29 Sexualität und Beziehungen

 
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29 Sexualität und Beziehungen
   in der psychodynamischen Psychotherapie
       Birger Dulz, Charlotte Ramb und Hertha Richter-Appelt

Stationäre Therapie                                 ●●   Viele Pa­tien­tinnen und Patienten mit Bor-
                                                         derline-Störung haben aufgrund von Min-
Bei Borderline-Patienten können Probleme mit             derwertigkeits-, Scham-, Ekelgefühlen bei
Sexualität vor dem Hintergrund ganz unter-               negativem Körperselbst und/oder bei Ängs-
schiedlicher Struktur- und Konfliktkonstellati-          ten vor Nähe, Kontrollverlust oder Gewalt
onen vorkommen; die damit verbundenen se-                noch fast oder überhaupt keine Erfahrungen
xuellen Schwierigkeiten und Störungen sind               mit Sexualität gemacht.
ebenso wie die zugrunde liegenden Konstella-        ●●   Insbesondere Angst spielt eine Rolle in der
tionen in der Regel therapeutisch relevant und           Sexualität der Patienten: Angst vor Nähe,
sollten deswegen aus der Behandlung nicht                Angst vor Alleinsein, Angst vor Versagen.
ausgeklammert werden, zumal sie sich ohnehin             Dahinter steckt aus unserer Sicht eine frei
nicht »abstellen« lassen dürften. Hierzu einige          flottierende Angst. Zum Zusammenhang
Beispiele:                                               von sexuellem Verhalten und (frei flot­
●● Zu Beginn des Aufenthaltes auf der Border-            tierender) Angst wird auf Kapitel 21 (S. 195)
   line-Station gehen manche Patienten eine              verwiesen.
   sexuelle Beziehung ein, um schnell Nähe und
   Geborgenheit herzustellen und um so das          Auch geht es niemals nur um Sexualität allein,
   Alleinsein im fremden, aber dennoch dichten      sondern immer auch um die jeweilige indivi-
   und somit für sie bedrohlichen Beziehungs-       duelle Gesamtproblematik des betreffenden
   raum der Borderline-Station zu vermeiden.        Patienten. Dabei kann Sexualität im Dienst von
●● Sexualität kann auch die Funktion haben,         Abwehr- oder Bewältigungsstrategien stehen,
   diffuse Spannungszustände oder innere            die manchmal, aber durchaus nicht immer
   Leere zu bekämpfen (Sexualität als »Droge«),     ­dysfunktionalen bis destruktiven Charakter
   aber auch aggressive oder destruktive Af-         haben.
   fekte auszuleben.                                 Hieraus ergibt sich die Wichtigkeit des Einbe-
●● Nicht selten steht Sexualität oder auch die       zuges des Themas Sexualität in den Rahmen
   Sexualisierung der nichtsexuellen Kontakte        der stationären Beziehungszentrierten Psycho-
   im Dienst einer Vermeidung unerträglicher         dynamischen Psychotherapie und gleichzeitig
   Gefühlszustände oder Selbstanteile: Durch         die Vergeblichkeit, den »gelebten Sex« aus der
   die bewusste oder unbewusste Selbstinsze-         Behandlung auszuklammern, vertraglich aus-
   nierung etwa als »Sexprotz« oder »geile           zuschließen oder gar zu verbieten.1
   Schlampe« können die darunter liegenden           Die Beziehungszentrierte Psychodynamische
   unerträglichen Gefühle oder Erinnerungen          Psychotherapie stellt einen Entwicklungsraum
   wie Scham, Verletztheit und erlittene sexu-       zur Verfügung, in dem die Patienten sich so
   elle Traumata abgewehrt, betäubt oder ge-         offen und vollständig wie möglich mit allen
   wissermaßen vom ohnmächtig Erlittenen             Aspekten ihrer Persönlichkeit auseinanderset-
   ins Aktive gewandelt werden (kontraphobi-         zen können (s. Dulz u. Ramb 2009). Hierzu
   scher Sex).                                       gehört auch ein möglicherweise problemati-
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scher Umgang mit Sexualität. Im Folgenden               selten paranoid verzerrt wahr und projizieren
soll der therapeutische Umgang mit dem Pati-            eigene Ängste, Befürchtungen und Spannungs-
enten (auch) im Zusammenhang »Angst und                 gefühle in ihn hinein; umgekehrt nehmen sie
Sexualität« betrachtet werden; dies setzt eine          die Bedürfnisse, Gefühle und Bedürfnislagen
Gestaltung des Entwicklungsraumes derart vo-            des Anderen nicht richtig wahr. Sexualität kann
raus, dass dieser bzgl. der Rahmenbedingun-             eine Möglichkeit sein, dieses Dilemma schein-
gen weitgehend angstfrei erlebt werden kann             bar zu lösen, Spannungen und Differenzen
(haltende Funktion im Sinne von Winnicott               schnell zu überbrücken oder zu »überblenden«,
[1965]).1                                               ggf. auch durch sexuelles Handeln auszuleben,
                                                        ohne dass wirkliche Nähe und Intimität entste-
                                                        hen (unverbindliche Verbindung).
