Unterwerfung Michel houellebecq - Bühnen Halle
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UNTERWERFUNG von Michel Houellebecq (übersetzt von Norma Cassau und Bernd Wilczek) François Hagen Ritschel Myriam, Marianne, Marine Le Pen, Patricia Coridun a.G. Mutter, Annelise, Heilige, Geisha Joris-Karl Huysmans, Psychotherapeut, Harald Höbinger Bruno, Mohammed Ben Abbes, Wachmann, Robert Rediger Regie und Fassung Sophie Scherer Ausstattung Markus Neeser Dramaturgie Bernhild Bense / Henriette Hörnigk Regieassistenz Bernhild Bense Inspizienz Matthias Hlady Souffleuse Jeannette Reinisch Dramaturgiehospitanz Christian Heß Videoschnitt Maik Schibelius Premiere am 7. Oktober 2017 in der Kammer des neuen theaters Halle Aufführungsdauer: ca. 1 Stunde 40 Minuten (keine Pause) Der Roman »Unterwerfung« von Michel Houellebecq ist im Buchverlag Dumont erschienen.
Monsieur Houellebecq, Sie werden heute zu den wichtigsten Autoren der Ge- genwart gezählt, als »erfolgreicher Reaktionär«, »Bürgerschreck« oder als »Zündler vom Dienst« kritisiert, aber auch für »herausragende Leistungen zum Verständnis des Zeitgeschehens« ausgezeichnet. Sie sind eine gefragte, um- strittene und viel beachtete Persönlichkeit. Nihilist, Reaktionär, Zyniker, Rassist und verabscheuungswürdiger Frauenfeind: eigentlich bin ich nichts weiter als ein Spießer. Ich bin überhaupt nicht dafür geschaffen, eine öffentliche Rolle zu übernehmen. Während meiner Schulzeit war ich ständig darum bemüht, nicht aufzufallen, und während meines Berufslebens hatte ich fast die gleiche Einstellung. Bei alledem spielt Bescheidenheit nicht die geringste Rolle, das können Sie mir glauben; soweit ich mich erinnere, bin ich immer schon größenwahnsinnig gewesen. Schon als Kind träumte ich davon, die ganze Menschheit in meinen Bann zu schlagen, sie zu ver- führen wie sie vor den Kopf zu stoßen und ihnen schließlich mein Zeichen einzubrennen; aber ich träumte auch davon, im Dunkeln zu bleiben, mich hinter meinen Schöpfungen zu verstecken. Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass das völlig misslungen ist. Allerdings. In Ihren Schöpfungen werden Sie zu gern aufgesucht. Als stilloser Autor platter Bücher bin ich nur durch eine Reihe unwahrscheinlicher geschmacklicher Fehlurteile zu literarischer Berühmtheit gelangt, die verwirrte Kritiker vor einigen Jahren abgegeben haben. Glücklicherweise ist man meiner kurzatmigen Provokati- onen seither überdrüssig geworden. Das ist durchaus nicht zu bestätigen: auch »Unterwerfung« steckt voll typisch Houellebecqscher Provokationen und ist dadurch mindestens so erfolgreich wie Ihre vorigen Romane. Mein Wunsch zu missfallen kaschiert einen unsinnigen Wunsch zu gefallen. Doch möchte ich gefallen, »wie ich bin«, ohne zu verführen, ohne das zu verbergen, was an mir schändlich sein mag. Es mag durchaus vorgekommen sein, dass ich mich der Provokation hingegeben habe, das bedauere ich, denn es entspricht nicht meinem tiefsten inneren We- sen. Ich nenne denjenigen einen Provokateur, der, unabhängig davon, was er denken oder sein mag (und wenn der Provokateur provoziert, hört er auf zu denken, hört er auf zu sein), auf den Satz oder die Haltung spekuliert, die bei seinem Gesprächspartner ein Höchstmaß an Missfallen oder Verlegenheit hervorruft; und der dann das Ergebnis seiner Berechnung planmäßig anwendet. Im Gegensatz dazu ist mir eine Art perverse Aufrichtigkeit zu eigen: Beharrlich und verbissen suche ich danach, was ich Schlechtes an mir haben könnte, um es dann dem Publikum ganz aufgeregt vor die Füße zu legen. Ich tue das nicht, um irgend- eine Form von Erlösung zu erfahren. Ich möchte nicht trotz des Schlechten an mir geliebt werden, sondern aufgrund dieses Schlechten. Ihre in den letzten 20 Jahren erschienenen und viel beachteten Romane kon- frontieren unsere selbstzufriedene westeuropäische Gegenwart – durch ein wenig Expansion in eine Zukunft – mit unterdrückten und ignorierten gesell- schaftlichen Wunden und Ängsten. »Unterwerfung« ist Ihr sechster Roman, nach »Ausweitung der Kampfzone« (1994), »Elementarteilchen« (1998), »Platt- form« (2001), »Die Möglichkeit einer Insel« (2005) und »Karte und Gebiet« (2010). Sie wurden (entschuldigen Sie bitte, für unsere Leser sollte ich schnell noch einige biografische Fakten zusammentragen) am 26. Februar 1956 oder 1958 geboren … 1958.
