Christian Johannes Henrich
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Türkei: Geoökonomie als neues Element der Außenpolitik 5 Christian Johannes Henrich Zusammenfassung Vor den 1990er Jahren wurden die Machtkonstellationen der Weltpolitik noch unter dem Begriff der Geopolitik definiert. Nach dem Ende des Kalten Krieges werden nun mittels politischen Einsatzes wirtschaftliche und strategische Ziele verfolgt. Dabei stehen im Zentrum die Bereiche Handels-, Finanz-, Technologie und ganz besonders die Energiepolitik, aber auch die Rohstoff- versorgung. Die Türkei weiß, dass sie ihre hausgemachten fiskalpolitischen Defizite nur durch die richtige Positionierung ihrer Strategie im Mittleren Osten wettmachen kann. Daher sucht sie die Teilhabe an der internationalen Ordnung in dieser Region, aber auch in Afrika und weiteren Ländern, die wichtige Punkte zwischen der EU und Asien sind. Die Geopolitik hat im Rahmen der Politikwissenschaft seit dem Ende des bipolaren Systems an Bedeutung verloren. In der Türkei-Forschung blieb sie in der politikwissenschaftlichen Analyse allerdings stets ein wichtiger Faktor. Hervorgerufen durch die geostrategische Lage der Türkei besonders während des Kalten Kriegs – sie grenzte an Bulgarien und an die Sowjetunion – war das Land ein unverzichtbarer Partner der westlichen Welt zur Verteidigung der Südost- Flanke des westlichen Europas. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks, verlor die Türkei zunächst an strategischer Bedeutung. Dies ver- C. J. Henrich (*) FOM Hochschule für Oekonomie und Management, Essen, Deutschland E-Mail: info@soek-online.org © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden 63 GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 C. Henrich und W. Gieler (Hrsg.), Die Außenpolitik der Türkei im Mittleren Osten, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Spannungsverhältnis der Regionen Südosteuropa und Mittlerer Osten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-34368-2_5
64 C. J. Henrich änderte sich wieder grundlegend schnell wieder nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten. Aus dem Angriff aufs World Trade Center erwuchs der Afghanistan-Krieg. In der Folge entwickelte sich eine neue Konfliktlinie zwischen dem radikalen Islam und der westlichen Welt. Die Türkei erlangte ihre geostrategische Bedeutung zurück, da sie im Osten an die Krisenregionen Südkaukasus, den Iran, Irak und Syrien angrenzt. Die Berliner Politologin Gülistan Gürbey stellt fest, dass „der frühere Flankenstaat“ […] zum „Frontstaat“ [wurde].1 Der Türkeiexperte Udo Steinbach konstatiert: „Die Türkei ist geographisch, ethnisch oder politisch mit den Problemen des Iraks, Irans, Armeniens, Aserbaidschans, Zyperns, Griechenlands, Bulgariens, Russlands, Syriens und des islamischen Fundamentalismus verbunden. Was den Türken noch fehlt, ist eine Grenze mit Tschetschenien. Die türkische Außenpolitik ist ein Alp- traum von 360 Grad.“2 Daher scheut sich die Europäische Union seit Jahrzehnten die Türkei als Voll- mitglied aufzunehmen, um keine direkte Grenze zum Dauerkrisenherd Mittlerer Osten zu bekommen.3 In der letzten Dekade hat die Geopolitik durch zahlreiche Krisen und Konflikte wieder die alte Relevanz erlangt: 2010 der Krieg in Syrien, 2012 die imperialistischen Provokationen Chinas im Südchinesischen Meer, 2014 die russische Annexion der Krim und die Besetzung der Ostukraine, 2015 der Krieg im Jemen, 2019 der Erdgasstreit vor Zypern und im Herbst 2020 die gewaltsame Befreiung der Region Bergkarabach durch Aserbaidschan. Deutlich spiegelt sich die geopolitische Rivalität der Regionalmächte Türkei, Iran und Saudi-Arabien in Syrien und im Jemen wider. Im Schatten der Geopolitik hat sich die Geoöko- nomie zu einem wichtigen außenpolitischen Instrument entwickelt. Besonders die türkische Außenpolitik mit ihrem regionalen Hegemonieanspruch bedient sich geoökonomischer Strategien zur Erreichung der außenpolitischen Ziele. Die wirtschaftswissenschaftliche Perspektive der internationalen Beziehungen wird seit den 1990er Jahren maßgeblich von den beiden Begriffen „Globali- sierung“ und „Geoökonomie“ bestimmt. Beide stehen sich diametral gegenüber, gleichwohl beanspruchen sie die Expansion und die Transformation der Welt- wirtschaft für sich. Nach Hans-Joachim Spanger tritt die Globalisierung in einer 1 (Gürbey 2010, S. 18). 2 (Steinbach1996, S. 80). 3 (Henrich 2013, S. 70).
