Beitrag: Hetze, Lügen und Gerüchte-Manuskript - ZDF
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Manuskript Beitrag: Hetze, Lügen und Gerüchte – Wie Trauer zu Hass wird Sendung vom 4. September 2018 von Joachim Bartz und Arndt Ginzel Anmoderation: So laut kann Gedenken sein, wenn 65.000 Menschen still sind: Schweigeminute für Daniel H. gestern Abend in Chemnitz vor dem Konzert gegen Rassismus und Gewalt. Das Konzert sollte dem fremdenfeindlichen Schulterschluss zwischen AfD, Pegida und sogenannten besorgten Bürgern etwas entgegensetzen, eine andere, freundliche Note anstimmen. Nur hatte sich die Tonart der Hetze da bereits in vielen Köpfen festgesetzt. Unsere Autoren zeichnen die Tage von Chemnitz genau nach - und zeigen, wie aus Trauer durch Lügen und Gerüchte Angst, Wut und sogar Hass wurden. Text: Sonntag, 26. August 2018. Stadtfest in Chemnitz. Nachdem der Trubel vorbei ist, kommt es gegen 03.15 Uhr zu einem schweren Verbrechen: Ein Mann wird erstochen. Die Polizei sucht die Tatwaffe, während die Müllabfuhr bereits aufräumt. Ihre Ladung soll kontrolliert werden. Dabei entsteht eine Sprachnachricht. Sie kursiert in einer rechtsradikalen WhatsApp- Gruppe und wird uns später zugespielt: O-Ton WhatsApp-Sprachnachricht: Es sind Mädchen belästigt worden, junge Mädchen von Kanaken. Und zwei Russen haben eingegriffen, wollten den Mädchen helfen und die Kanaken haben die zwei Russen in den Rücken niedergestochen und der eine Russe ist noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben und der zweite Russe ringt um sein Leben. Es ist nicht mehr normal, was hier abgeht. Mich kotzt das einfach alles nur noch an. Es macht mich extrem wütend. Der Mann klingt wie ein Augenzeuge, verbreitet falsche Fakten: Das Opfer ist kein Russe - und Frauen wurden nicht belästigt. Das wird die Polizei Stunden später melden.
Wir wollen wissen, woher die Aufnahme stammt und finden heraus: Es war wohl die Aufnahme eines Mitarbeiters der Müllabfuhr, entstanden zwischen drei und sechs Uhr, kurz nach der Tat. Ein Gerücht ist in der Welt - durch die Sprachnachricht eines Müllmannes. Kurz vor acht Uhr meldet das Online-Portal „TAG24“, es soll „… eine Frau belästigt worden sein. Als ihr Männer zu Hilfe kommen wollten, eskalierte offenbar die Situation.“ 10:18 Uhr greift die AfD Erzgebirge das Gerücht auf: „Ein Toter und ein Schwerstverletzter, weil sie unseren Frauen helfen wollten!“ Maximilian Krah, Vizechef der sächsischen AfD, behauptet kurz danach: „‘Flüchtlinge‘ bedrängen in Chemnitz Frau…“ Die Polizei dementiert das mehrfach: Eine Frau wurde nie belästigt. 11.36 Uhr greift die rechte Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ das Gerücht auf: „… ein Bürger wollte helfen und … wurde für seine Zivilcourage ermordet!“ Martin Kohlmann, Gründer von „Pro Chemnitz“, verharmlost die Fehlinformation: O-Ton Martin Kohlmann, „Pro Chemnitz“: Das haben wir von einer lokalen Tageszeitung so geteilt. Das heißt, die hat das zuerst so vermeldet, und dann haben wir das meines Wissens korrigiert, wir haben auch die richtige Version auf der Kundgebung mitgeteilt. Und ich denke, das ist jetzt schon allgemein bekannt, wie es tatsächlich gewesen ist. Doch das Gerücht ist in der Welt und verbreitet sich weiter. Unterdessen ruft die AfD zu einer Spontandemo um 15 Uhr auf. Und die rechtsradikale Hooligan-Gruppe „Kaotic Chemnitz“ ruft zu einer zweiten Kundgebung um 16.30 Uhr auf. Was folgt, sind diese Szenen: Quelle: Facebook „Heidenauer Wellenlänge - Bürgerinitiative Heidenau“:
„Elendes Viehzeug!“ „Das ist unsere Stadt!“ „Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer!“ Quelle: Facebook „Antifa Zeckenbiss“: Haut ab! Was ist denn, ihr Kanacken?“ Rechte Parolen – und Angriffe auf Menschen, die sie für Ausländer halten. Der AfD-Politiker Markus Frohnmaier heizt die Stimmung weiter an - mit seinem Post über eine „todbringendendie ‘Messermigration‘“. Montag, 27. August. Rechtsradikale Gruppen aus Chemnitz organisieren einen „Trauermarsch“. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft vermeldet, die Tatverdächtigen seien ein Iraker und ein Syrer. 6.000 Rechte demonstrieren. Es kommt zu Ausschreitungen, Böller werden gezündet, Journalisten angegriffen, bei Krawallen gibt es 20 Verletzte. Die Polizei ist überfordert. Demonstrationsteilnehmer können ungestraft den Hitlergruß zeigen - und Hitler verherrlichen. Die Neonazis machen Stimmung, auch mit Bildern misshandelter Frauen. Die Botschaft des Plakats: Deutsche Frauen sind Opfer von kriminellen Ausländern. Die Recherche-Plattform „MIMIKAMA“ untersucht Fake News und hat herausgefunden: Keine der Frauen stammt aus Deutschland. Außerdem sind die Bilder bis zu neun Jahre alt und zeigen Opfer von häuslicher Gewalt, Polizeiübergriffen oder Überfällen. „Bunt bis das Blut spritzt“ – damit machen die Rechten nicht zum ersten Mal Stimmung. Schon nach dem Mord an einer Schülerin in Kandel wurde es gezeigt. Die Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion erweckt den Eindruck, als ob Morde durch Flüchtlinge Alltag in Deutschland seien: 25 Stiche - angebliche Details der Tat, frei erfunden. Dienstag, 28. August. „Pro Chemnitz“ und andere rechte Gruppen posten den Haftbefehl. Ein Dresdner Justizbeamter hatte das Dokument fotografiert und weitergegeben. Später wird seine Wohnung durchsucht - in der rechten Szene wird der Mann als Held gefeiert. Was untergeht: Im Haftbefehl steht nichts von einem Angriff auf eine Frau. Donnerstag, 30. August. Demonstration vor dem Chemnitzer Stadion.
