Der Einfluss der Fischerei auf Natur, Umwelt und biologische Vielfalt - eine kritische Bewertung eines aktuellen Diskussionspapiers zur ...

 
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Zeitschrift für Fischerei
Perspektiven                                                                    Erstes deutschsprachiges OpenAccess-Journal der Fischereiforschung

                                                                                                                                                     ZEITSCHRIFT
                                                                                                                                                     FÜR FISCHEREI

Der Einfluss der Fischerei auf Natur, Umwelt und biologische Vielfalt
– eine kritische Bewertung eines aktuellen Diskussionspapiers zur
Biodiversitätskrise aus fischereiwissenschaftlicher Sicht
Robert Arlinghaus1, 2, Alexander Brinker3, 4, Christian Wolter1

 1
   Leibniz-Institut für Gewässer-         Zusammenfassung
 ökologie und Binnenfischerei,            Die Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften legte im Jahr 2020 eine
 Abteilung Biologie und Ökologie          Analyse zur Biodiversitätskrise in terrestrischen und aquatischen Ökosystemen
 der Fische, Müggelseedamm 310,
                                          vor. Die in diesem normativen Bericht getätigten Aussagen zur Rolle und Bedeu-
 12587 Berlin,
 2
   Humboldt-Universität zu Berlin,        tung der Fischerei und Aquakultur beim Rückgang der Biodiversität werden in
 Lebenswissenschaftliche Fakultät,        vorliegendem Beitrag einer kritischen Bewertung unterzogen. Im Ergebnis wird
 Fachgebiet für Integratives Fische-      konstatiert, dass das Management der globalen Fischerei in den letzten Jahren
 reimanagement, Philippstrasse 13,
                                          eine deutliche Verbesserung erfahren hat und dass die Aquakultur vielfach zu den
 Haus 67, 10115 Berlin.
 3
   Fischereiforschungsstelle Baden-       ressourcenschonendsten Erzeugungsmethoden tierischen Proteins gehört. Beide
 Württemberg, Argenweg 50/1,              Fischereizweige, Aquakultur und Fischerei, sind wesentlich für die weltweite Le-
 88085 Langenargen                        bensmittelversorgung mit tierischem Protein, auch und insbesondere in den Ent-
 4
   Universität Konstanz, Universitäts-
                                          wicklungsländern. Heute wird die Mehrzahl der genutzten marinen Fischbestän-
 straße 10, 78464 Konstanz
                                          de, die 79 % des globalen Fangertrags liefern, nachhaltig bewirtschaftet. Während
 Korrespondierender Autor                 die Fischerei einen dominierenden Einfluss auf Biomasse und Größenstruktur von
 Robert Arlinghaus                        marinen Fischpopulationen ausübt, sind in Binnengewässern hingegen weit über-

                                                                                                                                                                     Fischartenschutz
 arlinghaus@igb-berlin.de
                                          wiegend andere Faktoren als die Fischerei als Haupteinflussfaktor auf die Biodi-
 Eingereicht: 01.07.2020                  versität anzusehen. Dementsprechend trägt eine veränderte Managementpraxis
 Begutachtet: 15.07.2020                  der Binnenfischerei kaum zum Stopp der Biodiversitätskrise bei, wohingegen die
 Erhalt Überarbeitung: 25.08.2020         Senkung der Fischereisterblichkeit in übernutzten marinen Fischbeständen Ab-
 Akzeptiert: 26.08.2020
                                          undanz und Größenstruktur der Fischpopulationen anheben dürfte. Insgesamt
 Zitierhinweis                            hat der Leopoldina-Bericht die Charakterisierung der Fischerei- und Aquakultur-
 Arlinghaus, R., Brinker, A., Wolter,     effekte und die Möglichkeiten des Fischereimanagements auf die Biodiversität
 C. (2021): Der Einfluss der Fischerei    ungenau und zu pessimistisch widergegeben.
 auf Natur, Umwelt und biologische
 Vielfalt – eine kritische Bewertung
                                          Schlagworte: Aquakultur, Artenschutz, Biodiversität, Fangfischerei, wissenschaftlicher Diskurs
 eines aktuellen Diskussionspapiers
 zur Biodiversitätskrise aus fischerei-
 wissenschaftlicher Sicht. Zeitschrift
 für Fischerei 1: Artikel 3: 1-12.
                                          Abstract
 DOI: 10.35006/fischzeit.2020.8
                                          In 2020, the Leopoldina National Academy of Sciences of Germany published a
 Verantwortlicher Redakteur:              report on the biodiversity crisis in terrestrical and aquatic ecosystems. It is nor-
 Thomas Meinelt                           mative in orientation. In this paper, the reported impacts of fisheries and aqua-
 tm@zeitschrift-fischerei.de
                                          culture on biodiversity are critically reviewed. It is concluded that the manage-
 Finanzierung                             ment of global marine fisheries has seen substantial improvements over the last
 Gefördert aus Mitteln des BMBF,          decade and that aquaculture belongs to the most efficient and environmentally
 des BfN, des BMU, sowie vom Lan-         friendly production method of animal protein. Both fisheries and aquaculture are
 desverband Sächsischer Angler e.V.
                                          crucial for maintaining the supply of animal protein, particularly in the developing
 dem Landesfischereiverband Bayern
 e.V., dem Anglerverband Nieder-          world. Today, the majority of global fish stocks who are responsible for 79% of
 sachsen und der FUND-Stiftung.           global landings are sustainably exploited. While capture fisheries continues to
                                          have a structuring effect on the biomass and size structure of marine fish popula-
 Interessenkonflikt
                                          tions, in inland waters non-fishing impacts have had substantially stronger nega-
 Keiner.
                                          tive impacts on biodiversity than inland fisheries. Therefore, a change of inland
 Ergänzendes Material                     fisheries management is unlikely to help halt the biodiversity loss. By contrast, a
 Keines.                                  further reduction in fishing mortality in overexploited marine fish stocks may help
                                          the abundance and size structure of fish. Overall, the Leopoldina report has over-
 Copyright
 © Autore(en) 2021, veröffentlicht        stated the impacts of fisheries and aquaculture on biodiversity and has painted a
 unter der creative commons Lizenz        too pessimistic outlook.
 CC-BY-NC 4.0
 www.zeitschrift-fischerei.de             Keywords: Aquaculture, species protection, biodiversity, capture fisheries, scientific discourse

                                                                 Seite 1 / 12
Einfluss der Fischerei auf die Biodiversität                              Arlinghaus et al.
                   ZEITSCHRIFT
                   FÜR FISCHEREI

                   Fazit für die Praxis
                   • Die Fischerei verändert vor allem die Biomasse und die Größenstruktur von Fischbeständen, führt aber in den seltens-
                        ten Fällen zum irreversiblen Verlust von Arten.
                   • Effektives Fischereimanagement basiert auf drei Säulen: 1) Verfügbarkeit regelmäßiger Bestandszustandsindikatoren,
                        2) Kontrolle der Fischereisterblichkeit sowie 3) Kontrolle und Durchsetzung von Bestimmungen.
                   • Sofern die Selektivität der Fischerei und eine geringe Rückwurfsterblichkeit gewährleistet werden, kann ein Popula-
                        tionszusammenbruch in der Fangfischerei effektiv über längenbasierte Fangbestimmungen vermieden werden.
                   • Meeresschutzgebiete und damit einhergehende Fischereiverbote sind keine zwingende Voraussetzung für einen nach-
                        haltigen Schutz der Biodiversität.
                   • Eine nachhaltige Aquakultur ist die einzige praktikable Option, die globale Versorgung mit dem Lebensmittel Fisch für
                        alle bezahlbar zu machen und in der benötigten Menge bereitzustellen.

