Einblicke in pandemische Alltage der Kinder- und Jugendhilfe

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l    FACHLICHE ENTWICKLUNGEN

          Einblicke in pandemische Alltage
             der Kinder- und Jugendhilfe
            oder: Was macht eigentlich ‚gute‘ Soziale Arbeit aus?
                               von Kathrin Aghamiri, Rebekka Streck und Anne van Rießen

    Impfstoffe, Testungen und relativ niedrige Inzidenzen bzw.      scheint die Praxis Sozialer Arbeit ohne die selbsttätige Aneig-
    eine geringe Hospitalisierung lassen zumindest im September     nung und Nutzung bzw. die Perspektiven der Adressat:innen
    des Jahres 2021 langfristig auf ein sich normalisierendes Le-   auf eben diesen gemeinsamen Herstellungsprozess nicht
    ben mit dem Coronavirus hoffen, dass wieder mehr                        denk- und fassbar: Soziale Arbeit wird gemeinsam
    soziale Begegnungen zulässt und an die vor                                       von Professionellen und Adressat:innen in
    der Pandemie vertrauten Alltage an-                                                   spezifischen Situationen und Kontex-
    knüpfen kann. Dies gilt mit Blick                                                         ten hervorgebracht (vgl. Oelerich
    auf junge Menschen für die Si-                                                               /Schaarschuch 2005; Aghamiri et
    tuation in Familien, für Institu-                                                               al. 2018). Ob ein sozialpädago-
    tionen formeller Bildung und                                                                      gisches Angebot nutzbar ist,
    Freizeit wie auch für die Ein-                                                                     ob ein Beziehungsaufbau in
    richtungen der Kinder- und                                                                          der Jugendhilfe gelingt, ob
    Jugendhilfe: Jugendtreffs                                                                           Ziele einer Hilfe tatsächlich
    öffnen ihre offenen Berei-                                                                          neue Aneignungsräume er-
    che, pädagogische Fach-                                                                             öffnen oder solche sogar be-
    kräfte in Kitas arbeiten mit                                                                       hindern, das lässt sich eben
    den Jüngsten ohne Maske,                                                                         nicht allein aus Perspektive
    Kinder und Jugendliche aus                                                                      der Professionellen erfassen.
    stationären Wohngruppen kön-                                                                 Erst recht nicht in einer außerall-
    nen Eltern und Geschwister wieder                                                         täglichen Krisensituation wie der
    treffen, ohne dass sie dabei von Sozial-                                             Corona-Pandemie.
    pädagog:innen beaufsichtigt werden, und
    auch die Mitarbeiter:innen der ambulanten Erziehungs-                  Vor diesem Hintergrund kann also eine Aufarbeitung
    hilfen besuchen ihre Adressat:innen wieder zu Hause. Warum      der Kinder- und Jugendhilfe in Corona-Zeiten nur mit Blick
    also ein Blick zurück aus Perspektive der Adressat:innen der    auf die Perspektive der Adressat:innen gelingen (vgl. Agha-
    Kinder- und Jugendhilfe in Lockdown-Zeiten?                     miri/Streck/van Rießen 2022b). Mit diesem Beitrag fassen
                                                                    wir (zwangsläufig verkürzt) Ergebnisse verschiedener
                                                                    Lehr-Lernforschungsprojekte und kleinerer Studien zusam-
    Die zentrale Bedeutung der Perspektive                          men, die einen Einblick in das Erleben des Jugendhilfeall-
    der Adressat:innen                                              tags von Kindern und Jugendlichen und ihrer Familien ge-
                                                                    ben. (1) Dieses Erleben erscheint keineswegs eindeutig im
    Die Aufarbeitung der Auswirkungen der Corona-Krise im           Sinne des verschiedentlich benannten Brennglases (z.B.