Stationäres Setting                                     Ein betont sexualisiertes Auftreten kann aber
                                                        auch dazu führen, sich andere Menschen vom
Fast alle Patienten mit einer Borderline-Stö-           Leibe zu halten. Durch eine »offensive Se­
rung leiden unter schweren Affektregulations-           xualisierung« können andere in der Kontakt-
störungen, d. h. sie kommen durch sich selbst           gestaltung kontrolliert und bewusst manipu-
nicht »innerlich zur Ruhe«, vermutlich weil sie         liert werden, wodurch Nähe und Distanz
in der Kindheit keinen Halt, keine Akzeptanz            reguliert werden können.
und keine Beruhigung vermittelnden Bezie-               Im Behandlungsverlauf wird deutlich, dass Pa-
hungserfahrungen verinnerlichen konnten.                tienten, die ihre Kontakte »sexualisieren« – ob
Später, als erwachsen gewordene »Borderli-              nun durch flirtende, machomäßige oder ander-
ner«, bedürfen sie daher mehr als psychisch             weitig sexuell getönte Beziehungsgestaltung,
Gesunde einer externen Affektregulierung. Das           aber auch durch die Auswahl bestimmter The-
bedeutet, dass sie ihre starken Affekte nicht in-       men in den Therapiegesprächen –, im Grunde
nerpsychisch regulieren bzw. »abwehren« kön-            große Probleme mit Schamgefühlen und inti-
nen, sondern dass sie hierfür andere Menschen           mer Nähe haben, was aber oftmals nicht so
(bzw. Ersatzobjekte wie Alkohol, Drogen und             schnell deutlich wird. Andere Menschen und
Rasierklingen) dringend benötigen. Dabei ge-            gelegentlich auch Mitarbeiter des Behand-
raten sie jedoch in folgendes Dilemma: Zwar             lungsteams schätzen diese Patienten nämlich
benötigen sie zur Affektregulierung dringend            eher so ein, dass sie aufgrund ihrer selbstbe-
andere Menschen oder Ersatzobjekte, leiden              wussten, coolen Ausstrahlung das Beziehungs-
aber gleichzeitig unter erheblichen Beziehungs-         geschehen etwa innerhalb der Patientengruppe
schwierigkeiten, oft verbunden mit Angst vor            recht gut in der Hand haben. Sie laufen daher
Nähe, Intimität oder Austausch von innigen              Gefahr, sich von der Abwehr der Patienten täu-
Gefühlen. Sie fühlen sich durch die Nähe des            schen zu lassen, als ob diese in ihrer »sexuellen
Anderen massiv bedroht, nehmen ihn nicht                Aufrüstung« sozusagen unverletzbar seien. Tat-
                                                        sächlich realisieren die Patienten häufig gar
1 Auf einer Akutstation mag das etwas anders sein,
                                                        nicht, wie sehr sie bei ihrer »Flucht nach vorne«
  aber jeder erfahrene Psychiater weiß: Auch dort       ihre überblendeten eigenen Schamgrenzen
  ist Sexualität nicht nur ein Thema unter den Pa­      selbst überschreiten und manchmal auch von
  tien­ten, sondern wird praktiziert. In unserer Kli-   anderen überrennen lassen und andere gera-
  nik war Sexualität auf den Station früher strikt      dezu dazu verführen oder auffordern, dies zu
  unterbunden worden (es gab nur reine Männer-          tun.
  und Frauenstationen) mit entsprechenden Folgen:       Psychodynamisch betrachtet kann man dies als
  Ein bestimmtes Waldstück hieß unter den Patien-       einen Bewältigungsmechanismus verstehen im
  ten »Verlobungswald« …                                Sinne einer Umkehr von früher erlebter Ohn-
286                IV   Therapie: Behandlung der pathologischen Sexualität von Borderline-Patienten

macht – etwa im Zusammenhang mit einem              Umgang mit Sexualität außerhalb
erlittenen Missbrauch – in eine nun (vermeint-      der Klinik
lich) sexuell »mächtige« oder zumindest aktive
Position. Es können darüber hinaus aber auch        Natürlich gibt es auch Patienten, die eine feste
(unbewusste oder bewusste) Tendenzen beste-         Partnerschaft (außerhalb der Klinik) haben.
hen, über »sexuelles Verhalten im weitesten         Mit ihnen wird ebenso über deren Sexualität
Sinne« sich selbst zu schädigen, sich einer Ge-     gesprochen wie mit Patienten, die ohne festen
fahr auszusetzen, mit der »Gefahr zu spielen«       Partner Sexualität – wo auch immer – prakti-
und/oder sich und anderen die eigene Schlech-       zieren. Wir haben ja einen therapeutischen
tigkeit erneut zu »beweisen«.                       Auftrag und keinen moralisierenden, denn wir
Es lässt sich unschwer vorstellen, dass hier eine   sind keine »norddeutsche Glaubenskongre­
große Gefahr für sexuelle Retraumatisierungen       gation«.
bzw. Reviktimisierungen gegeben ist, und dies       Letztlich ist die Sexualität auch in festen Part-
kann sich natürlich auch während einer The­         nerschaften selten ungestört, und wir bearbei-
rapie, insbesondere in Kliniken, ereignen. Je       ten dies in Einzel- und (manchmal) Gruppen-
sensibler Therapeuten und Behandlungsteams          therapien. Immer wieder finden auch Gespräche
jedoch mit dem Thema Sexualität umgehen,            mit beiden Partnern statt, wobei es dabei natur-
und je weniger dieser Bereich aus der therapeu-     gemäß (wir sind ja »Partei« unserer Patienten,
tischen Bearbeitung ausgeklammert wird, desto       und zu den Partnern außerhalb der Station be-
besser kann dieser Gefahr entgegengewirkt           steht keine stabile therapeutische Beziehung,
werden; nur so können die zugrunde liegenden        sondern es kommt nur punktuell zu Kontak-
individuellen Muster und Beweggründe her-           ten) in erster Linie um Informationen geht,
ausgefunden, psychodynamisch bearbeitet und         nicht aber um eine Art Paartherapie.
