Die Strompreise der Zukunft - Justus Haucap, Jonathan Meinhof - Springer LINK

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DOI: 10.1007/s10273-022-3175-7                                                           Klimapolitik    Nachhaltige Innovationen
Wirtschaftsdienst, 2022, 102(13), 53-60                                                                               JEL: D47, L94, Q41

Justus Haucap, Jonathan Meinhof

Die Strompreise der Zukunft
Deutschland hat im internationalen Vergleich bereits seit langem sehr hohe Strompreise.
Da Strom teilweise aus Gas erzeugt wird, haben sich die Preise infolge des Ukrainekriegs
weiter erhöht. Aber auch die gestiegenen CO2-Preise zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes
wirken weiter preistreibend. Bei den grundlegenden Fragen des Strommarktdesigns besteht
Handlungsbedarf: bei der Förderung der Stromerzeugung der erneuerbaren Energien, bei der
Versorgungssicherheit und bei den Nutzungsentgelten.

Infolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist es                 se in Deutschland sowohl für Privatkundschaft (vgl. Ab-
zu einem starken Anstieg der Energiepreise in Europa ge-                    bildung 1) als auch für viele gewerbliche und industrielle
kommen. Auch die Strompreise haben in diesem Kontext                        Kunden (vgl. Abbildung 2) zu den höchsten in Europa. Die
stark angezogen. Der Krieg in der Ukraine hat die Preise                    Politik gerät daher schon seit geraumer Zeit zunehmend
an der Strombörse vor allem deshalb nach oben getrieben,                    unter öffentlichen Druck, den Anstieg der Strompreise
weil Erdgas teurer geworden ist. Gas hatte 2021 einen An-                   sowie anderer Energiepreise zumindest zu bremsen oder
teil von rund 16 % an der deutschen Stromerzeugung1 und                     aber anderweitig für Entlastung der Verbraucher:innen
Gaskraftwerke sind regelmäßig die preissetzenden Kraft-                     wie auch der nachfragenden Unternehmen zu sorgen.
werke in der Merit-Order. Zudem sind auch die CO2-Preise                    Heute sind die Strompreise für Privatkundschaft fast drei-
in den vergangenen zwei Jahren kräftig gestiegen. Lag                       mal so hoch wie vor 20 Jahren – im April 2022 haben die
der CO2-Preis im Europäischen Emissionshandelssystem                        Strompreise für Privathaushalte erstmals die Marke von
(EU-ETS) im April 2020 noch bei etwa 20 Euro/t CO2, be-                     40 Cent pro kWh überschritten (vgl. Abbildung 3).
trug er im April 2022 rund 80 Euro (mit Spitzenwerten von
96 Euro)2. Der starke Anstieg sowohl des Gas- als auch                      Die Bundesregierung hat wegen der stark gestiegenen
des CO2-Preises hat somit die Strompreise enorm klettern                    Energiepreise im April 2022 ein milliardenschweres „Ent-
lassen. Waren die Kosten für den Stromeinkauf der Ener-                     lastungspaket“ für die Bürger:innen beschlossen. Unter
gieversorger bereits 2021 stark gestiegen, so haben sich                    anderem soll die Energiesteuer auf Kraftstoffe auf drei
diese mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs noch einmal                        Monate befristet gesenkt werden. Einkommensteuer-
deutlich erhöht und lagen an der Strombörse EEX im April                    pflichtige Erwerbstätige sollen zum Ausgleich der hohen
2022 rund viermal so hoch wie im April 2021.3                               Energiekosten eine Pauschale von einmalig 300 Euro
                                                                            brutto erhalten. Das Kindergeld soll einmalig um 100 Euro
Die jüngsten Strompreissteigerungen erhöhen damit die                       pro Kind angehoben werden. Ab Juni sollen Bürger:innen
ohnehin schon sehr hohen Strompreise in Deutschland                         zudem drei Monate lang für nur 9 Euro pro Monat Bus und
zusätzlich. Infolge eines stetigen Strompreisanstiegs über                  Bahn nutzen können. Bereits im Februar war ein erstes
die vergangenen 20 Jahre wies Deutschland schon vor                         Paket zur Entlastung der Bürger:innen beschlossen wor-
dem Ausbruch des Ukrainekrieges sehr hohe Stromprei-                        den, das unter anderem die Abschaffung der EEG-Umla-
se auf. Im internationalen Vergleich zählen die Stromprei-                  ge über die Stromrechnung ab Juli vorsieht.

1   Diese Zahl berücksichtigt auch Gaskraftwerke im Bergbau und Verar-
    beitenden Gewerbe zur Eigenstromversorgung, die 2021 neben den
    Kraftwerken zur öffentlichen Stromversorgung ca. 35 TWh für den in-
    dustriellen Eigenbedarf erzeugt haben (Burger, 2022; Öffentliche Net-        Prof. Dr. Justus Haucap ist Direktor des Düsseldorf
    tostromerzeugung in Deutschland, https://www.energy-charts.info).
2   https://tradingeconomics.com/commodity/carbon.                               Institute for Competition Economics (DICE) an der
3   https://www.ispex.de/energiemarkt-kommentar-04-2022-trotz-neu-               Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.
    er-preisrekorde-geht-die-rallye-zu-ende/.
© Der/die Autor:in 2022. Open Access: Dieser Artikel wird unter der
  Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröf-                 Jonathan Meinhof ist dort wissenschaftlicher
  fentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).                       Mitarbeiter.
    Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum
    Wirtschaft gefördert.

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                                                                                                                                           53
Klimapolitik             Nachhaltige Innovationen

     Abbildung 1                                                                          Abbildung 2
     Strompreise für private Haushalte in Europa 2021                                     Strompreise für Gewerbekundschaft in Europa
     in Cent/kWh                                                                          Stand: 2020
           Belgien 27,0 ct               17,7                  9,3                        ct/kWh
         Bulgarien 10,2 ct         8,5   1,7                                              20
        Dänemark 29,0 ct            10,4                   18,6
      Deutschland 31,9 ct                15,6                    16,3                     16
           Estland 13,2 ct          9,8       3,4
          Finnland 17,7 ct            12,0          5,7                                   12
        Frankreich 19,3 ct            12,7            6,6
     Griechenland 16,8 ct              13,0         3,8                                    8
              Irland 25,6 ct                19,7               4,9
             Island 13,6 ct          10,7      2,9                                         4
             Italien 22,6 ct            14,3              8,3
          Kroatien 12,9 ct           10,0     2,9                                          0
          Lettland 14,0 ct          10,2       3,8

                                                                                                 Tschechien

                                                                                                    Lettland
                                                                                                 Luxemburg
                                                                                                  Schweden