    Kontext Sozialer Arbeit benötigt die Perspektive der Men-       Klemm/Knieps 2020), d.h. die Arbeit an den eigenen lebens-
    schen, die Angebote Sozialer Arbeit in Anspruch nehmen          weltlichen Themen wird nicht pauschal als zugespitzt erfah-
    (müssen) (vgl. Aghamiri/Streck/van Rießen 2021a). Im Ver-       ren. Dagegen ähnelt das Erleben der Nutzer:innen von Ein-
    lauf der Pandemie wurde von Seiten der Profession und Dis-      richtungen der Kinder- und Jugendhilfe in seiner Vielfalt
    ziplin bis auf wenige Ausnahmen vor allem über die Men-         eher einem Kaleidoskop (Streck/van Rießen/Aghamiri
    schen gesprochen statt mit ihnen. Eine Fülle von Exekutiv-      2022). So gibt es beispielsweise Kinder und Jugendliche, die
    verordnungen, Einschränkungen von persönlichen Freiheits-       sich in der Corona-Pandemie als Adressat:innen der statio-
    rechten und ein ungewisser Pandemieverlauf beförderten          nären Jugendhilfe zwar „doppelt gearscht“ sehen (Lauerer
    nicht nur in der Sozialen Arbeit eine Abkehr von poli-
    tisch-diskursiver Auseinandersetzung über spezifische Inter-
    essen, Bedürfnisse und lebensweltliche Erfordernisse ver-           Die Corona-Krise aufzuarbeiten, benötigt
    schiedener Gruppen und Individuen. Zwar waren alle von der               die Perspektive der Menschen,
    Pandemie betroffen, aber eben doch mit sehr unterschiedli-            die Angebote Sozialer Arbeit nutzen.
    chen Auswirkungen (vgl. Böllert 2020). Zum Zweiten er-

4   FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3+4/2021
Einblicke in pandemische Alltage der Kinder- und Jugendhilfe

2022), aber durchaus auch Erfahrungen von individueller
Parteinahme von Seiten der Fachkräfte machen (Midden-                   Soziale Arbeit ist als gemeinsame
dorf 2022). Quer durch die Handlungsfelder der Kinder- und             Praxis zwischen Professionellen und
Jugendhilfe werden Anstrengungen des ,Dranbleibens‘ an                     Nutzer:innen auszuhandeln.
den Anliegen der Adressat:innen sichtbar, aber auch Kon-
taktabbrüche, wie z.B. fehlende Erreichbarkeit oder ein als
einseitig erlebtes Aufkündigen der Arbeitsbeziehungen            „Ich hätte gerne ein Hilfeplangespräch gehabt. Das wurde
durch die Professionellen.                                       für nächste Woche abgesagt, weil es kein Notfall ist. Ich
                                                                 möchte meine Zukunft planen.“ (Zitat einer jungen Mutter aus
Insofern traf die Pandemie und das gebotene Abstandhalten        einer Mutter-Kind-Einrichtung bei Bauknecht et al. 2022)
die Kinder- und Jugendhilfe in ihrem Kern (Mairhofer et al.
2020, S. 9). Denn diese arbeitet mit und an sozialen Beziehun-   Eine andere Nutzerin erzählt, dass der Rückführungsprozess
gen: Junge Leute sollen bei ihrer Subjektwerdung in Gemein-      ihrer Kinder zu ihr nach Hause ohne Einbezug ihrer Perspek-
schaft bzw. Gesellschaft unterstützt werden. Die Gestaltung      tive auf unabsehbare Zeit verschoben wurde (Rätz et al.
von Kontakten zu Peers, zu relevanten Anderen, zu Vertre-        2022). Verschiedene Adressat:innen berichten davon, dass
ter:innen von Institutionen, das Sich-zurecht-finden in mitun-   sie befürchteten, das Nicht-Stattfinden der Hilfeplangesprä-
ter konflikthaften Lebenssituationen, das Erleben und Aus-       che könnte zu ihrem Nachteil ausgelegt werden, obwohl sie
probieren von Mit- und Selbstbestimmung oder auch eine ge-       dies nicht zu verantworten hätten (ebd.).
