint. ¹Normaleª Staus (ausge-
Steigungen oder in unçbersichtlichen Kurven,      nommen totaler Stillstand wie bei einer Voll-
geht der freie in den so genannten synchroni-     sperrung) haben eine interne Geschwindig-
sierten Verkehr mit 10 bis 30 km/h çber. Die-     keit von ca. 10 km/h, so dass es schon ab und
ser ¹zåhflieûendeª Verkehr bildet sich von        zu Bewegung gibt, aber eben keine konstan-
der Engstelle an flussaufwårts und læst sich      te. Heute gibt es an immer mehr Auffahr-
nicht von ihr. Flussabwårts geht es mit freiem    ten Ampeln, so genannte Zuflussregelungen.
Verkehr weiter.                                   Diese sollen verhindern, dass ganze Pulks
                                                  von Fahrzeugen gleichzeitig versuchen aufzu-
   Interessant ist, dass die Geschwindigkeit in   fahren. Dazu sind die Grçnphasen maximal
dieser zåhflieûenden Zone zwar gering ist,        zwei Sekunden lang, so dass nur ein Fahrzeug
der Durchsatz, gemessen in Fahrzeugen             fahren kann. Dies verhindert die Entstehung
(Fhz) pro Spur und Stunde (h), aber fast un-      von Stauwellen, der Verkehr bleibt ¹nurª
veråndert bleibt: Erst bei 1 500 bis 1 800 Fhz/   zåhflieûend. Die in der Fahrschule gelernte
h und Spur wird der Verkehr instabil; in Son-     Regel ¹halber Tachoª in Bezug auf den Si-
dersituationen gibt es allerdings auch Flçsse     cherheitsabstand bedeutet unabhångig von
deutlich çber 2 000 Fhz/h. Schlimmer wird         der Geschwindigkeit einen Zeitabstand von
es, wenn Fahrzeuge zum Stillstand kommen:         1,8 Sekunden. Leider vertrauen Autofahrer
Geschwindigkeit Null. Warum auch immer            zu sehr ihrer Reaktionsfåhigkeit bzw. der
dies geschieht, sei es als Ûberreaktion oder      Technik, denn sie kænnen nichts daran ån-
aus Unaufmerksamkeit ± wenn der nachfol-          dern, dass die Reaktionszeit mindestens eine
gende Wagen stehen bleiben muss, entsteht         Sekunde betrågt, ein Zeitraum also, in dem
ein Ministau, der dramatische Auswirkungen        sich das Fahrzeug mit der aktuellen Ge-
haben kann. Ein Fahrzeug, das zum Stehen          schwindigkeit weiterbewegt, bis der Brems-
gekommen ist, benætigt ca. zwei Sekunden          vorgang einsetzt.
zum Anfahren (Capacity-Drop-Phånomen).
Wenn dann aber mit einer Zeitlçcke deutlich          Ûberhaupt wird der Verkehr zunehmend
darunter Fahrzeuge heranfahren, wåchst die-       von psychologischen Aspekten dominiert.
ser Ministau blitzschnell an und entwickelt       Man fçhlt sich als Autofahrer sehr schnell
sich zu einer ausgewachsenen Stauwelle.           benachteiligt, zumal, wenn man im Stau
Diese bewegt sich mit einer Geschwindigkeit       steht und Zeit hat zu beobachten. Auf der
von ca. 15 km/h flussaufwårts, kommt dem          anderen Spur geht es schon wieder weiter,
nachfolgenden Verkehr also ¹entgegengefah-        auf der eigenen nicht: Also schnell wechseln!
renª. Dies ist deshalb so gefåhrlich, weil die    Untersuchungen haben ergeben, dass man
Relativgeschwindigkeit der in den Stau hin-       immer das Gefçhl hat, von mehr Fahrzeugen
einfahrenden Fahrzeuge genau um diesen            çberholt zu werden als man selber çberholt
Wert græûer ist als ihre eigene Geschwindig-      ± ein Grund fçr die dauernden Spurwechsel,
keit, die der Tacho anzeigt: ein Grund fçr die    die am Ende den Gesamtverkehrsfluss nach-
Gefåhrlichkeit von Stauenden. Da die Stau-        haltig schådigen, allerdings nur hinter einem,
welle sich erst wieder auflæst, wenn der Zu-      doch Autofahrer denken (wie çbrigens auch
fluss von hinten nachlåsst, fåhrt sie mit ihren   Fuûgånger) nur nach vorne. (Das Gleiche
15 km/h vielleicht eine Stunde oder sogar lån-    trifft auf parallele Warteschlangen zu, bei
ger durch das Netz, wechselt vielleicht (rçck-    denen man durch ståndiges Wechseln einen
wårts fahrend!) die Autobahn und begegnet         Vorteil zu erhaschen sucht. An Flughåfen
einem dann irgendwo auf der Strecke, ohne         und Bahnhæfen gibt es aus diesem Grunde
erkennbaren Anlass. Daraus hat sich dann der      jeweils nur noch eine Schlange, und erst am
¹Stau aus dem Nichtsª entwickelt; wie gese-       Ende wird der Schalter gewåhlt, der gerade
hen, hat er sehr wohl einen Grund.                frei wird.)