                                                                                                    Finnland

                                                                                               Griechenland

                                                                                                  Rumänien
                                                                                                     Estland

                                                                                                     Litauen

                                                                                                    Spanien

                                                                                                  Slowenien

                                                                                                    Kroatien
                                                                                                       Polen
                                                                                                     Belgien

                                                                                                        Irland

                                                                                                   Slowakei
                                                                                                       Italien
                                                                                                Niederlande
                                                                                                    Portugal

                                                                                                      Zypern
                                                                                                Deutschland
                                                                                                  Dänemark

                                                                                                   Bulgarien

                                                                                                  Frankreich

                                                                                                     Ungarn

                                                                                                  Österreich
                                                                                                        Malta
     Liechtenstein 20,7 ct                17,8             2,9
           Litauen 13,5 ct           10,0      3,5
       Luxemburg 19,9 ct                14,7            5,2
              Malta 12,8 ct           12,0
      Niederlande 12,8 ct             12,8
                                                                                                           Band ID: 20 MWh < Verbrauch < 500 MWh
        Norwegen 18,3 ct               13,3           5,0
        Österreich 22,2 ct             13,9              8,3                                               Band ID: 2.000 MWh < Verbrauch < 20.000 MWh
             Polen 15,5 ct          9,2         6,3                                                        Band IG: Verbrauch > 150.000 MWh
          Portugal 20,9 ct           11,3             9,6                                 Quelle: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Infografiken/Schlaglichter
        Rumänien 15,4 ct             11,2        4,2                                      /2020/12/2020-12-strompreise-abbildung-3.html.
        Schweden 17,9 ct             10,8          7,1
         Slowakei 16,7 ct           10,6          6,1
        Slowenien 16,6 ct            11,5          5,1                                    Nicht nur die absolute Höhe des Strompreises treibt Po-
          Spanien 23,2 ct              13,6               9,6
       Tschechien 18,0 ct             12,8           5,2
                                                                                          litik und Öffentlichkeit aktuell um. Auch das zugrunde-
           Ungarn 10,0 ct          7,9    2,1                                             liegende Marktdesign steht auf dem Prüfstand. Der Ko-
           Zypern 19,8 ct             12,8             7,0                                alitionsvertrag der Regierungsparteien sieht vor, dass im
                               0    5      10      15     20         25   30       35     Zuge des Ausbaus der erneuerbaren Energien ein neues
                   Energie und Transport                Steuern und Abgaben               Strommarktdesign erarbeitet wird (SPD et al., 2021, Zei-
     Quelle: strom-report.de/strompreise-europa. Datenquelle:                  eurostat   le 1980). Dabei bekennt sich die Regierungskoalition zu
     NRG_PC_204 12/2021, Stromverbrauch 2500-5000 kWh.

                                                                                          Abbildung 3
                                                                                          Strompreisentwicklung für deutsche Endverbraucher
     Die kontinuierlich steigenden Strompreise für private                                in Eurocents pro kWh nach Einzelposten inklusive Mehrwertsteuer
     Haushalte drohen dabei zum einen die Akzeptanz der                                   45
     Energiewende zumindest mittelfristig zu gefährden. Zum                                                                                                            41
                                                                                          40
     anderen schwächen hohe Strompreise die Anreize zur                                                                                                                5
     Elektrifizierung (etwa in Elektromobilität zu investieren).                           35                                                                           2
                                                                                                                                                               32 32
     Gerade letzteres ist jedoch für die Weiterentwicklung der                                                                        29 29 29 29 29 29 30
                                                                                          30
     Energiewende und die sogenannte Sektorenkopplung von                                                                        26                            9 8 12
                                                                                                                           24 25
     essenzieller Bedeutung. Allerdings bieten hohe Strom-                                25                            23            7 8 7 8 8 8 8
                                                                                                                     22  2 2   4  4                            2 2
     preise auch Anreize, in Energieeffizienz zu investieren, um                                                  21
                                                                                          20                19 19     1 2 2 2 2       2 2 2 2 2 2 2
                                                                                                         18        2 2
     Strom zu sparen. Insofern kann hohen Strompreisen kli-                                        16 17 2 2 2 2
     mapolitisch auch etwas Positives abgewonnen werden.                                  15 14 14 2 2                                                         12 12
                                                                                              1 2                     9 9 9 9 9       10 10 10
                                                                                                                                                 11 11 11 11
                                                                                                                10 9                                                   21
                                                                                          10
     Für gewerbliche Kunden gefährden hohe Strompreise je-                                    12 12 13 14
                                                                                                          15 15
     doch die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts                                  5                          9 10 10 10 10   9 9 8 7 7 7 8 9 9
                                                                                                                6 7
     Deutschland bzw. die Wettbewerbschancen der hier be-                                  0
                                                                                               *

     heimateten Unternehmen. Zwar bieten hohe Strompreise
                                                                                          20 0
                                                                                          20 1
                                                                                          20 2
                                                                                          20 3
                                                                                          20 4
                                                                                          20 5
                                                                                          20 6
                                                                                          20 7
                                                                                          20 8
                                                                                          20 9
                                                                                          20 0
                                                                                          20 1
                                                                                          20 2
                                                                                          20 3
                                                                                          20 4
                                                                                          20 5
                                                                                          20 6
                                                                                          20 7
                                                                                          20 8
                                                                                          20 9
                                                                                          20 0
                                                                                          2021
                                                                                             22
                                                                                             0
                                                                                             0
                                                                                             0
                                                                                             0
                                                                                             0
                                                                                             0
                                                                                             0
                                                                                             0
                                                                                             0
                                                                                             0
                                                                                             1
                                                                                             1
                                                                                             1
                                                                                             1
                                                                                             1
                                                                                             1
                                                                                             1
                                                                                             1
                                                                                             1
                                                                                             1
                                                                                             2
                                                                                          20

     auch für Unternehmen Anreize, in Energieeffizienz zu in-
                                                                                               Produktion und Netzentgelte (keine Trennung bis 2006)
     vestieren, sie schwächen aber zugleich Anreize zur Elekt-                                 Netzentgelte           Produktion
     rifizierung und zur Sektorenkopplung, sofern Strompreise                                   Stromsteuer            Erneuerbare Umlagen        Sonstige Entgelte
     schneller steigen als andere Energiepreise. Zweifelsohne                             * Strompreise im April 2022 aut Verivox.
     besteht die politische Notwendigkeit, zumindest einen wei-                           Quelle: https://www.tech-for-future.de/strompreisentwicklung/            nach
     teren Anstieg der Strompreise möglichst zu unterbinden.                              BDEW (2022), Verivox (2022).

