Einblicke in pandemische Alltage der Kinder- und Jugendhilfe
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l FACHLICHE ENTWICKLUNGEN Einblicke in pandemische Alltage der Kinder- und Jugendhilfe oder: Was macht eigentlich ‚gute‘ Soziale Arbeit aus? von Kathrin Aghamiri, Rebekka Streck und Anne van Rießen Impfstoffe, Testungen und relativ niedrige Inzidenzen bzw. scheint die Praxis Sozialer Arbeit ohne die selbsttätige Aneig- eine geringe Hospitalisierung lassen zumindest im September nung und Nutzung bzw. die Perspektiven der Adressat:innen des Jahres 2021 langfristig auf ein sich normalisierendes Le- auf eben diesen gemeinsamen Herstellungsprozess nicht ben mit dem Coronavirus hoffen, dass wieder mehr denk- und fassbar: Soziale Arbeit wird gemeinsam soziale Begegnungen zulässt und an die vor von Professionellen und Adressat:innen in der Pandemie vertrauten Alltage an- spezifischen Situationen und Kontex- knüpfen kann. Dies gilt mit Blick ten hervorgebracht (vgl. Oelerich auf junge Menschen für die Si- /Schaarschuch 2005; Aghamiri et tuation in Familien, für Institu- al. 2018). Ob ein sozialpädago- tionen formeller Bildung und gisches Angebot nutzbar ist, Freizeit wie auch für die Ein- ob ein Beziehungsaufbau in richtungen der Kinder- und der Jugendhilfe gelingt, ob Jugendhilfe: Jugendtreffs Ziele einer Hilfe tatsächlich öffnen ihre offenen Berei- neue Aneignungsräume er- che, pädagogische Fach- öffnen oder solche sogar be- kräfte in Kitas arbeiten mit hindern, das lässt sich eben den Jüngsten ohne Maske, nicht allein aus Perspektive Kinder und Jugendliche aus der Professionellen erfassen. stationären Wohngruppen kön- Erst recht nicht in einer außerall- nen Eltern und Geschwister wieder täglichen Krisensituation wie der treffen, ohne dass sie dabei von Sozial- Corona-Pandemie. pädagog:innen beaufsichtigt werden, und auch die Mitarbeiter:innen der ambulanten Erziehungs- Vor diesem Hintergrund kann also eine Aufarbeitung hilfen besuchen ihre Adressat:innen wieder zu Hause. Warum der Kinder- und Jugendhilfe in Corona-Zeiten nur mit Blick also ein Blick zurück aus Perspektive der Adressat:innen der auf die Perspektive der Adressat:innen gelingen (vgl. Agha- Kinder- und Jugendhilfe in Lockdown-Zeiten? miri/Streck/van Rießen 2022b). Mit diesem Beitrag fassen wir (zwangsläufig verkürzt) Ergebnisse verschiedener Lehr-Lernforschungsprojekte und kleinerer Studien zusam- Die zentrale Bedeutung der Perspektive men, die einen Einblick in das Erleben des Jugendhilfeall- der Adressat:innen tags von Kindern und Jugendlichen und ihrer Familien ge- ben. (1) Dieses Erleben erscheint keineswegs eindeutig im Die Aufarbeitung der Auswirkungen der Corona-Krise im Sinne des verschiedentlich benannten Brennglases (z.B. Kontext Sozialer Arbeit benötigt die Perspektive der Men- Klemm/Knieps 2020), d.h. die Arbeit an den eigenen lebens- schen, die Angebote Sozialer Arbeit in Anspruch nehmen weltlichen Themen wird nicht pauschal als zugespitzt erfah- (müssen) (vgl. Aghamiri/Streck/van Rießen 2021a). Im Ver- ren. Dagegen ähnelt das Erleben der Nutzer:innen von Ein- lauf der Pandemie wurde von Seiten der Profession und Dis- richtungen der Kinder- und Jugendhilfe in seiner Vielfalt ziplin bis auf wenige Ausnahmen vor allem über die Men- eher einem Kaleidoskop (Streck/van Rießen/Aghamiri schen gesprochen