Ihre Mutter behauptet 1956 … Mir fällt auf, dass es mir immer noch nicht gelingt, meine Mutter zu hassen. Vielleicht liegt es daran, dass es, unter welchen Umständen auch immer, schwierig ist, seine Mutter zu hassen; vielleicht hat man dann immer auch das Gefühl, zugleich sich selbst zu hassen, sich zu verneinen. Nun ja, die öffentlich geführten Auseinandersetzungen zwischen Ihnen und Ihrer mittlerweile verstorbenen Mutter hinterließen durchaus einen gegensei- tig sehr ungewogenen Eindruck … Sie wurden also 1958 auf der französischen Überseeinsel La Réunion (im Indischen Ozean, ein Stückchen hinter Madagaskar) geboren. Ihre Eltern haben bald – so ist zu lesen – das Interesse an Ihrer Exis- tenz verloren und so wuchsen Sie auf bei Großeltern in Algerien und in der Nähe von Paris sowie in Internaten. Danach hat es einige Zeit gedauert, bis Sie zu einer sehr präsenten und umstrittenen literarischen Zeitgeistpersönlichkeit ge- worden sind. Sie studierten zunächst Agrarwirtschaft, haben früh geheiratet, wurden Vater eines Sohnes und geschieden, waren als Informatiker tätig und arbeitslos und depressiv, später Verwaltungsangestellter beim französischen Parlament. Ab Ende der 80er Jahre erlangten Sie als Poet, als Gedichteschrei- ber, zunehmend Aufmerksamkeit. Dürfen wir eins ihrer Gedichte kennenlernen? Der Tag wächst heran und wird groß, legt sich auf die Stadt Wir haben die Nacht ohne Erlösung durchlebt Ich höre die Autobusse und das gedämpfte Geräusch Der sozialen Beziehungen. Ich erlange Gegenwärtigkeit. Heute wird sich ereignen. Die unsichtbare Schicht Die in der Luft unsere Leidensexistenzen begrenzt Formt und verhärtet sich schrecklich schnell; Der Körper, der Körper aber ist eine Zugehörigkeit. Wir haben Beschwerlichkeiten und Begierden durchlebt Ohne dem Aroma der Kinderträume wiederzubegegnen Es ist nicht besonders viel übrig am Grund unseres Lächelns Wir sind Gefangene der eigenen Durchschaubarkeit. Das haut rein. Und im Französischen reimen sich diese heftigen, traurigen Gedanken sogar noch. Wortefeier. Poesie. Es gibt ein sehr schönes Wort für einen Menschen, der einen Schatz gefunden hat; es lautet Entdecker. Ob er ihn zufällig gefunden hat, als er sich im Wald verirrte, oder nach fünfzehn Jahren Nachforschungen, in denen er alte Karten aus der Zeit der spanischen Kon- quistadoren gewälzt hat, ändert absolut nichts. Genau dasselbe empfindet man, wenn man ein Gedicht geschrieben hat: Ob man zwei Jahre oder eine Viertelstunde gebraucht hat, um es zu schreiben, spielt keine Rolle. Es ist – und ich weiß genau, dass das irreal ist –, als wäre das Gedicht schon lange vor uns geschrieben worden, als wäre es schon ewig geschrieben gewe- sen und als hätten wir es nur entdeckt. Wenn das Gedicht erst einmal entdeckt wurde, hält man einen gewissen Abstand. Man hat es aus der Erde geholt, die es umgab, man hat es ein wenig abgebürstet; und nun erstrahlt es, allen zugänglich, in seinem schönen mattgoldenen Glanz. Beim Roman ist das anders. Da ist viel Schmiere und Schweiß, es sind irrsinnige Mühen notwendig, um alles einigermaßen zusammenzuhalten, um die Bolzen anzuziehen, damit das Ganze nicht auseinanderfliegt. Es ist alles in allem eine Art Maschinerie. Ich verleugne meine
Romane nicht, ich mag meine Romane, aber es ist nicht dasselbe; und auch wenn man mir dafür den Kopf abschlagen würde, bliebe ich dabei, dass der Roman im Vergleich zur Lyrik eine zweitrangige Gattung bleibt. Aber es waren dann Ihre Romane, die Sie in den 90er Jahren reich und berühmt gemacht haben. Im September 1998 bin ich berühmt geworden; reich geworden bin ich im Mai 1999, als das Geld für meine Urheberrechte bei mir einging. Aber was heißt reich? Alles ist relativ. Genau gesagt muss es heißen: reich genug, um darauf hoffen zu können, dass ich keinen Brotberuf mehr ausüben muss – jedenfalls war das für mich der einzige Vorteil von Reichtum, der mir jemals erstrebenswert schien. Parallel zu Ihren Romanen haben Sie Ihre Meinungen über Gott und die Welt und den Menschen und die Literatur in vielen Essays und Interviews unter die Leute gebracht (sonst könnte ich dieses nicht geführte Interview mit Ihnen ja gar nicht authentisch führen). Und Ihre Meinungen über Gott und die Welt und so weiter sind nicht die besten, sind provozierend und einseitig und wider- sprüchlich und Gegenstand nicht nur journalistischer Debatten. Ich halte der Welt den Spiegel vor, in dem sie sich nicht schön findet. Sie dreht den Spiegel um und behauptet: »Das ist nicht die Welt, die Sie beschreiben, das sind Sie selbst.