5 Türkei: Geoökonomie als neues Element der Außenpolitik 65 optimistischen und einer pessimistischen Variante auf. Während die Optimisten den liberalen Freihandel befürworten und der Staat lediglich der Rationalität des Marktes dient, befürchten die Pessimisten eine wachsende soziale Ungleichheit und die Gefahr neuer Kriege.4 Die Geoökonomie beinhaltet mit der realistischen Tradition einen konträren Ansatz. US-amerikanische Think Tanks sahen Anfang der 1990er Jahre die Öko- nomie als Grundlage und Instrument politischer Macht. Da Macht jedoch für den Realismus immer relativ ist, ist das absolute Ziel einer gemeinsamen Nutzen- maximierung eine Utopie. „In der Geoökonomie verbinden sich folglich wirtschaftlicher Wettbewerb und staat- liche Konkurrenz zu einer neuen internationalen Konfliktkonstellation.“5 Geoökonomie beabsichtigt durch den Einsatz politischer Mittel wirtschaftliche und strategische Ziele zu erreichen. Im Fokus stehen hierbei die Politikbereiche Handels-, Finanz-, Technologie- oder Energiepolitik. Somit fallen unter Geo- ökonomie auch die klassischen Elemente der Außenwirtschaftspolitik wie staat- liche Außenwirtschaftsförderung (Exportkreditversicherung), Handels- und Investitionsabkommen, Außenhandelskammern und Delegationsreisen, aber auch strategische Eingriffe zur Rohstoffsicherung. Zudem umfasst die Geoöko- nomie auch den Einsatz wirtschaftlicher Mittel, wie die Kontrolle von Märkten, Handelsüberschüssen und Währungsreserven, strategische Investitionen und Wirtschaftssanktionen. Das jüngste Handelsabkommen der Türkei wurde am 29. Dezember 2020 mit Großbritannien unterzeichnet. Dieses Handelsabkommen macht die Türkei nach Deutschland zum zweitgrößten Exportmarkt der Briten.6 Zudem werden seit dem 20. Februar 2021 wieder Gespräche zwischen der Türkei und Dschibuti über den Fortgang der Handels-, Wirtschafts- und Techno- logiekooperation geführt. Die Türkei unterhält im kleinen Land am Horn von Afrika eine Wirtschaftszone.7 Damit die Türkei ihren regionalen Führungsanspruch im Mittleren Osten, insbesondere im östlichen Mittelmeer, weiter ausbauen kann, muss Ankara den Rahmen der neuen internationalen Ordnung mitgestalten. Als wichtiger 4 (Spanger1998, S. 1). 5 (Spanger1998, S. 1). 6 (Handelsblatt 2020). 7 (DPFZA 2020).