                   1.         Einführung

                   Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina ist                     veraltet oder widersprüchlich. Der vorliegende Text äußert
                   seit 2008 die Nationale Akademie der Wissenschaften in                     daher einige ergänzende Gedanken und aktualisiert ausge-
                   Deutschland. Gemäß ihrem auf ihrer Webseite publizierten                   wählte Fakten, die zu einer anderen Bewertung der Fische-
                   Leitbild bearbeitet die Leopoldina „unabhängig von wirt-                   reiwirkungen auf die Biodiversität führen. Unser Beitrag ist
                   schaftlichen oder politischen Interessen wichtige gesell-                  als wissenschaftlicher Diskursbeitrag zu verstehen und soll
                   schaftliche Zukunftsthemen aus wissenschaftlicher Sicht,                   ausgewählte wissenschaftliche Studien würdigen, deren Er-
                   vermittelt die Ergebnisse der Politik und der Öffentlichkeit               gebnisse die Aussagen von Drenckhahn et al. (2020a, b)
                   und vertritt diese Themen national wie international“. Da-                 vervollständigen, präzisieren und teilweise richtigstellen.
                   mit ist die Akademie eine politikberatende wissenschaftli-
                   che Einrichtung, deren Stellungnahmen und Empfehlungen
Fischartenschutz

                   regelmäßig eine große gesellschaftliche Strahlkraft entfal-                2.      Sind die Ozeane leer gefischt?
                   ten.
                   In der Reihe „Leopoldina Diskussion“ sind ein Diskussions-                 Im Diskussionspapier sowie in dem begleitenden um-
                   papier (Drenckhahn et al. 2020a) und ein begleitender Do-                  fangreichen Dokumentationsband von Drenckhahn et
                   kumentationsband (Drenckhahn et al. 2020b) erschienen.                     al. (2020a, b) wird konstatiert, dass „nur 32 Prozent aller
                   Beide Dokumente beschäftigen sich in unterschiedlichem                     Fischpopulationen … einen zufriedenstellenden Zustand
                   Detailgrad mit der globalen Biodiversitätskrise und präsen-                [haben], während alle anderen entweder unter der kriti-
                   tieren allgemeine und spezifische Handlungsempfehlungen,                   schen Biomasse oder über der kritischen Nutzungsrate lie-
                   wie Deutschland und die Europäische Union dem Biodiversi-                  gen“. Diese Statistik ist Costello et al. (2016) entnommen
                   tätsrückgang entgegenwirken können. Zur Kritik herangezo-                  und meint, dass aktuell nur 32 % aller untersuchten (mari-
                   gen wird neben der Kurzfassung (Drenckhahn et al. 2020a)                   nen) Fischbestände eine Bestandsbiomasse aufweisen, die
                   der vorab online zur Diskussion gestellte Dokumentations-                  a) genauso groß oder größer ist als die, die den maximalen
                   band (Drenckhahn et al. 2020b).                                            Dauerertrag (MSY) hervorbringt (BMSY), und b) gleichzeitig
                   Durch das Format des Diskussionspapiers bietet die Leopol-                 eine fischereiliche Sterblichkeitsrate F herrscht, die ge-
                   dina Wissenschaftler*innen die Möglichkeit, Denkanstöße                    ringer ist als die, die den maximalen Dauerertrag hervor-
                   zu geben oder Diskurse anzuregen und hierfür auch politi-                  bringt (FMSY). Sowohl BMSY als auch FMSY sind etablierte und
                   sche Empfehlungen zu formulieren. Konkret positionieren                    häufig genutzte Referenzpunkte, die regelmäßig in Analy-
                   sich die Autor*innen des Leopoldina-Biodiversitätskrisen-                  sen des globalen Überfischungszustands verwendet wer-
                   papiers normativ und geben konkrete politische Empfehlun-                  den (z. B. Worm et al. 2009; Hilborn et al. 2020). Wenn
                   gen, durch die der Biodiversitätsrückgang gestoppt werden                  nach Drenckhahn et al. (2020a) nur 32 % der fischereilich
                   soll. Damit gehen Drenckhahn et al. (2020a, b) deutlich                    genutzten Fischpopulationen einen zufriedenstellenden
                   über eine neutral-sachliche Ergebnisdokumentation zum                      Zustand aufweisen, also nachhaltig befischt sind, bedeu-
                   Zustand der Biodiversität hinaus. Dementsprechend wich-                    tet das im Umkehrschluss, dass 68 % aller untersuchten
                   tig ist es, dass die Zustandsbeschreibungen zur Biodiversität              fischereilich genutzten Fischpopulationen ein überfischter
                   in aquatischen und terrestrischen Ökosystemen möglichst                    Zustand kennzeichnen muss. Das sind nach Drenckhahn
                   vollständig und fehlerfrei recherchiert sind. Hier setzt vor-              et al. (2020a, b) zwei Drittel bzw. die Mehrheit aller mari-
                   liegender Kommentar mit Bezug zu Fischerei und Biodiversi-                 nen Fischpopulationen.
                   tät unter Wasser an.                                                       Dieser Einschätzung können wir aus zwei Gründen nicht fol-
                   Das Leopoldina Papier äußert sich an verschiedenen Stellen                 gen. Erstens haben in den letzten 15 Jahren umfangreiche
                   zu den Auswirkungen der Fangfischerei und Aquakultur auf                   Reformen der Fischereipolitik dazu geführt, dass die Fische-
                   die Biodiversität. Obwohl die dargestellten Zusammenhän-                   reisterblichkeit in vielen marinen Fanggebieten gesunken
                   ge durchaus ihren Widerhall in der publizierten Fachlitera-                ist und die aktuelle Biomasse im Durchschnitt über alle er-
                   tur finden, sind einige Fakten unvollständig oder in Teilen                fassten marinen Fischbestände heute über BMSY liegt (Hil-

                   Zeitschrift für Fischerei 1: Artikel 3:1-12                      Seite 2 / 12                                               © Autor(en) 2021
                   DOI: 10.35006/fischzeit.2020.8
Arlinghaus et al.                                 Einfluss der Fischerei auf die Biodiversität
                                                                                                                                                 ZEITSCHRIFT
                                                                                                                                                 FÜR FISCHEREI