korrigiert werden und die Patienten zu einem        Situationen, in denen wir sowohl von einer
sensibleren und bewussteren Umgang mit ihrer        Partnerschaft außerhalb der Klinik als auch
Sexualität und auch mit ihren Schamgefühlen         von einem weiteren sexuellen »Verhältnis« (au-
kommen. Dies ist eine wesentliche Vorausset-        ßerhalb oder innerhalb der Klinik) wissen,
zung für eine befriedigende Liebesbeziehung.        kommen nicht selten vor. Dann ist es therapeu-
Es können krisenhafte Einbrüche auftreten,          tische Aufgabe, die nun offenkundigen Bezie-
wenn in Situationen mit großer zwischen-            hungsmuster des Patienten mit diesem zu be-
menschlicher Nähe (z. B. beim zärtlichen Lie-       arbeiten. Erneut geht es nicht um Moralisieren,
besspiel, aber auch im Rahmen eines psycho-         sondern um die Frage, ob der Pa­tient so behan-
therapeutischen Gesprächs) die sexualisierte        delt werden möchte, wie er seinen Partner be-
Abwehr plötzlich nicht aufrechterhalten wer-        handelt. Übergeordnet ist dabei die Thematik,
den kann und die darunter liegenden Gefühle         die allzu oft von Therapeuten, die Trauma­
wie z. B. Scham, Ekel oder auch Angst und Pa-       tisierte behandeln, vergessen wird: Das Opfer
nik über Patienten und Gesamtsituation her-         als Täter.
einbrechen. Deshalb ist es auf den zweiten Blick    Falsch ist übrigens die Annahme, dass es im-
auch nicht verwunderlich, dass viele der beson-     mer die Männer sind, die Frauen zur eigenen
ders sexy zurechtgemachten und sexuell sich         Pseudostabilisierung missbrauchen. Ebenso
erfahren gebenden Patienten angeben, Sexua-         tun dies Männer mit Männern, Frauen mit
lität nur in alkoholisiertem Zustand und/oder       Männern und Frauen mit Frauen.
unter Drogen zu ertragen. Nicht wenige dieser
Patienten berichteten uns auch, noch nie im
Leben »richtige« Sexualität oder auch eine Or-
gasmus gehabt zu haben (vgl. Kap. 21, S. 195).
29   Sexualität und Beziehungen in der psychodynamischen Psychotherapie                            287

Soll »Sex« unter den Patienten                       mit zwischenmenschlichen Beziehungen und
auf der Borderline-Station zugelassen                oft auch mit deren Störungen zu tun hat – zu-
oder verboten werden ?                               mindest was unsere Patienten betrifft.
                                                     Nun treten gerade bei Patienten mit Border-
Immer wieder kommt diese Frage auch in un-           line-Störungen im Rahmen von Therapien,
serem Behandlungsteam auf. Es scheinen ja            zumal im »beziehungsdichten« stationären
auch gute und triftige Gründe gegen eine im          Rahmen, ganz unweigerlich sog. Inszenierun-
klinisch-stationären Setting »frei praktizierte«     gen bzw. Reinszenierungen alter Beziehungs­
Sexualität vorzuliegen: Können Behandler             erfahrungen zutage. Dieses macht sich unser
überhaupt zulassen bzw. verantworten, dass           therapeutisches Konzept bewusst mit der Mög-
Patienten im Zeitalter von HIV und Hepatitis         lichkeit »erlebbarer« und im günstigen Falle
C ungeschützt miteinander verkehren ? Zumal          »strukturell zu korrigierender« Beziehungser-
wir doch wissen, dass es sich bei einem Groß-        fahrungen zunutze; in diesem Rahmen entste-
teil unserer Patienten um Menschen handelt,          hen partielle bzw. fokussierte Ich-strukturelle
die in ihrem Leben sexuelle Traumatisierungen        Nachreifungsprozesse (Dulz 2004; Dulz u.
erlebt haben, eine sexuelle Selbstbestimmung         Ramb 2009; Dulz u. Schneider 2001).