                                                                               APuZ 29 ± 30/2007     5
Besteigt jemand sein Auto, åndert er sein        aktivitåten bei Pendlern vorzufinden sind. Das
    Verhalten gegençber dem im privaten Leben           erstaunliche Ergebnis war, dass das Groûhirn,
    praktizierten deutlich. Egoismus pur ist jetzt      das fçr vorausschauendes Handeln verant-
    unter dem Deckmantel der Anonymitåt im              wortlich zeichnet, bei Beifahrern deutlich akti-
    Fahrzeug angesagt. Dies schådigt die Effektivi-     ver ist als das des Fahrers. Sie haben eher Angst
    tåt des Verkehrssystems deutlich. Die Strate-       als der Fahrer, der ja eigentlich alles in der
    gien der Verkehrsteilnehmer gehen noch einen        Hand hat. Der Pendler ist mit seinen Gedan-
    Schritt weiter. Wie wird eigentlich eine Route      ken schon oder noch ganz woanders. Das er-
    auf der Grundlage von Verkehrsinformationen         hæht die Reaktionszeit erheblich ± ein Zu-
    tatsåchlich ausgewåhlt? Welches sind die Stra-      stand, der vermieden werden sollte.
    tegien, und åndern sich diese? Welches sind die
    Ziele? In Untersuchungen mit Studenten ist in
    einem Forschungsprojekt an der Universitåt                                            Phånomen Panik
    Duisburg-Essen zusammen mit der Gruppe
    von Reinhard Selten (Nobelpreis fçr Wirt-           Der Begriff ¹Panikª ist ein sehr ungenauer.
    schaftswissenschaften 1994) von der Universi-       Wissenschaftlich ist er schwer zu fassen. In
    tåt Bonn herausgefunden worden, dass es im          der Presse taucht er dennoch fast ståndig auf.
    Prinzip nur drei Typen von Verkehrsteilneh-         Aber was ist damit gemeint? Wann tritt Panik
    mern gibt: erstens die Sensiblen (die ¹Direk-       auf? Wie ist ihr zu begegnen? Was sind ihre
    tenª, 44 %), die sofort ihre Entscheidung ån-       Ursachen?
    dern, sobald die Situation sich zu verschlech-
    tern (ein Stau) droht, und die Strecke verlassen.     Ursprçnglich geht der Begriff auf den
    Zweitens gibt es die Taktierer (die ¹Gegenlåu-      bocksgestaltigen Wald- und Hirtengott Pan
    figenª, 14 %), die gezielt das nicht tun, was ge-   aus der griechischen Mythologie zurçck, des-
    meinhin erwartet wird, die also in einen gemel-     sen plætzliche und unsichtbare Nåhe enor-
    deten Stau hineinfahren in der Erwartung, dass      men Schrecken erzeugte. Er spielte auf der
    die anderen, insbesondere die Sensiblen, diesen     bekannten ¹Panflæteª (so wird er jedenfalls in
    zu umfahren versuchen. Schlieûlich bleiben          Gemålden dargestellt), die heute eher als ge-
    drittens die Konservativen mit 42 %, die alle       måûigtes Instrument gilt. Mit Bocksfçûen
    Informationen ignorieren und nur ihrer eige-        und Hærnern verkærperte er ein Zwitterwe-
    nen Vorstellung folgen. Eine kleine Unter-          sen. Er erschreckte die Menschen plætzlich
    gruppe, die der Stoisch-Konservativen (die          und unvermittelt mit einem schrillen Klang,
    ¹Stoikerª, 1,5 %), wåhlt sogar immer exakt die      verstårkt durch die nicht erwiderte Liebe der
    gleiche Route, egal was passiert. Das verblçf-      von ihm angebeteten Nymphe Echo, die
    fende Ergebnis: Die Stoiker sind die Erfolg-        damit das ihre dazu tat. Heute çberlebt sein
    reichsten. Daraus den Schluss zu ziehen, alle       Wirken z. B. in dem Ausdruck ¹ins Bocks-
    sollten Stoiker werden, wåre fatal, denn dann       horn jagenª.
    wçrde sich ihr Vorteil verflçchtigen. Die Sensi-
    blen machen ihnen ja gerade die Strecke frei. In       Panik heiût etymologisch soviel wie ¹plætz-
    der Zukunft wird es Informationssysteme             liches Erschrecken oder Massenangstª. Dies
    geben, die im Nachhinein eine Ûberprçfung           zeigt die zwei wesentlichen Facetten auf: Ent-
    der einmal getroffenen Entscheidung ermægli-        weder bin ich als Einzelperson betroffen
    chen. Dies ist heute normalerweise nicht mæg-       (etwa als Autofahrer im Stau), oder es handelt
    lich, und man freut sich çber den Hinweis des       sich um ein Massenphånomen, zwei vollkom-
    Navigationssystems, den (vielleicht gar nicht       men unterschiedliche Ansåtze. Das Wirken
    mehr existierenden) Stau umfahren zu kæn-           von Pan hatte eher Einfluss auf Individuen,
    nen. Der Preis ist vielleicht viel zu hoch, man     mit der Folge von Panikattacken. Diese fçhren
    weiû es aber im Nachhinein nicht.                   plætzlich zu unerklårbaren und qualvollen
                                                        Angstzustånden, die keinen åuûerlich fassba-
       Mittels Kernspintomographie, heute als           ren Anlass haben. Am Ende fçhrt dies sogar
    funktionale Magnetische-Resonanz-Tomogra-           zur ¹Angst vor der Angstª. Doch davon soll
    phie (fMRT) bezeichnet, kann man Gehirnre-          hier nicht die Rede sein. Hier geht es um die
    gionen ausfindig machen, die bei bestimmten         vom Bewusstsein nicht mehr kontrollierbare
    Handlungs- und Entscheidungsprozessen ak-           Angst vor einer gefçhlten Gefahr, ob wirklich
    tiv sind. Am Klinikum der Universitåt Duis-         oder vermeintlich. Dieses Gefçhl hat verschie-
    burg-Essen wurde untersucht, welche Gehirn-         dene Voraussetzungen: råumliche Enge, die