born et al. 2020). Zweitens nutzen Costello et al. (2016)                  müssten Bezug und Bezugszeitraum für diese Angabe er-
zur Analyse des Überfischungsgrads neben bestandskund-                     läutert werden. Sind 80 % aller Bestände gemeint, 80 %
lichen Daten auch Fang- bzw. Anlandungsdaten, die die                      aller Individuen oder 80 % der Biomasse einer Art oder
Wahrscheinlichkeit der Überfischung systematisch über-                     aller Thunfischarten und zu welchem Referenzzeitpunkt?
schätzen (Branch et al. 2011). Schaut man sich die besten                  Dazu äußern sich die Autorinnen und Autoren leider nicht.
verfügbaren bestandskundlichen Daten an, die mehr als                      Wahrscheinlich ist der Rückgang der Biomasse aller Thun-
die Hälfte des globalen Fischertrags repräsentieren, zeigen                fische um 80 % gegenüber einem unklar bleibenden Refe-
Hilborn et al. (2020) in einer aktuellen Studie, dass 47 %                 renzzeitraum gemeint. Eine umfassende Metaanalyse der
aller marinen Fischpopulationen heute in einem nach allen                  Überfischung von Thunfischen dokumentiert tatsächlich
Kriterien nachhaltigen Zustand sind. Das sind 15 Prozent-                  einen erheblichen Biomasserückgang der Thunfischarti-
punkte mehr als Drenckhahn et al. (2020a) berichten. Bei                   gen, wenn auch im Mittel „nur“ um 52,2 % im Zeitraum
weiteren 19 % aller Bestände sind die fischereilichen Sterb-               1954 bis 2006 (Juan-Jordá et al. 2011). Allerdings zeigt
lichkeiten heute geringer als FMSY, d. h. die Bestandsgrößen               diese Mittelwertbetrachtung nicht, dass numerisch gese-
werden sich mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb der                    hen die Mehrzahl der von Juan-Jordá et al. (2011) ana-
nächste 10 Jahre wieder erholen (Hilborn et al. 2020). Da-                 lysierten Thunfischbestände (57 % bzw. 12 von 19 Popu-
mit ist absehbar, dass in wenigen Jahren zwei Drittel aller                lationen) seit Mitte der 2000er Jahre nachhaltig befischt
fischereilich genutzten Fischpopulationen nachhaltig be-                   werden. Selbst die von Juan-Jordá et al. (2011) noch als
fischt sind.                                                               stark überfischt charakterisierten Blauflossenthunfischbe-
Damit übereinstimmend weist auch der vielzitierte Bericht                  stände (Thunnus thynnus) sind nach neuesten Bestands-
der FAO (2018) zum globalen Fischereizustand aus, dass                     analysen heute nicht mehr überfischt, und ihre Biomassen
etwa ein Drittel aller Bestände weltweit überfischt sind,                  erholen sich wieder (SCRS 2019). Auch bei den Blauflos-
wohingegen zwei Drittel aller Populationen nachhaltig be-                  senthunfischen hat offenbar eine Verbesserung des Fi-
fischt werden. Der aktuelle FAO (2020) Bericht bestätigt                   schereimanagements Wirkung gezeigt.
diese Zahlen. Diese rund zwei Drittel nachhaltig genutzte
Bestände sind für 79 % der globalen Fangfischereierträge

                                                                                                                                                                 Fischartenschutz
verantwortlich (FAO 2020). Dagegen schreiben Drenckhahn                    4.      Systematischer Verlust von großen Raubfischen?
et al. (2020b): „Zwei Drittel der globalen Fischbestände sind
maximal befischt oder bereits überfischt“. Diese Angaben                   Mit Verweis u. a. auf die viel zitierte Studie von Pauly et al.
decken sich weder mit denen der FAO (2018, 2020) noch                      (1998) zum „Fishing Down Marine Food Webs“ präsentie-
mit Hilborn et al. (2020).                                                 ren Drenckhahn et al. (2020b) ein beliebtes Überfischungs-
An anderer Stelle wiederum schreiben Drenckhahn et al.                     narrativ, nach dem die Fischerei systematisch die besonders
(2020b) mit Verweis auf Fernandes et al. (2017): „Im Jahr                  profitablen, großen Raubfische aus den Ökosystemen ent-
2015 wurden 33 Prozent der Meeresfischbestände über-                       fernt. Anschließend wird erläutert, dass dieser Verlust zu
fischt, 60 Prozent wurden maximal an der Obergrenze der                    kaskadenartigen Veränderungen der Nahrungsnetze und
Nachhaltigkeit befischt und nur 7 Prozent wurden geringer                  zur irreversiblen Umstrukturierung von Ökosystem und
befischt“. Diese Zahlen entsprechen den Einschätzungen                     -funktion beiträgt. Am Ende der Entwicklung droht die Be-
der FAO (2018, 2020), finden sich aber nicht in der zitierten              günstigung von Quallenpopulationen oder Krebstieren am
Quelle. Fernandes et al. (2017) beschäftigen sich nur mit eu-              unteren Ende der Nahrungskette (z. B. Utne-Palm et al.
ropäischen Beständen und berichten einen Überfischungs-                    2010). Das komplette Umkippen eines Ökosystems in einen
grad von 47 % aller Bestände auf Basis bestandskundlicher                  alternativen stabilen Zustand beschreiben Drenckhahn et
Daten. Die Überfischung in Europa (und weltweit) ist regi-                 al. (2020b) als typische Auswirkung der intensiven Fangfi-
onal sehr unterschiedlich verteilt (Hilbon et al. 2020) und                scherei. Exemplarisch wird das Lehrbuchbeispiel der Kabel-
insbesondere im Mittelmeer ausgeprägt (FAO 2020; Fern-                     jaufischerei (Gadus morhua) vor Neufundland, Kanada, an-
andes et al. 2017), wohingegen sich die Situation im Atlantik              geführt.
deutlich verbessert hat (Fernandes & Cook 2013; Hilborn                    Zweifellos kann die intensive Fischerei zu einer Veränderung
& Arlinghaus 2017). Insgesamt ist zu konstatieren, dass                    von trophischen Kaskaden führen (Frank et al. 2005; Altieri
Drenckhahn et al. (2020a, b) an unterschiedlichen Stellen                  et al. 2012). Es ist auch unstrittig, dass die Kabeljaufischerei
im Bericht nicht nur unterschiedliche Zahlen präsentieren,                 vor Neufundland durch die Überfischung kollabiert ist und
sondern den Überfischungsgrad deutlich schlechter darstel-                 sich trotz Moratorium bis heute nicht erholt hat (Savenkoff
len, als er heute ist.                                                     et al. 2007; Hutchings & Rangeley 2011). Kritikwürdig ist
                                                                           die Implikation, dass solch ein Fischerei-induzierter, abrup-
                                                                           ter und nachhaltiger Systemwechsel typisch und weit ver-
3.     80 Prozent weniger Thunfische im Ozean?                             breitet ist. Dafür fehlen Belege aus ökologischen Systemen
                                                                           bzw. es liegen diverse Studien vor, die das Gegenteil bele-
Drenckhahn et al. (2020b) schreiben ohne wissenschaft-                     gen (Neubauer et al. 2013; Hilborn et al. 2014; Capon et al.
lichen Beleg: „Schätzungen zu den größeren Fischbe-                        2015; Hillebrandt et al. 2020).
ständen des offenen Ozeans wie Thunfischartige gehen                       Pauly et al. (1998) entwickelten ihre Hypothese des "Fishing
von einem Rückgang von etwa 80 Prozent aus“. Zunächst                      Down Marine Food Webs" anhand der Analyse des mittle-

© Autor(en) 2021                                                 Seite 3 / 12                                    Zeitschrift für Fischerei 1: Artikel 3:1-12
                                                                                                                          DOI: 10.35006/fischzeit.2020.8
Einfluss der Fischerei auf die Biodiversität                                Arlinghaus et al.
                   ZEITSCHRIFT
                   FÜR FISCHEREI