66 C. J. Henrich wirtschaftlicher Akteur hat Ankara allerdings einige hausgemachte fiskal- politische Defizite, wie etwa den anhaltend starken Verfall der türkischen Lira (2016–2020: −68 %)8, die hohe Inflation (2019: 15,9 %)9 sowie die steigende Arbeitslosigkeit (2019: 13,7 %)10. Die noch nicht abzusehenden Folgen der Corona-Krise für das Gesundheitssystem, den Arbeitsmarkt, den Staatshaushalt und für die Tourismusbranche bleiben abzuwarten. Daher gibt sich die türkische Regierung teilweise äußerst nervös und betreibt eine Symbolpolitik wie z. B. die Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee, da die elementar wichtige wirtschaftliche Stärke zur staatlichen Machtentfaltung derzeit verloren geht. Die Wirtschaftskraft eines Landes ist ein entscheidender Faktor dafür, wie viele Ressourcen eine Regierung für Diplomatie, Forschung und Militärausgaben auf- wenden kann.11 Die Türkei selber war in ihrer Geschichte häufig Gegenstand geopolitischer und geoökonomischer Aktivitäten der Großmächte. Die US-amerikanischen Wirt- schaftshilfen nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des European Recovery Programs wurden durch die Neuausrichtung der Außenpolitik ermöglicht. In seiner Rede vor dem Kongress am 12. März 1947 stellte sich US-Präsident Harry S. Truman deutlich gegen die bisher gültige Monroe-Doktrin von 1823. Truman konstatierte, dass die USA alle freien Völker im Kampf gegen totalitäre Regierungsformen helfen werde. Somit konnte durch diese neue Truman-Doktrin auch die Sicherung der nationalen Integrität der Türkei mit 400 Mio. US$ unter- stützt werden, da diese seitens der Sowjetunion bedrängt und bedroht wurde. Die Türkei war darüber hinaus der einzige Empfänger von US-amerikanischen Finanzhilfen, der nicht aktiv am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte. Die US-amerikanische Unterstützung fand in der türkischen Öffentlichkeit breite Zustimmung. Ministerpräsident Recep Peker nannte die US-amerikanische Hilfe einen ehrenhaften Akt für die Erhaltung des Weltfriedens.12 Zu Beginn der 1990er Jahre befand sich die Türkei auf der Suche nach ihrem Platz im globalen Machtgefüge. Mit dem Zerfall der Sowjetunion ent- 8 Die türkische Lira stand einen Tag vor dem Putschversuch am 14. Juli 2016 bei 0,31082 EUR/TL, am 7. November 2020 notiert die Lira zum Euro bei 0,09875 TL. Dies entspricht einer Abwertung um über 68 % in rund vier Jahren. Siehe https://www.xe.com/ currencycharts/?from=TRY&to=EUR&view=2Y (abgerufen am 08.11.2020). 9 (Statista 2020). 10 (Hürriyet 2020). 11 (Mair 2018, S. 83–84). 12 (Bellers und Kirchschlager 2010, S. 70).
5 Türkei: Geoökonomie als neues Element der Außenpolitik 67 stand auf dem Territorium ein Machtvakuum. Zahlreiche Staaten wählten den Weg der Unabhängigkeit. Die Türkei hatte ein kulturell-historisches Interesse an den turkstämmigen Völkern Zentralasiens. Der türkische Einflussbereich erstreckte sich jedoch auch auf den Balkan und Nordafrika. Die zahlreichen kurzlebigen Regierungen verfolgten dabei unterschiedliche außenpolitische Richtungen: Turgut Özal wollte die türkische Außenpolitik durch Diversifikation unabhängiger von den USA machen. Necmettin Erbakan hingegen verfolgte einen ideologischen Ansatz und versuchte eine islamische Wirtschaftsunion als Gegenentwurf zur angestrebten Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu gründen. Özal war es auch, der in der geographischen Lage seines Landes eine Chance sah, sich als Regionalmacht zu etablieren.13 „Die türkische Welt vom Adriatischen Meer bis zur Chinesischen Mauer“ wurde zur Doktrin der türkischen Außenpolitik.14 Eine enge Kooperation mit den neu entstandenen Turkrepubliken sollte den türkischen Einfluss festigen, um dann vor allem im wirtschaftlichen Bereich Vorteile zu sichern. Der politische Einfluss auf die jungen Staaten wurde jedoch auch nicht vernachlässigt.15 Die Idee, die türkische Sprache als lingua franca zu etablieren scheiterte am nach wie vor starken Ein- fluss Russlands auf die Region. Die Weltbank stuft die Türkei im Jahr 2020 als ein Land im oberen mittleren Ein- kommensbereich ein.16 Der IWF beziffert 2019 für die Türkei ein BIP pro Kopf von 9126,56 US$ an.17 Damit befindet sich die Türkei im europäischen Vergleich zwischen Bulgarien und Montenegro.18 Die wirtschaftliche Entwicklung ist einer der Gründe für die geoökonomischen Aspekte in der außenpolitischen Strategie. Wie andere Schwellenländer ist auch die Türkei von der finanziellen Hilfe und Investitionen der Industrieländer abhängig. Mit Auslandsschulden von ca. 367,1 Mrd. € Ende 2019 ist das Land eines der höchst verschuldeten Länder der Welt.19 Die Auslandsverbind- 13 (Fuller1993, S. 38). 14 (Bellersund Kirchschlager 2010, S. 77). 15 (Sezer 1996, S. 86–87). 16 (World Bank 2020a). 17 (World Bank 2020b). 18 (World Bank 2020c). 19 (Hürriyet.de 2020).