                                                                                                                                Wirtschaftsdienst 2022 | 13
54
Klimapolitik     Nachhaltige Innovationen

einer weiteren Integration des europäischen Energie-          weitere Preissteigerungen möglichst vermieden werden,
binnenmarkts (SPD et al., 2021, Zeile 1983/1984). Weiter      sollte die Förderung der Stromerzeugung aus erneuer-
heißt es im Koalitionsvertrag: „Um den zügigen Zubau          baren Energien stärker als bisher der Kosteneffizienz ver-
gesicherter Leistung anzureizen und den Atom- und Koh-        pflichtet sein. Nur eine effiziente Förderung der Stromer-
leausstieg abzusichern, werden wir in diesem Rahmen           zeugung aus erneuerbaren Energien kann Preissteigerun-
bestehende Instrumente evaluieren sowie wettbewerbli-         gen eindämmen und damit langfristig auch die Akzeptanz
che und technologieoffene Kapazitätsmechanismen und           der Energiewende sichern.
Flexibilitäten prüfen“ (SPD et al., 2021, Zeile 1986-1988).
                                                              Wenn die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien
Im Folgenden sollen daher zunächst Anforderungen an           von gut 45 % (2021) auf 80 % (2030) bzw. 100 % (2035)
das zukünftige Marktdesign und mögliche Handlungsop-          steigen soll, erscheint ein Nebeneinander des Erneu-
tionen zur Förderung erneuerbarer Energien sowie im Hin-      erbaren-Energien-Gesetzes (EEG) mit einer speziellen
blick auf die Sicherstellung der Versorgungssicherheit er-    Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Ener-
örtert werden, bevor auch zur Umgestaltung der Netzent-       gien einerseits und einem separaten Regelungsregime im
gelte Vorschläge unterbreitet werden.                         Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) für die konventionelle
                                                              Stromerzeugung andererseits unangebracht und unnötig
Marktdesign-Thema I: Zukünftige Förderung der                 kompliziert. Die Überführung der Stromerzeugung aus er-
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien                      neuerbaren Energien in ein marktwirtschaftliches Strom-
                                                              system birgt jedoch Herausforderungen. Die Stromerzeu-
Eine erste zentrale Frage für das zukünftige Marktdesign      gung aus erneuerbaren Energien weist Besonderheiten
ist, wie die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien         auf, die einerseits das eigene Bestehen im Strommarkt
zukünftig vergütet werden soll. Vergütungsmodelle soll-       erschwert und andererseits neue Herausforderungen und
ten dabei insbesondere auch für Strommärkte mit einem         Ansprüche an das bestehende, austarierte System und
sehr hohen Anteil an Stromerzeugung aus erneuerbaren          dessen Marktakteure stellt. Zum einen ist die Stromer-
Energien (80 % und mehr) geeignet sein.                       zeugung aus erneuerbaren Energien witterungsbedingt
                                                              und damit zeitlich volatil und nur begrenzt regelbar. Zum
Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien soll nach        anderen wird der überwiegende Teil der Kosten erneuer-
den Plänen der Bundesregierung bis 2035 mit Vehemenz          barer Energieerzeugung durch hohe anfängliche Inves-
vorangetrieben werden. Bereits im Koalitionsvertrag war       titionskosten verursacht, während die variablen Kosten
eine Erhöhung des Anteils der Stromerzeugung aus er-          nahezu null sind. Somit werden Windenergie- und PV-
neuerbaren Energien von derzeit gut 45 % auf 80 % im          Anlagen auf dem Strommarkt in der Merit Order immer als
Jahr 2030 festgelegt worden. Angesichts der Ukrainekri-       erstes berücksichtigt, sie verdrängen so andere Erzeu-
se hat die Bundesregierung nun angekündigt, diesen An-        gungsquellen (dazu Haucap et al., 2022).
teil bis 2035 auf 100 % zu steigern, um die Abhängigkeit
von fossilen Brennstoffen zu reduzieren.                      Findet die Investition in erneuerbare Energien privat und
                                                              marktgetrieben statt, muss über die Lebensdauer der Anla-
Um diesen enormen Zuwachs zu bewerkstelligen, müssen          ge eine Amortisation der Investition erfolgen. Jedoch nimmt
Investoren hinreichende Anreize und Sicherheiten haben,       der vermehrte Zubau erneuerbarer Energien Einfluss auf die
dass sich ihre Investitionen amortisieren werden. Es stellt   Strompreise und trägt zu einer stärkeren Unsicherheit über
sich deshalb die Frage, ob das bisherige Marktdesign          diese bei. Investitionsrisiken aufgrund von Unsicherheit über
und die damit einhergehenden Vergütungsregeln für die         künftige Strompreise haben drei wesentliche Ursachen:
Stromerzeugung auch bei einem von erneuerbaren Ener-
gien dominierten Strommarkt weiterhin geeignet sind, die      • Merit-Order-Effekt: Erneuerbare Energien werden auf-
energiewirtschaftlichen Ziele der Versorgungssicherheit         grund ihrer sehr geringen Grenzkosten stets zuerst für
und Preisgünstigkeit bestmöglich zu erreichen. Bereits          die Stromerzeugung herangezogen. Sobald sie Strom
in diesem Jahr soll nach Plänen der Bundesregierung die         einspeisen, verdrängen sie Erzeugungsformen mit hö-
Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ dafür Handlungs-         heren Grenzkosten wie etwa Gas aus dem Markt. Da
optionen erarbeiten. Mit diesem Thema befasst sich aktu-        die Grenzkosten des letzten noch genutzten Kraftwerks
ell auch eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe innerhalb des     maßgeblich für den Börsenstrompreis in einer bestimm-
Projektes Energiesysteme der Zukunft (ESYS) der deut-           ten Zeitperiode sind, verringert sich der Börsenpreis. Die
schen Wissenschaftsakademien (Haucap et al., 2022).             Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien führt somit
                                                                zu einer Verringerung der Börsenstrompreise. Dieser Ver-
Damit Kostensteigerungen bei der Förderung der Strom-           drängungseffekt und dadurch sinkende Börsenpreise im
erzeugung aus erneuerbaren Energien und somit auch              Strommarkt wird als Merit-Order-Effekt bezeichnet.