statt mit ihnen. Eine Fülle von Exekutiv- 2022). So gibt es beispielsweise Kinder und Jugendliche, die verordnungen, Einschränkungen von persönlichen Freiheits- sich in der Corona-Pandemie als Adressat:innen der statio- rechten und ein ungewisser Pandemieverlauf beförderten nären Jugendhilfe zwar „doppelt gearscht“ sehen (Lauerer nicht nur in der Sozialen Arbeit eine Abkehr von poli- tisch-diskursiver Auseinandersetzung über spezifische Inter- essen, Bedürfnisse und lebensweltliche Erfordernisse ver- Die Corona-Krise aufzuarbeiten, benötigt schiedener Gruppen und Individuen. Zwar waren alle von der die Perspektive der Menschen, Pandemie betroffen, aber eben doch mit sehr unterschiedli- die Angebote Sozialer Arbeit nutzen. chen Auswirkungen (vgl. Böllert 2020). Zum Zweiten er- 4 FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3+4/2021
Einblicke in pandemische Alltage der Kinder- und Jugendhilfe 2022), aber durchaus auch Erfahrungen von individueller Parteinahme von Seiten der Fachkräfte machen (Midden- Soziale Arbeit ist als gemeinsame dorf 2022). Quer durch die Handlungsfelder der Kinder- und Praxis zwischen Professionellen und Jugendhilfe werden Anstrengungen des ,Dranbleibens‘ an Nutzer:innen auszuhandeln. den Anliegen der Adressat:innen sichtbar, aber auch Kon- taktabbrüche, wie z.B. fehlende Erreichbarkeit oder ein als einseitig erlebtes Aufkündigen der Arbeitsbeziehungen „Ich hätte gerne ein Hilfeplangespräch gehabt. Das wurde durch die Professionellen. für nächste Woche abgesagt, weil es kein Notfall ist. Ich möchte meine Zukunft planen.“ (Zitat einer jungen Mutter aus Insofern traf die Pandemie und das gebotene Abstandhalten einer Mutter-Kind-Einrichtung bei Bauknecht et al. 2022) die Kinder- und Jugendhilfe in ihrem Kern (Mairhofer et al. 2020, S. 9). Denn diese arbeitet mit und an sozialen Beziehun- Eine andere Nutzerin erzählt, dass der Rückführungsprozess gen: Junge Leute sollen bei ihrer Subjektwerdung in Gemein- ihrer Kinder zu ihr nach Hause ohne Einbezug ihrer Perspek- schaft bzw. Gesellschaft unterstützt werden. Die Gestaltung tive auf unabsehbare Zeit verschoben wurde (Rätz et al. von Kontakten zu Peers, zu relevanten Anderen, zu Vertre- 2022). Verschiedene Adressat:innen berichten davon, dass ter:innen von Institutionen, das Sich-zurecht-finden in mitun- sie befürchteten, das Nicht-Stattfinden der Hilfeplangesprä- ter konflikthaften Lebenssituationen, das Erleben und Aus- che könnte zu ihrem Nachteil ausgelegt werden, obwohl sie probieren von Mit- und Selbstbestimmung oder auch eine ge- dies nicht zu verantworten hätten (ebd.). sicherte Ermöglichung sozialer Erfahrungen stehen dabei im Mittelpunkt. ,Social Distancing‘ verhält sich diame- Aber es finden sich auch entgegensetzte Erfahrun- tral zu diesen Anliegen. gen: So beschreibt eine Familie mit Bezug auf ihre Sozialpädagogische Familienhilfe Der Blick auf die Perspektive der Adres- (SPFH), wie die Familienhelferin alle sat:innen Sozialer Arbeit in der Coro- Möglichkeiten des In-Kontakt-bleibens na-Pandemie macht nicht nur Auswir- nutzt. Sie telefoniert mehrmals wö- kungen der Pandemie sichtbar, son- chentlich mit den Eltern, ein Kollege dern er verweist im Grunde darauf, geht mit den Kindern spazieren, was ,gute‘ Soziale Arbeit aus der man schreibt über social media, Perspektive der Inanspruchneh- auch