und gesunde Abgrenzungsfähigkeit oft gar             Es wäre nicht nur unrealistisch, sondern auch
nicht erlernen konnten und daher in besonde-         antitherapeutisch, zu versuchen, den bei unse-
rem Maße auf unseren Schutz angewiesen sind ?        ren Patienten häufig zumindest in Teilaspekten
Müssen nicht gerade diese Patienten durch ein        »dysfunktionalen« Bereich der Sexualität aus
verbindliches, verlässliches, Sexualität im Rah-     dem Therapieprozess, der letztlich ja Ich-Integ-
men der Therapie verbietendes Regelwerk ge-          ration (versus Identitätsdiffusion) anstrebt, aus-
schützt werden ?                                     zuklammern, etwa nach dem Motto: »Es kann
Die Gründe und Überlegungen, warum uns ein           nicht sein, was nicht sein darf.« Dies erscheint
generelles »Sex-Verbot« gerade bei der zur           unrealistisch, weil die Praxis immer wieder ge-
Rede stehenden Patientengruppe nicht nur             zeigt hat, dass diesbezügliche Verbote hinter-
­wenig sinnvoll, sondern nicht selten sogar          gangen werden. Uns liegen vielfache Berichte
 schädlich erscheint, sollen nachfolgend skiz-       von Patienten vor, die – teilweise geradezu süf-
 ziert werden.                                       fisant und triumphierend – schilderten, wie sie
 Ob Sexualität von den Patienten »wahllos« und       in der Klinik X das dort bestehende Sex- und
 in extremer Häufigkeit praktiziert wird oder        Beziehungsverbot ausgehebelt hätten, ohne dass
 aber »noch nie« praktiziert wurde, ob sie als       das Team etwas mitbekommen hätte; dabei han-
 grell-offensive Zurschaustellung oder in subti-     delt es sich um durchaus Borderline-kompatib-
 ler oder auch verführerisch-»manipulativer«         les Verhalten, und es verwundert immer wieder,
 Andeutung in Erscheinung tritt, ob sie in der       dass in Kliniken wie Praxen versucht wird, ein
 Beziehungsgestaltung untereinander in Form          Borderline-typisches Symptom (dazu gehört
 liebevoll-zärtlichen Miteinanders oder als ma-      nun einmal auch pathologisches Beziehungs-
 nifeste, versteckte oder »abgespaltene« aggres-     und Sexualitätsverhalten) per ­Dekret (»Kon-
 sive Destruktivität oder gar als sadistische Lust   zept«) zu unterbinden. So etwas funktioniert bei
 am Quälen anderer stattfindet, ob in der tat-       keiner einzigen psychiatrischen Störung, aber es
 sächlichen Ausübung zu zweit oder zu mehre-         wird ja vornehmlich auch nur bei Persönlich-
 ren oder ob geleitet durch Sexphantasien un-        keitsstörungen versucht, die Störung oder Stö-
 terschiedlichster Art: Aus dieser sicherlich sehr   rungsanteile per Verbot zu unterbinden.
 unvollständigen Aufzählungsreihe wird deut-         Nach unseren Erfahrungen führt eine rigide
 lich, dass Sexualität, in welcher Form auch im-     »Sex verbietende« oder auch »nur« Sexualität
 mer sie auftreten mag, stets auch irgendetwas       ausblendende, aber implizit »missbilligende«
288               IV   Therapie: Behandlung der pathologischen Sexualität von Borderline-Patienten

klinische Praxis eher dazu, dass die Patienten    wenn es zu dem »Unaussprechlichen« unter
im Rahmen des Therapieverlaufs ihre sexuellen     Patienten gekommen sein sollte – Pflegeperso-
Erlebnisse aus der Bearbeitung auslagern, vor     nal einen Arzt auf, »das« zu unterbinden – Bor-
dem Behandlungsteam geheim halten und um          derline-typischer geht es nicht. In einer solchen
so destruktiver praktizieren bzw. dazu tendie-    pathologischen Atmosphäre fühlt der Pa­tient
ren, ihre Destruktivität in diesen therapeuti-    sich sicher, denn diese kennt er aus der eigenen
scherseits »verbotenen« Teil auszulagern: umso    Familie, und mit ihr hat er gelernt umzugehen
mehr, je mehr sie bewusst oder unbewusst an-      und in ihr zu überleben … so ist die Störung
nehmen, dass damit etwas »Unrechtes« ge-          entstanden und so bleibt zumindest die Bezie-
schieht. Es sei angemerkt, dass Sexualität eine   hungsstörung trotz ansonsten ausgezeichneter
immer noch zwingende Voraussetzung für das        Behandlung bestehen.
Fortbestehen von Leben darstellt. Die Gefahr,     Ein »nichttherapeutischer« Umgang mit Sexu-
dass dysfunktional-destruktive Dynamiken          alität – gerade unkritische, ungefilterte, nega-
(möglicherweise in der »gut laufenden« Thera-     tive Gegenübertragungsdynamiken, gerade bei
pie »angeheizt«) dann in der heimlich prakti-     therapeutisch nicht »verstandenen« bzw. un­
zierten Sexualität ausgelebt werden, während      reflektierten, ins Gesamtbild des Patienten
die Therapie scheinbar harmonisch und fried-      nicht einbezogenen, sondern einfach nur abge-
lich läuft, bis sich irgendwann irgendeine Ka-    urteilten und »ausgestoßenen« abweichenden
tastrophe oder zumindest Überraschung ereig-      sexuellen Praktiken unserer Patienten – kann
net, ist dann umso höher.                         zu Behandlungsfehlern, Fehleinschätzungen,
Zum Beispiel erhöht sich u. E. bei einem gene-    Eskalationen usw. führen. Die teils sublimen,
rellen »Sex-Verbot« die Gefahr einer sog. Re-     teils manifesten, teils unbewussten und teils
viktimisierung von früher sexuell missbrauch-     bewusst ablaufenden Gegenübertragungsdyna-
ten Patienten, wenn es durch einen rigiden und    miken des pflegerischen, aber auch des sog.
verleugnenden Umgang des Teams mit »Sex«          akademischen Behandlungsteams als Reaktion
ungewollt zu gewissen Parallelen zwischen da-     auf therapeutisch nicht einbezogenes und als
mals und heute kommt – beispielsweise zwi-        Regelwidrigkeit bekämpftes Sexualverhalten
schen dem Damals in der Missbrauchsfamilie        kann sich überaus schädlich und desintegrativ
und dem auch heute in der Klinik geltenden        auf den Therapieprozess auswirken.