« Ich drehe ihn meinerseits wieder um und sage: »In euren erbärmlichen Artikeln sprecht ihr weder über meine Bücher noch über mich, ihr enthüllt darin lediglich eure eigenen Mängel und Lügen.«
»Unterwerfung« kam am 7. Januar 2015 mit einem schrecklichen Paukenschlag auf die Welt, d.h. in die französischen Buchläden. Am selben Tag überfielen islamistische Terroristen die Redaktion der Satire- Zeitschrift »Charlie Hebdo« und töteten insgesamt 12 Menschen, darunter einen Freund von Ihnen. Es stimmt, »Unterwerfung« ist in Frankreich am Tag der Anschläge auf »Charlie Hebdo« erschienen. Weniger bekannt ist, dass ich der »New York Times« ein Interview über »Plattform« gegeben hatte – ein Interview, in dem der Journalist übrigens fand, ich über- treibe wahrscheinlich die islamistische Gefahr. Nun – dieses Interview ist in der »New York Times« vom 11. September 2001 erschienen. Kurzum, es scheint, dass Gott (oder das Schicksal oder eine andere grausame Gottheit) sich damit amüsiert, unter Benutzung meiner Bücher tragische Koinzidenzen hervorzubringen.« Diese zufällige kalendarische Verbindung zum islamistischen Terrorismus ver- schärfte die feuilletonistischen Auseinandersetzungen um Ihren Roman, der im Jahre 2022 – also zur Zeit der planmäßig nächsten Präsidentschaftswahl in Frankreich – spielt und beschreibt, wie der dann muslimische Wahlsieger das traditionell laizistische Frankreich langsam, aber sicher in einen islamischen Staat verwandelt. Ihnen wurde deshalb Islamophobie vorgeworfen. Was sagen Sie dazu? Das ist kompletter Unsinn. Gleichzeitig sage ich aber nach diesen Attentaten, dass jeder, der darauf Lust hat, das Recht hat, ein islamophobes Buch zu schreiben.
WISSEN UND GLAUBEN Die Menschheit hat Jahrtausende lang mehr geglaubt als gewusst, dann hat sie ungefähr ein Jahrhundert lang mehr gewusst als geglaubt – auch das hat ihr nicht gut getan. (John von Düffel: KL – Gespräch über die Unsterblichkeit, 2015) Im Mittelpunkt von »Unterwerfung« steht François, in dessen Leben die poli- tischen Umwälzungen Spuren hinterlassen. François ist eine typische Houelle- becq-Figur: ein mittelalter mittelgut situierter vom Leben frustrierter Mann, bindungsarm, arrogant, gelangweilt, sexbesessen, alkoholismusgefährdet. Beschreibt das eigentlich auch Ihr eigenes Selbst- und Weltverständnis? Ich glaube, dass es bereits enorm wäre, wenn es der Kunst gelänge, ein halbwegs ehrliches Bild vom gegenwärtigen Chaos zu geben, und dass man nicht mehr von ihr verlan- gen kann. Wenn man sich in der Lage fühlt, einen sinnvollen Gedanken auszudrücken, ist das gut. Wenn man Zweifel hat, muss man sie ebenfalls mitteilen. Was mich betrifft, habe ich den Eindruck, dass es nur einen einzigen Weg gibt: die Widersprüche, die mich zerreißen, weiterhin kompromisslos zum Ausdruck zu bringen, da sie sich für meine Zeit sehr wahrscheinlich als repräsentativ herausstellen werden. Nicht zuletzt der erbarmungslose pessimistische Blick, den Sie auf uns und den Zustand der Welt werfen, hat ja Ihren Ruf begründet. Sich über die allgemeine Entwicklung der Dinge zu äußern, ist schwer. In Anbetracht des vorliegenden sozioökonomischen Systems, in Anbetracht vor allem unserer philosophischen Annahmen ist absehbar, dass sich der Mensch unter furchtbaren Bedingungen demnächst in eine Katastrophe stürzt; wir sind schon mittendrin. Die logische Folge des Individualismus ist Mord und Unglück. Die Begeisterung, mit der wir uns in dieses Unglück