Anwendung von Zwang in der Intensivmedizin - Universität ...

 
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 Year: 2021

                    Anwendung von Zwang in der Intensivmedizin

                                Jöbges, Susanne ; Biller-Andorno, Nikola

Abstract: Zwangsbehandlungen in der Medizin umfassen Maßnahmen, die gegen eine aktuelle oder
frühere Willensäußerung der betroffenen Person durchgeführt werden. Hierunter fällt auch die Über-
windung manifestierter Widerstände z. B. bei nicht einwilligungsfähigen Patienten. Zwang gibt es nicht
nur in der Psychiatrie, sondern kann auch auf der Intensivstation ausgeübt werden. Im Spannungsfeld
zwischen intensivmedizinischer Behandlung, Fürsorge und Patientenwille besteht ein hohes Risiko für
Zwangsbehandlungen sowie freiheitseinschränkende Maßnahmen. Häufig ist dem Team dieses moralis-
che Spannungsfeld nur zum Teil bewusst. Vom Patienten wird Zwang als Kontrollverlust beschrieben
und kann als traumatisierend, entwürdigend und stressauslösend wahrgenommen werden. Die Heraus-
forderung für das Team einer hochspezialisierten Intensivstation besteht darin, den Patienten in seiner
Individualität zu sehen und so weit wie möglich einzubinden. Um Zwang auf Intensivstation zu vermei-
den und dem individuellen Patienten gerecht zu werden, muss die Problematik zuallererst wahrgenommen
werden. Hilfreich zur Vermeidung von Zwang auf einer Intensivstation können Ausbildungskonzepte, eine
ethische Reflexion im Team (Teamkultur), Supervision und psychologische Begleitung für Patienten und
das Team sowie klinikinternen Standards sein. Diese Arbeit beschreibt Ursachen, verschiedene Formen
und Häufigkeiten von Zwangsbehandlungen auf der Intensivstation sowie juristische Vorgaben. Es wird
eine Annäherung versucht, welche intensivmedizinischen Maßnahmen mit der Ausübung von Zwang ein-
hergehen können und wie Zwang von Patienten und dem Team wahrgenommen wird.

DOI: https://doi.org/10.1007/s00063-021-00800-9

Other titles: Use of coercive measures in the intensive care unit

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich
ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-201648
Journal Article
Published Version

The following work is licensed under a Creative Commons: Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)
License.

Originally published at:
Jöbges, Susanne; Biller-Andorno, Nikola (2021). Anwendung von Zwang in der Intensivmedizin. Medi-
zinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin, 116(3):205-209.
DOI: https://doi.org/10.1007/s00063-021-00800-9
Medizinische Klinik
  Intensivmedizin und Notfallmedizin

 Leitthema

Med Klin Intensivmed Notfmed                 S. Jöbges · N. Biller-Andorno
https://doi.org/10.1007/s00063-021-00800-9   Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME), Universität Zürich, Zürich, Schweiz
Eingegangen: 12. November 2020
Angenommen: 7. Februar 2021

© Der/die Autor(en) 2021                     Anwendung von Zwang in der
Redaktion
U. Janssens, Eschweiler                      Intensivmedizin