sicherte Ermöglichung sozialer Erfahrungen stehen dabei im
Mittelpunkt. ,Social Distancing‘ verhält sich diame-                     Aber es finden sich auch entgegensetzte Erfahrun-
tral zu diesen Anliegen.                                                      gen: So beschreibt eine Familie mit Bezug auf
                                                                                  ihre Sozialpädagogische Familienhilfe
Der Blick auf die Perspektive der Adres-                                            (SPFH), wie die Familienhelferin alle
sat:innen Sozialer Arbeit in der Coro-                                                Möglichkeiten des In-Kontakt-bleibens
na-Pandemie macht nicht nur Auswir-                                                    nutzt. Sie telefoniert mehrmals wö-
kungen der Pandemie sichtbar, son-                                                      chentlich mit den Eltern, ein Kollege
dern er verweist im Grunde darauf,                                                        geht mit den Kindern spazieren,
was ,gute‘ Soziale Arbeit aus der                                                          man schreibt über social media,
Perspektive der Inanspruchneh-                                                             auch über die Dienstzeiten hinaus
menden ausmacht. Diesbezüglich                                                             (Hengstenberg et al. 2022). So-
möchte der Beitrag einige Aspekte                                                          zialarbeiter:innen begleiten Ju-
diskutieren, die sich aus punktuel-                                                        gendliche am Telefon durch den
len Einblicken ergeben, wie wir sie                                                        Vormittag        (Aghamiri/Foitzik
in dem bereits benannten Band zu-                                                          2022), Besprechungsräume wer-
sammengetragen haben (Aghami-                                                             den eingerichtet oder in Gespräche
ri/Streck/van Rießen 2022b). Wir                                                         in Parks verlagert; zum Teil werden
werden dafür Erfahrungen aus drei                                                       Hilfepläne flexibilisiert. Ziele, die
unterschiedlichen     Handlungsfeldern                                                unter den gegebenen Umständen kei-
darstellen: der ambulanten Familienhilfe,                                            nen Sinn ergeben, wie z.B. die Anbin-
der Heimerziehung und der Offenen Kin-                                             dung an ,Soziale Gruppen‘, weichen der
der- und Jugendarbeit.                                                          Bearbeitung situativer und aktueller Themen
                                                                            (Hengstenberg et al. 2022). Im Ergebnis wird der
Die ambulanten Hilfen zur Erziehung –                                 Inhalt der SPFH dialogisch(er) ausgehandelt, Ziele er-
zwischen Abtauchen und Entzerren                                 scheinen nicht länger wie ein einmal vereinbarter Fixpunkt,
                                                                 die Zusammenarbeit wird als flexibler, entzerrter, dynami-
In verschiedenen Beiträgen aus Lehr-Lern-Forschungspro-          scher von den Inanspruchnehmenden beschrieben.
jekten zur Perspektive der Adressat:innen Sozialer Arbeit auf
die Corona-Pandemie (z.B. Rätz et al. 2022; Bauknecht et al.     Die Heimerziehung – zwischen doppeltem Einschluss
2022) wird sichtbar, dass sich Familien, die Hilfen zur Erzie-   und Geborgensein
hung (HzE) in Anspruch nehmen, zunächst vor allem
schlecht informiert fühlten. Mitarbeiter:innen des Jugendam-     Solche ambivalenten Erfahrungen aus den ambulanten Hilfen
tes oder der Familienhilfe sind nicht erreichbar, Termine wer-   zur Erziehung bzw. der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt
den ohne Ersatz oder Aussicht auf das nächste Gespräch ab-       finden sich auch im Kontext der stationären Kinder- und Ju-
gesagt. Unter den veränderten Bedingungen erleben Fami-          gendhilfe (z.B. Middendorf 2022; Lauerer 2022). Die für alle
lien, wie Hilfeplanungen, die zuvor als die zentrale Stell-      geltenden Distanz- und Kontaktbeschränkungsregeln zeigen
schraube im Kontakt mit den Jugendämtern fungierten, aus-        sich in der Heimerziehung zunächst deutlich verschärft.
gesetzt werden.