6    APuZ 29 ± 30/2007
eine Flucht erschwert, wenn nicht verhindert;      gibt es kaum. Das Schema ist vorgegeben und
Fçhrungslosigkeit in dem Sinne, dass keine         hat das Ûberleben in vielen Jahrtausenden ge-
Person des ¹Vertrauensª sagt, was zu tun ist;      sichert. Der menschliche Geist ist zu tråge, um
und natçrlich das Gefçhl der Gefahr.               in Paniksituationen ¹rationalª zu entscheiden,
                                                   die Zeit ist zu kurz, um eine Analyse der Situa-
   Bekannte Fålle aus der Geschichte werden        tion vorzunehmen. Verhaltenscharakteristi-
immer wieder zitiert. Bei Massenveranstal-         ken als ¹Kurzschlussreaktionenª zu bezeich-
tungen ist das Risiko sehr hoch, wie Katastro-     nen, ist sehr vereinfachend. Einige wichtige
phen immer wieder gezeigt haben: Ob bei            Merkmale lassen sich festhalten: Als erstes ist
Sportveranstaltungen (Heysel-Stadion 1985,         der Herdentrieb zu nennen. Gerne schlieût
Berg Isel 1999), Konzerten (Cincinnati 1979,       man sich einer Masse an, geht man doch davon
Roskilde 2000) oder Pilgerfahrten (Mekka           aus, dass diese einen Plan und damit eine per-
2004, 2006) ± die Dynamik von Menschen-            sænliche Perspektive hat, das heiût, man låuft
massen ist schwer berechen- und kontrollier-       dahin, wohin die meisten anderen auch laufen.
bar. Oft reichen geringste Anlåsse, um Tau-        Das birgt automatisch das Problem in sich,
sende wie durch eine Infektion in einen            dass gerade dort gar nichts mehr geht, man
Angstzustand zu versetzen. Glaubte man frç-        also besser nach Alternativen suchen wçrde.
her, ein angstvoller Gesichtsausdruck sei fçr      Menschen in Panik versuchen dahin zu gelan-
diese ¹Infektionª entscheidend, so zeigen          gen, wo sie hergekommen sind, denn das ken-
neuere Untersuchungen mittels Kernspinto-          nen sie. Notausgånge sind håufig wenig at-
mographie, dass entsprechende Kærperbewe-          traktiv, da schlecht beleuchtet und unbekannt.
gungen ausreichen, um Angst zu transportie-        Man muss schnell Vertrauen gewinnen in die
ren. Man geht davon aus, dass zehn Prozent         Entscheidung, die zu fållen ist. Dunkle Trep-
der Menschen einer Gefahrensituation zu-           penabgånge mit eventuell verschlossenen
nåchst ruhig begegnen, weitere zehn Prozent        Tçren am Ende sind keine akzeptable Læsung.
reagieren hoch sensibel; der Rest wird als         Bei Dunkelheit vertrauen Menschen am ehe-
labil und beeinflussbar eingestuft. Die Situati-   sten ihrer rechten Hand und versuchen damit
on entscheidet darçber, ob es zu einer Eskala-     festen Halt zu finden. Neue akustische Sys-
tion kommt. Ein wichtiger Aspekt ist, dass es      teme setzen Tæne (directional sound) çber den
nicht darauf ankommt, ob eine wirkliche            Ausgången ein, um dieses Problem zu umge-
oder nur eine gefçhlte Gefahr als Auslæser         hen und eine direkte Bewegung zum Ausgang
existiert; in vielen Fållen entwickeln sich viel   ohne Sicht zu erleichtern.
zu hohe Dichten aus dem Wunsch der Men-
schen, sich wegzubewegen, aus welchem                 Der entscheidende Faktor bei Massenpani-
Grund auch immer. Moderat sind Dichten             ken ist der Tunnelblick. Das Blickfeld engt
unterhalb von zwei Personen pro Quadrat-           sich markant ein, man konzentriert sich nur
meter, darçber wird es eng, in einer Disco         noch auf eine Alternative, das aber ganz und
etwa bei drei bis vier, bei besonderen Anlås-      gar. Die Geschichte des Menschen scheint ihr
sen sogar bei fçnf Personen pro Quadratme-         Ûbriges zu tun: Hånde und Fçûe werden
ter. Es gibt Situationen, die noch deutlich da-    feucht. Das war frçher zum Erklettern der
rçber hinausgehen; bis zu 12 Personen pro          Båume von Nutzen, heute ist dies eher nicht
Quadratmeter sind schon gemessen worden.           mehr als produktiv einzuschåtzen. Das Blut
                                                   wird aus Bauch und Kopf in die Bewegungs-
   Wird dann, weil es nicht schnell genug vor-     muskulatur gepumpt, um das Weglaufen zu
wårts geht, von hinten gedrçckt, çben 50           erleichtern. Weiterhin verdickt sich das Blut,
Menschen vorne schon einen Druck von               eine Vorsichtsmaûnahme der Natur bei der
einer Tonne aus; das çberlebt niemand. Kom-        Flucht. So håtten dabei erlittene Wunden
men Menschen zu Fall, ist das alleine noch         keine so groûe Auswirkung. Zudem setzt Un-
nicht entscheidend. Aber der Druck von hin-        geduld ein: Geht es çber einen Zeitraum von
ten låsst weitere çber sie stçrzen, bis mehrere    mehr als 15 Sekunden nicht weiter, wird ge-
Menschen çbereinander liegen und die un-           drçckt oder eine andere Richtung eingeschla-
tersten ersticken.                                 gen. Aber es passiert noch mehr. Die sozialen
                                                   Bindungen verlieren sich, andere sind uns
  ¹Unkontrollierbare Reaktionenª panischer         egal, nur Verwandte, insbesondere aber Kin-
Menschenmassen sind in Wirklichkeit von der        der werden geschçtzt. Zehn Prozent der Be-
Evolution festgelegt, Handlungsspielråume          vælkerung, so schåtzt man, neigen zur Apathie

                                                                                APuZ 29 ± 30/2007     7
in solchen Situationen, ein auf das Individuum     Quellen, da es sich um real durchlebte Situa-
    bezogenes Relikt des ¹Sich-tot-Stellensª, aus      tionen handelt und keine zusåtzlichen An-
    dem Tierreich weidlich bekannt. Wie auch           nahmen eingehen. In den vergangenen Jahren
    immer die Reaktion ausfållt, es ist schwer, eine   sind ± hauptsåchlich zu akademischen Zwe-
    Verånderung herbeizufçhren. Die Menschen           cken ± verstårkt Experimente mit (Klein-)
    sind nicht ansprechbar. Es gibt nur wenige         Tieren (Ameisen, Måuse) in råumlich be-
    Beispiele, wo eine Rçckfçhrung in den ¹Nor-        schrånkten Umgebungen durchgefçhrt wor-
    malzustandª funktioniert hat.                      den. Die Ergebnisse lassen sich naturbedingt
                                                       nur begrenzt auf menschliches Verhalten
       Das Hauptaugenmerk muss auf der Prå-            çbertragen. Allerdings nåhert sich menschli-
    vention liegen, damit der Zustand der Panik        ches Verhalten, das weniger auf rationalen
    gar nicht erst entsteht. Es gibt eine Reihe von    Entscheidungen und mehr auf Instinkt ba-
    Untersuchungsmæglichkeiten, die zur Ver-           siert, in dieser Situation dem tierischen deut-
    besserung der Sicherheitsstandards genutzt         lich an. Dies bezieht sich insbesondere auf
    werden kænnen. Dazu gehæren Evakuie-               Extremsituationen mit groûer ¹gefçhlterª
    rungstests: Die Einbeziehung des schwer ab-        Gefahr. Ein wesentlicher Vorteil dieser Me-
    zuschåtzenden menschlichen Faktors bei             thodik ist, dass man die Randbedingungen
    einer Evakuierung ist durch einen Test oder        fast ohne Skrupel (Gefåhrdung von Men-
    eine Ûbung zumindest teilweise mæglich.            schen) weitgehend frei wåhlen kann.
    Doch hier muss man die Grenzen der zu er-
    wartenden Ergebnisse aufzeigen; dies ist zum          Eine immer wichtiger werdende Methode
    einen die Verfçgbarkeit einer Menschenmen-         ist die der Simulation. Hier besteht kein Ri-
    ge in der entsprechenden Græûenordnung. Es         siko fçr beteiligte Personen wie in Realexpe-
    ist schwer vorstellbar, mit vielen Tausend Per-    rimenten, und es ist noch nicht einmal das
    sonen im Freizeitbereich (Stadien, Vergnç-         Gebåude oder die Einrichtung notwendig. In
    gungsparks) nur testweise eine Evakuierungs-       Simulationen werden alle Menschen mikro-
    çbung sinnvoll durchzufçhren. Zum anderen          skopisch mit ihrer Bewegung und ihrem Ver-
    mangelt es an der Ernsthaftigkeit, die in          halten im Computer abgebildet. Man kann
    einem ¹echtenª Fall gegeben wåre. So sind          so jede Geometrie im Vorhinein prçfen und
    Betreiber glçcklich, wenn sie aus geringfçgi-      entsprechend veråndern. Die Maûnahmen
    gem Anlass (der bekannte ¹Mçlleimerbrandª)         kænnen getestet werden, bevor sie ergriffen
    eine reale Evakuierung durchfçhren kænnen.         worden sind. Heutige Simulationsmodelle
    Allerdings ist hier auch das Risiko der Evaku-     sind in der Lage, çber eine Million Men-
    ierung selbst mit einzubeziehen. Hat man es        schen mit ihrer Dynamik zu berechnen. Die
    dagegen mit Personen zu tun, die sich berufs-      Entwicklung immer besserer und effiziente-
    bedingt in einem Gebåude aufhalten, das sie        rer Modelle ist ein intensives Feld der For-
    zwangslåufig gut kennen, ist ein solcher Test      schung. Allerdings muss man die Relevanz
    durchfçhrbar. Aber auch hier ist nicht immer       der Ergebnisse realistisch einschåtzen. Sehr
    mit der gewçnschten Ernsthaftigkeit zu rech-       viel hångt von der Qualitåt des eingesetzten
    nen. Gerade die håufige Wiederholung fçhrt         Modells ab. Håufig enthalten die Modelle
    zu einem Abstumpfungseffekt, der sich auf          mehrere Parameter, die erst an Situationen
    eine Verlångerung der Reaktionszeit aus-           und Szenarien angepasst werden mçssen. Fçr
    wirkt. Diese Ûbungen, gerade auf Schiffen,         den Nutzer (z. B. Betreiber oder Behærden)
    haben oft Happeningcharakter und stellen           ist es jedoch kaum mæglich, den Wert der Er-
    bisweilen auch eine willkommene Unterbre-          gebnisse richtig einzuschåtzen.
    chung der Arbeitszeit dar.
                                                         Ein besseres Verståndnis der Phånomene
       Eine Reihe von Unglçcken mit einer gro-         Stau und Panik und ihres Verhåltnisses zuein-
    ûen Anzahl Beteiligter ist sehr gut dokumen-       ander ist unabdingbar, um fçr die Herausfor-
    tiert. Anhand einer Analyse der Aufnahmen          derungen an die Verkehrspolitik im 21. Jahr-
    kænnen Rçckschlçsse auf Fehlverhalten und/         hundert gerçstet zu sein.
    oder mangelnde Sicherheitsmaûnahmen ge-
    zogen werden. Dies bleiben aber immer Spe-
    zialfålle, deren Ûbertragbarkeit auf andere
    Umgebungen und Anlåsse håufig nur schwer
    mæglich ist. Trotzdem sind dies wichtige