Hintergrund                                  Juristische Vorgaben in                                  Maßnahme zur Verfügung“ stehen
                                             Deutschland                                              und
Oft wird bei dem Thema Ausübung von                                                                 4 dass der „zu erwartende Nutzen
Zwang in der Medizin zunächst an die         Die Freiheit von äußerlichem Zwang als                   der ärztlichen freiheitsbeschränken-
Psychiatrie gedacht. Dort setzt man sich     einem Menschenrecht findet ihre Ent-                      den Maßnahme die zu erwartenden
seit längerem u. a. in Form von Richt-       sprechung im Grundgesetz Art. 2 Abs. 2,                  Beeinträchtigungen deutlich über-
linien und empirischen Studien mit der       Satz 2, in dem konstatiert wird: „(2) Je-                wiegt“. „Die Einwilligung in die
Thematik auseinander [1, 2]. Eine Gefahr     der hat das Recht auf Leben und kör-                     ärztliche freiheitsbeschränkende
besteht darin, dass Zwang im Bereich der     perliche Unversehrtheit. Die Freiheit der                Maßnahme bedarf der Genehmigung
Intensivmedizin häufig nicht als solcher      Person ist unverletzlich. In diese Rechte                des Betreuungsgerichts.“ [6].
wahrgenommen wird und damit einer            darf nur auf Grund eines Gesetzes einge-
kritischen Reflexion unzugänglich bleibt.     griffen werden.“ [3]. Weiterhin, legt das               Herausforderung
Zugleich wird auch in der Intensivme-        GrundgesetzArt. 104 fest, dass Menschen                Intensivstation
dizin der Respekt vor der Patientenau-       „weder seelisch noch körperlich miss-
tonomie durchaus hoch gewichtet und          handelt werden“ dürfen sowie dass eine                 Intensivmedizinische Therapien mit Ein-
versucht, die Vorstellungen nichturteils-    richterliche Anordnung über „die Zuläs-                satz von invasiven und intensiven Be-
fähiger Patienten soweit wie möglich in      sigkeit und Fortdauer einer Freiheitsent-              handlungsverfahren kommen bei lebens-
die Behandlung einzubeziehen.                ziehung“ notwendig ist [4]. Speziell für               bedrohlichen Erkrankungen mit Organ-
                                             die Anwendung von körperlicher Fixie-                  versagen oder -dysfunktion zum Ein-
Bedeutung des Begriffs Zwang                 rung eines Patienten hat das Bundesver-                satz. Häufig entwickeln Patienten bedingt
                                             fassungsgericht im Jahr 2018 entschie-                 durch die schwere Erkrankung, die inten-
Der Begriff „Zwang“ (mittelhochdeutsch        den: „Die Fixierung eines Patienten stellt             sivmedizinischen Maßnahmen und me-
wanc, dwanc, twanc) umfasst verschie-        einen Eingriff in dessen Grundrecht auf                 dikamentösen Therapien ein Delir, auch
dene Bedeutungen: Zwang als Beschrän-        Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in           in Kombination mit Aggressivität, das
kung oder Beeinflussung des freien Wil-       Verbindung mit Art. 104 GG) dar.“ [5].                 einen erheblichen Einfluss auf den aku-
lens wird unterschieden vom inneren          Für eine allgemeine stationäre Versor-                 ten und langfristigen Krankheitsverlauf
Zwang, vom juristischen Zwang sowie          gung legt § 1906a, Bürgerliches Gesetz-                haben kann [7, 8]. Patienten beschreiben
von Zwangsstörungen im Sinne einer           buch (BGB), Kriterien für eine Einwil-                 das Durchführen schmerzhafter Proze-
psychischen Erkrankung.                      ligung in freiheitsbeschränkenden Maß-                 duren, das Umgeben sein von Appara-
   Die hier beschriebene Problematik         nahmen durch einen Betreuer fest [6].                  ten und Lärm und Schlafmangel in einer
betrifft Zwang als Überwindung des           Hierzu gehören                                         Vermischung von Realität und Fiktion
freien Willens bzw. die Überwindung          4 das „Patientenwohl“;                                 [9, 10]. In diesem Kontext einer ein-
des „natürlichen Willens“ einer Person       4 eine „fehlende Einsichtsfähigkeit des                geschränkten Fähigkeit zur autonomen
im Rahmen einer intensivmedizinischen           Patienten“;                                         Entscheidung werden Maßnahmen als
Behandlung. Unter „natürlichem Wil-          4 der nach „§ 1901a zu beachtenden                     Zwang gewertet, wenn sie den natürli-
len“ werden Willensäußerungen von               Wille des Betreuten“;                               chen Willen eines Menschen überwinden
nichteinwilligungsfähigen    Menschen        4 ein „Versuch einer ernsthaften Über-                 [11].
verstanden [1]. Diese Äußerungen in             zeugung in die Notwendigkeit der                       Um dem Patienten in der für ihn kri-
Therapiekonzepte einzubinden, erfor-            ärztlichen Maßnahmen“;                              senhaften Situation der Erkrankung und
dert ein hohes Maß an Fürsorge.              4 der Umstand, dass keine Alternativen                 der ggf. resultierenden Urteils- und Ein-
                                                bzw. „keine weniger belastende                      willigungsunfähigkeit gerecht zu werden,
                                                                                                    sind Stellvertreterlösungen etabliert [6].