                                                                                  FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3+4/2021    5
l     FACHLICHE ENTWICKLUNGEN

                                                                        WhatsApp, aber das ist nicht das gleiche. Es ist dann soweit
         Partizipation der Kinder, Jugendlichen                         gekommen, dass ich nachts teilweise weg gewesen bin.“ (In-
        und ihrer Familien erscheint einmal mehr                        terview aus einem studentischen Forschungsprojekt, unveröf-
           als zentrales Moment guter Arbeit.                           fentlicht, 2022).

                                                                        Genauso wie im Handlungsfeld der ambulanten Hilfen zur
    „Während dem Lockdown da durften wir Kinder und Jugend-             Erziehung zeigt sich ein ambivalentes Kontinuum des Um-
    lichen zum Beispiel halt (...) nicht das Gelände verlassen, (...)   gangs mit den geltenden und sich ändernden Verordnungen,
    wir durften auch nicht einkaufen gehen, erstmal.“ (Jugendli-        wenn auch mit weniger Spielraum.
    che aus einer Mädchenwohngruppe bei Lauerer 2022)
                                                                        Die Offene Kinder- und Jugendarbeit –
    Betreuer:innen sitzen eineinhalb Meter entfernt von den Ju-         zwischen Entkernung und Parteinahme
    gendlichen mit Maske auf dem Sofa; Kontakte zu Familien
    werden unterbrochen oder ,aus Hygienegründen‘ beobachtet.           Die bereits sichtbar gewordene Gegensätzlichkeit zieht sich
    Körperliche Berührungen, wie sie Menschen in familiären             bis in den offenen Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Wäh-
    Wohnformen noch zugestanden werden, werden abgelehnt.               rend Studierende in unseren Forschungs- und Praxisbegleit-
    Kontakte finden nur draußen im Garten mit Maske und auf             seminaren davon berichten, dass viele Jugendtreffs in den
    Abstand statt. Während junge Menschen, die in Familien le-          Lockdowns kategorisch geschlossen werden – beispielswei-
    ben, ihre Freund:innen in den unregelmäßig geöffneten Schu-         se, dass die Jugendlichen sogar vom Hof des Jugendtreffs
    len wiedersehen, bleiben stationäre Wohngruppen                               vertrieben werden – erweitern andere Treffs ihr An-
    bei Besuchsverboten.                                                               gebot, indem sie über Social Media sog.
                                                                                          ,Challenges‘ veranstalten, Kochaktionen
    Aber auch in diesem Handlungsfeld des                                                   über Videokonferenzen initiieren, per
    institutionalisierten Wohnens, das die                                                    Handy im Kontakt zu den Jugendlichen
    betroffenen Bewohner:innen noch                                                             bleiben und ihre Aktivitäten nach drau-
    mehr isoliert als Kinder und Jugendli-                                                       ßen verlagern und den jeweils
    che in Familien, können erweiterte                                                            ,angesagten‘ Gruppengrößen anpas-
    Handlungsformen und Erfahrungen                                                                sen.
    von Solidarität entstehen. So be-
    richtet eine Jugendliche:                                                                     Die neuen Angebote konterkarie-
                                                                                                  ren zugleich die zentrale Funktion
    „wenn sie dann hier Nachtdienst                                                               Offener Kinder- und Jugendarbeit.
    hatte, haben wir dann mehr ge-                                                                Der niedrigschwellige Sozialraum,
    macht. Fernsehen geguckt oder so.                                                             der als unverbindlicher Treffpunkt
    Hat uns, denke ich, auch ein biss-                                                           je nach Tages- und Sozialstruktur
    chen mehr zusammengebracht“ (Ju-                                                            genutzt werden kann, wird jetzt zur
    gendliche bei Middendorf 2022)                                                             eingeplanten Aktivität mit Voranmel-
                                                                                              dungen (vgl. Röggla/Stifter 2022).
