Missverständnisse erwünscht

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Missverständnisse erwünscht
Missverständnisse erwünscht | norient.com                                  11 Oct 2021 12:32:13

    Missverständnisse erwünscht
    I N T E R V I E W by Theresa Beyer

    Cairo Liberation Front aus dem niederländischen Tilburg ist
    das erste westliche DJ-Kollektiv, das sich in seinen Live-
    Performances und Soundcloud-Mixes Electro Sha’abi aus
    Kairo einverleibt. Im Interview spricht Joost Heijthuijsen über
    seine Sha’abi-Faszination, sein Selbstverständnis als
    westlicher DJ und die Grenzen des Verstehens.
    [Theresa Beyer]: Joost, was ging dir bei deiner Initiation mit Electro Sha’abi
    durch den Kopf?

      [Joost Heijthuijsen]: Das war vor etwa anderthalb Jahren an einem Panel
      über die Zukunft des Musikjournalismus. John Doran vom Onlinemagazin
      The Quietus hatte da einen YouTube-Clip von Islam Chipsy gezeigt. Darin
      hat ein Typ Cluster auf dem Synthesizer abgefeuert, die ich so noch nie
      gehört hatte. Der Sound hatte eine Energie wie Aphex Twin in ihren besten
      Underground-Zeiten und war gemischt mit Sounds, die wir im Westen
      normalerweise hassen: Autotune-Effekte, billiger Euro-House, arabische
      Rhythmen. Alles war low-tech produziert, aber es kam so pur und intensiv
      daher, dass es mich neugierig gemacht hat.

    [TB]: Wie bist du dieser Neugier dann nachgegangen?

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      [JH]: Anhand der YouTube-Klicks konnte ich erahnen, wie populär Electro
      Sha’abi in Kairo ist. Aber da alles abseits der westlichen Musikindustrie
      stattfand, war auf Englisch einfach nichts darüber zu finden. Ich kämpfte
      mich also mit dem Google Translator zu einigen Blogs und Foren durch, auf
      denen die neusten Sha’abi-Tracks ausgetauscht werden. Und dann habe ich
      die Musiker über Facebook angeschrieben, wir haben uns angefreundet und
      wurden schon bald auf die Hochzeit von MC Sadat nach Kairo eingeladen.
      Da sah ich das alles zum ersten Mal live – unglaublich.

    [TB]: Aus den Sha’abi-Tracks, die du auf den ägyptischen Blogs und Foren
    flückst, macht ihr dann eigene Soundcloud-Mixes. Wie geht ihr dabei vor?

      [JH]: Wir laden fleissig herunter, publizieren alles neu, wir selektieren und
      bündeln. Yannick macht dann ein Mixtape, so etwas wie «Die besten Hits
      des letzten Monats» [lacht]. Und dann suchen wir nach Ähnlichkeiten und
      Anknüpfungspunkten mit anderen Tracks, die wir kennen und mixen wild
      drauflos. Jetzt arbeiten wir gerade an unserem ersten eigenen Sha’abi-
      Track, der im Frühjahr rauskommt. Und der Austausch ist auch gegenseitig:
      MC Sadat und MC Alaa 50 Cent waren bei uns in den Niederlanden und wir
      haben ein MashUp gemacht – holländische Texte und Sha’abi-Beats.

    [TB]: Du bist ein weisser Musiker aus den Niederlanden, der Electro Sha’abi
    nach Europa holt. Damit reisst du die Musik also aus dem Kontext: Sha’abi
    ist eine komplexe Musikkultur mit einem bestimmten Tanz, ihrem eigenen
    Style und ihrer Verwurzelung in Kairos Vororten und den Hochzeiten. Wie
    positioniert ihr euch dazu?

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      [JH]: Wir zeigen Respekt und zwar darüber, dass wir uns als Fans bekennen.
      Gleichzeitig wollen wir keine Puristen sein, denn verstehen werden wir die
      Electro-Sha’abi-Kultur sowieso nie – noch künstlichster wäre es wohl, wenn
      wir dieses Verständnis forcieren. Schon bei den Texten kommen wir mit
      Übersetzungen nicht sonderlich weit: es ist ein bestimmter Slang mit
      Anspielungen, die wir nicht entschlüsseln können. Aber sind dies Gründe,
      die Musik unberührt zu lassen? Ich kann doch trotzdem eine eigene Haltung
      dazu entwickeln und gerade auch die Missverständnisse für uns fruchtbar
      machen.

    [TB]: Wie sieht das genau aus?

      [JH]: Wir wollen nicht imitieren, sondern mutieren, etwas völlig anderes
      daraus machen. Bei unserem ersten Konzert in einem House-Club zogen wir
      arabische Kostüme an, machten eine verrückte Show mit Wasserpistolen,
      Wodka, Stage-Diving und Visuals.

    [TB]: Und die Mittelklasse-Club-Hipster tanzen dazu?

      [JH]: Ja, wieso denn nicht. Wir zeigen ihnen ja eine andere Seite Ägyptens:
      nicht die verklärten Revolutions-Bilder vom Tahir-Platz, sondern kreative
      Stimmen aus den armen Vierteln. Wir promoten Electro Sha’abi hier als
      echte Kunstform. Vielleicht führt diese westliche Aufmerksamkeit ja sogar
      dazu, dass die Electro-Sha’abi-Jungs dann auch in Kairo mehr Respekt
      bekommen.

    [TB]: Wie schätzt du das ein, können sie im internationalen Musikmarkt
    bestehen?

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      [JH]: Problematisch für den internationalen Markt ist natürlich die Gratis-
      Mentalität in der Sha’abi-Kultur. Die Tracks online sind nur die Flyer – Geld
      gibt es für die Auftritte. Wenn westliche DJs die Tracks spielen wollen, dann
      brauchen sie bessere Qualität als nur umgewandelten YouTube-Mp3s. Wir
      erklären jetzt MC Sadat z.B. wie Spotify funktioniert, damit er seine Tracks
      verkaufen kann. Und er seinerseits ist dabei Englisch zu lernen.

    [TB]: Was wird mit Electro Sha’abi passieren, wenn jetzt noch Hunderte von
    Bands wie Cairo Liberation Front dazu kommen?

      [JH]: Es gibt drei Szenarien: Das erste wäre, dass Electro Sha’abi zu einer
      individuellen, unabhängigen künstlerischen Praxis wird, die mehr ist als ein
      Hype. Die Musiker aus Kairo haben die Verbreitung selbst in der Hand und
      verdienen damit Geld. Das zweite Szenario ist, dass Electro Sha’abi in der
      arabischen Welt bleibt und gar nicht erst zu uns überschwappt. Und das
      dritte Szenario ist, dass DJs wie Diplo nach Kairo reisen, die Musik für den
      neusten Schrei erklären, Copyrights stehlen und damit noch reicher
      werden. Ich hoffe natürlich auf das erste Szenario.

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    → Published on January 08, 2014

    → Last updated on August 21, 2020

    Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des
    Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von
    Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen,
    experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in
    Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-
    Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

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    Norient Musikfilm Festival NMFF 5 (2014)
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