                                                                                        Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
Leitthema

Tab. 1 Maßnahmen und möglicher Zwang auf der Intensivstation                                      auf der Intensivstation, geben diese auch
Zwang als Überwindung des Maßnahmen           Mögliche Manifestation auf der Inten-               Einschränkungen der individuelle Frei-
Willens                                       sivstation                                          heit durch Umgebung und Monitoring
Direkte oder unmittelbare Ein-    „Physical re-     Jede Form von Fixierung und bewegungsein-     an [19]. Diese Einschränkung wird auch
flussnahme                        straint“ und      schränkenden Maßnahmen                        als „environmental restraint“ beschrie-
                                  „Chemical re-     Therapien (Physiotherapie, Mobilisation)
                                                                                                  ben [18].
                                  straint“          Medikamentöse Ruhigstellung
Mittelbarer Zwang durch Um-       „Environmental    Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch
gebung mit Einschränkung der      restraint“        Monitoring/Geräte                             Merke. Medikamentöse freiheitsbe-
Bewegung                                            Umgebung (Lärm, Licht, Präsenz und Interak-   schränkende Maßnahmen (= „chemical
                                                    tion)                                         restraints“) sind Medikamente, die mit
Faktoren, die zu einem Gefühl     „Psychological    Abhängigkeit, Schmerzen, Angst                dem Ziel eingesetzt werden, den Pa-
des Ausgeliefertseins füh-        restraint“        Endpersonalisierter Umgang                    tienten ruhigzustellen, oder ihn daran
ren können (erlebte Zwangs-                         Mangelnde Kommunikation                       hindern, sich fortzubewegen. Somit sind
situation)                                          Indirekte – direkte Drohung
                                                                                                  diese Maßnahmen genehmigungspflich-
                                                                                                  tige freiheitsentziehende Maßnahmen
Ursachen für Zwanganwendung                        Merke. Körperliche freiheitsbeschrän-          [1, 2].
                                                   kende Maßnahmen und Prozeduren                    Für eine Einordnung einer Medi-
„Zwang anzuwenden bedeutet, eine                   (= „physical restraints“), die die freie       kamentengabe als freiheitsentziehende
Maßnahme durchzuführen, obwohl die                 Bewegung des Körpers durch Fixierun-           Maßnahme ist die Indikation, also der
davon betroffene Person durch Wil-                  gen oder angrenzend einschränkende             Zweck der Medikamentengabe, entschei-
lensäußerung oder Widerstand kundtut               Maßnahmen einschränken [15], können            dend. So ist der Einsatz von Medika-
oder früher kundgetan hat, dass sie damit          neben einer Fixierung durch Gurte auch         menten im Rahmen eines Heilzwecks,
nicht einverstanden ist“ [11].                     Bettgitter, umgebendes Monitoring oder         wie z. B. im Rahmen einer Behand-
                                                   strukturelle Abläufe sowie abgeschlos-         lung eines Delirs auf der Intensivstation,

