50 Jahre getrennt - Norient

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50 Jahre getrennt - Norient
50 Jahre getrennt | norient.com                                26 Jul 2022 19:34:19

    50 Jahre getrennt
    by Thomas Burkhalter

    Im Film El Gusto erzählen muslimische und jüdische Musiker
    nostalgisch von ihrer Liebe zur algerischen Chaabi-Musik. In
    den 1950er Jahren haben sie diese Musik gespielt, zunächst
    in den Cafés, Friseurläden und Bordellen, schliesslich im
    Opernhaus von Algier. Nach der Unabhängigkeit Algeriens
    allerdings haben sich die Musiker aus den Augen verloren. Sie
    sind entweder nach Frankreich migriert, wurden in Algerien
    ins Gefängnis geworfen oder zwangsumgesiedelt. Ein
    nostalgischer Film der Filmemacherin Safinez Bousbia über
    Freundschaft und die grosse Kraft der Musik.

              Ich habe meine Gesundheit geopfert für dieses Land, für
              diese Musik. Und was bekomme ich als Dank? Wenigstens
              einer könnte sich an mich erinnern und fragen, «was ist
              mit diesem Sänger passiert, wir sehen ihn nicht mehr?»
              Wenn ich tot bin, werden sie zusammentreffen und mich
              würdigen. Ich will aber keine Würdigung. Wenn schon,
              dann jetzt, wenn ich noch lebe!

    Ahmed Bernaoui, Sänger

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50 Jahre getrennt | norient.com                                             26 Jul 2022 19:34:19

    «Wenn du von Algier redest, redest du automatisch von der Chaabi-Musik»
    erzählt der Musiker Ahmed Bernaoui im Film El Gusto: «Sie ist meine grosse
    Leidenschaft. Ich lebe für sie und durch sie.» Viele Hörerinnen und Hörer in
    Europa teilen seine Leidenschaft – und das nicht bloss seit Rachid Taha das
    Chaabi-Lied «Ya Rayah» als eingängigen Pop-Ohrwurm vertont hat. Chaabi
    verarbeitet städtische, ländliche und internationale Stile. Die Lieder beweisen,
    dass multi-kulturelle Musik viel Kraft und Charme entwickeln können, wenn
    sie über Jahre an einem Ort von Musikerinnen und Musikern gestaltet,
    gespielt und gelebt werden, in diesem Fall von jüdischen und muslimischen
    Musikern in der Kasbah (der Altstadt) von Algier in den 1950er Jahren.

    Klavierläufe und Darabuka-Trommeln

    Im Zentrum steht einer, der in El Gusto als Avantgardist bezeichnet wird: El
    Hajj Muhammad El Anka, ein charismatischer Sänger und Musiker. Chaabi
    galt als Musik der armen Leute und wurde in Cafés, Friseurläden,
    Hafenkneipen und Bordellen gespielt. El Anka aber sprach am
    Konservatorium vor und setzte durch, dass Chaabi in den Lehrplan
    aufgenommen wurde. Im Studium trafen sie sich dann auch alle, die Freunde
    aus dem Film El Gusto. Ihr Zusammenspiel gewann an Raffinesse. Alles fand
    mit immer grösserer Leichtigkeit zusammen: Perlende Klavierläufe, virtuose
    Darabuka- und Riqq-Trommeln, leicht ornamentierende Streicherpassagen,
    und dazu diese in Nostalgie getunkten Stimmen, in denen heute Alter und
    Lebensweisheit mitschwingen. Ad hoc gesellten sich auch mal ein Akkordeon
    hinzu, eine Klarinette, Gitarre, ein Banjo oder ein Cello. Alles schien möglich,
    in dieser eingängigen und doch so kunstvollen Musik.