8    APuZ 29 ± 30/2007
Weert Canzler ´ Andreas Knie              Netzindustrien Wasser, Energie, Telekommu-
                                                            nikation sowie den ¹Punktinfrastrukturenª

         Demographie                                        Schulen, Krankenhåuser und andere soziale
                                                            Einrichtungen auch den æffentlichen Verkehr
                                                            betrifft. So ist beispielsweise das Verkehrsauf-

                  und                                       kommen, also die Zahl der befærderten Per-
                                                            sonen, im æffentlichen Straûenpersonenver-

        Verkehrspolitik
                                                            kehr im Osten (einschlieûlich Berlin) von
                                                            1993 bis 2003 um mehr als 13 Prozent, nåm-
                                                            lich von rund 2,2 auf 1,9 Millionen Fahrgåste
                                                            pro Tag, gesunken. 2 Bis 2030 werden die Ver-
                                                            kehrsleistungen weiter zurçckgehen und zwi-

         I     n diesem Jahrhundert wird die Zahl
               der Einwohnerinnen und Einwohner in
           Deutschland sinken, deren Durchschnittsalter
                                                            schen 20 Prozent (Brandenburg) und 34 Pro-
                                                            zent (Sachsen-Anhalt) gegençber dem Basis-
                                                            jahr 2002 absinken. 3
           indes deutlich steigen. Parallel zum demogra-
           phischen Wandel muss mit erheblichen råum-          Parallel zu diesen Schrumpfungstendenzen
           lichen Verschiebungen gerechnet werden,          finden wir in Deutschland aber auch klassi-
           weil die Unterschiede in der ækonomischen        sche Wachstumszonen, vor allem im Sçden
           Leistungsfåhigkeit der Regionen immer græ-       sowie in Ballungsråumen entlang des Rheins,
           ûer ausfallen werden. Problematisch ist die      des Mains und in und um Hamburg. Dort
                                    Koinzidenz von de-      wåchst die Wirtschaft çberdurchschnittlich,
                                    mographischen Um-       und die Erwerbsquote ist hoch. Bei weiter
                    Weert Canzler                           zunehmender Bevælkerung durch Zuwande-
                                    brçchen und wirt-
  Dr. phil., Dipl.-Politologe, geb.                         rung aus dem In- und Ausland und somit
                                    schafts- sowie regio-
 1960; wissenschaftlicher Mitar-                            abgemilderter Alterung kann hier von einer
                                    nalstrukturellen Ver-
beiter der Abteilung ¹Innovation                            Unterauslastung der Infrastruktur nicht
                                    werfungen besonders
     und Organisationª, Wissen-                             die Rede sein. In den Wachstumszonen steigt
                                    in den æstlichen Bun-
       schaftszentrum Berlin für                            die Verkehrsleistung, und zwar sowohl im
                                    deslåndern.
  Sozialforschung (WZB), Reich-                             Motorisierten Individualverkehr (MIV) als
   pietschufer 50, 10785 Berlin.                            auch im Úffentlichen Personennahverkehr
                                      Eine unterdurch-
               Canzler@wzb.eu                               (ÚPNV). 4
                                   schnittliche Erwerbs-
                                   quote und mangelnde
                    Andreas Knie                              Die Folgen der sich abzeichnenden demo-
                                   ækonomische Dyna-
Dr. phil., geb. 1960; apl. Profes-                          graphischen und wirtschaftsstrukturellen Dy-
                                   mik fallen in Ost-
sor für Soziologie an der Techni-                           namiken in den nåchsten Jahrzehnten ± als
                                   deutschland mit al-
        schen Universität Berlin,                           Gleichzeitigkeit von Entleerungs- und Boom-
                                   tersselektiver Abwan-
  wissenschaftlicher Mitarbeiter                            prozessen ± sind fçr die Verkehrspolitik gra-
                                   derung (ohne kom-
  der Abteilung ¹Innovation und                             vierend. Das bisher gçltige ¹Grundgesetzª
                                   pensatorische Zuwan-
   Organisationª am WZB (s. o.).                            der Verkehrspolitik ± nåmlich als Infrastruk-
                                   derung) und einer
                    Knie@wzb.eu                             turversorgung zu einer gleichmåûigen Er-
                                   dadurch beschleunig-
                                   ten Alterung der Ge-     schlieûung der Råume beizutragen, um dem
           sellschaft zusammen. Die Abwanderung in          Gedanken der staatlichen Daseinsvorsorge
           den Westen hat ihre Hauptursache in den un-
           gçnstigen wirtschaftlichen Aussichten. Die
           endogenen Potenziale werden durch die Weg-        1 Vgl. www.destatis.de (22. 5. 2007); vgl. auch Statis-
           zçge gut ausgebildeter und hoch motivierter
                                                            tisches Bundesamt, Bevælkerung Deutschlands bis
           Arbeitskråfte zusåtzlich geschwåcht. Zwi-        2050. 11. koordinierte Bevælkerungsvorausberech-
           schen 1990 und 2002 hat sich die Bevælkerung     nung, Wiesbaden 2006.
           auf dem ehemaligen Territorium der DDR            2 Eigene Berechnung nach: Bundesministerium fçr