»einesDenMenschen
           natürlichen Willen
                    überwindende
                                                   sene Räumlichkeiten, denen der Patient
                                                   sich nicht entziehen kann, umfassen.
                                                                                                  anders zu bewerten, als die medikamen-
                                                                                                  töse Ruhigstellung eines „nervenden“
                                                      Die in 34 europäischen Ländern              Patienten. Auch die S3-Leitlinie Anal-
Maßnahmen werden als Zwang                         durchgeführte PRICE-Studie zeigte ei-          gesie, Sedierung und Delirmanagement
gewertet                                           ne Anwendung von medikamentösen                in der Intensivmedizin empfiehlt, un-
                                                   oder mechanischen Fixierungen auf In-          nötige Sedierungen zu vermeiden, da
                                                   tensivstationen bei im Mittel 33 % der         sich der Behandlungserfolg hierdurch
Im Rahmen einer intensivmedizinischen              Patienten. Auffallend sind hier die gro-        verschlechtert [8].
Behandlung gibt es Situationen, in denen           ßen innereuropäischen Unterschiede.
Zwang z. B. durch Medikamentengabe                 So wurde z. B. in Großbritannien und           Merke. Weniger offensichtlich als kör-
oder Fixierung notwendig erscheint.                Portugal kein Patient fixiert. Demge-           perliche oder medikamentöse Freiheits-
Freiheitseinschränkende Maßnahmen                  genüber waren in Italien alle beatmeten        einschränkungen sind psychologische
werden oft mit der Intention eingesetzt,           Patienten fixiert [16]. Fixierungen von         freiheitseinschränkende Maßnahmen
den deliranten, agitierten Patienten zu            76 % der beatmeten Patienten sind in           (= „psychological restraints“). Hierzu
schützen [7]. Solche freiheitseinschrän-           einer Studie aus Kanada beschrieben            zählen Maßnahmen mit psychischer
kenden Maßnahmen erreichen ihr Ziel,               [13]. Eine allgemeine Übersicht über           Einflussnahme, wie Drohungen, Fehl-
den Patienten zu schützen, häufig nicht.            fixierende Maßnahmen in Deutschland             oder Falschinformationen und Manipu-
Im Gegenteil, in Studien hat sich ge-              ergab bei 11,8 % der Patienten (inklusive      lation [1, 2, 11], die eine Vorenthaltung
zeigt, dass fixierende Maßnahmen zu                 Intensivstation) freiheitseinschränkende       von Privilegien und Aktivitäten beinhal-
vermehrten Extubationen durch Patien-              fixierende Maßnahmen [17].                      ten [18].
ten sowie zu einem erhöhten Bedarf an                 Ins Augenmerk genommen werden                   Die Einschränkung der individuellen
sedierenden Medikamenten führen [12,               solltenauchMaßnahmen, die unter„phy-           Freiheit der eigenen Lebensgestaltung
13]. Ebenso sind Todesfälle im Rahmen              sical psychological restraint“ – sich einer    als einer der bedeutendsten Werte der
nicht korrekt angewandter Fixierungen              Situation nicht entziehen können und           westlichen Zivilisation im Rahmen einer
beschrieben [14].                                  dem Team ausgeliefert sein – gefasst wer-      intensivmedizinischen Behandlung wird
   Beschränkung von Freiheitsrechten               den [18]. Zwang ist nicht immer gleich-        von vielen Patienten als unangenehm
auf Intensivstation kann in vielfälti-             zusetzen mit Gewalt. Auch mittelbare           beschrieben [20, 21]. Das Gefühl der
ger Form entstehen. In . Tab. 1 sind               Gewalt, wie verschlossene Türen, Ein-          Hilflosigkeit, der Verletzlichkeit und des
zwangerzeugende Maßnahmen zusam-                   schränkung der Bewegungsfreiheit und           Ausgeliefertseins bestimmt die eigene
mengefasst.                                        Monitoring, können vom Patienten als           Wahrnehmung und wird als Kontroll-
                                                   Zwang wahrgenommen werden. Befragt             verlust thematisiert [22]. So berichten
                                                   man Patienten über ihre Erfahrungen            Patienten, dass die Einschränkung und

 Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
Zusammenfassung · Abstract

Unfähigkeit, grundlegende Aktivitäten        Med Klin Intensivmed Notfmed        https://doi.org/10.1007/s00063-021-00800-9
selbst auszuführen, das Gefühl auslöste      © Der/die Autor(en) 2021
„no longer a civilized being“ zu sein
[23]. Das Erleiden von Schmerzen mit         S. Jöbges · N. Biller-Andorno
dem Gefühl der Hilflosigkeit und Ver-         Anwendung von Zwang in der Intensivmedizin
letzung der körperlichen Integrität kann
in einer unzureichenden Wahrnehmung          Zusammenfassung
und Kommunikation durch das Team             Zwangsbehandlungen in der Medizin                   Um Zwang auf Intensivstation zu vermeiden
                                             umfassen Maßnahmen, die gegen eine                  und dem individuellen Patienten gerecht zu
begründet sein [19, 24]. Ebenso kann das
                                             aktuelle oder frühere Willensäußerung der           werden, muss die Problematik zuallererst
Gefühl, nicht ernst genommen zu wer-         betroffenen Person durchgeführt werden.             wahrgenommen werden. Hilfreich zur Ver-
den, eine aggressive Kommunikation mit       Hierunter fällt auch die Überwindung                meidung von Zwang auf einer Intensivstation
indirekten oder direkten Androhungen         manifestierter Widerstände z. B. bei nicht          können Ausbildungskonzepte, eine ethische
oder das Nichtdurchführen von Maß-           einwilligungsfähigen Patienten. Zwang               Reflexion im Team (Teamkultur), Supervision
                                             gibt es nicht nur in der Psychiatrie, sondern       und psychologische Begleitung für Patienten
nahmen Patienten in Angst versetzen
                                             kann auch auf der Intensivstation ausgeübt          und das Team sowie klinikinternen Standards
[21, 25].                                    werden. Im Spannungsfeld zwischen                   sein. Diese Arbeit beschreibt Ursachen,
                                             intensivmedizinischer Behandlung, Fürsorge          verschiedene Formen und Häufigkeiten
Stresssituation für den                      und Patientenwille besteht ein hohes Risiko         von Zwangsbehandlungen auf der Inten-
                                             für Zwangsbehandlungen sowie freiheits-             sivstation sowie juristische Vorgaben. Es
Patienten                                                                                        wird eine Annäherung versucht, welche
                                             einschränkende Maßnahmen. Häufig ist
                                             dem Team dieses moralische Spannungsfeld            intensivmedizinischen Maßnahmen mit der
In Verbindung mit freiheitseinschrän-        nur zum Teil bewusst. Vom Patienten wird            Ausübung von Zwang einhergehen können
kenden Maßnahmen werden in der               Zwang als Kontrollverlust beschrieben und           und wie Zwang von Patienten und dem Team
Psychiatrie Trauma und Retraumatisie-        kann als traumatisierend, entwürdigend und          wahrgenommen wird.
rung, Stress, Angst, das Gefühl, ignoriert   stressauslösend wahrgenommen werden.
                                             Die Herausforderung für das Team einer              Schlüsselwörter
zu werden, Kontrollverlust und Dehu-
                                             hochspezialisierten Intensivstation besteht         Persönliche Autonomie · Freiheit · Entschei-
manisierung beschrieben [26]. Ähnliche       darin, den Patienten in seiner Individualität zu    dungsfindung · Klinische Ethik · Rechtliche
Wahrnehmungen werden von Patienten           sehen und so weit wie möglich einzubinden.          Aspekte
nach intensivmedizinischem Aufent-
halt geschildert. So können freiheits-
einschränkende Maßnahmen ein Bau-            Use of coercive measures in the intensive care unit
stein im Potpourri von Ursachen und
Wirkungen der Kurz- und Langzeit-            Abstract
                                             Coercive treatment in medicine includes             specialized medical care. In order to avoid
folgen einer intensivmedizinischen Be-                                                           coersion in the ICU and to do justice to the
                                             measures taken against a current or
handlung und eines „post-intensive care      previous expression of the will of the person       individual patient, the focus must shift to
syndrome“ (PICS) sein [8]. Patienten in      concerned. It can include overcoming                building awareness. Models that have been
der Ausnahmesituation „Intensivstation“      manifested resistance, especially in patients       shown to improve awareness such as the
sind von guter Kommunikation abhän-          who no longer have the capacity to consent.         ethical reflection within the team, supervision
                                             Even though coercive measurements are               and psychological support for patients and
gig. Wenn Patienten sich mangelhaft                                                              internal hospital standards have also been
                                             common in psychiatry, they are also used
oder falsch informiert fühlen, kann der      in intensive care units (ICU). Use of coercive      shown to reduce coercive measurements
Eindruck entstehen, als Gegenstand und       measurements in the ICU has always been             taken. The aim of this paper is to describe
nicht als Mensch behandelt zu werden         a conflict between providing best medical           causes, different methods and frequencies
[27].                                        care and restriction of free will/patient will.     of coercive measures used in the ICU. Legal
                                             Medical staff is generally only partially aware     aspects are also taken into account. This
                                             of the moral conflict of these measures.            paper attempts to identify which procedures
Rechtfertigende Gründe für                   However, patients have described coercion           undertaken in the ICU can be associated with
Zwang auf der Intensivstation                as an active loss of free will which they           coercive measurements and how coercion is
                                             experience to be dehumanizing, stressful            experienced by patients and the team.
Ziel einer intensivmedizinischen Be-         and traumatizing. The challenge in the
                                             ICU is to focus on the individual needs of          Keywords
handlung ist es, den Patienten durch                                                             Personal autonomy · Freedom · Decision
                                             the patients and involve them as much as
eine kritische Phase schwerer krank-         possible while providing high-quality, highly       making · Clinical ethics · Legal aspects
heits- oder unfallbedingter körperlicher
Beeinträchtigungen zu bringen. Auf Sei-
te des Teams liegen das Wissen und
vielfältige menschliche und technische
Möglichkeiten. Demgegenüber steht ein
kritisch kranker Patient, der oft nicht
vollständig oder gar nicht einwilligungs-
fähig ist. Das intensivmedizinische Team