68 C. J. Henrich lichkeiten haben sich seit der Regierungsübernahme durch die AKP mehr als verdrei- facht.20 Die Komplexität des internationalen Systems birgt zahlreiche Einfluss- faktoren auf Staaten und deren policies. Durch die alles umfassende Globali- sierung und ihre Vernetzungen steigen auch Interdependenzen. Daher muss jeder Staat die Ausrichtung seiner Außenpolitik in den Kontext der globalen Rahmen- bedingungen einpassen. Diese Rahmenbedingungen in den internationalen Beziehungen schließt auch die theoretische Annahme der vorherrschenden Anarchie mit ein.21 Ein effizienter Weg der Einflussnahme auf die Außenpolitik eines Landes, ist das Einwirken auf innenpolitische Akteure. Die USA ließen sich bis zum Ende des Kalten Krieges oftmals von Eigeninteressen leiten, wenn es um die Unter- stützung (innen-)politischer Akteure in der Türkei ging. Häufig war das türkische Militär ein kooperationsbereiter Partner der USA. Dies kommt im unvergessenen Ausspruch „Your boys have done it“ den ein türkischer Diplomat 1980 nach dem erfolgten Militärputsch dem Türkeichef der CIA, Paul Henze, übermittelte.22 5.1 Geoökonomischer Transformationsprozess Die politische Entwicklung der Türkei und damit auch die außenpolitischen Handlungsoptionen bewegen sich in einem spannungsgeladenen Feld unter- schiedlichster, teils widerstrebender Kräfte. Die Türkei beweist immer wieder den Willen, zu Fortschritt und tiefgreifenden Reformen in wirtschaftlicher Hinsicht. Dieser Wille scheitert an der politischen Konfliktlinie zwischen der traditionell- religiösen und der (national-) kemalistisch-laizistischen Bevölkerung oder der Kurdenfrage.23 Die Türkei unter der AKP-Regierung entwickelte zunächst eine geoöko- nomische Strategie bezogen auf den wichtigen Energiesektor. In den Jahren 2009 und 2010 wurden mehrere energiepolitische Abkommen zwischen Russ- land und der Türkei unterzeichnet. Der russische Energiekonzern Gazprom 20 2003 betrug laut Weltbank die Auslandsverschuldung der Türkei noch knapp 144 Mrd. US$, 2019 hingegen bereits 440 Mrd. US$. 21 (Hiltner 2014, S. 101–109). 22 (Dündar 2016). 23 (Söyler 2009, S. 3 ff.).