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                                                                                                                              55
Klimapolitik    Nachhaltige Innovationen

     • Kannibalisierungseffekt: Durch ihre witterungsbedingte     zugunsten einer indirekten Förderung durch einen stei-
       Volatilität korrelieren die Produktionsmengen von EE-      genden CO2-Preis.
       Anlagen zeitlich miteinander. Beispielsweise drücken
       PV-Anlagen in Zeiten hoher Sonneneinstrahlung den          Im Rahmen fixer Marktprämienmodelle wird Strom aus er-
       Strompreis besonders stark, da aufgrund ihrer hohen        neuerbaren Energien direkt an der Strombörse vermark-
       Stromproduktion der Merit-Order-Effekt in diesen Zei-      tet, aber zusätzlich mit einer fixen (gegebenenfalls tech-
       ten besonders ausgeprägt ist (Prol et al., 2020; Lieben-   nologieabhängigen) Prämie bezuschusst (etwa in Cent pro
       steiner und Naumann, 2022). Dadurch senkt der Zubau        kWh eingespeistem Strom). Die Höhe der fixen Marktprä-
       erneuerbarer Energien wie PV-Anlagen insbesondere          mie ist dabei gleichbleibend und unabhängig davon, wel-
       die Erlöse von Anlagen derselben Technologie, wo-          chen Erlös eine Erzeugungsanlage in einer bestimmten
       durch sich ein weiterer Zubau dieser Technologie ab        Zeitperiode erzielen konnte. Die Erlöse für erneuerbare
       einem gewissen Punkt nicht mehr amortisiert. Der Ef-       Energien schwanken somit über die Zeit im gleichen Um-
       fekt, dass eine Erzeugungstechnologie spezifisch die        fang wie die am Markt erzielbaren Preise. Durch die fixe
       Erlöse der eigenen Technologie absenkt, wird als Kan-      Marktprämie muss allerdings nur ein geringerer Teil durch
       nibalisierungseffekt bezeichnet.                           den Verkaufserlös am Markt gedeckt werden, sodass
                                                                  erneuerbare Energieerzeugung rentabel wird und im ge-
     • Fallende Technologiekosten: Neue Anlagen konkurrie-        wünschten Umfang am Strommarkt bestehen kann.
       ren nicht nur mit bestehenden, sondern auch mit zu-
       künftigen Anlagen und können so durch einen Verfall        Eine weitere Option zur Förderung erneuerbarer Energien
       der Technologiekosten entwertet werden. Fallende           sind einseitig oder zweiseitig gleitende Prämien. Während
       Technologiekosten stellen daher ein weiteres Investiti-    einseitig gleitende Prämien das aktuell vorherrschende
       onsrisiko für gegenwärtige Investitionsprojekte dar. Die   Marktprämienmodell im EEG darstellen, soll die Nutzung
       Problematik fallender Technologiekosten findet sich         zweiseitig gleitender Prämien (auch Differenzenverträ-
       prinzipiell in vielen Sektoren, spielt aber insbesondere   ge bzw. Contracts for Difference, CfD) durch die aktuelle
       in sogenannten Infant Industries, wie z. B. bei der Er-    Novelle des EEG ermöglicht werden. Bei einseitig glei-
       zeugung grünen Wasserstoffs, eine große Rolle. Klas-       tenden Prämien wird – optimalerweise, wenn auch nicht
       sische Wind- oder Solaranlagen sollten dagegen nicht       zwingend, im Rahmen einer Auktion – ein Zuschlagspreis
       mehr zu den Infant Industries gezählt werden.              fixiert. Liegt der dann am Markt für den erzeugten Strom
                                                                  erzielte Strompreis unterhalb dieses Zuschlagspreises,
     Zusammenfassend liegt die Herausforderung bei der            wird die Differenz durch eine entsprechende positive Prä-
     Marktintegration von erneuerbaren Energien wie Wind-         mie ausgeglichen. Liegt der am Markt erzielte Preis in ei-
     energie- oder PV-Anlagen darin, dass sie aufgrund ihrer      nem Zeitraum dagegen oberhalb des Zuschlagspreises,
     Kostenstruktur langfristig auf hinreichend hohe Vermark-     können Anlagenbetreiber solche Mehreinkünfte behal-
     tungspreise angewiesen sind, deren (unerwarteter) Verfall    ten, bekommen darüber hinaus aber keine zusätzlichen
     ein Investitionsrisiko darstellt. Mögliche Auswirkungen      Prämienzahlungen. Der Zuschlagspreis stellt somit eine
     sind Risikoaufschläge bei den Renditeanforderungen für       Art Mindestvergütungspreis und damit eine Absicherung
     Investitionen, wodurch Projekte teurer oder gegebenen-       nach unten dar. Auch beim Einsatz von CfD wird ein Zu-
     falls unrentabel werden können. In Erwartung fallender       schlagspreis (im Rahmen einer Auktion) ermittelt. Im Ge-
     Technologiekosten besteht außerdem das Risiko der Zu-        gensatz zu einseitig gleitenden Prämien wird die Differenz
     rückhaltung von Investitionen und damit eines verzöger-      zwischen dem am Markt erzielten Strompreis und dem
     ten Umbaus des Energiesystems.                               vereinbarten Zuschlagspreis sowohl nach oben als auch
                                                                  nach unten durch eine positive bzw. negative Prämie (also
     Für die Vergütung der Stromerzeugung aus erneuerbaren        eine Bezuschussung bzw. Abgabe des Anlagenbetreibers)
     Energien im zukünftigen Strommarkt gibt es verschie-         ausgeglichen. Durch CfD wird somit eine starke Preisfi-
     dene Optionen: Dies sind zum einen fixe Marktprämien          xierung in Höhe des Zuschlagspreises erreicht, da Abwei-
     und die diesem Modell nahestehenden einseitig gleiten-       chungen davon durch entsprechende Prämien nach oben
     de Prämien, die im Ansatz der gegenwärtigen Förderung        wie unten ausgeglichen werden. Ökonomisch betrachtet
     erneuerbarer Energien im EEG 2021 entsprechen. So-           ähneln sie den bekannten fixen Einspeisevergütungen, je-
     wohl fixe als auch einseitig gleitende Prämien können per     doch mit dem Unterschied, dass diese Vergütungen nicht
     Auktion (Ausschreibung) festgelegt werden, um die Hö-        gesetzlich oder durch Verordnung fixiert werden, sondern
     he der Förderprämien wettbewerblich zu ermitteln. Eine       kompetitive Ausschreibungen zur Ermittlung der Prämien
     deutliche Fortentwicklung gegenüber dem Status quo der       genutzt werden. Daher sollten die über Auktionen ermittel-
     Förderung wäre hingegen zum anderen ein Verzicht auf         ten Zuschlagspreise unter Anwendung einseitig gleitender
     diese spezifischen Förderungen erneuerbarer Energien          Prämien grundsätzlich geringer ausfallen als unter CfD, da