über die Dienstzeiten hinaus menden ausmacht. Diesbezüglich (Hengstenberg et al. 2022). So- möchte der Beitrag einige Aspekte zialarbeiter:innen begleiten Ju- diskutieren, die sich aus punktuel- gendliche am Telefon durch den len Einblicken ergeben, wie wir sie Vormittag (Aghamiri/Foitzik in dem bereits benannten Band zu- 2022), Besprechungsräume wer- sammengetragen haben (Aghami- den eingerichtet oder in Gespräche ri/Streck/van Rießen 2022b). Wir in Parks verlagert; zum Teil werden werden dafür Erfahrungen aus drei Hilfepläne flexibilisiert. Ziele, die unterschiedlichen Handlungsfeldern unter den gegebenen Umständen kei- darstellen: der ambulanten Familienhilfe, nen Sinn ergeben, wie z.B. die Anbin- der Heimerziehung und der Offenen Kin- dung an ,Soziale Gruppen‘, weichen der der- und Jugendarbeit. Bearbeitung situativer und aktueller Themen (Hengstenberg et al. 2022). Im Ergebnis wird der Die ambulanten Hilfen zur Erziehung – Inhalt der SPFH dialogisch(er) ausgehandelt, Ziele er- zwischen Abtauchen und Entzerren scheinen nicht länger wie ein einmal vereinbarter Fixpunkt, die Zusammenarbeit wird als flexibler, entzerrter, dynami- In verschiedenen Beiträgen aus Lehr-Lern-Forschungspro- scher von den Inanspruchnehmenden beschrieben. jekten zur Perspektive der Adressat:innen Sozialer Arbeit auf die Corona-Pandemie (z.B. Rätz et al. 2022; Bauknecht et al. Die Heimerziehung – zwischen doppeltem Einschluss 2022) wird sichtbar, dass sich Familien, die Hilfen zur Erzie- und Geborgensein hung (HzE) in Anspruch nehmen, zunächst vor allem schlecht informiert fühlten. Mitarbeiter:innen des Jugendam- Solche ambivalenten Erfahrungen aus den ambulanten Hilfen tes oder der Familienhilfe sind nicht erreichbar, Termine wer- zur Erziehung bzw. der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt den ohne Ersatz oder Aussicht auf das nächste Gespräch ab- finden sich auch im Kontext der stationären Kinder- und Ju- gesagt. Unter den veränderten Bedingungen erleben Fami- gendhilfe (z.B. Middendorf 2022; Lauerer 2022). Die für alle lien, wie Hilfeplanungen, die zuvor als die zentrale Stell- geltenden Distanz- und Kontaktbeschränkungsregeln zeigen schraube im Kontakt mit den Jugendämtern fungierten, aus- sich in der Heimerziehung zunächst deutlich verschärft. gesetzt werden. FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3+4/2021 5
l FACHLICHE ENTWICKLUNGEN WhatsApp, aber das ist nicht das gleiche. Es ist dann soweit Partizipation der Kinder, Jugendlichen gekommen, dass ich nachts teilweise weg gewesen bin.“ (In- und ihrer Familien erscheint einmal mehr terview aus einem studentischen Forschungsprojekt, unveröf- als zentrales Moment guter Arbeit. fentlicht, 2022). Genauso wie im Handlungsfeld der ambulanten Hilfen zur „Während dem Lockdown da durften wir Kinder und Jugend- Erziehung zeigt sich ein ambivalentes Kontinuum des Um- lichen zum Beispiel halt (...) nicht das Gelände verlassen, (...) gangs mit den geltenden und sich ändernden Verordnungen, wir durften auch nicht einkaufen gehen, erstmal.