                                                                                     Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
Leitthema

übernimmt das „Kommando“ nicht nur                 Mögliche Lösungsansätze                        Indikation
für Vitalparameter, sondern häufig auch
für den Entscheidungsprozess des Pa-               Patientenwille                                 Neben der Einbindung des Patienten-
tienten [28]. Hier besteht die Gefahr                                                             willens bedarf es besonderer Aufmerk-
von paternalistischen Entscheidungen,              Ein selbstbestimmtes Leben und Ent-            samkeit hinsichtlich der Indikation und
wenngleich diese vom Team durch Wis-               scheiden unter den Bedingungen einer           der Verhältnismäßigkeit der angewand-
sen und Fürsorge begründet werden.                 schweren Erkrankung und intensivme-            ten freiheitseinschränkenden Maßnah-
    Nur in Ausnahmesituationen, wie                dizinischer Behandlung ist nur sehr be-        men. Wenn Alternativen ohne Zwang
Notfällen oder Gefährdungssituationen,             grenzt möglich. Aber auch eingeschränkt        nicht erreichbar sind, muss reflektiert
ist es erlaubt, Behandlungen ohne Ein-             oder nicht einwilligungsfähige Patienten       und dokumentiert werden, mit welcher
willigung des Patienten aufgrund des               sind nicht willenlos. Patienten beschrei-      Maßnahme am wenigsten in die Rechte
mutmaßlichen Willens durchzuführen                 ben sowohl als verletzend wahrgenom-           des Patienten eingegriffen wird [2].
[2, 11].                                           mene Situationen, als auch Dankbarkeit,            Wichtig erscheint es, jene Freiheits-
                                                   da ihnen geholfen wurde. Diese Ambi-           einschränkungen zu erkennen, die we-

»Einwilligung
    Behandlungen ohne
              des Patienten sind
                                                   valenz macht die große Gefahr von Aus-
                                                   übung von Zwang in einem Abhängig-
                                                                                                  niger offensichtlich sind, jedoch für den
                                                                                                  Patienten eine Form von Zwangsmaß-
                                                   keitsverhältnis mit dem Risiko, die kör-       nahmen darstellen [18]. Eine individuel-
nur in Ausnahmesituationen                         perliche und seelische Integrität des An-      le Reflexion über den Patienten als Per-
erlaubt                                            deren zu verletzen, deutlich [1, 11].          son, die Indikation und das Therapieziel
                                                                                                  sowie ein Teamgeist, der sich dieser ethi-

Inwieweit freiheitseinschränkende Maß-             »Individualität
                                                        Der Patient ist in seiner
                                                                   zu sehen und
                                                                                                  schen Probleme bewusst ist, sind essenzi-
                                                                                                  elle Bausteine einer Intensivtherapie, die
nahmen im Sinne von Zwang, also ge-                                                               darauf zielt, Zwang zu vermeiden. Um
gen den Willen des Patienten, zum Errei-           einzubinden                                    Zwang und den daraus resultierenden
chen des Therapiezieles notwendig sind,                                                           Stress für den Patienten und das Team
bedarf immer einer individuellen ethi-             Die Herausforderung für das Team ei-           zu minimieren, sind Schulungskonzepte,
schen Reflektion und muss auf die Wie-              ner hochspezialisierten Intensivstation        spezifische Räume für Reflexionen und
derherstellung der selbständigen Lebens-           besteht darin, den Patienten in seiner         eine Teamsupervision zu implementie-
führung gerichtet sein. Die Maßnahmen              Individualität zu sehen und einzubinden.       ren.
müssen indiziert, geeignet und angemes-            Über eine empathische Kommunikation
sen sein und sollten keinen Schaden zu-            und Teilhabe am Entscheidungsprozess           Fazit für die Praxis
fügen. Sie sollten auf Zustimmung stoßen           kann eine Einbindung des Patienten in
können, sobald der Patient wieder ein-             den Entscheidungsprozess, wie sie von          4 Zwang als Überwindung des Willens
willigungsfähig ist [1].                           vielen Patienten gewünscht wird, erreicht          eines Patienten kann in vielfältiger
                                                   werden [28]. Den Patienten zu infor-               Form während eines Intensivaufent-
„Moral stress“ im Team                             mieren, ihm zuzuhören, ihn als Person              halts entstehen.
                                                   wahrzunehmen und an Entscheidungen             4   Hierzu gehören freiheitseinschrän-
Freiheitseinschränkende       fixierende/           teilhaben zu lassen, stärkt die individuelle       kende Maßnahmen, wie physische
medikamentöse Maßnahmen werden                     Unabhängigkeit des Patienten [20]. Der             Ein-/Beschränkungen, Einschrän-
häufig durch Pflegende angewendet [7].               Patient wird vom Behandlungsobjekt                 kungen durch die Umgebung, me-
Sich zwischen Maßnahmen zum Schutz                 zum Partner [28].                                  dikamentöse und psychologische
vor selbstinduziertem Schaden, also der                Möglicherweise lassen sich freiheits-          Einschränkungen.
Eigengefährdung des Patienten und der              einschränkende Maßnahmen oder die              4   Für Zwangsbehandlung existieren
Würde und dem Respekt vor dem Pa-                  Wahrnehmung von Zwang im Rahmen                    juristische Vorgaben und medizinet-
tienten, entscheiden zu müssen, kann               einer intensivmedizinischen Behandlung             hische Richtlinien.
Teammitglieder außerordentlich belas-              nicht immer vermeiden. Etablierte Kon-         4   Das Erleben von Zwang kann Ein-
ten [29]. Diese moralischen Konflikte               zepte zur Delirbehandlung, zum Um-                 fluss auf den Verlauf während und
(„moral stress“), d. h., wenn sich Team-           gang mit Aggressivität und zur Anwen-              nach einer intensivmedizinischen
mitglieder davon abgehalten fühlen,                dung freiheitseinschränkender Maßnah-              Behandlung haben.
im Interesse des Patienten zu handeln,             men können helfen, Zwang und dessen            4   Das Spannungsfeld zwischen in-
sollten benannt und konstruktiv in ei-             Wahrnehmung auf der Intensivstation zu             tensivmedizinischer Behandlung/
ne wertschätzende Teamperformance                  minimieren [2, 8].                                 Fürsorge und eigenen moralischen
eingebracht werden [30].                                                                              Werten kann den einzelnen Mit-
                                                                                                      arbeiter und das Team signifikant
                                                                                                      belasten.

 Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
4 Den Patienten als Partner einzubin-                        2. Steinert T, Hirsch S (2020) German S3 guidelines             unit. Nurs Crit Care. https://doi.org/10.1111/nicc.
                                                                on avoidance of coercion: prevention and therapy             12409
  den, erfordert Teamperformance,                               of aggressive behavior in adults. Nervenarzt             22. Lykkegaard K, Delmar C (2015) Between violation
  ethische Reflexion und Wertschät-                             91(7):611–616                                                and competent care—Lived experiences of
  zung, um Zwang auf Intensivstation                         3. Deutscher Bundestag Grundgesetz: Die Grund-                  dependency on care in the ICU. Int J Qual Stud
                                                                rechte. https://www.bundestag.de/parlament/                  Health Well-being 10. https://doi.org/10.3402/
  sowie „moral stress“ zu vermeiden.                            aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_                    qhw.v10.26603
4 Hier können Ausbildung, Konzep-                               01-245122. Zugegriffen: 26. Okt. 2020                    23. Darbyshire JL et al (2016) „I Can remember sort of
  te und Standards zur Reduktion                             4. Bundesministerium für Justiz und für Verbrau-                vivid people . . . but to me they were plasticine.“
                                                                cherschutz Grundgesetz für die Bundesrepu-                   delusions on the intensive care unit: what do
  von Zwang auf der Intensivstation                             blik Deutschland. Die Rechtsprechung. Art.                   patients think is going on? Plos One 11(4). https://
  hilfreich sein.                                               104. https://www.gesetze-im-internet.de/gg/                  doi.org/10.1371/journal.pone.0153775
                                                                art_104.html. Zugegriffen: 26. Okt. 2020                 24. Rodriguez-Almagro J et al (2019) Experience of
                                                             5. Bundesverfassungsgericht (2018) BVerfG, Urteil               care through patients, family members and health
Korrespondenzadresse                                            des Zweiten Senats vom 24. Juli 2018 – 2 BvR                 professionals in an intensive care unit: a qualitative
                                                                309/15 –, Rn. 1–131. http://www.bverfg.de/e/                 descriptive study. Scand J Caring Sci. https://doi.
Dr. S. Jöbges                                                   rs20180724_2bvr030915.html. Zugegriffen: 26.                 org/10.1111/scs.12689
Institut für Biomedizinische Ethik und                          Okt. 2020                                                25. Hofhuis JG et al (2008) Experiences of critically
                                                             6. Bundesgesetzbuch Bundesgesetzbuch: §1901ff.                  ill patients in the ICU. Intensive Crit Care Nurs
Medizingeschichte (IBME), Universität Zürich
                                                                http://www.gesetze-im-internet.de/bgb/html.                  24(5):300–313
Winterthurerstrasse 30, 8006 Zürich, Schweiz                    Zugegriffen: 12.11.2020                                  26. Cusack P et al (2018) An integrative review
susanne.joebges@ibme.uzh.ch                                  7. Teece A, Baker J, Smith H (2020) Identifying                 exploring the physical and psychological harm
                                                                determinants for the application of physical                 inherent in using restraint in mental health
Funding. Open access funding provided by Univer-                or chemical restraint in the management of                   inpatient settings. Int J Ment Health Nurs
sity of Zurich                                                  psychomotor agitation on the critical care unit.             27(3):1162–1176
                                                                J Clin Nurs 29(1–2):5–19                                 27. Merilainen M, Kyngas H, Ala-Kokko T (2013)
                                                             8. Baron R et al (2015) Evidence and consensus                  Patients’ interactions in an intensive care unit and
                                                                based guideline for the management of delirium,              their memories of intensive care: a mixed method
                                                                analgesia, and sedation in intensive care medicine.          study. Intensive Crit Care Nurs 29(2):78–87
Einhaltung ethischer Richtlinien                                Revision 2015 (DAS-Guideline 2015)—short                 28. Lindberg C et al (2015) A trajectory towards
                                                                version. Ger Med Sci 13:Doc19                                partnership in care—patient experiences of
Interessenkonflikt. S. Jöbges und N. Biller-Andorno          9. Cutler LR, Hayter M, Ryan T (2013) A critical review         autonomy in intensive care: a qualitative study.
geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.                 and synthesis of qualitative research on patient             Intensive Crit Care Nurs 31(5):294–302
                                                                experiences of critical illness. Intensive Crit Care     29. Freeman S, Hallett C, McHugh G (2016) Physical
                                                                Nurs 29(3):147–157                                           restraint: experiences, attitudes and opinions of