                                                                                               Wirtschaftsdienst 2022 | 13
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Klimapolitik    Nachhaltige Innovationen

einseitig gleitende Marktprämien die erzielbare Vergütung       Verkehrssektor aufgenommen werden. Eine solche Er-
nicht nach oben deckeln. Im Vergleich zu fixen Markt-            weiterung des Emissionshandels kann die Kosteneffizi-
prämien werden somit die zeitlichen Schwankungen der            enz von Emissionsreduktionen noch einmal erhöhen, da
am Markt erzielbaren Preise sowohl bei Einsatz einseitig        Emissionen dann auch sektorübergreifend dort einge-
gleitender Marktprämien und insbesondere beim Einsatz           spart werden können, wo Einsparungen am günstigsten
von CfD abgeschwächt. Andererseits bieten CfD von allen         umsetzbar sind. Da außerdem sowohl der Wärme- als
vorgestellten Optionen die größte Sicherheit über die er-       auch Verkehrssektor (Beispiel E-Mobilität) immer stär-
zielbaren Erlöse und bergen somit das geringste Risiko für      ker elektrifiziert und somit in den Stromsektor integriert
Investoren. Sie haben aufgrund von Ineffizienzen und po-        werden, wären „rivalisierende“ CO2-Preissysteme für
tenziellen Fehlanreizen (da zunächst nicht auf Marktpreise      verschiedene Sektoren mittelfristig ohnehin nicht mehr
reagiert werden muss) langfristig jedoch klare Nachteile,       trennscharf und könnten zu Unsicherheiten führen. Um
wenn es um eine effiziente Förderung von erneuerbaren           Investitionsrisiken zu vermindern, ist in erster Linie ein
Energien im großen Stil geht. Auch ihre Integration in inter-   verlässlicher Mindestpreis für den CO2-Ausstoß wichtig.
nationale Systeme wie den Emissionshandel ist deutlich          Optimalerweise würde ein solcher CO2-Mindestpreis eu-
erschwert (dazu Haucap et al., 2022).                           ropaweit und über alle abgedeckten Sektoren hinweg ein-
                                                                geführt (weiterführend Haucap et al., 2022).
Schließlich stellt ein CO2-Preis eine indirekte Förderung
erneuerbarer Energien dar, da er die Stromentstehungs-          Marktdesign-Thema II: Sicherstellung der
kosten aller im Wettbewerb befindlichen (fossilen) Ener-         Versorgungssicherheit
gieträger gemäß ihrer Emissionsintensität erhöht. Da der
Stromsektor bereits durch den europäischen Emissions-           Auf dem Strommarkt müssen sich Angebot und Nach-
handel erfasst wird, wirkt gegenwärtig ein Emissionspreis       frage stets im Gleichgewicht befinden, damit es nicht zu
von knapp 80 Euro/t CO2 auf die Stromerzeugung ein,             Versorgungsausfällen kommt. Dies bedeutet, dass die
was insbesondere die Kosten besonders emissionsinten-           Summe aus Stromerzeugung, Nettostromabgabe aus
siver Energieträger (wie Braunkohle) erhöht.                    Speichern, Nettostromimporten und des sogenannten
                                                                Lastabwurfs (also der Reduktion der Stromnachfrage)
Je höher der CO2-Preis steigt, umso geringer müssen             gleich der Stromnachfrage sein muss, d. h. die Strom-
die zusätzlichen direkten Förderprämien (in Form von            marktgleichung lautet:
Marktprämien) sein, um den Zubau erneuerbarer Ener-
gien im gewünschten Umfang zu ermöglichen. Wenn der               Stromerzeugung + Netto-Abgabe aus Speichern +
CO2-Preis hinreichend hoch ist, werden zusätzliche För-           Netto-Importe + Lastabwurf = Nachfrage
derprämien (wie fixe Marktprämien oder Zuschlagsprei-
se im Rahmen einseitig gleitender Prämien) überflüssig           Ein Problem entsteht, wenn das gesamte Angebot, also
und optimalerweise auf null sinken. Dadurch wäre ein            die linke Seite der obigen Gleichung, kleiner ist als die
Marktszenario erreicht, in dem erneuerbare Energien             Nachfrage. Es kommt dann zu (mehr oder weniger um-
ohne weitere direkte Fördermittel bestehen und zuge-            fangreichen) Blackouts bzw. Stromabschaltungen. Um-
baut werden können. Damit direkte Förderinstrumente             gekehrt besteht kein Problem: wenn das Angebot höher
für erneuerbare Energien überflüssig werden, muss der            als die Nachfrage ist, können Stromerzeugungsanlagen
CO2-Preis mittels des beschriebenen Transitionspro-             gedrosselt oder ganz abgeregelt werden. Gegebenenfalls
zesses bis dahin schrittweise auf ein Niveau gebracht           können auch Speicher gefüllt oder Strom exportiert wer-
werden, das erneuerbare Energien einzig aufgrund der            den, sofern die Netzkapazitäten an den Grenzen, die so-
indirekten Förderung über den CO2-Preis konkurrenz-             genannten Grenzkuppelstellen, dies zulassen. Übersteigt
fähig macht. Direkte Förderprogramme (z. B. fixe oder            die Nachfrage jedoch das Angebot, so müssten prinzipiell
einseitig gleitende Marktprämien) können durch einen            Stromverbraucher ihre Nachfrage drosseln. Auf Märkten
entsprechenden Anstieg des CO2-Preises schrittweise             sorgt in aller Regel der Preis für genau diese Reaktion.
auf null zurückgefahren werden.                                 Auf dem Strommarkt besteht jedoch ein Problem, wenn
                                                                die Nachfrage keine hinreichende Preiselastizität auf-
Eine alleinige CO2-Bepreisung ist als Ziel für das Förder-      weist und die erforderliche Nachfragereduktion sich nicht
regime in Deutschland langfristig sinnvoll. Allerdings hat      in Reaktion auf eine Knappheitssituation einstellt. Ein
dieses Modell eine größere Wirkung, wenn es auf EU-             Grund für die mangelnde Reaktion der Nachfrager kann
Ebene eingesetzt wird. Deshalb wäre im Rahmen einer             die mangelnde Beobachtung der Preise sein – Haus-
ganzheitlichen Betrachtung die Weiterentwicklung des            haltskunden etwa haben in aller Regel fixe Strompreise
EU-ETS hin zu einem sektorübergreifenden „ETS 2“ wün-           und merken Änderungen der Großhandelspreise gar nicht
schenswert, in das insbesondere auch der Wärme- und             bzw. erst mit großer Verzögerung. Industrielle Kunden