    Middendorf beschreibt, wie sich Betreu-
    er:innen und Jugendliche in der Pandemie-                                              “Das ist Alltag früher gewesen, vor dem
    situation im Heim zusammentun, wie sie Frei-                                        Lockdown. Man ist an kalten Tagen, wo es
    zeit miteinander verbringen, die vorher Freund:in-                              richtig kalt war, also man ist da hingegangen, so
    nen und Familien vorbehalten war. Zum Teil setzen sich                    ur schön, 18:30, du gehst da hin, ur chillig! Du hast jetzt
    Fachkräfte über das gebotene Distanz-Handeln hinweg, in-            nicht was zu tun, aber schon so irgendwie, im Endeffekt. Du
    dem sie Kinder und Jugendliche auch durch körperliche Zu-           hast einen Plan, du hast einen Plan mit deinen Freunden.
    wendung trösten. Handyzeiten werden gelockert und neu aus-          Jetzt du schreibst in die Gruppe, Jungs meldet euch an […]
    gehandelt; Kinder und Jugendliche erhalten mediale Unter-           Sechs Leute dürfen nur … Blödsinn!” (Sayed,16 bei Rög-
    stützung, um Kontakt zu ihren Familien aufzunehmen; Gäste-          gla/Stifter 2022)
    zimmer für Eltern und/oder Freund:innen werden eingerich-
    tet. (2)                                                            Weil der Jugendclub seine Funktion als verlässlicher Treff-
                                                                        punkt verliert, orientieren sich Jugendliche um und suchen
    In Heimeinrichtungen, die im Verschluss bleiben, machen             sich – notgedrungen – andere Aktivitäten, mit denen sie ihren
    sich junge Leute nachts oder nach der Schule, aus dem ,Staub‘       Tag strukturieren können (beispielsweise vermehrt Sport trei-
    und sorgen so für Stressabbau bzw. erweitern ihre Spielräu-         ben, selbst organisierte Treffen, Arbeit aufnehmen o.ä.). Ju-
    me.                                                                 gendliche mit konkreten Anliegen hingegen nutzen die im
                                                                        Lockdown deutlich strukturierteren Angebote weiterhin:
    „irgendwann nach 1½ Monaten habe ich es echt nicht mehr             „Das war voll perfekt. Weil ich hab‘ halt voll viele Sachen im-
    ausgehalten hier zu sein. Klar hat man telefoniert und über         mer zu tun, egal ob für die Schule, oder mich oder meine Fa-

6   FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3+4/2021
Einblicke in pandemische Alltage der Kinder- und Jugendhilfe

milie und JUVIVO war immer für mich da. Haben sehr viel            gen Alltagsortes über Distanzregelungen hinwegsetzen,
geholfen jetzt, alle. Also das war extrem gut.“ (Zeynep,19, bei    konnten erfahren, dass sich dies positiv auf die Beziehungs-
Röggla/Stifter 2022)                                               gestaltung auswirkt. Was eine ,gute‘ Soziale Arbeit in Krisen-
                                                                   zeiten auszeichnet, fassen Röggla und Stifter (2022) für die
In den Beobachtungen und Interviews (Röggla/Stifter 2020;          Offene Arbeit zusammen:
2022; Voigts 2022) wird deutlich, wie belastet die Kinder und
Jugendlichen waren. Die Jugendsozialarbeiterinnen stellen          „Wir gehen davon aus, dass sich sozialpädagogisches Han-
zugespitzt fest, dass die jungen Leute entweder ihre physische     deln auch in Zeiten von Corona nicht nur an medizinischer
oder psychische Gesundheit aufs Spiel setzten, je nachdem          Expertise, sondern an seinen eigenen Grundsätzen orientieren
wie sie mit den Verordnungen umgingen. In den Interviews           muss. [...] Es braucht [...] eine Haltung die auch bedenkt, dass