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine
                                                            10. Egerod I et al (2015) The patient experience of              adult intensive care unit nurses. Nurs Crit Care
Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt.
                                                                intensive care: a meta-synthesis of nordic studies.          21(2):78–87
Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort
                                                                Int J Nurs Stud 52(8):1354–1361                          30. Prentice TM, Gillam L (2018) Can the Ethical Best
angegebenen ethischen Richtlinien.
                                                            11. Schweizerische Akademie der Medizinischen                    Practice of Shared Decision-Making lead to Moral
                                                                Wissenschaften (2015) Zwangsmassnahmen                       Distress? J Bioeth Inq 15(2):259–268
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative
                                                                in der Medizin, 1. Aufl. Medizinisch-ethische
Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz
                                                                Richtlinien der SAMW. SAMW, Basel
veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung,
                                                            12. Perez D et al (2019) Physical restraints in
Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jegli-
                                                                intensive care-An integrative review. Aust Crit Care
chem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die
                                                                32(2):165–174
ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsge-
                                                            13. Rose L et al (2016) Prevalence, risk factors, and
mäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz
                                                                outcomes associated with physical restraint use
beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenom-
                                                                in mechanically ventilated adults. J Crit Care
men wurden.
                                                                31(1):31–35
                                                            14. Berzlanovich AM, Schopfer J, Keil W (2012)
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges
                                                                Deaths due to physical restraint. Dtsch Arztebl Int
Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten
                                                                109(3):27–32
Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbil-
                                                            15. Bleijlevens MH et al (2016) Physical restraints:
dungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das be-
                                                                consensus of a research definition using a mo-
treffende Material nicht unter der genannten Creative
                                                                dified delphi technique. J Am Geriatr Soc
Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung
                                                                64(11):2307–2310
nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für
                                                            16. Benbenbishty J, Adam S, Endacott R (2010)
die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Ma-
                                                                Physical restraint use in intensive care units across
terials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers
                                                                Europe: the PRICE study. Intensive Crit Care Nurs
einzuholen.
                                                                26(5):241–245
                                                            17. Kruger C et al (2013) Use of physical restraints in
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der
                                                                acute hospitals in Germany: a multi-centre cross-
Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/
                                                                sectional study. Int J Nurs Stud 50(12):1599–1606
licenses/by/4.0/deed.de.
                                                            18. Negroni AA (2017) On the concept of restraint in
                                                                psychiatry. Eur J Psychiatry 31(3):99–104
                                                            19. Bohrer T et al (2002) How do surgical patients
Literatur                                                       experience the intensive care unit? Results of
                                                                a prospective cross-sectional study. Chirurg
 1. EthikratD(2018)HilfedurchZwang? Professionelle              73(5):443–450
    Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl              20. Yang RM (2016) Dependency in critically ill pa-
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    org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/                 https://doi.org/10.1177/2333393616631677
    deutsch/stellungnahme-hilfe-durch-zwang.pdf.            21. Kisorio LC, Langley GC (2019) Critically ill patients’
    Zugegriffen: 20. Sept. 2019                                 experiences of nursing care in the intensive care

                                                                                                              Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
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