           von 18,2 auf 17 Millionen vermindert; das        Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW), Ver-
           Statistische Bundesamt prognostiziert einen      kehr in Zahlen 2005, Hamburg 2005, S. 232 f.
                                                             3 Vgl. InnoZ ± Innovationszentrum fçr Mobilitåt und
           Bevælkerungsrçckgang bis 2050 um weitere         gesellschaftlichen Wandel, Der Verkehrsmarkt 2030,
           31 Prozent. 1 Dieser Bevælkerungsschwund         Berlin 2007, S. 3.
           schlågt sich in einer abnehmenden Nutzung         4 Vgl. DIW/Infas, Mobilitåt in Deutschland 2002,

           von Infrastrukturen nieder, die neben den        Berlin 2003, S. 7.

                                                                                              APuZ 29 ± 30/2007        9
gerecht zu werden ± kann kaum mehr auf-                     Alterung: Das Durchschnittsalter der Ein-
       recht erhalten werden. 5                                 wohner in Deutschland nimmt zu. So sinkt
                                                                zum Beispiel der Anteil der unter 40-Jåhri-
                                                                gen, also der Berufsanfånger, die zugleich ein
Demographische Tendenzen                                        wichtiger Teil der Leistungstråger sind, von
                                                                1999 bis 2020 um 17 Prozent. Gleichzeitig
       Die wesentlichen Trends des demographi-                  wåchst der Anteil der çber 60-Jåhrigen um 24
       schen Wandels in den nåchsten Jahrzehnten                Prozent. Noch dramatischer nimmt die Zahl
       in Deutschland sind die Alterung und                     der çber 75-Jåhrigen zu: Sie steigt sogar um
       Schrumpfung der Bevælkerung, die Binnen-                 50 Prozent. 9 Auûerdem ist davon auszuge-
       wanderung und ihre Auswirkungen sowie die                hen, dass die Lebenserwartung aufgrund bes-
       sozialråumlichen Unterschiede der Bevælke-               serer Ernåhrung und guter medizinischer
       rungsentwicklung. Jeder dieser Aspekte er-               Versorgung weiter steigen wird. Schon heute
       zeugt erheblichen Anpassungsbedarf. Zusam-               ist die am schnellsten wachsende Altersgrup-
       mengenommen fçhren sie zu hohem Reform-                  pe die der çber 80-Jåhrigen. Gegençber 2000
       druck. Die kaum mehr zu beeinflussenden                  wird sich ihr Anteil im Jahr 2020 voraussicht-
       demographischen Verschiebungen bis 2020                  lich verdoppelt haben.
       werden unter anderem zu einem weiteren
       Einbruch der Schçlerzahlen fçhren; diese                    Im Gegensatz zur Alterung setzt die
       sind zwischen 1999 und 2004 bereits um 2,9               Schrumpfung der Gesamtbevælkerung in
       Prozent zurçckgegangen. Es wird erwartet,                Deutschland etwas spåter ein. Ab 2010 ist bei
       dass im Zeitraum zwischen 2004 und 2020 die              einer unterstellten Nettozuwanderung von
       Zahl der Schçlerinnen und Schçler um weite-              100 000 Personen pro Jahr und bei einer etwa
       re 6,6 Prozent sinken wird. Der Bundes-                  konstanten Geburtenrate mit einem stetigen
       durchschnitt verdeckt auch hier die enormen              Bevælkerungsrçckgang auf unter 68 Millio-
       Disparitåten zwischen einzelnen Låndern.                 nen im Jahre 2050 zu rechnen. 10 Die
       Zwischen 1999 und 2004 ist die Zahl der                  Schrumpfung tritt nach 2020 beschleunigt
       Schçler im Osten im Schnitt um fast ein Drit-            auf. Demographen sprechen vom ¹Echoef-
       tel zurçckgegangen, wåhrend in den meisten               fektª temporår niedriger Geburtenraten, der
       westlichen Låndern eine leichte Zunahme zu               selbst durch ein deutlich hæheres Reprodukti-
       verzeichnen war. 6                                       onsniveau nicht mehr ausgeglichen werden
                                                                kann. 11
          Die Bevælkerungsentwicklung çber 2020
       hinaus wird mæglicherweise mit noch weit                    Zuwanderung: Unterstellt wird bei allen
       gravierenderen Konsequenzen fçr beinahe                  demographischen Modellrechnungen eine
       alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen             Nettozuwanderung. Bei den optimistischen
       Bereiche verbunden sein. 7 Doch solche                   Varianten des Statistischen Bundesamtes wur-
       Voraussagen sind naturgemåû sehr unsicher,               den bis vor zwei Jahren noch jåhrliche Migra-
       denn weder sind kçnftige Geburtenraten                   tionsgewinne von 200 000, ab 2010 sogar von
       noch das Migrationsverhalten çber einen                  300 000 Personen angenommen. 12 Angesichts
       Zeitraum von mehr als 15 Jahren seriæs zu be-            erheblicher Ab- bzw. Rçckwanderung wçrde
       rechnen. Die absehbaren Haupttrends der de-              dies eine Bruttozuwanderung von bis zu
       mographischen Entwicklung in den verschie-               einer Million Personen pro Jahr voraussetzen.
       denen Dimensionen bis zum Jahr 2020 sind                 In den 1980er und 1990er Jahren wurde ledig-
       die folgenden. 8                                         lich zeitweilig eine solche Nettozuwanderung
                                                                erreicht; in der zweiten Hålfte der 1990er
        5 Vgl. Udo E. Simonis (Hrsg.), Infrastruktur. Theorie
                                                                Jahre lag die Zahl der Immigranten nur noch
       und Politik, Kæln 1977.                                  knapp çber der Zahl der Emigranten. Der
        6 Vgl. InnoZ (Anm. 3), S. 4.
        7 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesell-        9 Vgl. Bundesamt fçr Bauwesen und Raumordnung

       schaft. Vom Bevælkerungsrçckgang und seinen Folgen,      (BBR), Herausforderungen des demografischen Wan-
       Frankfurt/M. 2005.                                       dels fçr die Raumentwicklung in Deutschland, Bonn
        8 Vgl. ausfçhrlich Weert Canzler, Verkehrsinfrastruk-   2004.
       turpolitik in der schrumpfenden Gesellschaft, in: Oli-    10 Vgl. BBR, Raumordnungsprognose 2020/2050,

       ver Schæller/Weert Canzler/Andreas Knie (Hrsg.),         Bonn 2006.
       Handbuch Verkehrspolitik, Wiesbaden 2007, S. 510±         11 Vgl. F.-X. Kaufmann (Anm. 7), S. 52 ff.