5 Türkei: Geoökonomie als neues Element der Außenpolitik 69 darf türkisches Hoheitsgebiet im Schwarzen Meer nutzen, um ukrainisches Territorium zu umgehen. Dafür beteiligt sich Russland am Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks Akkuyu in der Provinz Mersin (Baubeginn 3. April 2018) und an der Transanatolischen Ölpipeline (TANAP), die das Schwarze Meer mit dem Mittelmeer verbindet und im Juni 2018 in Betrieb genommen wurde. Die türkisch-russische Kooperation stellt eine weitere Option der Diversi- fikation türkischer Außenpolitik insbesondere der geoökonomischen Strategie dar und unterstreicht somit den regionalen Führungsanspruch der Türkei. Diese Strategie eröffnet Ankara weitere Gestaltungsmöglichkeiten im östlichen Mittel- meerraum. Weiterer Beleg für die Emanzipation der Türkei vom Westen und der gleichzeitigen strategischen Annäherung an Russland, ist der Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400. Dabei wird die Verärgerung der USA billigend in Kauf genommen, da das russische System nicht NATO-kompatibel ist und sogar seitens der USA als Bedrohung eingestuft wird. Neben der voranschreitenden Emanzipation vom Westen untermauert Präsident Erdoğan seinen regionalen Hegemonieanspruch jüngst mit einer „raum- greifenden Außenpolitik“24. Vergessen ist die Nullproblem-Politik der AKP- Regierung, die einst Erdoğans außenpolitischer Architekt, späterer Außenminister und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu verfolgte. Davutoğlu wollte einen außenpolitischen Paradigmenwechsel, losgelöst von der Strategie der „Zweiein- halb Kriege“ des Staatsekretärs im Außenministerium Mustafa Şükrü Elekdağ (CHP). Dieser hatte 1996 aufgrund der permanenten Streitigkeiten mit dem NATO-Partner Griechenland in der Ägäis, der stetigen Provokationen Syriens und der terroristischen Aktivitäten der PKK im Landesinneren der damaligen türkischen Regierung die Strategie einer „Außenpolitik der Abschreckung“25 vorgeschlagen.26 Davutoğlu wollte diese Konflikte nicht mehr befeuern und entwickelte in seinem Buch Stratejik Derenlik (dt.: Strategische Tiefe)27 eine neue außenpolitische Konzeption, die zukünftig die Leitlinie für die türkischen Außenbeziehungen sein sollten. Eines der wesentlichen Elemente dieser neuen Politik ist die Maxime: „Keine Probleme mit den Nachbarstaaten“.28 24 (Kadritzke 2020, S. 11). 25 (Elekdağ 1996, S. 11). 26 Vgl. (Henrich 2013, S. 52–53). 27 Vgl. (Davutoğlu 2014). 28 Vgl. (Henrich 2013, S. 54).
70 C. J. Henrich Durch regionale Konflikte, in denen die Türkei teils indirekt, teils direkt beteiligt ist, scheiterte die außenpolitische Konzeption. Insbesondere im syrischen Bürgerkrieg, im Erdgasstreit vor Zypern und bei der Befreiung der völkerrechts- widrig von Armenien besetzten Region Bergkarabach durch Aserbaidschan, nahm die Türkei eine entscheidende Rolle ein. Während der erbitterten Gefechte in Syrien spiegelt sich die geopolitische Rivalität der Regionalmächte Türkei, Iran und Saudi-Arabien wider. 5.2 Geoökonomische Strategien am Horn von Afrika Erdoğan definiert seinen Machtanspruch weit über das Mittelmeer oder den Süd- kaukasus hinaus. Besonders auf dem afrikanischen Kontinent wird die türkische geoökonomische Strategie als Instrument der Außenpolitik deutlich.29 Die Türkei hatte im Jahr 2010 ein Handelsvolumen mit Somalia von 5,1 Mio. US$. Nach Ende des somalischen Bürgerkriegs sowie der langanhaltenden Dürre, brachte die Türkei und türkische Unternehmer 2011 über eine Milliarde US-Dollar an Hilfsgütern und technischem Gerät ins Land. Historisch das bislang umfang- reichste türkische Hilfsprojekt. Das Handelsvolumen hat sich bis 2019 auf 251 Mio. US$ vervielfacht (2018: 187 Mio. US$). Jährlich nehmen knapp 100 somalische Studierende an einem staatlichen Stipendien-Programm der Türkei teil. Im Gegenzug werden der internationale Flughafen und der Seehafen von Mogadischu von türkischen Unternehmen betrieben.30 Außerdem hat die Türkei 2017 einen Militärstützpunkt in der somalischen Hauptstadt eröffnet und trainiert Teile der somalischen Armee.31 Die türkische Ausbildungsmission ist bei weitem der ehrgeizigste Versuch einer Reform des Sicherheitssektors eines externen Akteures der vergangenen Jahre. Zumal die türkischen Ambitionen nicht als Eingriff in die eigene Souveränität wahrgenommen, sondern vielmehr verhalten begrüßt werden.32 Die Türkei tritt nicht als ehemalige Kolonialmacht auf, sondern als ehrlicher und kompetenter Partner, das Land in ein stabiles föderales System umzubauen. Als äußeres Symbol dieser strategischen Partnerschaft, hat die Türkei die weltweit größte türkische Botschaft unlängst in Mogadischu eröffnet. 29 Vgl.(Erdmann und Herzog 2012). 30 (Türkisches Außenministerium 2020a). 31 (Hussein und Çoskun 2017). 32 (Rossiter und Cannon 2019, S. 181).