»offiziellen« Verbot von Sexualität einerseits    Gerade für Patienten, die früher sexuell trau-
und der damals wie heute möglicherweise be-       matisiert worden sind und die eine erhebliche
stehenden Tendenz zum Wegschauen beim             Selbstwertproblematik sowie erhebliche selbst-
Auftreten sexualisierten Verhaltens oder gar      schädigende Tendenzen aufweisen, stellt ein
sexueller Übergriffe andererseits. Die Gefahr,    derartiges Setting das »ideale« komplementäre
ein sexuelles Trauma wieder zu erleiden, er-      Beziehungsangebot zur Reinszenierung alter
scheint uns erheblich höher in einer stationä-    Missbrauchsfälle und Opferrollen und somit
ren Atmosphäre, in der Sexualität prinzipiell     Selbstbestrafungsszenarien dar. Dies kann the-
verboten und dadurch im Erleben der Patien-       rapeutisch nicht gewollt sein.
ten und auch einiger Mitarbeiter gleichsam
»kriminalisiert« bzw. in eine »Schmuddelecke«
abgeschoben wird. Dadurch wird im Behand-           Fallbeispiel
lungsteam über Sexualität nicht als über etwas      Der neue Assistenzarzt Dr. A. befindet sich am Be-
ja doch grundsätzlich Selbstverständliches ge-      ginn seiner beruflichen Laufbahn und ist jetzt schon
sprochen, sondern als über eine zu ahnende          seit vier Monaten auf der allgemeinpsychiatrischen
oder zu sanktionierende Fehlverhaltensweise         Langzeitstation tätig, auf der sich überwiegend
(»Schweinerei«). Typischerweise fordert –           schwer persönlichkeitsgestörte Männer befinden.
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  Er sitzt morgens in der Übergabe, als der Pa­tient B.    tienten angebracht ist. Dies sind u. a. genau jene
  übergeben wird, ein schmächtiger, etwas minder-          Grundregeln, die im Wesentlichen durch die
  begabter »Antisozialer«. Da »verplappert« sich           allgemeinen Grundregeln für das zwischen-
  plötzlich ein Pfleger, wird aber von der Stations-       menschliche Miteinander auf einer Borderline-
  schwester sogleich zur Vernunft gerufen: »Damit          Station abgedeckt sind. Eine Regel besagt z. B.,
  wollten wir doch den Herrn Dr. A. nicht belästigen,      dass Gewalt der Patienten untereinander nicht
  das hatten wir doch extra abgesprochen.« Aber            toleriert wird. Hierzu gehören auch Einschüch-
  Dr. A. hakt nach, und schließlich berichtet die Sta­     terungen, Bedrohungen und sexuelle bzw. se-
  tionsleitung unter sichtlicher Scham Folgendes:          xualisierte Gewaltausübung. Eine ganz wesent-
  »Der Pa­tient B., das ist doch unser Stationslutscher;   liche Regel besteht darin, dass die Patienten
  na ja, so was ist doch wirklich widerlich, deswegen      Ruhezeiten und Privatsphären untereinander
  wollten wir Ihnen das ja auch eigentlich gar nicht       respektieren und einhalten müssen. Dieses
  zumuten. Aber der B. braucht doch auch sein Ziga-        stellt ein großes Übungsfeld für die Patienten
  rettengeld und so, und dem macht das auch so-            dar. Denn in Zweibettzimmern untergebracht
  wieso nix aus, der merkt ja sowieso nicht viel (lacht    gibt es vielfältige Herausforderungen, an de-
  verlegen). Na ja, so ist das hier halt eben, daran       nen sie eine Verbesserung der wechselseitigen
  werden Sie sich auch noch gewöhnen. Wollen Sie           Rücksichtnahme, Nähe-Distanz-Regulierung
  noch einen Kaffee ?«                                     sowie Wahrung und Respektierung der eigenen
                                                           Privat- und Intimgrenzen sowie die der Ande-
                                                           ren üben können und müssen.
In der Rückschau hat sich den Autoren gezeigt,             Gerade der letzte Punkt ist für viele der Pa­
inwieweit ein derartiges »Sexverbot«, seine                tienten sehr schwierig einzuhalten, und zwar
Nichteinhaltbarkeit sowie deren Leugnung in                sowohl was die Wahrung ihrer eigenen Pri­
dieser »Dreierkombination« schließlich zu ei-              vatsphäre bzw. »Grenzen« als auch die der an-
ner therapeutischen Arbeitsatmosphäre und                  deren Menschen betrifft. Dies hängt oft mit
schlimmer noch zu einem Stationsklima ge-                  den Ich-strukturellen Auffälligkeiten unserer
führt haben, das mit seinem Pseudo-Schutz                  Patienten zusammen, die wiederum zumeist
und mit seinem Totschweigen für die Patienten              in einem Entwicklungskontext mit den beson-
letztlich schädlicher gewesen ist oder aber in             deren Lebens- und Beziehungserfahrungen
dem zumindest therapeutische Chancen nicht                 bzw. Be­ziehungstraumatisierungen zu sehen
genutzt werden konnten: anders als wenn mit                sind.
dem Thema Sexualität offener und pragmati-                 Dass einerseits sexuell höchst aktive und an­
scher umgegangen worden wäre und die Pati-                 dererseits sexuell höchst zurückhaltende Pa­
enten je nach Bedarf unterstützt oder eben                 tienten gemeinsam behandelt werden, bringt
begrenzt worden wären, wie es in anderen                   Vorteile wie Schwierigkeiten mit sich:
»Teilbereichen« des stationären Betriebes (z. B.           ●● Die aktiven Patienten erfahren die (auch se-

Putzen, Essensverteilung) ja auch selbstver-                  xuellen) Nöte jener, die ihnen manchmal als
ständlich geschieht.                                          »Jagdtrophäen« dienten.