                   ren trophischen Niveaus aller Arten in den Weltfangdaten.                 geringe bis keine nachhaltigen Effekte auf die unteren tro-
                   Da der mittlere trophische Level in den Fängen mit der Zeit               phischen Ebenen oder die Wasserqualität hat (Bernes et
                   sank, musste es zum systematischen Verlust der Räuber an                  al. 2015). Offenbar wird in den meisten Ökosystemen die
                   der Spitze der Nahrungskette (und des dementsprechend                     Biomasse der unterschiedlichen, niedrigen trophischen
                   hohen trophischen Niveaus) gekommen sein. Allerdings                      Ebenen vor allem von den Nährstoffen („bottom up“) und
                   sind diese Art Analysen sensitiv gegenüber dem Fang von                   nicht von den Räubern („top down“) gesteuert (Lynam et
                   Fischarten, die eine große Biomasse ausmachen. Detail-                    al. 2017; Matsuzaki et al. 2018; Kokkonen et al. 2019; Sgu-
                   lierte Analysen durch Branch et al. (2010) zeigten, dass in               otti et al. 2019; Bartrons et al. 2020). Insgesamt scheint
                   vielen Gebieten der Welt der mittlere trophische Level im                 der Einfluss der Raubfische als Regulator der Abundanz und
                   Fang zu- anstatt abnimmt, wie es Pauly et al. (1998) in der               Größenstruktur ihrer Beutefische oder gar des Zoo- oder
                   vielzitierten, primären Publikation in Science postulierten.              Phytoplanktons geringer als vielfach angenommen wird
                   In der Summe sind die systematische Ausbeutung von Raub-                  (Mehner 2010; Bartrons et al. 2020). Dementsprechend
                   fischen und die daraus resultierende Veränderung des Nah-                 sind von der Fischerei ausgelöste trophische Kaskaden über
                   rungsnetzes hin zur Dominanz von Quallen und Krebstieren                  die systematische Dezimierung von Räubern zwar denkbar,
                   nur in Ausnahmefällen empirisch belegt. So zeigen Essing-                 schlagen aber in den wenigstens Fällen nachhaltig auf die
                   ton et al. (2006), dass es mit Ausnahme des Nordatlantiks                 unteren trophischen Ebenen oder gar die Wasserqualität
                   keine Belege für das systematische Herunterfischen der                    durch. Selbst wenn starke „top down“ Effekte durch die Fi-
                   Raubfische entlang des Nahrungsnetzes gibt. Im Gegenteil,                 scherei auf die Biomasse oder Größenstruktur von genutz-
                   in den meisten Ozeanen wurden mit der Zeit vermehrt Tiere                 ten Fischpopulationen nachweisbar sind, folgt daraus nicht
                   auf den unteren Stufen der Nahrungskette in die Fischerei                 zwangsläufig, dass dadurch die Biodiversität – also die Viel-
                   aufgenommen. Der Grund ist, dass auch Tiere im unteren                    falt an Genen, Arten und Gemeinschaften – nachhaltig oder
                   Bereich des Nahrungsnetzes profitable Fischereiprodukte                   gar irreversibel beeinflusst wird.
                   darstellen (z. B. Hummer). Dementsprechend zeigen Es-
                   sington et al. (2006), dass in vielen Gegenden der Welt eine
                   „Fischerei durch das Nahrungsnetz“ („fishing through the                  6.      Ökologische Kipppunkte und Regimewechsel
Fischartenschutz

                   food web“) und nicht etwa eine „Fischerei von oben nach
                   unten entlang des Nahrungsnetzes“ („fishing down the food                 Mit Bezug auf das Kabeljau-Beispiel unterstellen Dren-
                   web“) stattgefunden hat. Anders ausgedrückt: Die Fischerei                ckhahn et al. (2020b) im Bericht an mehreren Stellen, dass
                   dezimiert nicht immer zuerst die profitablen Raubfische bis               ein einmal überfischter Zustand kaum reversibel ist, selbst
                   unterhalb der Existenzgrenze, um dann die nächste trophi-                 wenn die Fischerei eingestellt wird. Rekurriert wird auf die
                   sche Ebene abzufischen, bis am Ende mangels Fressfeinden                  Theorie alternativer stabiler Zustände am Beispiel des Dor-
                   Quallen und Krebse im Ozean akkumulieren. Das „Fishing                    sches (Frank et al. 2005; Savenkoff et al. 2007). Zweifel-
                   Down the Food Web“ Narrativ wurde inzwischen mannig-                      los gibt es in aquatischen Systemen Kipppunkte und alter-
                   faltig widerlegt.                                                         native stabile Zustände (Capon et al. 2015). Ebenso gibt
                                                                                             es die Möglichkeit, dass einmal überfischte Bestände in
                                                                                             lokalen Minima verharren, d. h. über lange Zeiträume nur
                   5.         Kann die Fischerei die unteren trophischen                     sehr geringe Abundanzen aufweisen, nachdem sogenann-
                              Ebenen strukturieren?                                          te Depensationspunkte überschritten wurden (Hutchings
                                                                                             2014). Allerdings zeigen aktuelle Metaanalysen von scharf
                   Die Frage, welche Wirkungen die scharfe Befischung von                    befischten Beständen, dass gerade bei Fischen das Verhar-
                   Räubern in Nahrungsnetzen hat, kann in vielen marinen Ge-                 ren bei geringer Biomasse eher selten anzutreffen ist (Keith
                   bieten kaum im Detail studiert werden, weil Experimente                   & Hutchings 2012; Hilborn et al. 2014). Im Gegenteil, die
                   schwierig sind und Kontrollen und Replikate fehlen. Ohne                  Mehrheit der überfischten Bestände erholt sich rasch wie-
                   Experimente können jedoch Ursache-Wirkungs-Bezie-                         der, sofern die Fischereisterblichkeit reduziert wird (Duarte
                   hungen nicht zweifelsfrei geklärt werden. Demgegenüber                    et al. 2020; Hutchings & Kuparinen 2020).
                   können Fischerei- und Bewirtschaftungsexperimente in                      Natürlich können auch Regimewechsel auftreten. Sie ent-
                   besser kontrollierbaren Binnengewässern (vor allem Seen)                  stehen aber in der Regel durch das Zusammenspiel von
                   Antworten darauf geben, welche ökologische Wirkung von                    hohem Fischereidruck und ungünstigen Umweltfaktoren
                   der Spitze des Nahrungsnetzes ausgeht, insbesondere,                      für die Reproduktion und werden nicht durch die Fischerei
                   wenn die Fischerei die Raubfische dezimiert. In den 1980er                als alleiniger Faktor ausgelöst (Sguotti et al. 2019). In den
                   und 1990er Jahren wurde zu dieser Frage eine Vielzahl                     meisten Fällen scheint der Wirkzusammenhang folgender-
                   von sogenannten Biomanipulationsversuchen initiiert, mit                  maßen zu sein: starke Befischung reduziert die Biomasse
                   dem Ziel, durch die Förderung der Raubfische Fraßdruck                    und die mittleren Längen im Bestand; verringert sich dann
                   auf zooplanktivore Fische auszuüben, um eine trophische                   die Sterblichkeit, erholen sich die Biomassen der in der Re-
                   Wirkkaskade zu initiieren, die am Ende zur Eindämmung                     gel sehr fruchtbaren Fische meist sehr rasch und die mittle-
                   des Phytoplanktons und klarerem Wasser führt. Aktuelle                    ren Längen steigen an (Hilborn et al. 2014). Vielfach ist eine
                   Metaanalysen zeigen, dass die Förderung der Raubfische                    Erholung der Biomasse innerhalb von zehn Jahren belegt
                   (bzw. im Umkehrschluss ihre systematische Entfernung)                     (Neubauer et al. 2013; Hilborn et al. 2014). Selbstverständ-