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Klimapolitik     Nachhaltige Innovationen

     hingegen haben teilweise nur geringe Möglichkeiten, ihre       können) erhalten. Dies bietet den Vorteil, dass die Kosten
     Produktionsprozesse kurzfristig so zu drosseln, dass der       für ausreichend Flexibilität überschaubar bleiben, sofern
     Stromverbrauch merklich reduziert wird, auch wenn jün-         diese auch ohne Kapazitätsmechanismus im gewünsch-
     gere Forschungsergebnisse etwa von Hirth et al. (2022)         ten Umfang vorhanden wären, da die Prämien für gesi-
     nahelegen, dass die Nachfrageelastizität höher ist als bis-    cherte Leistung dann auf (nahezu) null fallen sollten. Um
     lang angenommen.                                               weitere Effizienzvorteile zu heben, können Kapazitäts-
                                                                    mechanismen ebenso auf Stromspeicher ausgedehnt
     Sofern Preissignale allein nicht den notwendigen Rück-         werden wie auf Nachfrager, die sich – gegen Kompen-
     gang der Nachfrage induzieren können, hat die Versor-          sation – bereit erklären, sich bei Knappheit abschalten
     gungssicherheit aus ökonomischer Perspektive (zumin-           oder drosseln zu lassen. Alternativ sind auch vertragli-
     dest in Teilen) den Charakter eines öffentlichen Gutes.        che Regelungen im Wettbewerb denkbar, wenn etwa
     Anders ausgedrückt lässt sich sagen, dass von Reserve-         das Ausmaß der Versorgungssicherheit ein expliziter Be-
     kraftwerken positive Externalitäten ausgehen. Wird der         standteil von Stromlieferverträgen wird und Nachfrager
     Einsatz von Reservekraftwerken notwendig, profitiert            unterschiedliche Ausmaße von Versorgungssicherheit
     nicht nur der Betreiber des Reservekraftwerks selbst,          gegen entsprechende Entgelte explizit kontrahieren kön-
     sondern es profitieren auch alle anderen Kraftwerksbe-          nen oder sogar müssen. Letzteres erscheint vor allem
     treiber, die dann – ohne Blackout – weiter Strom erzeu-        für gewerbliche Kunden ein möglicher Lösungsweg, um
     gen und verkaufen können, ohne sich an den Kosten der          Anreize zur Versorgungssicherheit durch Marktmecha-
     Reservehaltung beteiligen zu müssen. Beim Vorliegen po-        nismen zu gewähren.
     sitiver Externalitäten dürfte der Markt „allein“, d. h. ohne
     gewisse Interventionen oder Marktregeln, zumindest bei         Die institutionelle Ausgestaltung effizienter Kapazitätsme-
     einem sehr hohen Anteil an Strom aus fluktuierenden er-         chanismen ist keineswegs trivial (Consentec, 2021; Mier,
     neuerbaren Energien zu einem suboptimalen Niveau an            2021; Wolak, 2021; Mattke, 2017; Cramton, 2017; Haucap,
     Versorgungssicherheit führen. Das gesellschaftlich opti-       2013; Amelung und Wambach, 2013; Maurer, 2013). Gleich-
     male Ausmaß an Versorgungssicherheit lässt sich dabei,         wohl erscheinen Maßnahmen zur Sicherstellung eines op-
     zumindest theoretisch, bestimmen, indem die Kosten des         timalen Ausmaßes an Versorgungssicherheit sinnvoll, so-
     Stromausfalls, der sogenannte Value of Lost Load (VoLL),       fern (a) die Preiselastizität der Nachfrage nicht hinreichend
     mit den Kosten der Vorhaltung von Kapazitäten bzw. Fle-        hoch ist bzw. gesteigert werden kann und (b) Speicher
     xibilitäten verglichen wird. In der Tendenz dürfte dabei ein   nicht hinreichend günstig sind. Der steigende Anteil wit-
     Zuviel an Versorgungssicherheit volkswirtschaftlich weni-      terungsbedingter erneuerbarer Energien im Strommix legt
     ger kostspielig sein als zu wenig Versorgungssicherheit.       jedoch nahe, dass die Notwendigkeit von Kapazitätsme-
     Im ersten Fall werden gegebenenfalls zu viele Reserven         chanismen in nächster Zukunft eher zu- als abnimmt.
     vorgehalten und so Kosten verursacht. Im zweiten Fall je-
     doch können Blackouts nicht nur marginale Kosten verur-        Marktdesign-Thema III: Reform der Netzentgelte
     sachen, sondern auch zu Abschaltungen bei inframargi-
     nalen Nutzenden mit entsprechenden Kosten führen.              Das dritte große Thema im Kontext des Marktdesigns ist
                                                                    die künftige Struktur der Netzentgelte. Zum einen muss
     Die Möglichkeiten, die erzeugungsseitige Versorgungs-          über eine stärkere Beteiligung der Stromerzeuger an den
     sicherheit zu steigern, sind vielfältig und werden seit        Kosten der Netze nachgedacht werden, zum anderen
     langem kontrovers diskutiert. So wird in Deutschland           über eine andere geografische Differenzierung. Die Be-
     seit 2018 eine Kapazitätsreserve eingesetzt, bei der die       teiligung von Stromerzeugern an den Kosten der Netze
     Betreiber von Reservekraftwerken durch Zahlungen An-           ist international keineswegs unüblich, sondern in vielen
     reize erhalten, Kraftwerke zu errichten bzw. nicht stillzu-    Ländern Europas schon lange Realität (etwa Haucap und
     legen, sondern auf Standby zu halten, um in Knappheits-        Pagel, 2013). Insbesondere in den Verteilnetzen erscheint
     zeiten Strom erzeugen zu können. Dieser Mechanismus            die Beteiligung der Stromerzeuger und somit Einspeiser
     löst jedoch das zugrundeliegende Problem des vor-              an den Netzkosten sinnvoll. Traditionell hatten Verteilnet-
     liegenden Externalitätseffekts nicht auf und wird umso         ze – wie der Namen schon sagt – die Funktion, Strom aus
     kostspieliger, je mehr Reserven für den Knappheitsfall         den Übertragungsnetzen an die Endverbraucher zu vertei-
     vorgehalten werden müssen. Einen alternativen Kapazi-          len. Durch die Dezentralisierung der Stromerzeugung gibt
     tätsmechanismus stellt ein Kapazitätsmarkt dar. In die-        es heute zahlreiche kleine Stromerzeuger, insbesondere
     sem Fall können Kraftwerke ihren Strom weiterhin regu-         durch Photovoltaik und kleine Windkraftanlagen, die Strom
     lär am Markt verkaufen und als zusätzliche Komponen-           in die Verteilnetze einspeisen. Diese Nutzer profitieren
     te eine Vergütung für ihre gesicherte Leistung (also die       ebenso von den Leistungen der Verteilnetze wie Endver-
     Erzeugungsmenge, die sie im Knappheitsfall garantieren         braucher. Die Netzkosten werden jedoch in Deutschland