erzählen die Kinder und Jugendlichen u.a. von dem Gefühl,          genau dieses vermeintliche Risikoverhalten dazu beitragen
zu vereinsamen und von Ängsten gegenüber einer ungewis-            kann, Kinder und Jugendliche psychisch gesund zu halten.“
sen Zukunft. Offene Jugendarbeit verlor in dieser belastenden
Situation einerseits ihre lebensweltnahe, alltägliche Unter-       Es erscheint also (mal wieder) die Frage der sozialpädagogi-
stützungsfunktion, andererseits gelang es punktuell Kontakte       schen Haltung als Teil eines Professionsverständnisses, wie
zu halten oder, wie beispielsweise durch die Interviews von        Soziale Arbeit auch und gerade in Krisenzeiten verwirklicht
Röggla und Stifter (2022) deutlich wurde, einen Reflexions-        wird (vgl. auch van Rießen/Scholten/Funk 2020). Zentral ist
und Aneignungsort zu bieten, um Ereignisse in der Coro-            offenbar erstens, welche Funktion und Aufgabe Soziale Ar-
na-Pandemie begreifbar zu machen.                                  beit aus der Perspektive der Fachkräfte hat. Orientiert sie
                                                                   sich aus einer emanzipatorischen Perspektive an Selbstbe-
                                                                   stimmung und Teilhabe der Adressat:innen oder wird sie im
Die Perspektive der Adressat:innen                                 Hinblick auf eine funktionstheoretische Perspektive als Nor-
auf ,gute‘ Soziale Arbeit                                                     malisierungsarbeit bestimmt? Damit einherge-
                                                                                     hend wird zweitens die Grundlage ge-
Wir gehen von der Grundannahme                                                            schaffen, welche Verhältnisbestim-
aus, dass Soziale Arbeit als ge-                                                             mung Professionelle zwischen
meinsame Praxis zwischen Pro-                                                                   sich und Kindern, Jugendlichen
fessionellen und Adressat:in-                                                                     und ihren Familien vorneh-
nen bzw. Nutzer:innen aus-                                                                         men, ob sie beispielsweise
gehandelt und hergestellt                                                                            Beteiligungsrechte auch un-
wird, auch in der Coro-                                                                              ter pandemischen Bedin-
na-Pandemie. Diese Aus-                                                                              gungen als solche anerken-
handlungen wurden in eini-                                                                           nen oder nicht. Zugleich
gen Bereichen ausgesetzt,                                                                            zeigt sich drittens, dass
so dass Soziale Arbeit an die-                                                                      ‚gute‘ Soziale Arbeit dort
sen Stellen quasi aufhörte zu                                                                      weiter bestehen konnte, wo
existieren. Dort, wo um eine ge-                                                                 Professionelle die Regeln ihres
meinsame Alltagspraxis aber ge-                                                                Handelns selbst entsprechend ei-
rungen wurde, zeigen sich Aspekte ei-                                                      gener professioneller Maßstäbe aus-
nes produktiven Handelns über die Pande-                                               legten.