“ (Jugendli- wenn auch mit weniger Spielraum. che aus einer Mädchenwohngruppe bei Lauerer 2022) Die Offene Kinder- und Jugendarbeit – Betreuer:innen sitzen eineinhalb Meter entfernt von den Ju- zwischen Entkernung und Parteinahme gendlichen mit Maske auf dem Sofa; Kontakte zu Familien werden unterbrochen oder ,aus Hygienegründen‘ beobachtet. Die bereits sichtbar gewordene Gegensätzlichkeit zieht sich Körperliche Berührungen, wie sie Menschen in familiären bis in den offenen Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Wäh- Wohnformen noch zugestanden werden, werden abgelehnt. rend Studierende in unseren Forschungs- und Praxisbegleit- Kontakte finden nur draußen im Garten mit Maske und auf seminaren davon berichten, dass viele Jugendtreffs in den Abstand statt. Während junge Menschen, die in Familien le- Lockdowns kategorisch geschlossen werden – beispielswei- ben, ihre Freund:innen in den unregelmäßig geöffneten Schu- se, dass die Jugendlichen sogar vom Hof des Jugendtreffs len wiedersehen, bleiben stationäre Wohngruppen vertrieben werden – erweitern andere Treffs ihr An- bei Besuchsverboten. gebot, indem sie über Social Media sog. ,Challenges‘ veranstalten, Kochaktionen Aber auch in diesem Handlungsfeld des über Videokonferenzen initiieren, per institutionalisierten Wohnens, das die Handy im Kontakt zu den Jugendlichen betroffenen Bewohner:innen noch bleiben und ihre Aktivitäten nach drau- mehr isoliert als Kinder und Jugendli- ßen verlagern und den jeweils che in Familien, können erweiterte ,angesagten‘ Gruppengrößen anpas- Handlungsformen und Erfahrungen sen. von Solidarität entstehen. So be- richtet eine Jugendliche: Die neuen Angebote konterkarie- ren zugleich die zentrale Funktion „wenn sie dann hier Nachtdienst Offener Kinder- und Jugendarbeit. hatte, haben wir dann mehr ge- Der niedrigschwellige Sozialraum, macht. Fernsehen geguckt oder so. der als unverbindlicher Treffpunkt Hat uns, denke ich, auch ein biss- je nach Tages- und Sozialstruktur chen mehr zusammengebracht“ (Ju- genutzt werden kann, wird jetzt zur gendliche bei Middendorf 2022) eingeplanten Aktivität mit Voranmel- dungen (vgl. Röggla/Stifter 2022). Middendorf beschreibt, wie sich Betreu- er:innen und Jugendliche in der Pandemie- “Das ist Alltag früher gewesen, vor dem situation im Heim zusammentun, wie sie Frei- Lockdown. Man ist an kalten Tagen, wo es zeit miteinander verbringen, die vorher Freund:in- richtig kalt war, also man ist da hingegangen, so nen und Familien vorbehalten war. Zum Teil setzen sich ur schön, 18:30, du gehst da hin, ur chillig! Du hast jetzt Fachkräfte über das gebotene Distanz-Handeln hinweg, in- nicht was zu tun, aber schon so irgendwie, im Endeffekt. Du dem sie Kinder und Jugendliche auch durch körperliche Zu- hast einen Plan, du hast einen Plan mit deinen Freunden. wendung trösten. Handyzeiten werden gelockert und neu aus- Jetzt du schreibst in die Gruppe, Jungs meldet euch an […] gehandelt; Kinder und Jugendliche erhalten mediale Unter- Sechs Leute dürfen nur … Blödsinn!” (Sayed,16 bei Rög- stützung, um Kontakt zu ihren Familien aufzunehmen; Gäste- gla/Stifter 2022) zimmer für Eltern und/oder Freund:innen werden eingerich- tet. (2) Weil der Jugendclub seine Funktion als verlässlicher Treff- punkt verliert, orientieren sich Jugendliche um und suchen In Heimeinrichtungen, die im Verschluss bleiben, machen sich – notgedrungen – andere Aktivitäten, mit denen sie ihren sich junge Leute nachts oder nach der Schule, aus dem ,Staub‘ Tag strukturieren können (beispielsweise vermehrt Sport trei- und sorgen so für Stressabbau bzw. erweitern ihre Spielräu- ben, selbst organisierte Treffen, Arbeit aufnehmen o.ä.). Ju- me. gendliche mit konkreten Anliegen hingegen nutzen die im Lockdown deutlich strukturierteren Angebote weiterhin: „irgendwann nach 1½ Monaten habe ich es echt nicht mehr „Das war voll perfekt. Weil ich hab‘ halt voll viele Sachen im- ausgehalten hier zu sein. Klar hat man telefoniert und über mer zu tun, egal ob für die Schule, oder mich oder meine Fa- 6 FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3+4/2021