stürzen, ist bemerkenswert, wirklich sehr seltsam. Es ist zum Beispiel erstaunlich, mit welcher Unbekümmertheit man die Psychoanalyse aus dem Weg geräumt hat – die es zugegeben durchaus verdiente -, um sie durch eine reduzierende Lesart des Menschen auf der Basis von Hormonen und Neurotransmittern zu ersetzen. Die mit den Jahrhunderten fortgeschrittene Auflösung der Sozial- und Familienstruk- turen, die zunehmende Tendenz von Individuen, sich als isolierte, dem Stoßgesetz unterliegende Teilchen, als provisorische Aggregate noch kleinerer Teilchen anzusehen, all das bewirkt natürlich, dass sich auch nicht die geringfügigste politische Lösung in die Praxis umsetzen lässt. Die Idee des Ich besetzt seit fünfhundert Jahren den Raum. Es ist Zeit, eine andere Richtung einzuschlagen. Die Richtung Religion? Das Leben ist ohne Religion einfach so über alle Maßen traurig. Ich halte es für wenig wahrscheinlich, dass eine Kultur lange ohne irgendeine Religion auskommen kann. Die Aussöhnung der Egoismen durch die Vernunft – der Irrtum des Jahrhunderts der Aufklärung, auf das sich die Liberalen in ihrer unheilbaren Dummheit weiterhin berufen – scheint mir eine auf äußerst wackligen Füßen stehende Basis zu sein. Der Irrtum des Marxismus bestand in dem Glauben, dass es ausreichen würde, die ökonomischen Strukturen zu verändern, der Rest würde dann folgen. Der Rest, das haben wir gesehen, ist nicht gefolgt. Der dialektische Materialismus, der sich auf dieselben philosophischen Prämissen stützt wie der Liberalismus, ist von seiner Konstruktion her nicht in der Lage, zu einer altruistischen Moral zu führen. Einfach so an Gott zu glauben, wie es unsere Vorfahren taten, einfach in den Schoß von Mutter Kirche zurückzukehren, das bietet Vorteile, und zwar nur Vorteile.
Zurück in ein Leben wie das der Vorfahren? Die Vergangenheit ist immer schön, ebenso übrigens wie die Zukunft. Nur die Gegenwart schmerzt, nur sie trägt man mit sich wie einen schmerzhaften Abszess, den man zwischen zwei Unendlichkeiten stillen Glücks nicht loswird. Das ist ein Satz, den François in »Unterwerfung« sagt. Das Quantum Wahrheit, möglicherweise autobiographischer Wahrheit, mit dem man eine Figur versieht, hat in der Literatur nicht die geringste Bedeutung. Hieraus folgt logischer- weise, dass man gegebenenfalls alles zugeben kann, alles und das genaue Gegenteil, Wahres wie Unwahres, ohne dass dies den geringsten Einfluss aufs Gelingen hätte. Zurück zur Religion: Sind Sie denn selbst gläubig? Nein, das ist ja das Tragische. Ich versuche es immer wieder. Seit ich 13 bin, denke ich, das Universum ist so unfassbar – es kann doch nicht sein, dass das alles einfach so da ist. Aber es gelingt mir trotzdem nicht, zu glauben. Auch François unternimmt im Roman den Versuch, die Löcher, die die politische Krise Frankreichs in sein armseliges Leben reißt, mit religiösen, transzendenten Erfahrungen zu stopfen. Vorbild für François ist dabei sein quasi väterlicher
Freund Joris-Karl Huysmans. Über diesen in Deutschland nahezu unbekannten flämischstämmigen französischen Schriftsteller und Beamten hatte François einst seine Dissertation geschrieben. Nun ist er das Spezialgebiet des Literatur- professors François. Joris-Karl Huysmans lebte von 1848 bis 1907, fiel als literarischer Stimmungs- macher des Dandytums seiner Zeit auf und machte dann durch erstaunliche Richtungswechsel im künstlerischen Schaffen wie im persönlichen Leben von sich reden. Wie kamen Sie auf diesen Huysmans? Ich war sehr unglücklich und einsam als Student. Wenn ich damals schon Huysmans' Bücher gekannt hätte, wär es mir ganz bestimmt besser gegangen. Warum? Weil er so über die Maßen angeekelt ist von der Welt. Und das soll einem helfen, durchs Studium zu kommen? Ja, weil es wahnsinnig komisch ist. Er übertreibt so dermaßen, egal ob er jetzt Käse be- schreibt, einen Pfarrer oder eine Straße. Das sind so intensive Beschreibungen des Abscheus, dass daraus plötzlich beim Lesen eine irrsinnig intensive Lebensfreude kommt.