mie hinaus. Dabei erscheint einmal mehr die Er-
öffnung von Partizipation der Kinder, Jugendlichen und ihrer       Eine subjektorientierte Soziale Arbeit, die sich an der Selbst-
Familien als zentrales Moment guter Arbeit.                        bestimmung und Teilhabe der Adressat:innen orientiert, hat
                                                                   historisch gesprochen schon immer unter prekären Bedingun-
Unter dem Unwichtig-werden fixer Ziele in der Hilfeplanung         gen agiert, sowohl bezogen auf Finanzierung als auch bezo-
beispielsweise werden neue, größere Aushandlungsräume              gen auf Kontrollansprüche von Verwaltung als Durchsetzung
von allen Beteiligten bespielbar, die vorher durch eine starke     gesellschaftlicher Normativitäten. Insofern müsste auch eine
Verfahrensorientierung ggf. verstellt wurden. Es entsteht eine     wie auch immer geartete Krise eher Flexibilität und gemein-
stärker situativ ausgerichtete „Flexibilität in der Hilfegestal-   schaftliches Handeln mit den Adressat:innen freisetzen, als
tung und das Eingehen auf die [konkreten] Erwartungen der          ein Verharren in einem Wie-es-immer-war und Wie-es-
Familie“ (Hengstenberg et al. 2022). Professionelle, die sich      dann-halt-gerade-nicht-sein-kann. Deutlich wird in den empi-
in der stationären Wohngruppe im Sinne eines familienanlo-         rischen Analysen, dass Beziehungen sich eben nicht verre-
                                                                   geln lassen, sie benötigen Gestaltungsspielräume und Dialo-
                                                                   ge. Und das war und ist auch im Social Distancing möglich,
 Eine wie auch immer geartete Krise müsste                         wenn auch sozialpädagogisch ‚anders‘ ausgestaltet. Mögli-
 Flexibilität und gemeinschaftliches Handeln                       cherweise sollte sich die Kinder- und Jugendhilfe auch post-
     mit den Adressat*innen freisetzen.                            pandemisch fragen lassen, wie sie es mit dem Dialog mit ih-
                                                                   ren Adressat:innen hält.

                                                                                     FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3+4/2021       7
l     FACHLICHE ENTWICKLUNGEN

                                                                            Bauknecht, Jürgen/Hinssen, Martina/Kohlenbeck, Kathrin/Rehn,
        Beziehungen lassen sich nicht verregeln,                               Alexandra/Belz, Ute (2022 i.E.): Die Perspektive von Adres-
               sie brauchen dialogische                                        sat*innen in ambulanten und stationären Betreuungssettings auf
                                                                               Alltag und Soziale Arbeit während der Corona-Pandemie: Er-
                Gestaltungsspielräume.                                         gebnisse einer Mixed-Methods-Studie. In: Aghamiri/Streck/van
                                                                               Rießen (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit in der Corona-Pande-
                                                                               mie. Einblicke in Perspektiven der Adressat*innen. Opladen
    Anmerkungen:                                                               u.a.: Barbara Budrich.
    1) Die zitierten Beispiele finden sich ausführlich in dem Band: „All-   Böllert, Karin (2020): Herausforderungen von und Perspektiven
        tag und Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie. Einblicke in             nach Covid-19: Corona geht uns alle an – nur manche ganz be-
        Perspektiven der Adressat:innen.“, der Anfang 2022 im Barbara           sonders. Ein Kommentar. In: neue praxis aktuell. 02/2020. S.
        Budrich Verlag erscheint (Aghamiri/Streck/van Rießen 2022b).            181-187.
    2) Diese Lösungsideen finden sich nicht in dem zugrunde liegenden       Hengstenberg, Charis/Gundrum, Katharina/Flaswinkel, Coralie/
        Band (Aghamiri/Streck/van Rießen 2022b), sondern wurden                Dahlmann, Kassandra (2022 i.E.): Nutzung der Kinder- und Ju-
        den Autorinnen im Rahmen von Praxisprojekten berichtet.                gendhilfe im Schatten der Pandemie: Wenn Nutzer*innen ge-
                                                                               sundheitlich hoch vulnerabel sind. In: Aghamiri/Streck/van Rie-
    Literatur:                                                                    ßen (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit in der Corona-Pande-
                                                                                           mie. Einblicke in Perspektiven der Adressat*innen.
    Aghamiri, Kathrin/Streck, Rebekka/van Rießen,
                                                                                                 Opladen u.a.: Barbara Budrich.
