Die Wirkung des offiziellen Diskurses auf die Alltagssprache in Kuba
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Sprachen, Gesellschaften und Kulturen in Lateinamerika 12 Die Wirkung des offiziellen Diskurses auf die Alltagssprache in Kuba von Cornelius Griep 1. Auflage Die Wirkung des offiziellen Diskurses auf die Alltagssprache in Kuba – Griep schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Thematische Gliederung: Soziolinguistik, Sprachpolitik Peter Lang 2011 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 631 58903 8
1. Einleitung 1.1. Vorbemerkungen Mehr als ein halbes Jahrhundert kubanische Revolution hat zweifellos deutliche Spuren in der Sprachlandschaft Kubas hinterlassen. Es ist zu vermuten, dass die Langzeitwirkung dieses starken Einflusses in der Alltagssprache ganzer Genera- tionen wahrnehmbar ist. Von dieser Hypothese ausgehend wird in der vorlie- genden Arbeit die kubanische Gegenwartssprache im Hinblick auf Ausdrucks- mittel der Affinität oder des Nonkonformismus zum offiziellen Diskurs unter- sucht. Es werden hierzu alltagstypische Sprechweisen, kognitiv-sprachliche Muster, kulturelle Praktiken und Kommunikationsstrukturen auf eine mögliche Beeinflussung durch den offiziellen Diskurs hin analysiert. Die Materialgrund- lage sind verschiedene Korpora, die mit Hilfe der wissenssoziologischen Dis- kursanalyse ausgewertet werden, um Rückschlüsse über die Art und Intensität der Einflussnahme des offiziellen Diskurses auf die gesprochene Standardspra- che ziehen zu können. Die angewandte, interdisziplinären Spielraum lassende Methode, ermöglicht es nicht nur etwaige Zusammenhänge zwischen dem offi- ziellen Kanon und der Alltagssprache in Kuba herzustellen, sondern darüber hi- naus auch soziokulturelle Merkmale und Strukturen der kubanischen Identität aufzudecken. Das trägt zu einem ganzheitlichen Verständnis der kubanischen Idiosynkrasie bei und stellt deren kulturelle Manifestationen in einen Zusam- menhang mit der derzeitigen Sprachsituation auf der Insel. Bevor in Abschnitt drei die verwendete diskursanalytische Methode erläutert wird, soll Kapitel zwei zunächst einen Einblick in die kubanische Idiosynkrasie und die Hauptperioden der Herausbildung des kubanischen Kultur- und Sprach- raumes gewähren, wobei in Abschnitt 2.3 im Zusammenhang mit den gesell- schaftlichen und sprachlichen Veränderungen durch die kubanische Revolution in die Strukturen des offiziellen Diskurses eingeführt wird. Durch die Einbezie- hung des aktuellen außersprachlichen Kontextes der wirtschaftlichen Krise, die vom offiziellen kubanischen Diskurs mit período especial 1 betitelt wurde (vgl. Abschnitt 2.4), wird es möglich, einen Zusammenhang zwischen extra- linguistischen Faktoren und gesellschaftlich stigmatisierten Sprachvarianten zu untersuchen. Die Analyse der Alltagssprache umfasst hierbei zum großen Teil die sprach- liche Varietät der kubanischen Jugendlichen, also den Sprachgebrauch einer Ge- 1 Der período especial en tiempos de paz (Sonderperiode in Friedenszeiten) war ur- sprünglich ein für die Kriegswirtschaft entworfenes Modell, welches 1991 nach dem Wegfall der sozialistischen Hilfe aus dem Ostblock ausgerufen wurde. 11
neration, die vorrangig mit den Bedingungen des período especial vertraut ist und die Jahre des von der Sowjetunion subventionierten Sondermodells Kuba kaum noch bewusst miterlebt hat. In diesem Zusammenhang wird ihre Wahr- nehmung der Alltagsrealität anhand alltäglicher Spracherscheinungen und kog- nitiver Schemata mit Entwicklungs- und Kognitionsprozessen im período espe- cial in Verbindung gebracht. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass in Abhän- gigkeit von der Nähe beziehungsweise Ferne 2 der Personen zu den offiziellen Einrichtungen sprachliche und konzeptionelle Unterschiede im individuellen Diskurs existieren und sich kommunikative Gemeinsamkeiten (beziehungsweise Unterschiede) zwischen dem offiziellen Diskurs und der Alltagssprache anhand der verwendeten Kommunikationsstrategien festmachen lassen. Um Aussagen über die geistige Nähe zum offiziellen Diskurs sowie die Intensität und Ausrich- tung sprachlicher Stereotypie in den kommunikativen Praktiken der gegenwärti- gen kubanischen Sprachlandschaft zu machen, wird als Vergleichsvariable die unterschiedlich starke „physische“3 Nähe (bzw. Ferne) der Informanten zum of- fiziellen Diskurs betrachtet. Um Sprach- und Deutungsmuster auf eine sprachformende oder sprachbe- einflussende Institution zurückzuführen, wird eine Diskursanalyse als Ansatz gewählt, welche die Untersuchung der offiziellen Sprache auf mehreren Ebenen ermöglicht (vgl. Abschnitt drei). Darauf aufbauend werden in Abschnitt 4.1. Beispiele des schriftlichen Diskurses