                                                           ●● Die passiven Patienten erleben, dass die ver-

                                                              meintlich »Starken« letztlich dieselben Pro-
Welches Regelwerk halten wir                                  bleme wie sie haben.
für erforderlich ?
                                                           Das Team befindet sich dabei immer wieder
Auch wir sind nicht der Meinung, dass ein voll-            im Spannungsfeld »Balance zwischen Überbe-
ständiger Verzicht auf Hinweise und Regeln im              hütung, Überreagieren, Einengung, Entmün­
Zusammenhang mit Sexualität für unsere Pa­                 digung sowie Vertrauen auf Ressourcen der
290                  IV   Therapie: Behandlung der pathologischen Sexualität von Borderline-Patienten

Patienten und deren Selbstverantwortlichkeit«.            nur wirklich lebendig gewirkt, wenn er nüchtern
Zunächst ermutigen wir die Patienten, zu ver-             und dann aber auch aggressiv gewesen sei. Die
suchen, ihre Probleme miteinander selbst zu               Mutter sei ihm dann aus dem Weg gegangen und
klären. Letztlich entscheiden wir uns bei einem           habe die Pa­tien­tin mit dem Vater allein gelassen.
Misslingen dieses Klärungsversuches zumeist               Dies habe dazu geführt, dass die Pa­tien­tin mit zu-
für ein (manchmal auch zu spätes) Einschrei-              nehmendem Alter vermehrt anfing, den Vater durch
ten in der Annahme, dass unsere Patienten fast            auffällige Kleidung zu provozieren. Sie habe einen
alles besser können als auf sich selbst zu achten         aggressiven, dafür aber lebendigen Vater einem
und eigene Bedürfnisse zu respektieren.                   depressiven vorgezogen. Schon früh habe sie Angst
                                                          gehabt, nach Hause zu kommen, wenn sie wusste,
                                                          dass die Mutter nicht da war. In der Kindheit bis in
Einzelpsychotherapie                                      die Pubertätszeit habe sie von ihrem Vater intensive
                                                          Gute-Nacht-Küsse bekommen, die sie aber für
­(stationär und ambulant)                                 übertrieben gehalten habe. Bei jeder Begrüßung
                                                          habe er sie fest an sich gedrückt, so dass sie sein
Sexualität als Abwehr von Intimität
                                                          Genitale gespürt habe. Sie habe jedoch Angst ge-
                                                          habt, diesen unglücklichen Vater zurückzuweisen.
  Fallbeispiel
                                                          In der Pubertätszeit habe er sie vermehrt ins Ehe-
  Eine Pa­tien­tin kommt in Therapie, da sie so etwas     bett der Eltern geholt, wenn die Mutter nicht zu
  wie mit ihrem letzten Freund nicht noch einmal          Hause gewesen sei, und sie liebkost. Sie habe wie
  erleben wolle. Der Freund war um Jahre älter, sehr      tot dagelegen und nicht gewagt, sich zu wehren.
  intelligent, in gehobener, angesehener Position und     Das Verhältnis zur Mutter sei von früher Kindheit
  verheiratet. Außerdem war er alkoholabhängig. Sie       an sehr schwierig gewesen. Die Mutter sei auf die
  habe alles machen sollen, was er von ihr verlangt       Pa­tien­tin sehr eifersüchtig gewesen und habe sie
  habe, v. a. auch im Bereich der Sexualität. So habe     immer wieder wegen ihres verführerischen Ausse-
  sie Reizwäsche tragen und ihren Partner oral befrie-    hens kritisiert. Die Männerbeziehungen der Pa­tien­
  digen sollen, ohne dass es jedoch zum vaginalen         tin in der Jugend und im frühen Erwachsenenalter
  Geschlechtsverkehr gekommen sei. Die Pa­tien­tin        seien von beiden Eltern kritisiert worden. Das habe
  selbst hatte eine gute berufliche Position, habe aber   dazu geführt, dass die Pa­tien­tin sich relativ schnell
  ihren Beruf aufgeben sollen, um sich ganz um die-       auf sexuelle Kontakte zu einem Mann eingelassen
  sen Mann zu kümmern, wenn er es wünschte. Die           habe, nach kurzer Zeit sei sie dann aber immer un-
  Pa­tien­tin sei zunächst stolz gewesen, einen so be-    sicher gewesen, ob er denn der Richtige für sie sei,
  deutsamen Partner zu haben. Sei sie in den ersten       und sie habe sich wieder getrennt.