                                                                                                   Wirtschaftsdienst 2022 | 13
58
Klimapolitik     Nachhaltige Innovationen

aktuell allein durch die Verbraucher getragen, obwohl die    eine Reform der Netzentgelte voran, die die Transparenz
Verteilnetze immer mehr die Funktion einer Plattform ein-    stärkt, die Transformation zur Klimaneutralität fördert und
nehmen, auf der Kunden Strom sowohl ein- als auch aus-       die Kosten der Integration der Erneuerbaren Energien fair
speisen. Um ein effizientes Einspeiseverhalten anzureizen,   verteilt“ (SPD et al., 2021). Kern einer solchen Reform soll-
erscheint daher eine Beteiligung der Stromerzeuger an den    ten drei Elemente sein:
Kosten der Netze und der Stromeinspeisung sinnvoll.
                                                             • Struktur der Netzentgelte: Erstens ist über eine weiterge-
Durch eine geografische Ausdifferenzierung der Netznut-         hende Änderung in der Struktur der Netzentgelte nach-
zungsentgelte könnte zudem die Ansiedlung von Erzeu-           zudenken, welche die Struktur der Kosten besser als
gungsanlagen langfristig beeinflusst werden. So könnten         bisher reflektiert. Der Netzbetrieb verursacht im Wesent-
die Netzentgelte auch innerhalb von einzelnen Übertra-         lichen Fixkosten und nur geringe variable Kosten. Sind
gungsnetzen regional ausdifferenziert werden. Zudem            die Netzentgelte jedoch primär als variable Tarife konzi-
wäre auch eine zeitliche Differenzierung zwischen Spit-        piert, so wie dies zwar nicht immer, aber noch oft der Fall
zenlastzeiten und Schwachlastzeiten denkbar. Damit eine        ist, und werden diese Entgelte zudem allein den Strom-
regionale Ausdifferenzierung der Netzentgelte eine Steu-       nachfragern aufgebürdet, so tragen Verbraucher:innen
erungswirkung entfalten kann, müssen die Stromerzeu-           mit eigenen PV-Anlagen (in der Regel Eigentümer von
ger am Netzentgelt beteiligt werden. Wie auch in anderen       Immobilien sowie Gewerbe) wenig zu den Kosten des
Staaten könnte das Netzentgelt in eine L‐Komponente            Netzbetriebs bei, während Verbraucher:innen ohne ei-
(für Load) und eine G‐Komponente (für Generation) zer-         gene Erzeugung (in der Regel Mieter:innen) diese Kos-
legt werden, wobei die Verbraucher die L‐Komponente            ten überproportional tragen. Eine noch stärkere Über-
tragen und die Erzeuger die G‐Komponente. Eine solche          führung der Netzentgelte in zweiteilige Tarife mit einer
G‐Komponente, die in Deutschland aktuell gleich null ist,      fixen Grundgebühr (Leistungspreis) und einem dann im
gibt es bereits in anderen europäischen Ländern wie z. B.      Vergleich zu heute geringeren variablen Entgelt (Arbeits-
Österreich, Schweden und Großbritannien.                       preis) könnte dieses Problem mildern.

Diese G‐Komponente ließe sich regional differenzie-          • Verteilnetze als Plattformen: Da Verteilnetze immer mehr
ren, sodass in verbrauchsnahen Gebieten mit hoher              die Funktion einer Plattform übernehmen und immer
Nachfrage (im Süden und Westen Deutschlands) die               weniger eine reine Durchleitungsfunktion haben, sollte
G-Komponente niedrig ausfallen sollte und in Gebieten          eine Beteiligung der Einspeiser an den Netzkosten – et-
mit hohem Angebot und geringer Nachfrage ein höherer           wa über eine G-Komponente – erwogen werden.
Betrag fällig wird. So könnten Anreize für neue Strom-
erzeugungskapazitäten in verbrauchsnahen Regionen            • Geografische Differenzierung: Um die Anreize für eine
gestärkt und der Netzausbaubedarf reduziert werden.            verbrauchsnahe Einspeisung zu steigern, sollte eine
Eine deutschlandweite Wälzung der Netzausbaukosten             geografische Differenzierung der Netzentgelte in Er-
ist hingegen kontraproduktiv, da sie geringere Anrei-          wägung gezogen werden. Auch wenn die geografische
ze für eine lastnahe Erzeugung setzt. Ziel der G‐Kom-          Differenzierung der Netzentgelte allein nicht für die
ponente ist es somit, durch ihre variable, geografisch          optimale Verteilung der Erzeugungsanlagen im Raum
differenzierte Ausgestaltung Anreize für Stromerzeuger         sorgen mag (Grimm et al., 2019), so kann die Differen-
zu stärken, in verbrauchsnahe Erzeugung zu investie-           zierung doch einen Beitrag zu einer geografisch effizi-
ren und regionale Ungleichgewichte bei der Verteilung          enten Einspeisung liefern.
von Stromerzeugung und ‐nachfrage zu verringern, wie
z. B. das Nord‐Süd‐Gefälle in Deutschland. Verbrauchs-       Weitere detaillierte Vorschläge zur Reform der Netzent-
nahe Erzeugungsstandorte, die keinen Netzzubau oder          gelte finden sich bei acatech (2021).
‐ausbau bedingen, können somit durch eine geringere
G‐Komponente einen Wettbewerbsvorteil erhalten, und          Fazit
Investitionen anziehen. Aus ökonomischer Sicht ist die
G‐Komponente daher auch ein Mechanismus zur Ein-             Durch den rapiden Anstieg der Strompreise infolge des
preisung externer Effekte der Standortwahl von Strom-        Ukrainekriegs hat sich die öffentliche Debatte um die Hö-
erzeugung (Monopolkommission, 2013).                         he der Strompreise noch einmal verschärft. Doch nicht nur
                                                             in Bezug auf die Höhe der Strompreise besteht politischer
Die Regierungskoalition hat sich in ihrem Koalitionsver-     Handlungsbedarf, sondern auch bei grundlegenderen
trag in der Tat die Reform der Netzentgelte vorgenommen,     Fragen des Marktdesigns. Die Bundesregierung hat die-
wie allerdings auch schon die Vorgängerregierungen seit      sen Handlungsbedarf identifiziert und im Koalitionsvertrag
2013. Wörtlich heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir treiben   eine Überarbeitung des Marktdesigns angekündigt.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                             59
Klimapolitik       Nachhaltige Innovationen