    Von der Propaganda in die Verbannung

    Mit dem Unabhängigkeitskrieg Algeriens von 1954 bis 1962 veränderte sich
    die Situation drastisch. Anfänglich setzte die Nationale Befreiungsfront (NLF)
    Musik, darunter auch Chaabi-Musik, als Propaganda-Waffe ein, dann aber
    forderte der Krieg mit Frankreich seinen Tribut. Chaabi-Musik und ihre
    Musiker verschwanden aus dem Alltagsbild: Einige der Musiker kämpften im
    Krieg, migrierten in andere Stadtteile und Dörfer.

    Nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 ernannte Präsident Houari
    Boumedienne die andalusische Kunstmusik zur Nationalmusik. Sie sollte
    nationale Einheit und Einigkeit betonen und das kulturelle Potenzial des
    jungen Staates zeigen. Viele Chaabi-Musiker wurden – wie auch die Raï -
    Sänger in Oran – ins Gefängnis geworfen, gefoltert und geschlagen. Bars
    wurden geschlossen, Alkohol und Prostitution waren jetzt verboten.

    El Gusto – der Trailer

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50 Jahre getrennt | norient.com                                             26 Jul 2022 19:34:19

    Jüdischen Sängern legte man Nahe, besser mit dem Singen aufzuhören. Sie
    seien keine Araber, hiess es jetzt – obwohl sie dieselbe Sprache sprachen wie
    ihre muslimischen Freunde und dieselbe Alltagskultur lebten. Viele verliessen
    das Land: «Sie stellten uns vor die Entscheidung: entweder Koffer oder
    Sarg», erzählt ein Musiker.

    Die Musik verstummt – nicht für immer

    In Frankreich war es nicht einfacher. Hier wurden die Neuankömmlinge
    abschätzig als «Pieds Noirs» – als Schwarzfüssler – beschimpft. Selbst im
    mondänen Olympia Konzertsaal in Paris hörten die Diskriminierungen nicht
    auf: «Du dreckiger Pied Noir riefen sie mir zu», erinnert sich ein Musiker. Bald
    spielten die jüdischen Musiker keine Lieder aus ihrer Heimat mehr. Vergessen
    haben sie sie aber nicht.

    Diese Geschichte wurde der in Algerien geborenen Filmemacherin Safinez
    Bousbia zugetragen, von einem der Musikerfreunde. Sie kontaktierte seine
    alten Weggefährten in Frankreich und Algerien und lässt sie in El Gusto jetzt
    ihre Lebensgeschichten erzählen. Ihr Ziel: sie sollen sich nach fünfzig Jahren
    wieder treffen und gemeinsam musizieren – die Juden in Frankreich und die
    Muslime aus Algier. Denn, das wird im Film schnell klar: Sie alle schwelgen in
    Erinnerungen an die 1950er Jahre. Sie schwärmen von der Kasbah, der
    Altstadt von Algier, als kultureller und multi-religiöser Ort, in dem vor allem
    eine Musik spielte: Der Chaabi.

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50 Jahre getrennt | norient.com                                                  26 Jul 2022 19:34:19

    Algier, meine Liebe
    Stadt meiner Familie und Freunde
    Ich werde immer an deiner Seite leben
    Ich werde dich nie verlassen.
    Das Licht wird wieder aufsteigen
    Und wir werden glücklich und zufrieden leben, meine Liebe.
    Du schönste Stadt.

    → published on january 10, 2014

    → last updated on november 09, 2020

    Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist (PhD), AV-artist, and
    writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient, the Norient
    Space (Norient.com), and the founder and strategic director of the Norient Film
    Festival (NFF). He co-directed documentary films (e.g. «Contradict», Berner
    Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness) and AV/theatre/dance performances, is the
    author and co-editor of several books, teaches regularly at universities, and runs
    workshops for arts institutions. His experimental radio feature, «Gqom Edits – A
    Durban Visit», was nominated for Prix Europa in 2017. Currently, he is working on
    the debut album of his new duo Melodies in My Head, and on the experimental
    podcast series’ Timezones and South Asian Sound Stories with musicians from the
    UK, Bangladesh, India, and Pakistan.

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