       532.                                                      12 Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 1).

  10    APuZ 29 ± 30/2007
Rçckgang der Zahlen deutschståmmiger Aus-                Die Schere zwischen armen und reichen
siedler, die verschlechterten Beschåftigungs-         Regionen æffnet sich weiter. Es findet nicht
mæglichkeiten fçr neu zugezogene Arbeits-             nur kein wirksamer Ausgleich zwischen den
kråfte sowie die verschårfte Asylpolitik sind         sich hæchst unterschiedlich entwickelnden
die Hauptgrçnde fçr eine seither deutlich sin-        Landesteilen mehr statt, 17 sondern auch die
kende Zuwanderung einerseits und eine signi-          Divergenz wird durch das ungebrochene
fikant gestiegene Rçck- bzw. Auswanderung             Wanderungsverhalten verschårft. So hat sich
anderseits. Kçnftig dçrfte es einen verstårk-         die regional hæchst unterschiedliche Arbeits-
ten Wettbewerb zwischen den OECD-Lån-                 losigkeit verfestigt, und auch andere Indika-
dern um gut qualifizierte Zuwanderer geben,           toren der Standortbeschreibung deuten auf
Nettozuwanderungsgewinne von deutlich                 eine fortschreitend auseinander strebende
çber 100 000 Menschen kænnen daher als un-            Entwicklung hin. Damit wachsen auch die
wahrscheinlich gelten.                                Pendlerverflechtungen weiter. Im Jahr 2003
                                                      pendelten 56 Prozent der sozialversiche-
   Sozialråumliche Verteilung: Ûberlagert wer-        rungspflichtig Beschåftigten, d. h., sie çber-
den die demographischen Trends der Alte-              schritten beim Weg von der Wohnung zum
rung, Schrumpfung und Zuwanderung durch               Arbeitsplatz die Gemeindegrenze. 18 Vor
eine hæchst ungleiche råumliche Verteilung            allem in den strukturschwachen Gebieten
von Bewohnern, von Alten und Jungen sowie             Ostdeutschlands sind die Pendeldistanzen
von armen und wohlhabenden Haushalten.                stark gestiegen.
Neben dem schon klassischen Nord-Sçd-Ge-
fålle hat sich seit den 1990er Jahren ein demo-             Kçnftige Verkehrsinfrastrukturpolitik
graphischer Ost-West-Gegensatz herausge-
bildet. 13 Massive Geburtenrçckgånge und              Die Alterung und Schrumpfung sowie die
massenhafte Abwanderung fielen zusammen,              fortschreitende Individualisierung der Gesell-
umgekehrt siedelten sich kaum Menschen aus            schaft haben Konsequenzen fçr die Infra-
dem Ausland im Osten an. Besonders junge              strukturpolitik. Denn in historischer Pers-
Frauen und qualifizierte Erwerbståtige mit            pektive galt insbesondere die Verkehrsinfra-
Karriereambitionen verlieûen ± und verlassen          struktur als Wechsel auf eine bessere
bis heute ± die ostdeutschen Bundeslånder             Zukunft. Nationale Motive fçr den Infra-
und gingen in den Westen der Bundesrepu-              strukturausbau vermischten sich Ende des 19.
blik und auch ins Ausland. Als ¹altersselekti-        Jahrhunderts in Deutschland mit regionalen
ve Wanderungª wird dieses Phånomen in der             und kommunalen Interessen reformpoliti-
demographischen Forschung bezeichnet. 14              scher Ansprçche. Das dynamische Wachstum
Alle Prognosen gehen davon aus, dass sich             der frçhen Industrialisierung hatte zu bis
dieser Trend fortsetzt. 15 Die regional unter-        dahin nicht gekannter Verstådterung gefçhrt.
schiedliche Entwicklung ist aber nicht allein         Wasserver- und -entsorgung, Energie fçr die
ein Problem der æstlichen Bundeslånder. Laut          Bevælkerung und Fabriken, aber auch logis-
dem jçngsten Raumordnungsbericht des                  tische Erfordernisse und Wohnraum fçr die
Bundesamtes fçr Bauwesen und Raumord-                 zustræmenden Arbeiter und ihre Familien
nung (BBR) hat ein Drittel der deutschen Ge-          wurden als neue kommunale Aufgaben defi-
meinden seit Beginn der 1990er Jahre Ein-
wohner verloren, darunter auch viele Kom-              17 Um dem entgegenzuwirken, wurde im Rahmen der

munen im Westen: ¹Die Zahl der Gemeinden              Aufbauhilfe Ost verstårkt in die Modernisierung und
mit schrumpfender Bevælkerung steigt lau-             den Neuaufbau der Infrastruktur investiert. Hinter
fend. Ihr Anteil an der Gesamtbevælkerung             dieser Strategie stand die Hypothese, dass staatliche
                                                      Vorleistungen gewerbliche Aktivitåten nach sich zægen
wåchst. Die Diskrepanz in der Dynamik von
                                                      und private Investoren anlockten. Das war bis auf we-
wachsenden und schrumpfenden Gemeinden                nige Ausnahmen aber nicht der Fall. In vielen Regio-
wird ebenfalls græûer.ª 16                            nen in Ostdeutschland gibt es keine sich selbst tra-
                                                      gende Wirtschaftsstruktur, die Arbeitslosigkeit liegt
13 Vgl. Josef Ehmer, Bevælkerungsgeschichte und       vielerorts bei 20 Prozent und mehr, die Zahl der
Historische Demographie 1800±2000, Mçnchen 2004,      Transferempfånger çbertrifft nicht selten die Zahl de-
S. 16 f.                                              rer, die von eigenem Einkommen leben. Vgl. Ge-
14 Vgl. Ralf Mai, Abwanderung aus Ostdeutschland,     språchskreis Ost der Bundesregierung, Kurskorrektur
Frankfurt/M. 2004.                                    des Aufbau Ost (Red.: Klaus von Dohnanyi/Edgar
15 Vgl. BBR (Anm. 10).                                Most), 28. 6. 2004, Hamburg±Berlin.
16 BBR, Raumordnungsbericht 2005, Bonn 2005, S. 30.    18 Vgl. BBR (Anm. 16), S. 78.