O-Ton Demonstranten: „Damit denen da oben ein Licht aufgeht!“ Erneut „Pro Chemnitz“ und andere rechte Gruppen. Mit „denen da oben“ meinen sie Sachsens Landesregierung. Die sucht im Stadion den Dialog mit Chemnitzer Bürgern. Viele behaupten, es habe weder Nazis noch Gewalt gegeben und Hitlergrüße seien fingiert worden. O-Ton Michael Kretschmer, CDU, Ministerpräsident Sachsen: Was ich heute gehört habe an Verschwörungstheorien, an Informationen, die aus Sicht der Bevölkerung richtig ist, die im Internet kursiert, die aber aus meiner Kenntnis heraus jeder Grundlage entbehrt, das ist ein großes Problem für die Demokratie. Es muss uns gelingen, mehr Informationen und Wahrheit auch an den Mann zu bringen. Samstag, 1. September. Diesmal soll es ein „Schweigemarsch“ sein - initiiert von AfD und Pegida. Vorn weiße Rosen, hinten Jagd auf Journalisten und Kamerateams durch rechtsradikale Hooligan-Gruppen: O-Ton: Hau ab mit Deiner Kamera jetzt! Verpiss Dich! Die Kundgebung wird von der Polizei beendet, es kommt zu Tumulten, rechte Schläger provozieren die Polizei. O-Ton Martin Dulig, SPD, stellvertretender Ministerpräsident Sachsen: Innerhalb von kurzer Zeit wurden Tausende mobilisiert, bundesweit. Das heißt, das Netz hat natürlich wie ein Katalysator gewirkt, nicht nur durch viele Unwahrheiten, Lügen, Gerüchte, die sich dann transportiert haben und unwidersprochen im Netz kursierten, sondern sie haben eben auch dazu beigetragen, dass Menschen noch mehr beängstigt, verängstigt waren und dass Menschen eben auch sich das Recht herausgenommen haben, sogar durch Straßen zu ziehen und Gewalt auszustrahlen. Die AfD und rechte Radikale instrumentalisieren den Tod von Daniel H. Es ist eine Machtdemonstration. Der Schulterschluss zwischen Populisten und Verfassungsfeinden entfacht am Tag danach eine politische Debatte, ob die AfD vom Verfassungsschutz überwacht werden soll. O-Ton Mike Mohring, CDU, Landeschef Thüringen, am 2.9.2018: Es gibt zumindest Teile, auch in Thüringen, der Flügel um Björn Höcke herum, wo man schon sieht, dass die Grenzen zum Rechtsradikalismus sehr stark sind und offensichtlich
auch fließend sind. Und es wird ein Moment geben, wo der Verfassungsschutz an dieser Stelle ein stärkeres Auge der Beobachtung drauflegen muss. O-Ton Andrea Nahles, SPD, Partei- und Fraktionschefin, am 3.9.2018: Ich glaube, es gibt gute Gründe seit Chemnitz, das zu tun. Denn es ist offensichtlich, dass sich die AfD zur Vorfeldorganisation hat machen lassen oder freiwillig gemacht hat von Rechtsradikalen und rechtem Mob. Bisher sind die Landesämter für Verfassungsschutz zurückhaltend. Der Tod von Daniel H. hat die Republik verändert - und gezeigt, wie ein Gerücht Rechtsstaat und Demokratie bedrohen kann. Abmoderation: Viele Sachsen sagen, man dürfe einer Stadt und einem Bundesland nicht pauschal das Etikett ‚rechts' verpassen. Die Anständigen seien in der Mehrheit, sagen sie weiter, aber die Mehrheit der Anständigen schweigt. Das ist vermutlich in ganz Deutschland so. Nur müssen Freiheit, Demokratie und Menschenwürde eben anständig verteidigt werden - und das heißt laut und deutlich auf der Straße, im Netz, im Gespräch. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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