                   Zeitschrift für Fischerei 1: Artikel 3:1-12                     Seite 4 / 12                                                © Autor(en) 2021
                   DOI: 10.35006/fischzeit.2020.8
Arlinghaus et al.                                 Einfluss der Fischerei auf die Biodiversität
                                                                                                                                                ZEITSCHRIFT
                                                                                                                                                FÜR FISCHEREI

lich bestätigen Ausnahmen wie beim Neufundlandkabeljau                     diskutiert (Hilborn 2016) und hängt von vielen Details der
die Regel.                                                                 Fischerei, den Wanderbewegungen der Arten und dem so-
                                                                           genannten Spill-Over von Jung- oder Altfischen ab. Auch
                                                                           kann der Ausschluss der Fischerei in einem Gebiet einen er-
7.     Meeresschutzgebiete als prioritäre                                  höhten Fischereidruck andernorts bewirken, so dass in der
       Politikantwort gegenüber Überfischung?                              Summe die Fischereisterblichkeit nicht zwangsläufig sinkt.
                                                                           In diesem Fall verlagern Schutzgebiete die Probleme ledig-
Völlig zu Recht weisen Drenckhahn et al. (2020b) darauf                    lich, ohne sie zu lösen. Beispielsweise wurde für das Great
hin, dass Verbesserungen im Fischereimanagement zu-                        Barrier Reef nachgewiesen, dass das Unterschutzstellen
nächst bedeuten, die Fischereisterblichkeit auf ein nachhal-               großer Gebiete keine positiven Spill-Over Effekte zeigte und
tiges Niveau zu reduzieren (d. h. < FMSY). Ebenfalls ist Dren-             sich die Gesamtfischereierträge nicht positiv veränderten
ckhahn et al. (2020b) uneingeschränkt zuzustimmen, dass                    (Fletcher et al. 2015).
eine nachhaltige Fangfischerei gesellschaftlich gewünscht                  Grundsätzlich ist die Ausweisung von Meeresschutzgebieten
ist. Fraglich ist allerdings, ob die von dem Autorenteam be-               nur eine Maßnahme von vielen, der weitere Alternativen
vorzugte Einrichtung umfangreicher Meeres- und anderer                     zur Zielerreichung gegenüberstehen. Neben Schutzgebieten
Schutzgebiete, in denen die Fischerei generell verboten                    als Bewirtschaftungswerkzeug stehen als weitere Maßnah-
wird, die einzig richtige Möglichkeit zur Erreichung dieses                men z. B. zur Auswahl: Quoten, Stilllegungen, Verfügungs-
Ziels in Meeresökosystemen ist. Drenckhahn et al. (2020b)                  rechte, selektive Fangmethoden, Schonmaße, Schonzeiten,
gehen so weit zu sagen, dass es eine Grundbedingung für                    Beschränkungen von bestimmten Fangmethoden, Steuern/
die Planung von Meeresschutzgebieten ist, darin die Ent-                   Abgaben. Wie eine aktuelle Metaanalyse zeigt (Melnychuk
nahme von Tieren (also die Fischerei) komplett zu unter-                   et al. 2017), beruht der Erfolg des Fischereimanagements
sagen.                                                                     auf der Berücksichtigung grundsätzlicher Prinzipien, un-
Diese Empfehlung ist eines der fünf Kriterien für effektive                abhängig von einer konkreten Politikoption oder Maßnah-
Schutzgebiete von Edgar et al. (2014). Wichtig zu bemerken                 me. Wichtig sind drei Dinge: das regelmäßige Monitoring
ist, dass die Wirksamkeit von Meeresschutzgebieten in der                  der Bestände, die Umsetzung von Maßnahmen, die den

                                                                                                                                                                Fischartenschutz
Metaanalyse von Edgar et al. (2014) ausschließlich an dem                  Fischereidruck in akzeptablen, nachhaltigen Höhen halten
Beitrag zur Erholung der Biomasse von Fischen ausgerichtet                 oder andere negative Wirkungen der Fischerei (wie z. B.
wird. Natürlich ist die Abundanz oder die Größenstruktur                   Habitatverlust durch bestimmte Schleppnetze) reduzieren,
der Artengruppe, die direkt von der Fischerei genutzt wird,                sowie die Kontrolle und Durchsetzung dementsprechender
am effektivsten durch einen Stopp der Fischereisterblichkeit               Maßnahmen (Melnychuk et al. 2017). In Situationen, wo
zu schützen. Ob dadurch aber die Biodiversität als Ganzes                  die Art der Fanggeräte den Fang von Jungfischen minimiert
gefördert werden kann, ist diskussionswürdig.                              und die Rückwurfsterblichkeit gering ist, kann eine nachhal-
Ein Schutzgebiet mit Fischereiverbot schützt in erster Linie               tige Fischerei auch ohne Vorliegen von Bestandsindikatoren
die Fische vor der Fischerei. Die Fischerei verändert vor al-              erfolgen, z. B. durch das Steuern der Fanggeräteselektivität
lem Biomassen und Größenstrukturen von Fischbeständen,                     (Arlinghaus et al. 2018).
führt in der Regel aber nicht zum Aussterben von Fischar-
ten. Dementsprechend fördert ein solches Meeresschutz-
gebiet vor allem die Biomasse und Größe von Fischen,                       8.      Zur Süßwasserbiodiversität
nicht aber die Biodiversität als Ganzes über die Fische
hinaus (Lester et al. 2009). Alle anderen, eher überregio-                 Völlig zu Recht wird in Drenckhahn et al. (2020b) darauf
nal wirkenden Einflüsse auf die marine Biodiversität, wie                  hingewiesen, dass die wesentlichen Biodiversitätseinflüsse
Verschmutzung oder Versauerung werden beispielsweise                       in den Binnengewässern auf Treiber außerhalb der Fische-
durch Meeresschutzgebiete mit Fischereiverboten nicht                      rei zurückgehen. Dementsprechend fokussieren die Hand-
adressiert (Hilborn 2016). Sofern andere Wirkungen als                     lungsempfehlungen auf Managementlösungen, die vor
die Fischerei ursächlich für die Biodiversitätskrise im Ozean              allem außerhalb der Binnenfischerei ansetzen, wie die Um-
als Ganzes sind, wird ein Fischereiverbot in einem Meeres-                 setzung der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie, Aufwer-
schutzgebiet vor allem negative soziale Wirkungen auf den                  tung der Lebensräume, Rück- bzw. Umbau der Wasserkraft,
gesamten Fischereisektor und vielfach auch auf die Nah-                    Reduktion der Seeneutrophierung, Kleinstgewässerschutz
rungsmittelsicherheit haben und dabei Beiträge zum Biodi-                  oder Schutz und Wiederherstellung von Flussauen und
versitätsschutz über die Fische hinaus in vielen Fällen eher               Beseitigung von Migrationsbarrieren für Fische. Selbstver-
verfehlen (Lester et al. 2009).                                            ständlich gehört die nachhaltige Binnen- und Angelfischerei
Begründet wird ein Rückgriff auf Meeresschutzgebiete u. a.                 in diesen Maßnahmenkomplex.
mit dem ökonomischen Nutzen, den die gesteigerten Fisch-                   Zu ergänzen wäre noch, dass die Revitalisierung von Fluss-
populationen dann für die Fischerei außerhalb von Schutz-                  auen nicht nur die Biodiversität fördert, sondern auch nach-
gebieten bieten. Ob aus dem Ausschluss der Fischerei in                    haltig dem Hochwasserschutz dient. Auch müssen mehr res-
Schutzgebieten ein Nutzen für Fischpopulationen und den                    sortübergreifende Querschnittsaufgaben definiert werden:
Fischereiertrag in ungeschützten umgebenden Gebieten                       So kann beispielsweise die Europäische Wasserrahmen-
erwächst, wird in der Fachliteratur aber sehr kontrovers                   richtlinie nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn

© Autor(en) 2021                                                 Seite 5 / 12                                   Zeitschrift für Fischerei 1: Artikel 3:1-12
                                                                                                                         DOI: 10.35006/fischzeit.2020.8
Einfluss der Fischerei auf die Biodiversität                               Arlinghaus et al.
                   ZEITSCHRIFT
                   FÜR FISCHEREI

                   deren Umweltziele auch für die Landwirtschaft und Binnen-                   FO-Verhältnis als relativ konservative Methode gilt, errei-
                   schifffahrt verpflichtend sind.                                             chen hier selbst karnivore Spezies wie Lachs (Salmo salar)
                                                                                               Werte um 1 oder sogar deutlich darunter (Kok et al. 2020).
                                                                                               Aktuellere wissenschaftliche Kalkulationen ergeben noch
                   9.         Aquakultur                                                       geringere Werte (Ytrestøyl et al. 2015; Aas et al. 2019).
                                                                                               Während die Erzeugung von Fischen in Aquakultur weltweit
                   Der Bericht von Drenckhahn et al. (2020b) identifiziert die                 in den letzten Jahrzehnten exponentiell zugenommen hat,
                   Aquakultur korrekt als den am schnellsten wachsenden Le-                    blieb die Menge des global aus Wildfängen produzierten
                   bensmittelsektor der Welt, dessen Wachstum sich zwar im                     Fischmehls und Fischöls auf annähernd gleichem Niveau
                   Vergleich zu vergangenen Dekaden deutlich abschwächen                       (FAO 2020). Der geringere Verbrauch von Wildfisch im Fut-
                   wird, aber laut FAO (2020) bis 2030 noch durchschnittlich                   ter wurde dabei durch eine verbesserte Futterverwertung
                   über 2 % pro Jahr betragen soll. Aktuell wird für 2030 ein                  (Tacon 2020), die zunehmende Wiederverwertung von
                   Anstieg des Anteils der Aquakultur am globalen Speisefisch-                 Fischabfällen (Ytrestøyl et al. 2015) und einen steigenden
                   aufkommen von heute 52 % auf knapp 60 % prognostiziert                      Anteil von pflanzlichen Futterrohstoffen erreicht (Aas et al.
                   (FAO 2020).                                                                 2019). Setzt sich dieser Trend weiter fort, was momentan
                   Drenckhahn et al. (2020b) merken zu Beginn an, dass die                     sehr wahrscheinlich ist, so wird der Druck auf die marinen
                   Aquakultur ein nachhaltiges Fischereimanagement nicht                       pelagischen Kleinfischarten in naher Zukunft sogar substan-
                   ersetzen könne, eine Aussage, der vollkommen zuzustim-                      tiell sinken (Cottrell et al. 2020), und dies trotz der oben
                   men ist, die aber auch in der wissenschaftlichen Debatte                    genannten Wachstumsentwicklung der Aquakulturerzeu-
                   nie in Frage gestellt wurde. Die Erträge der globalen Fang-                 gung. Neue Futtermittelrohstoffe, die teilweise heute schon
                   fischerei stagnieren seit Jahrzehnten, und ein signifikanter                in größeren Mengen zu Verfügung stehen, z.B. Rohstoffe auf
                   Anstieg über das jetzige Niveau erscheint kaum möglich                      Algenbasis oder Mehle aus Insekten (Tibbetts 2018; Fisher
                   (FAO 2020), da die natürlichen Bestände biologisch limitiert                et al. 2020) beschleunigen diese Entwicklung.
                   sind. Ein Anstieg des Fischertrags aus der Fangfischerei ist                Dennoch müssen auch aktuelle Fehlentwicklungen klar be-
                   nur durch verbessertes Fischereimanagement (Hilborn &                       nannt werden, wie es Drenckhahn et al. (2020b) am Bei-
Fischartenschutz

                   Arlinghaus 2017) oder durch die Fangfischerei in Binnen-                    spiel Westafrikas richtigerweise aufzeigen. Hier gab es vor
                   gewässern möglich. Angesichts einer steigenden Weltbevöl-                   allem im letzten Jahrzehnt einen starken Anstieg der Fisch-
                   kerung kommt somit der Aquakultur als zweite Säule neben                    mehl- und Fischölproduktion aus regionalen Kleinfischvor-
                   den Erträgen der Fangfischerei zukünftig eine wichtige Rolle                kommen, die den Küstenbewohnern eigentlich als wichtige
                   bei der globalen Versorgung der Weltbevölkerung mit Fisch                   Nahrungsquelle dienten, jedoch heute durch die Konkur-
                   zu. Gerade auch in vielen ärmeren Regionen kann die Aqua-                   renzsituation knapp oder zu teuer sind, während die resul-
                   kultur einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherheit                     tierende Wertschöpfung nicht der lokalen Aquakultur und
                   leisten, auch da sie im Vergleich zur Fangfischerei weniger                 damit nicht in die Region zurückgeführt wurde (Isaacs 2016;
                   Fluktuationen unterliegt (Belton et al. 2018). Somit stellt sie             Corten et al. 2017). Dies ist ein Missstand, der schnellst-
                   gerade in ärmeren Regionen oft eine wichtige verlässliche                   möglich aufgelöst gehört. Dies ist jedoch ein regionales Pro-
                   Quelle für lebensnotwendige und gesundheitlich relevante                    blem, das politisch gelöst bzw. geregelt werden muss, und
                   Komponenten, wie essentielle ungesättigte Omega-3-Fett-                     ist kein immanentes grundsätzliches Problem der Aquakul-
                   säuren, Vitamine, hochverdauliches Protein und Spuren-                      tur.
                   stoffe wie Jod oder Selen dar (Mozaffarian & Rimm 2006;                     So dramatisch die Auswirkungen der genannten Entwick-
                   Béné et al. 2015; Thilsted et al. 2016).                                    lung in Westafrika für die Bevölkerung sind, sie eignen sich
                   Drenckhahn et al. (2020b) unterstellen in ihren Ausführun-                  nicht als repräsentatives Beispiel für die gesamte weltweit
                   gen, dass die meisten Aquakulturpraktiken nicht nachhal-                    agierende Branche. In Südamerika beispielsweise (Chile,
                   tig seien. Die Autoren argumentieren, dass der Einsatz von                  Peru), das für das Gros (40-50 %) der weltweiten Fischmehl-
                   Fischöl und Fischmehl, welches aus pelagischen Kleinfisch-                  und Fischölproduktion steht (FAO 2018), gibt es kaum einen
                   arten gewonnen werde, Menschen in weniger entwickel-                        Markt für die dort vorkommenden pelagischen Kleinfischar-
                   ten Ländern die Proteingrundlage entziehe und nennen als                    ten. Die peruanische Regierung hat sogar mit aufwändigen
                   Beispiel die Situation in Westafrika. Global und insgesamt                  Kampagnen versucht, den Konsum von Anchovis in der Be-
                   betrachtet stellt sich die Situation ein wenig komplexer                    völkerung zu steigern, was aber an mangelnder Nachfrage
                   dar: Momentan werden rund ein Viertel bis ein Drittel der                   scheiterte, hauptsächlich aufgrund der vorherrschenden Er-
                   globalen Fangmenge zu Fischmehl und Fischöl verarbeitet,                    nährungsgewohnheiten (Frèon et al. 2014).
                   wovon wiederum etwa 75 % in der Aquakultur eingesetzt                       Wissenschaftlich unbelegt bleibt die Aussage von
                   werden (Shepherd & Jackson 2013). In der Gesamtbilanz                       Drenckhahn et al. (2020b), dass die Fischerei der pelagi-
                   scheint dies gerechtfertigt, da die Aquakultur als Ganzes                   schen Kleinfischarten die marine Nahrungskette störe und
                   ein signifikanter Nettoerzeuger von Fisch ist. Das Verhältnis               die Versorgung vieler mariner Raubfische und Seevögel be-
                   von im Futter eingesetztem Wildfisch zu erzeugtem Zucht-                    drohe. Unstrittig ist, dass die Fangfischerei auf pelagische
                   fisch (FIFO: Fish-in fish-out-Verhältnis) lag laut Shepherd &               Kleinfischarten in die Nahrungskette eingreift, dass sie aber
                   Jackson (2013) 2010 bei 0,3. Dies bedeutet, dass aus 300                    eine Bedrohung für die Futtergrundlage mariner Prädato-
                   g Wildfisch 1000 g Zuchtfisch erzeugt wird. Obwohl das FI-                  ren darstellt, scheint eher unwahrscheinlich. Hilborn et al.