5 Türkei: Geoökonomie als neues Element der Außenpolitik 71 Die Türkei will den politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozess in Somalia proaktiv begleiten. Sie hat umfangreiche Investitionen im Gesund- heitssektor, im Bildungssektor und in der Infrastruktur geleistet. Die Reform des Sicherheitssektors und die Föderalisierung Somalias sind weitere Dimensionen türkischer Unterstützung. Präsident Erdoğan hat im Sudan im Dezember 2017 zahlreiche strategische Abkommen mit einem Volumen von 650 Mio. US$ unterzeichnet. Alleine 300 Mio. US$ Direktinvestitionen zum Beispiel in den neuen Flughafen von Khartum und eine Freihandelszone im Hafen von Sudan am Roten Meer.33 Im Jahr 2018 betrug das Handelsvolumen 434 Mio. US$34 und soll in Zukunft auf zehn Milliarden USD steigen.35 Zudem hat die Türkei den historischen Insel- hafen Sawakin für 99 Jahre gepachtet. Die historische Hafenanlage soll wieder- aufgebaut werden und den Tourismus fördern, als Transithafen für Pilgerreisende nach Mekka, sowie von den türkischen Streitkräften am Horn von Afrika zur Ver- fügung stehen.36 Mit Dschibuti wurde bereits im Dezember 2016 ein Abkommen unterzeichnet, das die Einrichtung einer Freihandelszone mit einer potenziellen wirtschaftlichen Kapazität von eine Milliarde USD beinhaltete. Auch in Katar greift die außenpolitische Linie der Geoökonomie: Die Türkei errichtete im Rahmen eines 2014 unterzeichneten Abkommens in Katar ihre erste Militärbasis im Mittleren Osten. Die Einweihung erfolgte 2016. Ziel war es sich „gemeinsamen Feinden“ zu stellen und die katarische Armee zu trainieren. Saudi- Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Ägypten haben 2017 die diplomatischen Beziehungen und den Handel mit Katar wegen Dohas angeb- licher Unterstützung des Terrorismus abgebrochen. Sie fordern in einer 13 Punkte umfassenden Liste auch die Schließung der türkischen Militäreinrichtung.37 Als Antwort auf die Forderungen haben Doha und Ankara ihre Beziehungen intensiviert. Laut türkischem Außenministerium stieg das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern 2018 gegenüber 2017 um 57 % und erreichte ein Niveau von 1,4 Mrd. US$. Ferner besuchten 2018 insgesamt 96.327 Katarer die Türkei als Touristen. Dies ist eine Verdopplung gegenüber 2017.38 33 (Gurbuz 2018). 34 (Türkisches Außenministerium 2020b). 35 (Gurbuz 2018). 36 (Kucukgocmen und Abdelaziz 2017). 37 (Al Jazeera 2017). 38 (Türkisches Außenministerium 2020c).