                                                                                      APuZ 29 ± 30/2007        11
niert. Die Mobilisierung und Bereitstellung          Arbeitsplåtzen in Industrie und Landwirt-
     erheblicher investiver Mittel war dabei an           schaft fertig werden mussten. Die wirtschaft-
     eine dirigistische Durchgriffspolitik gebun-         liche Basis zerbræselte innerhalb weniger
     den. Die neuen Versorgungsnetze boten die            Jahre. 21
     Gewåhr fçr eine prosperierende Wirtschaft
     und sollten der breiten Bevælkerung zu ¹be-             Im Verkehr kommt im Vergleich zu ande-
     zahlbarenª Preisen angeboten werden, im              ren Netzinfrastrukturen als Besonderheit
     Gegenzug herrschte ein Zwang zum An-                 hinzu, dass der ÚPNV gegençber dem MIV
     schluss an die staatliche Netzplanung. Es ist        dramatisch an Bedeutung verloren hat. Wåh-
     kein Zufall, dass wichtige Infrastrukturgeset-       rend zum Zeitpunkt des Erlasses des PBefG
     ze zu Beginn des ¹Dritten Reichesª erlassen          der private Automobilverkehr erst in Ansåt-
     wurden. So atmet auch das geltende Perso-            zen zu erkennen war, nimmt mittlerweile der
     nenbefærderungsgesetz (PBefG) noch immer             Anteil des MIV ± nicht zuletzt dank jahr-
     den Geist der Zwangsbewirtschaftung. Bis             zehntelanger staatlicher Unterstçtzung ±
     heute wird der gewerbliche Transport von             einen Marktanteil von gut 85 Prozent ein. In
     Personen nicht dem Markt çberlassen, son-            låndlichen Regionen steigt die Bedeutung des
     dern als æffentliche Aufgabe begriffen und           Autos noch weiter und erreicht im Schnitt
     entsprechend streng reglementiert. Dafçr             gut 90 Prozent der Verkehrsleistung. Umge-
     sind die Genehmigungsinhaber wie Lizenz-             kehrt wird in diesen Regionen der ÚPNV
     nehmer vor Konkurrenz geschçtzt. Analog              praktisch nur noch von Schçlern und Auszu-
     waren die Gesetze fçr die Strom- und Was-            bildenden genutzt, deren Anteil in West-
     serversorgung gestaltet. 19                          deutschland rund 90 Prozent und in Ost-
                                                          deutschland mehr als 95 Prozent ausmacht. 22
        Stçrmisches Stådtewachstum und Land-              Das Auto bedarf zwar des Straûennetzes und
     flucht gehæren der Vergangenheit an. Eine            einer polizeilich çberwachten Straûenver-
     Grundversorgung mit kollektiven Gçtern               kehrsordnung, seine Benutzung liegt jedoch
     wie Strom, Wasser, Mçllentsorgung und                im Belieben jedes Privatbesitzers. Es bietet
     Heizenergie ist gegeben; ihre Bereitstellung         mehr Handlungsoptionen als jedes noch so
     ist in private oder privatisierte Unternehmen        gut ausgebaute æffentliche Bus- und Bahnan-
     çberfçhrt worden. Die Netzinfrastrukturen            gebot und stellt fçr seine Nutzer einen selbst-
     sind flåchendeckend vorhanden. Insbesonde-           bestimmten Raum dar. 23 Es ist das ideale ver-
     re das Verkehrsnetz konnte in Deutschland            kehrstechnische Unterpfand einer zu Indivi-
     mit einem international beachteten Leistungs-        dualisierung und Flexibilisierung treibenden
     stand ausgebaut werden, wobei inzwischen             Gesellschaft. 24 Darin liegt nicht zuletzt der
     allerdings mehr und mehr Probleme hinsicht-          entscheidende Vorteil dieses Transportmittels
     lich der Finanzierung drohen. 20 Unter ver-          gegençber dem ÚPNV. 25
     stårkten Druck geraten die Infrastrukturen
     und ihre Finanzierung nicht nur, weil sie sich       21  Vgl. Gespråchskreis Ost (Anm. 17).
     oftmals am Ende ihrer Lebensdauer befinden           22  Vgl. InnoZ (Anm. 3), S. 8.
                                                           23 Vgl. die Ergebnisse der jçngeren sozialwissen-
     und damit der Wartungs- und Reparaturauf-
                                                          schaftlichen Mobilitåtsforschung: Hartmut Heine/
     wand steigt. Zusåtzlich werden sie durch sin-
                                                          Rçdiger Mautz/Wolf Rosenbaum, Mobilitåt im All-
     kende Nachfrage belastet. Eine abnehmende            tag, Frankfurt/M. 2001; Andreas Knie, Ergebnisse und
     Nutzung von Infrastrukturen ist eines der            Probleme sozialwissenschaftlicher Mobilitåts- und
     sichtbarsten Merkmale von Schrumpfungsre-            Verkehrsforschung, in: O. Schæller u. a. (Anm. 8),
     gionen. Das gilt fçr altindustrielle und låndli-     S. 43 ±60.
                                                           24 Vgl. ebenso Weert Canzler/Andreas Knie, Mæg-
     che Regionen in den ostdeutschen Bundeslån-
                                                          lichkeitsråume. Grundrisse einer modernen Mobili-
     dern, die nach dem Zusammenbruch der
                                                          tåts- und Verkehrspolitik, Wien±Kæln±Weimar 1998;
     DDR mit dramatischen Einschnitten bei den            Projektgruppe Mobilitåt, Die Mobilitåtsmaschine,
                                                          Berlin 2004.
      19 Vgl. Weert Canzler/Andreas Knie, Demografische    25 Der Siegeszug des Automobils hat in Deutschland

     und wirtschaftsstrukturelle Auswirkungen auf die     seit den 1970er Jahren zur Massenmotorisierung ge-
     kçnftige Mobilitåt (WZB discussion paper SP III      fçhrt. Im Jahre 2004 konnten 77 Prozent der west-
     2005± 106), Berlin 2005, S. 12 ff.                   deutschen Haushalte çber mindestens ein Auto ver-
      20 Vgl. Uwe Kunert/Heike Link, Prognose des Er-     fçgen, in çber einem Fçnftel der Haushalte standen
     satzinvestitionsbedarfs fçr die Bundesverkehrswege   sogar zwei und mehr Autos zur Verfçgung; vgl. Statis-
     bis zum Jahre 2020 (DIW-Beitråge zur Struk-          tisches Bundesamt, Datenreport 2005, Bonn 2005. Zu
     turforschung 187), Berlin 2001.                      berçcksichtigen ist bei diesen aggregierten Zahlen, dass