     Drei Bereiche lassen sich identifizieren, bei denen Refor-               Literatur
     men notwendig sind: Dies ist erstens die Förderung der                  acatech/Leopoldina/Akademienunion (Hrsg.) (2021), Netzengpässe
     Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, die bei ei-                       als Herausforderung für das Stromversorgungssystem. Optionen
                                                                                 zur Weiterentwicklung des Marktdesigns, Schriftenreihe zur wissen-
     nem Marktanteil von 80 % bis 100 % der Erneuerbaren
                                                                                 schaftsbasierten Politikberatung.
     nicht mehr separat vom Rest des Strommarkts erfolgen                    Amelung, A. und A. Wambach (2013), Versorgungssicherheit im Strommarkt
     sollte. Vorzugswürdig ist zumindest langfristig eine „indi-                 – Kapazitätsmechanismen, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 62, 270-286.
                                                                             Burger, B. (2022), Öffentliche Nettostromerzeugung in Deutschland im
     rekte Förderung“ durch hinreichend hohe CO2-Preise, die                     Jahr 2021, https://www.energy-charts.info (3. Mai 2022).
     eine Marktintegration ermöglichen. Auf dem Weg dahin                    Consentec (2021), Bewertung des Effekts von Kapazitätsmechanismen auf
     sind fixe Marktprämien, alternativ auch einseitig gleitende                  Endverbraucherkosten. Bericht im Auftrag von 50Hertz Transmission.
                                                                             Cramton, P. (2017), Electricity market design, Oxford Review of Economic
     Prämien das Mittel der Wahl. CfD sind weniger gut geeig-                    Policy, 33(4), 589-612.
     net um eine Marktintegration zu bewerkstelligen, da sie                 Grimm, V., B. Rückel, C. Sölch und G. Zöttl (2019), Regionally differenti-
     die Marktrisiken stark abfedern und damit auch markt-                       ated network fees to provide proper incentives for generation invest-
                                                                                 ment, Energy, 177, 487-502.
     dienliches Verhalten wenig anreizen.                                    Haucap, J. (2013), Braucht Deutschland einen Kapazitätsmarkt für eine si-
                                                                                 chere Stromversorgung?, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 62, 257-269.
     Zweitens ist die Frage nach der Versorgungssicherheit in                Haucap, J., J. Kühling, M. Amin, G. Brunekreeft, D. Fouquet, V. Grimm, J.
                                                                                 Gundel, M. Kment, W. Ketter, J. Kreusel, C. Kreuter-Kirchhof, M. Lieben-
     einem Markt mit einem dominanten Anteil an erneuerba-                       steiner, A. Moser, M. Ott, C. Rehtanz, H. Wetzel, J. Meinhof, M. Wagner,
     ren Energien zu stellen. Kritisch ist dabei letztlich die Fra-              M. Borgmann und C. Stephanos (2022), Strommarktdesign 2030: Die
     ge, wie preiselastisch die Stromnachfrage ist und ob die-                   Förderung der erneuerbaren Energien wirksam und effizient gestalten
                                                                                 (Impuls), Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft” (ESYS).
     se Elastizität erhöht werden kann. Sofern dies nicht mög-               Haucap, J. und B. Pagel (2013), Ausbau der Stromnetze im Rahmen der
     lich ist und Speicher nicht hinreichend günstig werden, ist                 Energiewende: Effizienter Netzausbau und Struktur der Netznutzungs-
                                                                                 entgelte, List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, 39, 235-254.
     über komplementäre Instrumente zum CO2-Preis zur Si-
                                                                             Hirth, L., T. Khanna und O. Ruhnau (2022), The (very) short-term price
     cherstellung des optimalen Ausmaßes an Versorgungssi-                       elasticity of German electricity demand, ZBW, https://econpapers.re-
     cherheit nachzudenken. Diese reichen von Kapazitätsme-                      pec.org/paper/zbwesprep/249570.htm (3. Mai 2022).
                                                                             Liebensteiner, M. und F. Naumann (2022), Can Carbon Pricing Counteract
     chanismen bis hin zu individuellen Vertragsbedingungen
                                                                                 Renewable Energies’ Self-Cannibalization Problem?, Working Paper.
     in Bezug auf die Versorgungsicherheit bzw. Drosselung                   Mattke, M.-B. (2017), Versorgungssicherheit und Kapazitätsmechanismen
     des Stromverbrauchs.                                                        im deutschen Strommarktdesign: Erkenntnisse aus internationalen Er-
                                                                                 fahrungen.
                                                                             Maurer, C. (2013), Braucht Deutschland einen Kapazitätsmarkt für eine si-
     Drittens ist eine Reform der Netzentgelte überfällig. Zu be-                chere Stromversorgung?, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 62, 246-256.
     achten sind hier drei Dinge. Erstens die noch stärkere Nut-             Mier, M. (2021), Efficient pricing of electricity revisited, Energy Economics,
                                                                                 104, Artikel 105637.
     zung zweiteiliger Tarife mit fester Grundgebühr (Leistungs-             Monopolkommission (2013), Energie 2013: Wettbewerb in Zeiten der
     preis) und geringerem variablen Entgelt (Arbeitspreis).                     Energiewende, Sondergutachten, 65.
     Zweitens sollten auch Stromerzeuger stärker an den Netz-                Prol, J. L., K. W. Steininger und D. Zilberman (2020), The cannibalization
                                                                                 effect of wind and solar in the California wholesale electricity market,
     kosten beteiligt werden, wenn sie Strom einspeisen, etwa                    Energy Economics, 85, Artikel 104552.
     durch eine sogenannte G-Komponente. Und drittens soll-                  SPD, Bündnis90/Die Grünen, FDP (2021), Mehr Fortschritt wagen. Bünd-
     te, auch im Bereich der Übertragungsnetze, eine stärkere                    nis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.
                                                                             Wolak, F. A. (2021), Wholesale electricity market design, in J. Glachant,
     geografische Differenzierung vorgenommen werden, um                          P. Joskow und M. Pollitt (Hrsg.), Handbook on Electricity Markets, Ka-
     Anreize für eine verbrauchsnahe Einspeisung zu stärken.                     pitel 4, 73-110.

     Title: Electricity Prices of the Future
     Abstract: This article discusses three challenges for Germany’s future electricity market design. The first question is how to pay for elec-
     tricity generation from renewable energies in a market with more than 80 % renewables. Secondly, additional instruments are needed to
     safeguard the security of supply. An thirdly, network charges need to account for the different role of the distribution network, which op-
     erates more and more as a platform. Two-part tariffs with contributions from generators and consumers and a higher degree of regional
     price differentiation appear desirable.

                                                                                                                     Wirtschaftsdienst 2022 | 13
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