François findet in Huysmans einen Verbündeten in seiner Verachtung für den Zustand der menschlichen Gemeinschaften. Jede tierische und menschliche Gesellschaft richtet ein hierarchisches Differenzierungs- system ein, das sich auf Geburt, auf Reichtum, auf Schönheit, auf Körperkraft, auf Intelligenz, auf Begabung gründen kann. Diese Kriterien halte ich alle für gleich verachtenswert, ich lehne sie ab. Die einzige Überlegenheit, die ich anerkenne, ist die Güte. Gegenwärtig bewegen wir uns in einem zweidimensionalen System: dem der erotischen Attraktivität und dem des Geldes. Alles andere, das Glück und das Unglück der Leute, leitet sich daraus ab. Wir leben tatsächlich in einer simplen Gesellschaft, für deren komplette Beschreibung diese wenigen Sätze ausreichen. Ihr Roman »Unterwerfung« hat nicht nur wochen- und monatelang die Feuil- letons der internationalen Presse beschäftigt; auch die deutschen Theater grei- fen oft und gern auf Ihren Text zurück, um damit ein offenbar wichtiges, dis- kussionsanregendes Stück Gegenwartsgefühl auf die Bühne zu bringen. »›Unterwerfung‹ dürfte inzwischen der meistadaptierte Roman in der deut- schen Theaterlandschaft sein«, meinte dazu die Fach-Website nachtkritik.de im Juni 2017.
Sophie Scherer, die Textbearbeiterin und Regisseurin unserer halleschen In- szenierung, hat dem François als Partner seiner Selbstdarstellung nicht nur einen leibhaftigen Joris-Karl Huysmans an die Bühnenseite gestellt, sondern beispielsweise auch die französische Nationalfigur Marianne oder gar – in der Schlussszene wie auf dem Inszenierungsplakat – eine Geisha, ein von weit her geholtes Bild für Fremdheit, Formvollendung, Zuordnung und: Weiblichkeit. Wie finden Sie das? Ich spüre deutlich die Notwendigkeit zweier komplementärer Herangehensweisen: das Pathetische und das Klinische. Auf der einen Seite das Sezieren, die kaltblütige Analyse, der Humor; auf der anderen die emotionale und lyrische Anteilnahme. Danke für den Hinweis. Die tendenziell zerbröckelnde Kreativität in den Künsten ist nur eine andere Facette der ganz und gar zeitgenössischen Unmöglichkeit des Gesprächs. Ein gewöhnliches Gespräch ver- läuft in der Regel so, als sei der unmittelbare Ausdruck eines Gefühls, einer Gemütsbewegung, einer Idee unmöglich – weil zu vulgär – geworden. Alles muss den verzerrenden Filter des Humors durchlaufen, eines Humors, der sich zum Schluss natürlich im Kreise dreht und sich in ein tragisches Schweigen verwandelt.
Ist das das Ende unserer Unterhaltung? Es zerrt allmählich an den Nerven, in einer Ära der Mittelmäßigkeit zu leben, umso mehr, wenn man sich selbst außerstande sieht, das Niveau wieder anzuheben. Ich werde ge- wiss keinen einzigen neuen philosophischen Gedanken hervorbringen; in meinem Alter hätte ich sonst wohl schon entsprechende Anzeichen zeigen müssen. Aber ich bin mir fast sicher, dass ich bessere Romane hervorbringen würde, wäre das geistige Klima um mich herum nur ein wenig fruchtbarer. Dann danke ich Ihnen für das Gespräch – und für all die anderen herausfor- dernden, verstörenden, vergnüglichen Stunden, die wir mit Ihnen verbringen durften.