                   Zeitschrift für Fischerei 1: Artikel 3:1-12                       Seite 6 / 12                                                © Autor(en) 2021
                   DOI: 10.35006/fischzeit.2020.8
Arlinghaus et al.                                   Einfluss der Fischerei auf die Biodiversität
                                                                                                                                                 ZEITSCHRIFT
                                                                                                                                                 FÜR FISCHEREI

(2017) nennen mehrere Faktoren, die dazu geführt haben,                      gen im Bericht, die sich in ganz ähnlicher Weise wiederholt
dass der Einfluss der Fischerei auf den Bestand mariner                      in den Massenmedien finden und fern der Realität sind.
Prädatoren in bisherigen Studien oft deutlich überschätzt                    Allerdings ist der Selbstversorgungsgrad von Fisch und Mee-
wurde. Exemplarisch seien hier die extremen natürlichen                      resfrüchten in entwickelten Ländern wie Deutschland oft
Schwankungen der Fischgründe auch gänzlich ohne den Ein-                     gering, weshalb große Mengen importiert werden (Brämick
fluss der Fangfischerei erwähnt.                                             2018). Damit besteht die Gefahr, dass Produkte aus nicht-
Drenckhahn et al. (2020b) weisen darauf hin, dass die jüngs-                 nachhaltiger Produktion auf dem inländischen Markt ange-
ten Bemühungen um nachhaltige Aquakulturpraktiken, wie                       boten werden. In vielen Ländern fehlen vergleichbare Um-
die oben erläuterte Steigerung pflanzlicher Proteinanteile                   welt- und Produktionsstandards, wie es sie z. B. in der EU
im Futter, die negativen ökologischen Auswirkungen ab-                       gibt, so dass bei Importware ein deutlich höheres Risiko von
mildern können, ohne aber weiter auf die damit einherge-                     Umweltzerstörungen (Mangroven, etc.), flächendeckendem
henden Potentiale einzugehen. Im Gegenteil: Drenckhahn                       Medikamenteneinsatz oder mangelndem Tierwohl besteht
et al. (2020b) zählen lokale Fehlentwicklungen auf und pau-                  (Froehlich et al. 2020). Grenzwertüberschreitungen von
schalisieren so unangemessen, etwa bei den Ausführungen                      Rückständen eingesetzter Medikamente oder Chemikalien
zur Umwandlung von Küstenvegetation wie Mangroven/                           werden vor allem in Importfisch aus dem asiatischen Raum
Seegras zur Herstellung von Meeresfrüchten, zur Nutzung                      nachgewiesen (Hove et al. 2010).
von Futterfischen zur Herstellung von Fischmehl und zum                      Relevante aktuelle Probleme der Aquakultur in Europa sind
großflächigen Einsatz von Antibiotika. Diese Allgemeinplätze                 lokal auftretende Seuchengeschehen, die durch die Effekte
übersehen die hohe regionale Diversität der Produktionsbe-                   des Klimawandels verstärkt werden (Reid et al. 2019). Bei-
dingungen und werden der vielschichtigen Branche gerade                      spiele umfassen Parasiten wie z. B. die Lachslaus, die auch
in Europa nicht gerecht. Generell lassen Drenckhahn et al.                   Wildpopulationen gefährden können (Costello 2009), und
(2020b) außer Acht, dass sich Aquakulturverfahren global                     aus Zuchtanlagen entkommene Tiere, deren Rolle beim
grundlegend unterscheiden und sich dies dementsprechend                      Rückgang von Wildbeständen (z. B. beim Lachs) noch nicht
auch auf die regionalen Umweltbeeinflussungen auswirkt.                      abschließend geklärt ist (Castellani et al. 2018). Hier be-
Eine Einordung der Aquakultur bezüglich der Auswirkungen                     steht Forschungsbedarf, um diese Probleme zu verstehen

                                                                                                                                                                 Fischartenschutz
des Klimawandels, der gerade im globalen Kontext des Biodi-                  und sie in den Griff zu bekommen.
versitätsverlustes eine zentrale Rolle spielt, lässt der Bericht             In der Gesamtbilanz bietet die Aquakultur eine ressourcen-
gänzlich vermissen. Doch Haltungsformen und Fischarten,                      schonende Möglichkeit, ein hochwertiges tierisches Lebens-
wie sie in der Aquakultur auch in Deutschland und weiten                     mittel mit im Vergleich zu Warmblütern vergleichsweise ge-
Teilen Europas dominieren, erzeugen ein hochwertiges und                     ringem ökologischen Fußabdruck zu erzeugen (Hilborn et al.
sicheres tierisches Lebensmittel, welches im Vergleich zu                    2018). Darüber hinaus hat dieser noch relativ „junge“ Sektor
allen anderen terrestrischen Nutztierarten sehr ressourcen-                  großes Potential, den schon jetzt vergleichsweise niedrigen
effizient und gleichzeitig klimafreundlich erzeugt werden                    ökologischen Fußabdruck noch weiter zu senken. Die Aqua-
kann (Hilborn et al. 2018; MacLeod et al. 2019; Philis et al.                kultur kann somit einen wichtigen nachhaltigen Beitrag für
2019). Dies gilt aber nicht weltweit und die thematisierten                  die Welternährung leisten und damit zur Erreichung des glo-
Probleme z. B. bei Mangroven und Seegras sind evident und                    balen nachhaltigen Entwicklungsziels 2 „null Hunger“ (SDG
unbestritten (Ilman et al. 2016). Die Zielrichtung sollte aber               – Sustainable Development Goal 2) beitragen. Dabei gilt,
nicht sein, aufgrund real vorhandener Probleme und lokaler                   wie im Grunde bei allen Sektoren der Lebensmittelproduk-
Defizite die Aquakultur als Ganzes in Frage zu stellen, son-                 tion, geeignete Arten und Standorte sowie energieeffiziente
dern weltweit für den Einsatz und die Überwachung sicherer                   Haltungsformen zu fördern. Außerdem ist nach unserer Ein-
und nachhaltiger Verfahren zu sorgen und diese weiterzu-                     schätzung ein Ausbau der Aquakultur innerhalb Deutsch-
entwickeln: So wurden beispielsweise die direkten Umwelt-                    lands und der EU erstrebenswert, da hier einheitlich hohe
auswirkungen auf angrenzende Ökosysteme durch moderne                        Arbeits-, Umwelt- und Tierwohlstandards bestehen und die
Futtermittel und Klärtechnik in den letzten Jahrzehnten stark                signifikanten ökologischen Kosten von Transport und Kühl-
reduziert (Schumann & Brinker 2020).                                         kette entfallen. Die einzige Alternative ist ein weitgehender
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei einem differenzierteren                   globaler Verzicht auf tierische Lebensmittel, eine stringente
Blick auf die von Drenckhahn et al. (2020b) erwähnte Pro-                    Konsequenz, die Drenckhahn et al. (2020b) bei ihren Be-
blematik des flächendeckenden Antibiotikaeinsatzes in der                    wertungen und Forderungen unerwähnt lassen.
Aquakultur. Defoirdt et. al (2011), die von Drenckhahn et
al. (2020b) in diesem Zusammenhang zitiert werden, be-
tonen bereits in der Einleitung deutlich, dass es große re-                  10. Schlussfolgerungen
gionale Unterschiede bei der eingesetzten Wirkstoffmenge
gibt und weisen auf die strikten Regulierungen in Europa,                    Wie die sehr positive Gesamtentwicklung der marinen
Nordamerika und Japan diesbezüglich hin. In Norwegen,                        Fischpopulationen in den letzten 15 Jahren in vielen Gebie-
dem weltweit größten Erzeuger von Lachs, kann heute dank                     ten der Erde zeigt, ist das Fischereimanagement global gese-
flächendeckender Immunisierung gegen die verlustreichen                      hen auf einem besseren Weg als es der Leopoldina-Bericht
Seuchen mittlerweile nahezu vollständig auf Antibiotika ver-                 ausweist. Hingegen implizieren die Darstellungen in Dren-
zichtet werden (NorVeT 2016) – ganz entgegen den Aussa-                      ckhahn et al. (2020a, b), dass die Ökosysteme global durch