Einblicke in pandemische Alltage der Kinder- und Jugendhilfe milie und JUVIVO war immer für mich da. Haben sehr viel gen Alltagsortes über Distanzregelungen hinwegsetzen, geholfen jetzt, alle. Also das war extrem gut.“ (Zeynep,19, bei konnten erfahren, dass sich dies positiv auf die Beziehungs- Röggla/Stifter 2022) gestaltung auswirkt. Was eine ,gute‘ Soziale Arbeit in Krisen- zeiten auszeichnet, fassen Röggla und Stifter (2022) für die In den Beobachtungen und Interviews (Röggla/Stifter 2020; Offene Arbeit zusammen: 2022; Voigts 2022) wird deutlich, wie belastet die Kinder und Jugendlichen waren. Die Jugendsozialarbeiterinnen stellen „Wir gehen davon aus, dass sich sozialpädagogisches Han- zugespitzt fest, dass die jungen Leute entweder ihre physische deln auch in Zeiten von Corona nicht nur an medizinischer oder psychische Gesundheit aufs Spiel setzten, je nachdem Expertise, sondern an seinen eigenen Grundsätzen orientieren wie sie mit den Verordnungen umgingen. In den Interviews muss. [...] Es braucht [...] eine Haltung die auch bedenkt, dass erzählen die Kinder und Jugendlichen u.a. von dem Gefühl, genau dieses vermeintliche Risikoverhalten dazu beitragen zu vereinsamen und von Ängsten gegenüber einer ungewis- kann, Kinder und Jugendliche psychisch gesund zu halten.“ sen Zukunft. Offene Jugendarbeit verlor in dieser belastenden Situation einerseits ihre lebensweltnahe, alltägliche Unter- Es erscheint also (mal wieder) die Frage der sozialpädagogi- stützungsfunktion, andererseits gelang es punktuell Kontakte schen Haltung als Teil eines Professionsverständnisses, wie zu halten oder, wie beispielsweise durch die Interviews von Soziale Arbeit auch und gerade in Krisenzeiten verwirklicht Röggla und Stifter (2022) deutlich wurde, einen Reflexions- wird (vgl. auch van Rießen/Scholten/Funk 2020). Zentral ist und Aneignungsort zu bieten, um Ereignisse in der Coro- offenbar erstens, welche Funktion und Aufgabe Soziale Ar- na-Pandemie begreifbar zu machen. beit aus der Perspektive der Fachkräfte hat. Orientiert sie sich aus einer emanzipatorischen Perspektive an Selbstbe- stimmung und Teilhabe der Adressat:innen oder wird sie im Die Perspektive der Adressat:innen Hinblick auf eine funktionstheoretische Perspektive als Nor- auf ,gute‘ Soziale Arbeit malisierungsarbeit bestimmt? Damit einherge- hend wird zweitens die Grundlage ge- Wir gehen von der Grundannahme schaffen, welche Verhältnisbestim- aus, dass Soziale Arbeit als ge- mung Professionelle zwischen meinsame Praxis zwischen Pro- sich und Kindern, Jugendlichen fessionellen und Adressat:in- und ihren Familien vorneh- nen bzw. Nutzer:innen aus- men, ob sie beispielsweise gehandelt und hergestellt Beteiligungsrechte auch un- wird, auch in der Coro- ter pandemischen Bedin- na-Pandemie. Diese Aus- gungen als solche anerken- handlungen wurden in eini- nen oder