KOMFORTABLE ILLUSION UND SELBSTTÄUSCHUNG Als Kern der Religiosität lässt sich die existenzielle Antwortbedürftigkeit des Menschen auf der einen und das Versprechen ihrer potenziellen Erfüllung auf der anderen Seite identifizieren. Spätestens seit der Aufklärung sind freilich Zweifel daran, dass es eine solche tragende Stimme des Universums in irgendeinem rational akzeptablen Sinne wirklich gibt, dass sie nicht einfach nur eine komfortable Illusion und Selbsttäuschung ist, immer größer geworden. Und in der Tat ist die Vorstel- lung einer antwortenden Welt aus dem Horizont der aufklärerisch-rationalen Moderne im Grunde nicht zu verteidigen. Aus ihrer Sicht bietet das Universum nur ein stummes Schauspiel, das sich unter der Regie der Naturgesetze vollzieht. »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern«, bemerkte angesichts dessen der französische Philosoph Blaise Pascal schon um 1650. Vielleicht am radikalsten formuliert findet sich die Vorstellung eines existenziellen menschlichen Antwortbedürfnisses im Angesicht eines zurückschweigenden Universums bei Albert Camus. Für ihn ist die tiefste, unverstellte, existenzielle Welterfahrung keine Resonanzerfahrung, sondern deren genaues Gegenteil: Die Erfahrung der existenziellen Fremdheit im Sinne der Unmöglichkeit, sich Welt wirklich anzuverwandeln und sie zum Sprechen zu bringen. Stumme Weltbeziehungen heroisch auszuhalten, um schließlich als »Stein zwischen Steinen in die Wahrheit der unbeweglichen Welten« einzugehen, wird dann zur einzigen Alternative gegenüber einem Leben in der Illusion eines kosmischen Widerhalls. (HARTMUT ROSA: RESONANZ – Eine Soziologie der Weltbeziehungen, 2016)
RELIGIOSITÄT UND SINNSUCHE IN MODERNEN GESELLSCHAFTEN Der Fundamentalismus richtet sich gegen eine als per- manente Krise und Bedrohung empfundene moderne Lebenswelt und macht dafür Erscheinungsformen und Selbstverständnisse von »Moderne«, die als »Neue- rung« ausgemacht werden, verantwortlich: Indivi- dualismus und Demokratie, Frauenemanzipation und sexuelle Selbstbestimmung, kritische Wissenschaft und Traditionsverlust. Dagegen wird eine Rückkehr zu den Wurzeln der eigenen Religion oder Kultur propagiert, verankert an der Textgrundlage eines als uninterpre- tierbar ausgegebenen heiligen Buches, an der Autori- tät der Altvorderen und an bewährten Traditionen. Der Erfolg des religiösen Fundamentalismus erklärt sich allerdings nicht nur aus der Überzeugungskraft seines »Sinnangebots«, als vielmehr aus seiner Anschluss- fähigkeit an konkrete Erfahrungen und Gefühle von sozialer Not, Desintegration und Orientierungslosigkeit, die ihrerseits zur Wirklichkeit der Moderne gehören. Die rückwärtsgewandte Utopie des religiösen Funda- mentalismus gründet sich also nicht in vormodernen, archaischen Vorstellungen, sondern ist ein Phänomen innerhalb der Moderne und ihren Brüchen und Wi- dersprüchen geschuldet – es sei denn, man will unter Moderne wiederum nur das Ideal einer aufgeklärten, säkularen Bürgergemeinschaft verstehen. (GEERT HENDRICH: RELIGIOSITÄT UND SINNSUCHE IN MODERNEN GESELLSCHAFTEN, 2013) ISLAM-SEHNSUCHT Der Schleier ist ein Phänomen, das uns die Machtlosigkeit der modernen Staaten aufzeigt, die Machtlosigkeit angesichts neuer, von der Moderne verursachter Übel, neuer, mit dem sexuellen Elend verbundener Hoffnungslosigkeit, angesichts des Verschwindens der heimischen Schutzzone, der erzwungenen Ehelosigkeit, des Scheiterns von Liebesbeziehungen, der alleinerziehenden Eltern, der Halbwaisen, der Zerstörung der menschlichen Beziehungen, der Drogenabhängigkeit, des Perfor- mance-Kults, des Stresses am Arbeitsplatz et cetera. Die Demokratien erleben ein Wiederaufleben der Suche nach Erneuerung, die Heiligung der Familie als wertvollen Rückzugsort. Das also bringt diese »Islam«-Sehnsucht in den hoch entwickelten Gesellschaften zum Ausdruck. Die Religion fokussiert all diese Mängel. (HÉLÉ BÉJI, 4.9.2017, WELT ONLINE) WILLKOMMEN Es besteht ein Anachronismus des islamischen Bewusstseins gegenüber dem modernen Bewusstsein. Kommt das von der Unfähigkeit des Islam, sich an die Moderne anzupassen oder von der Unfähigkeit der Moderne, das Althergebrachte kultiviert und intelligent willkommen zu heißen? Oder beides? (HÉLÉ BÉJI, 4.9.2017, WELT ONLINE)