© Autor(en) 2021                                                   Seite 7 / 12                                  Zeitschrift für Fischerei 1: Artikel 3:1-12
                                                                                                                          DOI: 10.35006/fischzeit.2020.8
Einfluss der Fischerei auf die Biodiversität                                Arlinghaus et al.
                   ZEITSCHRIFT
                   FÜR FISCHEREI

                   Überfischung stark und in manchen Fällen irreversibel ge-                     globalen Biodiversitätskrise zu finden ist. Außerdem wären
                   schädigt sind. Auch an der Aquakultur finden Drenckhahn                       die Folgen für die Ernährungssicherung mit tierischem Pro-
                   et al. (2020a, b) wenig Positives, obgleich es sich bei dieser                tein verheerend.
                   Produktionsform um eine sehr ressourcenschonende Form                         Aus unserer Sicht zeichnet der Leopoldina-Bericht zur Bio-
                   der Erzeugung tierischen Proteins handelt. Die Darstellung                    diversitätskrise ein zu negatives und vor allem zu pauscha-
                   einer grassierenden Überfischung in der Meeresfischerei                       les Bild der Auswirkungen der Fangfischerei und Aquakultur
                   durch Drenckhahn et al. (2020a, b) strahlt zudem negativ                      auf Natur und Umwelt mit einer zu einseitigen Handlungs-
                   auf sämtliche Fangfischereien aus, inklusive der Angel- und                   option - Meeresschutzgebiete ohne Nutzung von Fischen.
                   Binnenfischerei, die de facto keinen Anteil am Artensterben                   Es darf bezweifelt werden, dass diese Maßnahme die ma-
                   im Süßwasser haben. Mit Ausnahme der Störe (Acipenser                         rine Biodiversität als Ganzes wirklich schützt oder vielmehr
                   spp.), bei denen die Fischerei in der Tat erheblichen Anteil                  die Dialektik zwischen Natur und Kultur und den Konflikt
                   hatte, wurden die hierzulande ausgestorbenen oder stark                       zwischen Naturschutz und Naturnutzung schürt. Auch wird
                   gefährdeten Süßwasser- oder Wanderfischarten wie Lachse                       in den Berichten von Drenckhahn et al. (2020a, b) über-
                   durch nicht-fischereiliche Faktoren, vor allem durch Verlust                  sehen, dass Fischer und Angler eine wesentliche Lobby für
                   der Laichgebiete und von Migrationsmöglichkeiten, an den                      den Gewässerschutz und insbesondere in Binnengewässern
                   Rand der Ausrottung getrieben oder sogar ausgerottet. Die                     auch aktive Gestalter und Förderer von Biodiversität sind,
                   Fangfischerei ist ein zusätzlicher Einflussfaktor, aber in der                vorwiegend der Fischartenvielfalt (Matern et al. 2019).
                   Regel nicht für ein Artensterben verantwortlich zu machen.                    Es wird auch übersehen, dass wesentliche Strukturen und
                   Es ist ein grundsätzliches ökonomisches Prinzip, dass die Fi-                 Prozesse im marinen Fischereimanagement, z. B. die Aus-
                   scherei zurückgeht oder sogar eingestellt wird, wenn eine                     gestaltung der Europäischen Fischereipolitik, so verbessert
                   Art selten wird und damit die Fangaufwände massiv steigen.                    wurden, dass viele Fischpopulationen heute einen nach-
                   Diese intrinsische Selbstregulation sowie die grundsätzliche                  haltigen Befischungszustand aufweisen. Insgesamt hat der
                   Biologie der Fische als sehr fruchtbare Organismen sichert,                   Leopoldina-Bericht die Charakterisierung der Fischerei- und
                   dass die Fangfischerei alleine in der Regel keine Arten ver-                  Aquakultureffekte und die Möglichkeiten des Fischereima-
                   nichtet. Ganz im Gegensatz dazu stehen Landnutzungsände-                      nagements ungenau und aus unserer Sicht zu pessimistisch
Fischartenschutz

                   rungen, im Zuge derer Waldökosysteme z. B. in Ackerland                       wiedergegeben.
                   umgewandelt werden und die mit Waldökosystemen as-
                   soziierte Biodiversität zwangsläufig lokal aussterben muss.
                   Selbst die vielzitierten, genetischen Auswirkungen einer se-                  11. Danksagung
                   lektiven Fischerei stellen sich bei näherer Betrachtung als
                   weniger umfassend heraus als vielfach postuliert wird (Hut-                   Wir danken Sven Matern, Thomas Klefoth, Malwina Schafft,
                   chings & Kuparinen 2020). Damit möchten wir nicht zum                         Mark Schumann, drei anonymen Gutachtern sowie Thors-
                   Ausdruck bringen, dass es keine Probleme in der Fangfi-                       ten Reusch für Diskussionsbeiträge und wichtige Hinweise.
                   scherei oder Aquakultur gibt. Selbstverständlich ist der glo-                 Die Arbeiten von RA und CW zu den Biodiversitätswirkun-
                   bale Überfischungsgrad hoch (Hilborn et al. 2020), selbst-                    gen der Fischerei fanden im Rahmen des BAGGERSEE-Pro-
                   verständlich stellen Nährstoffeinträge oder ‚Ausbrecher‘                      jekts (gemeinsam gefördert vom Bundesministerium für
                   (escapees) aus der Aquakultur Probleme für die Umwelt dar                     Bildung und Forschung (BMBF) und dem Bundesamt für
                   und selbstverständlich können Managementpraktiken wie                         Naturschutz (BfN) mit Mitteln des Bundesministeriums
                   Fischbesatz die Biodiversität beeinflussen (Arlinghaus et                     für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU);
                   al. 2015). Das ist unbestritten. Deswegen ist Drenckhahn                      www.baggersee-forschung.de), des StörBagger-Projekts
                   et al. (2020a, b) uneingeschränkt zuzustimmen, dass die                       (gefördert durch Landesverband Sächsischer Angler e.V.,
                   Nachhaltigkeit der Fischerei weiter vorangetrieben werden                     Landesfischereiverband Bayern e.V., Anglerverband Nieder-
                   muss. Wir sind allerdings nicht der Meinung, dass die Fi-                     sachsen e.V.) sowie des Aquatag-Projekts (gefördert durch
                   scherei und Aquakultur den wichtigsten Einflussfaktor auf                     BMBF, 033W046A) statt. Außerdem wurden die Arbei-
                   die aquatische Biodiversität stellen und noch viel weniger,                   ten durch die Stiftung Fischerei, Umwelt und Naturschutz
                   dass im Ausschluss der Fischerei eine wirksame Lösung der                     Deutschland (FUND Stiftung) unterstützt.

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                   Zeitschrift für Fischerei 1: Artikel 3:1-12                         Seite 8 / 12                                                 © Autor(en) 2021
                   DOI: 10.35006/fischzeit.2020.8
Arlinghaus et al.                                     Einfluss der Fischerei auf die Biodiversität
                                                                                                                                                     ZEITSCHRIFT
                                                                                                                                                     FÜR FISCHEREI

       Berichte des IGB Heft 28, Leibniz-Institut für Gewäs-                          Atlantic salmon populations faced by spawning intru-
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© Autor(en) 2021                                                     Seite 9 / 12                                    Zeitschrift für Fischerei 1: Artikel 3:1-12
                                                                                                                              DOI: 10.35006/fischzeit.2020.8
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