aus den staatlich kontrollierten Massenme- dien wie Tageszeitungen und öffentlichen Propagandamitteln wie Plakaten und Häuserbemalungen im Straßenbild analysiert und kategorisiert, die im An- schluss daran als Vergleichsbasis für das Interviewkorpus dienen werden. Da- durch wird Aufschluss darüber gegeben werden, ob und wie stark sich hinter den bewusst oder unbewusst angewandten Kommunikationsstrategien der inter- viewten Personen, die dem offiziellen Diskurs stärker ausgesetzt sind, auch ideologische Überzeugungen verbergen, die durch jenen Diskurs übertragen worden sind. Im Abschnitt 4.2 wird auf kulturell tradierte Praktiken eingegangen, welche im Gegensatz zu Abschnitt 4.1 in die Sphäre der geistigen Ferne zum offiziellen Diskurs eingeordnet werden können. Sie werden weitere Aufschlüsse über idio- synkratrische und kulturelle Einflüsse auf die verschiedenen Substandards der Gegenwartssprache geben. Hierzu findet ein drittes aus Video- und Audiomate- 2 Das sprachtheoretische Modell von KOCH / ÖSTERREICHER (1985), welches „sprachli- che Nähe und Distanz“ im Sinne von interpersoneller Kommunikation verwendet, stimmt nicht mit den im Verlauf dieser Arbeit verwendeten Begriffen „Sprache der Nähe“ bzw. „Sprache der Ferne“ überein, welche sich im Analyseteil ausschließlich auf geistige Nähe beziehungsweise Ferne zum offiziellen Diskurs beziehen und ent- sprechende sprachliche Ausdrucksmittel besitzt. 3 Hiermit ist die Integration in die Strukturen einer ideologisch prägenden staatlichen Institution (Schule, Universität oder Arbeitsplatz) gemeint. 12
rial bestehendes Korpus Verwendung. Ausgewählte Elemente aus letzterem ebenso wie das bearbeitete Interviewkorpus stehen auf einem digitalen Daten- träger auf der beiliegenden CD-ROM in multimedialer Form zur Verfügung und ergänzen den Textteil. 1.2. Forschungsstand Nachdem die Entwicklung des gesellschaftspolitischen Wortschatzes innerhalb der kubanischen Variante des Spanischen besonders in der ehemaligen DDR Gegenstand der wissenschaftlichen Forschungen war (vgl. u.a. HANIG 1980, KNAUER 1981) entstand von kubanischer Seite die in Deutschland veröffentlich- te Untersuchung von BELDARRAÍN JIMÉNEZ (2002) zur lexikalischen Entwick- lung des Kubaspanisch seit der Revolution und deren deutscher Entsprechungen. Andere Arbeiten zum politischen Diskurs in Kuba basieren meist auf Textkorpo- ra aus analysierten Zeitungsausschnitten, die innerhalb eines sehr eng gehaltenen Rahmens rein linguistisch analysiert wurden (vgl. u.a. CÁRDENAS MOLINA 1996:12-22). Von deutscher Seite ist ein neuerer Beitrag erwähnenswert, der Aufsatz von MELENK (2007) zur Sprache des politischen Substandards in Kuba. In den 1970er und 80er Jahren standen Arbeiten in und außerhalb Kubas im Mittelpunkt des sprachwissenschaftlichen Interesses, die sich mit der Herausbil- dung der kubanischen Varietät des Spanischen beschäftigen. Hierbei ging es be- sonders um die Erforschung des Einflusses der Sprache indianischer Ureinwoh- ner, afrikanischer Sklaven, chinesischer Einwanderer sowie der aus dem Engli- schen eingedrungenen Termini (vgl. PERL / VALDÉS 1977/1991). Mit dem Ein- fluss von Afrikanismen auf die informale Umgangssprache beschäftigt sich die Untersuchung von DIECKMANN (2002). Zu den Arbeiten zu Besonderheiten der kubanischen Varietät des Spanischen lag das Hauptaugenmerk bisher auf lexika- lischen und phonetischen Untersuchungen. Die Studien von CAMACHO BARREIRO (1990/1991) befassen sich mit dem Wortschatz der studentischen Varietät, der allerdings zum größten Teil inzwi- schen wieder veraltetet ist. Zur kubanischen Jugendsprache sind weiterhin der Beitrag von KONRAD (2007) sowie eine Wortschatzuntersuchung von REMMERT (1998) zu nennen, die mittels Aufnahme und Analyse von Interviews neue Lexik in Erfahrung bringt. Auf diesem Korpus beruhend, wurde unter anderem das ge- schlechtsspezifische Gesprächsverhalten Jugendlicher in der kubanischen Hauptstadt untersucht (vgl. RECKZEH 2006). Die sprachwissenschaftliche Analyse der Massenmedien, besonders der Funk- und Druckmedien als etablierte spezifische Kommunikationsform des 20. Jahr- hunderts, stellt ein noch relativ junges Forschungsfeld dar. Die in den 1960er Jahren entstandene Diskursanalyse hat sich seit den 1970er Jahren auch als Me- 13
thode zur Analyse der Mediensprache bewährt. Hierzu trugen besonders Arbei- ten VAN DIJKS (1977-2005), FISHERS (1997), WODAKS (2001), DONATIS (2001) und JÄGERS (2004) bei, die sich allerdings nicht auf die offizielle kubanische Sprache beziehen. Die hier vorliegende Untersuchung soll einen Anstoß im Hinblick auf eine intensivere Erforschung des kubanischen Kultur- und Sprach- raumes geben. 14
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