FLUCHT INS AUTORITÄRE Indem man zum Bestandteil einer Macht wird, die man als unerschütterlich stark, ewig und bezau- bernd empfindet, hat man auch teil an ihrer Stärke und Herrlichkeit. Man liefert ihr sein Selbst aus und verzichtet auf alles, was an Kraft und Stolz damit zusammenhängt, man verliert seine Integri- tät als Individuum und verzichtet auf seine Freiheit. Aber man gewinnt dafür eine neue Sicherheit und einen neuen Stolz durch Teilhabe an der Macht, in der man aufgeht. Außerdem gewinnt man Sicherheit gegenüber quälenden Zweifeln. Der masochistische Mensch braucht nichts mehr selber zu entscheiden, er ist nicht mehr für das Schicksal seines Selbst verantwortlich und ist hierdurch von allen Zweifeln befreit, welche Entscheidung er treffen sollte. Es bleibt ihm auch der Zweifel daran erspart, was der Sinn seines Lebens ist und wer er ist. Alle diese Fragen beantwortet die Beziehung zu der Macht, der er sich angehängt hat. Der Sinn seines Lebens und sein Identitätserleben werden von dem größeren Ganzen bestimmt, in dem sein Selbst untergetaucht ist. (ERICH FROMM: DIE FURCHT VOR DER FREIHEIT, 1941) DIE VERHEISSUNG DER RELIGION Erklärungsbedürftig bleibt in jedem Falle, warum Religion, wenn sie vor allem ein großes Resonanz- versprechen ist, für so viele Gewaltwellen der Geschichte verantwortlich zeichnen kann. Was ist der Zusammenhang zwischen Gewalt und Religion, wie er sich nicht nur in der menschlichen Religions- praxis beobachten lässt, sondern sogar in den heiligen Schriften selbst? Ist Gewalt nicht der Inbegriff der stummen Beziehung? Gewalt kann auf zweierlei Weise aus dem Resonanzversprechen der Religion emergieren. Zum einen als Versuch, die Einlösung dieses Versprechens zu erzwingen und damit das Unverfügbare verfügbar zu machen. Krieg und Gewalt fungieren dann als Mittel, Resonanz herbeizuführen, die schweigende (Um-)Welt zur Resonanz zu bringen. Zum anderen aber stellt Religion eine besondere Herausfor- derung für die Selbstwirksamkeitsbedingung der Resonanzbeziehung dar. Es wird versucht, Dinge und Menschen unter Kontrolle zu bringen, anstatt sie zu erreichen oder sie zu berühren. Daraus resultieren dann die vielleicht schlimmsten und vor allem folgenreichsten Formen der Entfremdung, welche die erbitterte Feindschaft vieler resonanzsensibler Moderner gegenüber der Religion erklären, nämlich Manifestationen der absoluten Empathie- und Mitleidlosigkeit, des eisigsten Fanatismus. Das Gewaltgetöse der IS-Terroristen im 21. Jahrhundert oder der Kreuzzüge des 12. Jahrhunderts verselbstständigt sich und steigert sich zur Raserei vermutlich auch aus Angst davor, dass an seinem Ende die eisige Stille des Weltenraumes stehen könnte. Glücklicherweise hat die Moderne andere Wege gefunden und institutionalisiert, die dieses Verlangen erfüllen können, ohne auf ein meta- physisches Glaubenssystem angewiesen zu sein. Die drei wichtigsten davon - die Konzeptionen und Erfahrungen von Kunst, Natur und Geschichte - können modernen Subjekten als umfassende Entitäten begegnen. (HARTMUT ROSA: RESONANZ – Eine Soziologie der Weltbeziehungen, 2016) ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE Der Schleier ist nicht als Akt purer Unterwerfung zu sehen, sondern als Akt der Selbstbestätigung, des Ultra-Individualismus, als das »Recht der Individuen, sie selbst zu sein«, einerlei, wie absurd ihr Verhalten ist. Wenn er nur ein althergebrachtes Zeichen der Macht wäre, wäre er auch leichter zu bekämpfen. Er ist aber ein in Anspruch genommenes Symbol, nicht ein erduldetes, zu gleicher Zeit rebellisch und mimetisch, wie eine Modeerscheinung, exzentrisch und vom Gruppenzwang gelenkt, eine intime und spektakuläre Art und Weise, sich eine Epoche zu eigen zu machen. Es ist die puritanische Tracht eines anderen Feminismus, der die ureigenen, sexuellen und mystischen Vorlieben zur Schau stellt. Es ist ein religiöses »Coming-out«, ein »Islam Pride«. (HÉLÉ BÉJI, 4.9.2017, WELT ONLINE)