nicht. Zugleich gen Bereichen ausgesetzt, zeigt sich drittens, dass so dass Soziale Arbeit an die- ‚gute‘ Soziale Arbeit dort sen Stellen quasi aufhörte zu weiter bestehen konnte, wo existieren. Dort, wo um eine ge- Professionelle die Regeln ihres meinsame Alltagspraxis aber ge- Handelns selbst entsprechend ei- rungen wurde, zeigen sich Aspekte ei- gener professioneller Maßstäbe aus- nes produktiven Handelns über die Pande- legten. mie hinaus. Dabei erscheint einmal mehr die Er- öffnung von Partizipation der Kinder, Jugendlichen und ihrer Eine subjektorientierte Soziale Arbeit, die sich an der Selbst- Familien als zentrales Moment guter Arbeit. bestimmung und Teilhabe der Adressat:innen orientiert, hat historisch gesprochen schon immer unter prekären Bedingun- Unter dem Unwichtig-werden fixer Ziele in der Hilfeplanung gen agiert, sowohl bezogen auf Finanzierung als auch bezo- beispielsweise werden neue, größere Aushandlungsräume gen auf Kontrollansprüche von Verwaltung als Durchsetzung von allen Beteiligten bespielbar, die vorher durch eine starke gesellschaftlicher Normativitäten. Insofern müsste auch eine Verfahrensorientierung ggf. verstellt wurden. Es entsteht eine wie auch immer geartete Krise eher Flexibilität und gemein- stärker situativ ausgerichtete „Flexibilität in der Hilfegestal- schaftliches Handeln mit den Adressat:innen freisetzen, als tung und das Eingehen auf die [konkreten] Erwartungen der ein Verharren in einem Wie-es-immer-war und Wie-es- Familie“ (Hengstenberg et al. 2022). Professionelle, die sich dann-halt-gerade-nicht-sein-kann. Deutlich wird in den empi- in der stationären Wohngruppe im Sinne eines familienanlo- rischen Analysen, dass Beziehungen sich eben nicht verre- geln lassen, sie benötigen Gestaltungsspielräume und Dialo- ge. Und das war und ist auch im Social Distancing möglich, Eine wie auch immer geartete Krise müsste wenn auch sozialpädagogisch ‚anders‘ ausgestaltet. Mögli- Flexibilität und gemeinschaftliches Handeln cherweise sollte sich die Kinder- und Jugendhilfe auch post- mit den Adressat*innen freisetzen. pandemisch fragen lassen, wie sie es mit dem Dialog mit ih- ren Adressat:innen hält. 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l FACHLICHE ENTWICKLUNGEN Bauknecht, Jürgen/Hinssen, Martina/Kohlenbeck, Kathrin/Rehn, Beziehungen lassen sich nicht verregeln, Alexandra/Belz, Ute (2022 i.E.): Die Perspektive von Adres- sie brauchen dialogische sat*innen in ambulanten und stationären Betreuungssettings auf Alltag und Soziale Arbeit während der Corona-Pandemie: Er- Gestaltungsspielräume. gebnisse einer Mixed-Methods-Studie. In: Aghamiri/Streck/van Rießen (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit in der Corona-Pande- mie. Einblicke in Perspektiven der Adressat*innen. Opladen Anmerkungen: u.a.: Barbara Budrich. 1) Die zitierten Beispiele finden sich ausführlich in dem Band: „All- Böllert, Karin (2020): Herausforderungen von und Perspektiven tag und Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie. Einblicke in nach Covid-19: Corona geht uns alle an – nur manche ganz be- Perspektiven der Adressat:innen.“, der Anfang 2022 im Barbara sonders. Ein Kommentar. In: neue praxis aktuell. 02/2020. S. Budrich Verlag erscheint (Aghamiri/Streck/van Rießen 2022b). 181-187. 