       Anne (2021a): Die Stimmen der Adres-
       sat:nnen in der Corona Pandemie.                                                             Klemm, Anne-Kathrin/Knieps, Franz
       URL: https://sozpaed-corona.de/                                                                  (2020): Unter dem Corona-Brenn-
       die-stimmen-der-                                                                                   glas: Erste Lehren aus der Pande-
       adressatinnen-in-der-                                                                                mie in: Gesundheits- und Sozial-
       corona-pandemie/                                                                                      politik (G&S), Jahrgang 74
       [12.10.21]                                                                                             (2020), Heft 4-5. S. 67-73.
    Aghamiri, Kathrin/Streck, Re-                                                                             Lauerer, Julia (2022 i.E.): „Dop-
       bekka/van Rießen, Anne                                                                                   pelt gearscht.“ Der Alltag von
       (Hg.) (2022b i.E.): Alltag                                                                               Adressat*innen der stationä-
       und Soziale Arbeit in der                                                                               ren Kinder- und Jugendhilfe.
       Corona-Pandemie. Einbli-                                                                               In: Aghamiri/Streck/van Rießen
       cke in Perspektiven der                                                                               (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit
       Adressat:innen. Opladen, Ber-                                                                       in der Corona-Pandemie. Einblicke
       lin, Toronto: Barbara Budrich.                                                                    in Perspektiven der Adressat*innen.
                                                                                                       Opladen u.a.: Barbara Budrich.
    Aghamiri, Kathrin/Foitzik, Nathalie
       (2022 i.E.): Wenn Schule im Lockdown                                                    Mairhofer, Andreas/Peucker, Christian/Pluto,
       beweglich wird – Jugendliche als Adressat*in-                                      Liane/van Santen, Eric/Seckinger, Mike (2020):
       nen der Schulsozialarbeit in der Corona-Pandemie. In::                     Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie.
       Aghamiri/Streck/van Rießen (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit in          DJI-Jugendhilfebarometer bei Jugendämtern. München: DJI.
       der Corona-Pandemie. Einblicke in Perspektiven der Adres-            Middendorf, Tim (2022 i.E.): „Das Normale ist halt weg“ – die Co-
       sat*innen. Opladen u.a.: Barbara Budrich.                               rona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Gestaltung des
    Aghamiri, Kathrin/Reinecke-Terner, Anja/Streck, Rebekka/Unter-             Alltags in stationärer Jugendhilfe. In: Aghamiri/Streck/van Rie-
       kofler, Ursula (Hg.) (2018): Doing Social Work. Ethnografische          ßen (Hg.): Alltag und Soziale Arbeit in der Corona-Pandemie.
       Forschung als Theoriebildung. Opladen, Berlin, Toronto: Barba-          Opladen u.a.: Barbara Budrich.
       ra Budrich.

    Prof. Dr. Kathrin Aghamiri                                              Prof. Dr. Rebekka Streck
                                ist seit 2016 Professorin für Sozial-                                  ist seit 2017 Professorin für Sozial-
                                pädagogik mit dem Schwerpunkt                                          pädagogik an der Evangelischen
                                Soziale Arbeit und Schule an der                                       Hochschule Berlin. Ihre For-
                                Fachhochschule Münster. Ihre Ar-                                       schungs- und Arbeitsschwerpunk-
                                beitsschwerpunkte sind Erziehung                                       te sind Sucht- und Drogenhilfe,
                                und Bildung aus sozialpädagogi-                                        niedrigschwellige Settings Sozialer
                                scher Perspektive, Partizipation                                       Arbeit, Nutzer*innenforschung, so-
                                von Kindern und Jugendlichen in                                        zialpädagogische Theoriebildung
                                pädagogischen Institutionen und                                        mit ethnografischen Forschungs-
                                Nutzer*innenforschung.                                                 zugängen.

8   FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3+4/2021
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