DIE FRUSTRATION DER MÄCHTIGEN Im 21. Jahrhundert ist die Migration die neue Revolution - keine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhundert, sondern eine vom Exodus getriebene Revolution des 21. Jahrhunderts, getragen von Einzelnen und Familien und inspiriert nicht von ideologisch gefärbten Bildern einer strahlenden Zukunft, sondern von den auf Google-Maps verbreiteten Fotos vom Leben auf der anderen Seite (der Grenze). Die verängstigten Mehrheiten dort fürchten nun, dass Fremde ihre Länder übernehmen und ihre Lebensweise bedrohen könnten, und sie sind davon überzeugt, dass die gegenwärtige Krise auf in Stammesdenken befangener Migranten zurückgehe. Diese bedrohten Mehrheiten repräsentieren nicht die Sehnsüchte der Unterdrückten, sondern die Frustration der Mächtigen. Im Zeitalter der Migration beginnt die Demokratie als Instrument des Ausschlusses statt der Inklusion zu funktionie- ren. Migranten sind die geschichtlichen Akteure, die über das Schicksal des europäischen Liberalismus entscheiden werden. (IVAN KRASTEV: EUROPADÄMMERUNG, 2017)
Die Houellebecq-Zitate für das gefälschte Interview stammen aus: Michel Houellebecq: Gesammelte Gedichte (Köln 2016), Michel Houellebecq: Interventionen. Essays (Köln 2010), Michel Houellebecq: In Schopenhauers Gegenwart (Köln 2017), Michel Houellebecq: Unterwerfung (Köln 2015), Michel Houellebecq / Bernard-Henri Lévy: Volksfeinde. Ein Schlagabtausch (Köln 2009) sowie aus Interviews mit Michel Houellebecq in der Süddeutschen Zeitung vom 22.1.2015 und in der Neuen Züricher Zeitung vom 27.9.2016 TECHNIK Uwe Riediger (Technischer Direktor), Jens Richter (Technischer Leiter neues theater), Gerd Lewandowsky (Bühnenmeister), Carsten Pfaff (Bühnenmeister), Roberto Riesner (Bühnenmeister), Jens Herold, Sven Horn, Peter Lange, Matthias Mandt, Kay Perlwitz, Peter Richter, Rüdiger Scheer, Jan Thurmann, Falk Wirsing, Thilo Zubiak BELEUCHTUNG Jack Boateng (Leitung), Thomas Opitz (Meister), Randolf Buchmann, Jan David, Volker Heidecke, André Jenske, Jens Pietzonka TON René Bernsdorf (Leitung), Ramon Fuentes Nieto, Maik Schibelius, Sven Ziegler REQUISITE Stefan Range (Leitung), Petra Hirschfelder, Andreas Steppan, Susanne Schaub-Aderhold, Eike Vöcks MASKE Christina Simon (ChefmaskenbiIdnerin), Claudia Hildebrand, Esther Karpaty, Anke Sothen KOSTÜME Cordula Erlenkötter (Kostümdirektorin), Karen Liezke (Gewandmeisterin), Ines Schubert (Modistin), Tamara Janzen (Kostümbearbeitung), Janett Becker, Kathleen Hubert, Karina Koeppe, Sigrid Kuffel, Elke Linsel, Martina Meisner, Susanne Müller, Ines Neitzel, Jeannette Quandt, Silvia Radsch, Angela Scheelhaas, Bettina Stein, Jutta Wolter ANKLEIDER Claudia Hoppe (Leitung), Christel Biermann, Ingrid Hecht, Bettina Thalmann DEKORATIONSWERKSTÄTTEN Torsten Paetzold (Produktionsleitung), Thomas Kretschmar (Werkstattleitung) MALSAAL Christian Wagner (Malsaalvorstand), Wolfram Freye, Sven Moelke, Raik Bläß, Michael Kron TISCHLEREI Thomas Kretschmar (Meister), Matthias Böhm, Stephan Grätz, Karsten Gunold, Andreas Hentze, Rene Schöler, Henrik Wilke-Husmeier THEATERPLASTIK Johanna Geerkens, Julia Reinke SCHLOSSEREI Christian Goldacker (Meister), Andreas Winter DEKORATIONSWERKSTATT/POLSTEREI Karsten Döhring (Meister), Sebastian Brendel Impressum: Theater, Oper und Orchester GmbH Halle | Geschäftsführer Stefan Rosinski | Künstlerischer Direktor »neues theater« Matthias Brenner | Redaktion Bernhild Bense, Sophie Scherer | Fotos Anna Kolata | Gestaltung Annett C. Pester | Herstellung www.flyeralarm.com | Neues Theater Große Ulrichstraße 51, 06108 Halle | Kasse 0345 – 5110 777 | theaterkasse@buehnen-halle.de, www.buehnen-halle.de, Spielzeit 2017 / 2018 | Programmflyer Nr. 66 | Auflage 500
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