2) Diese Lösungsideen finden sich nicht in dem zugrunde liegenden Hengstenberg, Charis/Gundrum, Katharina/Flaswinkel, Coralie/ Band (Aghamiri/Streck/van Rießen 2022b), sondern wurden Dahlmann, Kassandra (2022 i.E.): Nutzung der Kinder- und Ju- den Autorinnen im Rahmen von Praxisprojekten berichtet. gendhilfe im Schatten der Pandemie: Wenn Nutzer*innen ge- sundheitlich hoch vulnerabel sind. In: Aghamiri/Streck/van Rie- Literatur: ßen (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit in der Corona-Pande- mie. Einblicke in Perspektiven der Adressat*innen. Aghamiri, Kathrin/Streck, Rebekka/van Rießen, Opladen u.a.: Barbara Budrich. Anne (2021a): Die Stimmen der Adres- sat:nnen in der Corona Pandemie. Klemm, Anne-Kathrin/Knieps, Franz URL: https://sozpaed-corona.de/ (2020): Unter dem Corona-Brenn- die-stimmen-der- glas: Erste Lehren aus der Pande- adressatinnen-in-der- mie in: Gesundheits- und Sozial- corona-pandemie/ politik (G&S), Jahrgang 74 [12.10.21] (2020), Heft 4-5. S. 67-73. Aghamiri, Kathrin/Streck, Re- Lauerer, Julia (2022 i.E.): „Dop- bekka/van Rießen, Anne pelt gearscht.“ Der Alltag von (Hg.) (2022b i.E.): Alltag Adressat*innen der stationä- und Soziale Arbeit in der ren Kinder- und Jugendhilfe. Corona-Pandemie. Einbli- In: Aghamiri/Streck/van Rießen cke in Perspektiven der (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit Adressat:innen. Opladen, Ber- in der Corona-Pandemie. Einblicke lin, Toronto: Barbara Budrich. in Perspektiven der Adressat*innen. Opladen u.a.: Barbara Budrich. Aghamiri, Kathrin/Foitzik, Nathalie (2022 i.E.): Wenn Schule im Lockdown Mairhofer, Andreas/Peucker, Christian/Pluto, beweglich wird – Jugendliche als Adressat*in- Liane/van Santen, Eric/Seckinger, Mike (2020): nen der Schulsozialarbeit in der Corona-Pandemie. In:: Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie. Aghamiri/Streck/van Rießen (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit in DJI-Jugendhilfebarometer bei Jugendämtern. München: DJI. der Corona-Pandemie. Einblicke in Perspektiven der Adres- Middendorf, Tim (2022 i.E.): „Das Normale ist halt weg“ – die Co- sat*innen. Opladen u.a.: Barbara Budrich. rona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Gestaltung des Aghamiri, Kathrin/Reinecke-Terner, Anja/Streck, Rebekka/Unter- Alltags in stationärer Jugendhilfe. In: Aghamiri/Streck/van Rie- kofler, Ursula (Hg.) (2018): Doing Social Work. Ethnografische ßen (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie. Forschung als Theoriebildung. Opladen, Berlin, Toronto: Barba- Opladen u.a.: Barbara Budrich. ra Budrich. Prof. Dr. Kathrin Aghamiri Prof. Dr. Rebekka Streck ist seit 2016 Professorin für Sozial- ist seit 2017 Professorin für Sozial- pädagogik mit dem Schwerpunkt pädagogik an der Evangelischen Soziale Arbeit und Schule an der Hochschule Berlin. Ihre For- Fachhochschule Münster. Ihre Ar- schungs- und Arbeitsschwerpunk- beitsschwerpunkte sind Erziehung te sind Sucht- und Drogenhilfe, und Bildung aus sozialpädagogi- niedrigschwellige Settings Sozialer scher Perspektive, Partizipation Arbeit, Nutzer*innenforschung, so- von Kindern und Jugendlichen in zialpädagogische Theoriebildung pädagogischen Institutionen und mit ethnografischen Forschungs- Nutzer*innenforschung. zugängen. 8 FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3+4/2021
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