12    APuZ 29 ± 30/2007
In der Verfçgbarkeit und in den Zahlen der                                      Wandel der Staatlichkeit?
Fahrerlaubnisse spiegeln sich die demogra-
phischen Phånomene der Gesellschaft wider.                In der Stadt- und Raumplanung werden die
Wåhrend die Gruppe der Fçhrerscheinlosen,                 Probleme hinsichtlich der Anpassungsleis-
also beinahe ausschlieûlich die der Schçler               tungen in den Infrastrukturen insbesondere
und Auszubildenden, signifikant kleiner                   in den Schrumpfungsregionen ausfçhrlich
wird, werden die Alten absolut und relativ                diskutiert. 27 Die akuten Aufgaben beim
zur Gesamtbevælkerung mehr und mehr. Die                  Stadtumbau Ost stehen im Vordergrund. Ei-
zukçnftigen Kohorten Ølterer werden im                    nigkeit besteht darin, dass die Kosten fçr die
Gegensatz zu den bisherigen in ihrer groûen               Nutzer von Infrastrukturen steigen werden.
Mehrheit sowohl mit einem Fçhrerschein                    Wachsende Finanzierungslasten fçr æffentli-
ausgestattet sein als auch çber Fahrpraxis und            che Infrastrukturen zwingen vielerorts zum
einen eigenen Pkw verfçgen. Die spezifischen              Abbau æffentlicher Dienstleistungen und zur
(Auto-)Mobilitåtsraten der çber 65-Jåhrigen               Installierung neuer privater Betreibermo-
von morgen werden aller Voraussicht nach                  delle. 28 Der Verkauf kommunalen Eigentums
steigen.                                                  und public private partnerships sind in vielen
                                                          Stådten und Gemeinden der Hoffnungsanker,
   Als neue Randbedingung schålt sich                     wenn sie auch oft nicht strategisch angegan-
schlieûlich eine zunehmende Stadt-Land-                   gen werden, sondern aus der Not prekårer
Spaltung heraus: Die verdichtete Stadt                    Haushaltslagen geboren sind.
braucht selbst dort, wo sie Einwohner ver-
liert, auch kçnftig æffentlichen Verkehr. Das                Die Anpassungen der Verkehrspolitik an
gilt umso mehr fçr prosperierende Stådte und              die demographisch und wirtschafts- sowie re-
Ballungsråume. Schon aus Platzgrçnden wåre                gionalstrukturell verstårkten Verschiebungen
eine weitere Zunahme des Autoverkehrs væl-                in der Nachfrage in den verschiedenen Trans-
lig dysfunktional. Anders sieht es in weniger             portmårkten zum einen und an die Gleichzei-
verdichteten, insbesondere in låndlichen Re-              tigkeit von Schrumpfen und Wachsen zum
gionen aus. Dort, wo es gençgend Verkehrs-                anderen stehen dagegen erst am Anfang. Als
flåchen und beinahe Vollmotorisierung gibt,               offizielles Dokument der Zielplanung gilt der
ist die Finanzierung des ÚPNV aus Steuer-                 Bundesverkehrswegeplan (BVWP), der Infra-
mitteln nur mit sozial- und umweltpoliti-                 strukturinvestitionen bis 2015 fixiert, dessen
schen ± oder im Fall des Schçlerverkehrs mit              Grundpråmissen aber auf einem Wirtschafts-
bildungspolitischen ± Argumenten zu be-                   wachstum von mehr als 2,5 Prozent pro Jahr,
grçnden. Die ækonomische Voraussetzung                    einer kontinuierlich steigenden Bevælkerung
fçr einen effizienten Bus- und Bahnverkehr,               sowie einem ståndig steigenden Einkommen
die Bçndelung von Nachfrage, droht auûer-                 beruhen ± Annahmen, die praktisch von kei-
halb der verdichteten Stådte zu entfallen. An             nem wissenschaftlichen Institut mehr geteilt
die Stelle der ¹Groûraumgefåûeª kænnte                    werden. 29 Der Neuauflage des BVWP steht
daher ein innovatives, flexibles Angebot tre-             daher noch bevor, was in den Verkehrswis-
ten, das mit Kleinfahrzeugen, Taxis, Vans                 senschaften als Paradigmenwechsel mittler-
oder Kleinbussen realisiert wird. 26                      weile vollzogen wurde: ¹In the future, the

es ein erhebliches Gefålle in der Fahrzeugverfçgbarkeit   Lisa Ruhrort, Zu den Auswirkungen mentaler und
zwischen Stadt und Land gibt: je dichter die Besied-      struktureller Innovationsblockaden im Kontext aktu-
lung, desto geringer ist die Fahrzeugausstattung der      eller Reformversuche, in: Oliver Schæller (Hrsg.), Úf-
privaten Haushalte. Lediglich bei den çber 60-Jåh-        fentliche Mobilitåt. Perspektiven fçr eine nachhaltige
rigen, vor allem bei den ålteren Frauen auf dem Lande,    Verkehrsentwicklung, Wiesbaden 2005, S. 128±154.
gibt es noch einen nennenswerten Anteil von Fçhrer-        27 Vgl. im Ûberblick: Christian Holz-Rau/Joachim

scheinlosen. Bei allen anderen Altersgruppen liegt die    Scheiner, Verkehrsplanung und Mobilitåt im Kontext
Fçhrerscheinquote bei 80 bis 90 Prozent, bei den 21-      der demografischen Entwicklung. in: Straûenver-
bis 29-Jåhrigen sogar bei çber 95 Prozent.                kehrstechnik, (2004) 7, S. 341±348; Georg Schiller/
 26 Schrumpfende låndliche Regionen bieten sich ge-       Stefan Siedentop, Infrastrukturfolgekosten der Sied-
radezu an fçr ¹neue Gemeinschaftsverkehreª. Einzel-       lungsentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen,
beispiele sowohl fçr Anruf- als auch fçr Bçrgerbusse      in: DISP, 160 (2005) 1, S. 83±93.
machen positive Schlagzeilen. Doch liegen die Hçrden       28 Vgl. Deutsche Bank Research, Demografische Ent-

fçr die Realisierung und fçr die Finanzierung im Re-      wicklung verschont æffentliche Infrastruktur nicht.
gelbetrieb hoch. Dafçr mçssen elastische Angebote in      Aktuelle Themen, Nr. 294 (2004), Autor: Tobias Just.
das rechtliche Korsett des PBefG gepresst werden; vgl.     29 Vgl. InnoZ (Anm. 3), S 2.

                                                                                           APuZ 29 ± 30/2007       13
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