  Wochen noch ganz froh darüber gewesen, dass der         So hätte sie zwar schon sexuelle Erfahrungen mit
  Partner verheiratet war und auch nicht den Wunsch       vielen Sexualpartnern gehabt; sie leide aber darun-
  geäußert habe, mit ihr zusammenzuziehen, so habe        ter, dass es ihr bisher nicht gelungen sei, eine länger
  sie dies nach einer gewissen Zeit in eine tiefe De-     dauernde Beziehung einzugehen. Wenn sie einen
  pression gestürzt; sie habe Tage im Bett allein ver-    Mann neu kennenlerne und dieser sexuelles Inter-
  bracht und keinen Ausweg aus ihrer Situation mehr       esse zeige, habe sie das Gefühl, sie dürfe seine
  gesehen.                                                Wünsche nach sexuellem Kontakt nicht abschlagen,
  Die Beziehung zum Vater in der Kindheit sei einer-      da der Mann sich dann gleich von ihr abwenden
  seits durch liebevolle und zärtliche Zuneigung, aber    würde, oder wie ihr Vater mit depressivem Rückzug
  auch durch unkontrollierte, unvorhersehbare Wut-        reagieren könnte.
  ausbrüche gekennzeichnet gewesen. Der Vater
  habe oft unter Alkoholeinfluss gestanden, sei häu-
  fig deprimiert gewesen und habe auf die Pa­tien­tin
29   Sexualität und Beziehungen in der psychodynamischen Psychotherapie                         291

Dieses Beispiel soll demonstrieren, dass es ge-    »Täter-Vater«) eine enge Beziehung entstehen
rade Personen, die sexuelle Übergriffe erlebt      kann (selbst eine traumatisierende Beziehung
haben, oft schwer fällt, erneute Grenzüber-        ist eine Beziehung), während eine Beziehung
schreitungen zu erkennen und sich davor zu         zur wegschauenden Mutter (oft genug eine
schützen. Dabei können die Übergriffe durch-       Mittäterin [s. Dulz u. Jensen 2000]) nicht erlebt
aus in einer subtilen sexualisierten Interaktion   werden konnte.
entstehen und müssen sich nicht immer in ab-       In einer gut laufenden Beziehung findet Se­
gegrenzten Missbrauchshandlungen äußern.           xualität oft statt, ohne dass darüber geredet
                                                   wird. Wenn daher ein Pa­tient berichtet, dass in
                                                   seiner Familie über Sexualität nicht gesprochen
Sprechen über Sexualität und                       wurde, muss das nicht unbedingt heißen, dass
sexuelle Handlungen                                ein der Sexualität gegenüber aversives Klima
                                                   herrschte, sondern es kann durchaus sein, dass
Borderline-Pa­tien­tinnen und -Patienten be-       es einen liebevollen Umgang mit Sexualität ge-
richten häufig darüber, dass entweder in ihrer     geben hat.
Familie Sexualität ausgelebt wurde, ohne dass
darüber geredet wurde; es gibt aber auch Pa­
tienten, die in Familien aufgewachsen sind, in     »Asexuelle« oder
denen übertrieben viel über Sexualität, meist in   »jungfräuliche« Pa­tien­tinnen,
abfälliger Weise, gesprochen wurde. Nicht sel-     ­Patienten »ohne Sexualität«
ten findet man in diesen Biographien keine
Handlungen, die man als sexuelle Übergriffe        Angaben, bisher weder masturbatorische noch
bezeichnen könnte, und dennoch muss man            partnerschaftliche Sexualität erlebt zu haben,
von einem sexuell emotionalen und verbalen         findet man – bis auf die wenigen Ausnahmen,
Missbrauch sprechen.                               bei denen dies organisch bedingt ist (z. B. durch
In der Behandlung von Personen mit einer           eine Hormonstörung) – nur bei in der Kindheit
Borderline-Störung spielt das gestörte Verhält-    stark vernachlässigten und misshandelten Pa­
nis des Sprechens über Sexualität zu sexuellen     tien­tinnen und noch seltener bei Patienten (vgl.
Handlungen oft insofern eine Rolle, als die feh-   Kap. 4, S. 42). Häufig kann man dies bei Perso-
lende Sprache bei den Patienten dazu führt,        nen beobachten, die in Sekten oder bestimm-
dass das Ansprechen von sexuellen Themen,          ten Religionsgemeinschaften aufgewachsen
v. a. wenn es sich um weibliche Patienten und      sind. Sie haben in der Erziehung vermittelt be-
männliche Therapeuten handelt, als Interesse       kommen, dass Sexualität etwas Schlechtes sei
an sexuellen Handlungen verstanden wird. Es        und, wenn überhaupt, nur in der Ehe erlaubt
gilt dann, dieses Missverständnis anzuspre-        sei. Gleichzeitig berichten diese Patienten aber
chen, dem Patienten die Angst zu nehmen und        von sexuellen Übergriffen durch enge Fami­
ihm zu zeigen, dass Reden über Sexualität auch     lienangehörige. Nach außen wird in einem
möglich ist, ohne sexuelle Erregung und se­        ­solchen Umfeld also das Bild einer streng
xuelles Interesse zu erleben und auszulösen.        die religiösen Gebote einhaltenden Familie de-
Ebenso relevant für die Bearbeitung sexueller       monstriert, nach innen finden hingegen Ge-
Probleme kann aber auch jene Erfahrung sein,        botsüberschreitungen statt, die nicht in Frage
dass eine vom Vater sexuell missbrauchte Pa­        gestellt werden. Patienten mit derartigen Bio-
tien­tin zu einem männlichen Therapeuten            graphien können meist nur nach langen The-
leichter eine tragfähige therapeutische Bezie-      rapien, in denen diese Gebots- und Tabuwelt in
hung aufbauen kann – schließlich hat sie die        der Übertragung bearbeitet wird, zu einer be-
Erfahrung gemacht, dass zu einem Mann (dem          friedigenden Sexualität kommen. Sie sind aber
292                IV   Therapie: Behandlung der pathologischen Sexualität von Borderline-Patienten

auch besonders gefährdet, auf Therapeuten zu        oder sei es, dass sie diese sogar »stalken« (in
stoßen, die meinen, die Patienten – im Extrem-      letzterem Falle ist die Prognose allerdings we-
fall sogar durch sexuelle Erfahrungen in der        nig günstig). Insofern stellt das Sich-in-den-
Therapie – »retten« zu können oder die solche       Therapeuten-Verlieben bzw. das entsprechende
Patienten aus narzisstischen Gründen in Be-         Ausagieren wie so vieles andere auch eine
handlung nehmen.                                    Reinszenierung von verinnerlichten und oft
                                                    real sich bereits mehrfach wiederholt habenden
                                                    »dysfunktionalen« Beziehungsmustern dar.