72 C. J. Henrich Der türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hat 2019 den Bau eines neuen türkischen Militärstützpunkts im Emirat genehmigt. Zukünftig hat Ankara nun 5000 Militärs in Katar dauerhaft stationiert. Die neue Kaserne trägt den geschichtsträchtigen Namen Khalid bin al-Walid. Eine Provokation gegenüber Saudi-Arabien, da der Legende nach der Prophet Mohammed den Feldherrn Khalid bin al-Walid einst wegen seiner Tapferkeit im Kampf als „das gezogene Schwert Allahs“ bezeichnete. Erdoğan sieht sich und sein Land offenkundig als Erben des Heerführers und erhebt damit den Anspruch auf eine Führungsrolle in der islamischen Welt.39 Die außenpolitischen Erfolge der Türkei kaschieren die innenpolitischen Defizite der AKP-Regierung. Trotz des dramatischen Verfalls der türkischen Lira, des Einbruchs der türkischen Wirtschaftsleistung, der wachsenden Staats- verschuldung und des schwindenden Rückhalts in der türkischen Bevölkerung, hält der Präsident an seinen Plänen fest, den Einfluss seines Landes im Mittleren Osten auszubauen als Teil seiner großen „Vision 2023“.40 Die Türkei soll zum 100. Jahrestag der Republikgründung unter den zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt rangieren. Das Land will eine eigene Automarke (Karsa) etablieren und möchte eine eigenständige Rüstungsindustrie aufbauen.41 Das türkische Export- volumen soll insgesamt auf 500 Mrd. US$ anwachsen. Im Jahr 2019 betrug es lediglich 180,8 Mrd. US$. Mit der angestrebten Steigerung des Exportvolumens soll das Handelsdefizit in einen Handelsüberschuss umgewandelt werden. 2019 betrug das Handelsdefizit 29,5 Mrd. US$, da die Türkei Güter im Wert von 210,3 Mrd. US$ einführte. 2010 betrug das Außenhandelsdefizit noch 71,7 Mrd. US$.42 Der signifikante und stetige Rückgang wird durch eine kontinuierliche Steigerung der Exporte um bis zu 60 % ermöglicht. 39 (Weisflog 2019). 40 (Sydow 2019). 41 (Rötzer 2018). 42 (Wirtschaftskammer Österreich 2020, S. 6).
5 Türkei: Geoökonomie als neues Element der Außenpolitik 73 5.3 Fazit Die ambitionierten Ziele Erdoğans und der Türkei sind allerdings stark abhängig von der Gesundung der türkischen Wirtschaft und der türkischen Lira. Die geo- politischen und geoökonomischen Strategien in der türkischen Außenpolitik haben den Fokus in Ankara von der Europäischen Union auf den erweiterten Mittleren Osten gelenkt. Eine Entwicklung, die in Europa für Verunsicherung sorgen kann, aber aus türkischer Sicht durchaus sinnvoll erscheint. Schließlich konnten seit dem Antrag auf Assoziierung in der Europäischen Gemeinschaft (1959) bis heute keine nennenswerten Fortschritte hinsichtlich der angestrebten Vollmitgliedschaft in der EU verzeichnet werden. Die Verschlechterung der türkisch-europäischen Beziehung bei gleichzeitiger Renaissance der türkischen Aktivitäten in den ehemaligen Sphären des Osmanischen Reiches wird für die EU schmerzhafter sein, als für die widererstarkte Türkei. Christian Johannes Henrich, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Bonn, Siegen, Inns- bruck und Bursa. Dozent für Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaft an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management. Literatur Al Jazeera (2017). Turkey sends more troops to Qatar. https://www.aljazeera.com/ news/2017/12/27/turkey-sends-more-troops-to-qatar. Zugegriffen: 27. Dezember 2020. Bellers, J. & Kirchschlager, M. A. (2010). Außenpolitik: Zwischen Geopolitik und Geoöko- nomie. In: W. Gieler & C. J. Henrich (Hrsg.), Politik und Gesellschaft in der Türkei. Im Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, (S. 69–90). Wiesbaden. Davutoğlu, A. (2014/2001). Stratejik Derinlik. Türkiye’nin Uluslararası Konumu. 115. Auf- lage, Istanbul. DPFZA (2020): Turkish Bilateral Meeting. https://dpfza.gov.dj/turkish-bilateral-meeting. Zugegriffen: 20. Februar 2021. Dündar, C. (2016). Abschied von Amerika. Die Zeit. https://www.zeit.de/2016/33/tuerkische- aussenpolitik-tuerkei-russland-beziehungen-westen-meine-tuerkei. Zugegriffen: 25. Dezember 2020. Elekdağ, M. Ş. (1996). 2 ½ War Strategy. Perception 1, March-May 1996. http://sam.gov. tr/pdf/perceptions/Volume-I/march-may-1996/SukruElekdag.pdf. Zugegriffen: 26. Dezember 2020. Erdmann, G. & Herzog, O. (2012). Die Türkei in Afrika: im Schatten des Neo-Osmanismus? GIGA Focus Afrika 1, Hamburg.
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