Verlieben in der ambulanten                         Eine Liebesbeziehung bzw. eine Affäre zwi-
oder stationären Therapie                           schen zwei Patienten und die dabei entstehen-
                                                    den Dynamiken und Dramen können nicht
Wenn Patienten sich im Verlauf der Therapie in      nur im ungünstigen Falle der destruktiven Ent-
den Therapeuten verlieben, kann hier eine           gleisung, sondern auch bei konstruktiver Bear-
Chance bestehen, dass »frühe« Liebessehnsüchte      beitung so viel Zeit und Kraft in Anspruch
und Verschmelzungswünsche zunehmend Raum            nehmen, dass andere wichtige Themen thera-
bekommen. Diese können somit bearbeitet wer-        peutisch kaum noch bearbeitet werden können
den, ohne dass für die Patienten die Gefahr be-     und andere Beziehungen im Therapieraum der
steht, in irgendeiner Weise missbraucht zu wer-     Borderline-Station sowie Probleme im sozialen
den. Genau dies ist den Patienten aber in ihrer     Außenfeld völlig an den Rand geraten. Insofern
früheren Lebensgeschichte häufig passiert, sei es   sollte sich hier auch die Frage stellen, ob sich
durch eine narzisstische Symbiose oder durch        der Pa­tient in einen rauschartigen Verliebt-
einen sexuellen Missbrauch in einer Abhängig-       heitszustand versetzt, um der Bearbeitung un-
keitsbeziehung etwa von einem Elternteil.           bequemer Themen zu entgehen (Schaffung
Gleichwohl liegt die Schwierigkeit meistens da-     eines »Nebenkriegsschauplatzes«), oder ob es
rin, dass Ich-strukturell gestörte Patienten mit    sich hier um ein Vermeidungsverhalten oder
einer therapeutischer Arbeit an einer »Liebes-      um einen unbewussten Widerstand handelt.
übertragung« und dem dazugehörigen Verzicht
häufig überfordert sind, und dass es ihnen im
Zuge der entstehenden Dynamik manchmal              Literatur
nicht gelingt, ausreichend zwischen Realbezie-      Dulz B (2004). Zum Umgang mit Sexualität und Lie-
hung und therapeutischer Beziehung bzw.               besbeziehungen im klinischen Alltag. Persönlich-
Übertragungsbeziehung zu unterscheiden bzw.           keitsstörungen; 8: 43 – 48.
diesen Unterschied anzuerkennen. Die Nicht-         Dulz B, Jensen M (2000). Aspekte einer Traumaätio-
erfüllung ihrer Liebeswünsche kann dann stets         logie der Borderline-Persönlichkeitsstörung: psy-
aufs Neue als schmerzliche Zurückweisung              choanalytisch-psychodynamische Überlegungen
ganz real erlebt werden; nicht selten werden die      und empirische Daten. In: Handbuch der Border-
in Folge auftretenden Gefühle wie Schmerz,            line-Störungen. Kernberg OF, Dulz B, Sachsse U
Kummer, Verzweiflung, Wut und Scham mit               (Hrsg.). Stuttgart: Schattauer; 167 – 193.
                                                    Dulz B, Ramb C (2009). Beziehungszentrierte Psycho-
Borderline-typischen Bewältigungsmustern
                                                      dynamische Psychotherapie. In: Stationäre Psycho-
wie selbstverletzendem Verhalten, »ersatzob-
                                                      therapie der Borderline-Störungen. Fabian E, Mar-
jektalen« Substanzmittelmissbrauch oder para-         tius P, Dulz B (Hrsg.). Stuttgart: Schattauer;
suizidalen Handlungen bekämpft.                       35 – 49.
Zumeist handelt es sich hierbei um Patienten,       Dulz B, Schneider A (2001). Borderline-Störungen:
die sich auch in ihrem sozialen Außenfeld in          Theorie und Therapie. Stuttgart: Schattauer.
irgendeiner Weise in »unmögliche« Partner           Winnicott DW (1965). Reifungsprozesse und för-
verlieben, sei es, dass diese unerreichbar sind,      dernde Umwelt. Frankfurt a. M.: Fischer.
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