Exotische und Archaische Alpenkultur

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Exotische und Archaische Alpenkultur
Exotische und Archaische Alpenkultur | norient.com                       30 Oct 2021 04:59:03

    Exotische und Archaische
    Alpenkultur
    by Thomas Burkhalter

    Das Internationale Musikfestival «Alpentöne» hat sich als
    ideale Plattform für einen kreativen Umgang mit der Musik
    aus dem Alpenraum erwiesen und evoziert auf
    überraschende Weise Heimatliches ohne hinterwäldlerischen
    Beigeschmack.

    Schauplatz Telldenkmal, Sinnbild für Altdorf und neu nun auch für das
    Festival «Alpentöne»: Sechzehn österreichische Blasmusiker, ein
    Schlagzeuger und ein schwarzer Hüne blasen und trommeln unserem
    Nationalhelden den Marsch, intonieren Pipi Langstrumpf, zitieren
    Altbewährtes aus österreichischem Volksgut oder variieren mit modernen
    Stilmitteln. Reisecars zerschneiden die von den Zuschauern gebildete Traube,
    der Verkehr reist als unendlicher Bandwurm durch die Schmiedgasse. Die
    Mnozil Brass Band und Wolfgang Puschnig mit den Mostviertler Birnbeitler
    proben spontan an Urschweizer Stätte. Ein paar Flaschen Bier, ebenso viele
    Juchzer und viel schräges Blech stellen eines klar: Alpentöne bereiten Freude
    und sind exotischer als die «Weltmusik», die immer öfter den Weg über den
    Ladentisch findet.

    Einheimische Exilmusiker

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Exotische und Archaische Alpenkultur
Exotische und Archaische Alpenkultur | norient.com                      30 Oct 2021 04:59:03

    Das Internationale Musikfestival «Alpentöne» sorgt als eines der letzten
    hiesigen Musikfestivals für Überraschungen und präsentiert waghalsige
    musikalische Experimente. Hauptziel und Reiz vieler Konzerte ist nicht das
    wohlklingende oder formvollendete Endresultat, sondern der Versuch,
    unterschiedliche Einflüsse oder Stile miteinander zu koordinieren. Die
    meisten Gruppen agieren mit herausragendem musikalischem Können,
    sprühendem Spielwitz und waghalsigem Draufgängertum; viele Konzerte
    greifen Erwartungshaltungen vor und profitieren von einem grotesken
    Exotikeffekt - das Ferne ist uns doch tatsächlich näher als das Nahe!
    Altbewährte Zutaten werden in verblüffender Art und Weise
    zusammengeschustert, Volksmusik wagt sich in Richtung Kunstmusik, die
    Musizierfreude von Volksmusikern verbindet sich mit der
    Experimentierfähigkeit urbaner Künstler. Fazit: Alpenmusiker sind
    einheimische Exilmusiker, Musiker, die verlorene kulturelle Wurzeln erkunden
    und in verblüffenden Ausformungen neu darstellen. Jodel mündet in
    Obertongesang, Alphörner lehnen sich mit afroamerikanischen Pattern und
    röhrenden Ausdrucksformen gegen einheimische Konventionen auf, Blech
    strahlt in formvollendeter Harmonie oder widerlicher Disharmonie - und
    bayrische sowie österreichische und natürlich auch schweizerische Dialekte
    bereiten Freude.

    «Moderne Alpenmusiker» suchen das Asymmetrische, Archaische und
    Schräge und setzen sich weit von einer Touristenfolklore oder der
    volkstümlichen Schlagerwelt ab - Alphorn Fa (Ton zwischen F und Fis) oder
    der traditionelle Juuz (Urform des Jodels) werden nicht ausgeblendet,
    sondern bewusst kultiviert. Überraschendes bieten beispielsweise die beiden
    Klangtüftler Carlo Rizzo und Anton Bruhin. Während der Italiener seinen
    technisch veränderten Rahmentrommeln unglaubliche Klänge und Rhythmen
    entlockt, zelebriert der in Handwerkstracht auftretende Schweizer Trümpi-

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    Spieler Anton Bruhin die hohe Kunst der traditionellen und elektronischen
    Maultrommel. Klangexperimente mit Alphorn, Büchel, Knopfinstrumenten
    und anderen Hilfsmitteln sind die Trümpfe des Duos Stimmhorn. Christian
    Zehnder und Balthasar Streiff verdichten in einem szenischen Schauspiel
    verschiedenste Stilelemente zu einer eigenen neuen Musik. Das
    Handorgelduett Jonny Gisler/Franz Schmidig, die Schweizer Formation
    Pareglish und die brasilianischen Gruppe Alegre Corrêa zeigen, was sich alles
    aus einem Ländlerthema machen lässt. Traditionelle Kompositionen werden
    von Gisler und Schmidig auf eine aufregende Weltreise geschickt, mit
    Synthesizer und Elektrobass bearbeitet und am Ende in beschwingter
    brasilianischer Saudade dargeboten.

    Zentral: Puschnig & Co.

    Zentrale Gruppe des Festivals ist die Blaskapelle um Wolfgang Puschnig. In
    den besten Momenten erinnern die elf Musiker bezüglich Klangfarben und
    technischer Präzision an die Zusammenarbeit von Miles Davis mit dem Gil
    Evans Orchester, in schwachen Momenten drängt sich Puschnig zu sehr in
    den Vordergrund und verblassen die Blasmusikanten mit zu schüchternem
    Spiel.

    Puschnig ist denn auch sichtlich begeistert vom Festival: «Altdorf ist der
    ideale Ort für ein solches Festival. Die Leute sind unglaublich
    begeisterungsfähig», erklärt er in einem Gespräch. Auch Programmleiter
    Mathias Rüegg zeigt sich zufrieden, auch wenn der Publikumsaufmarsch
    noch besser hätte sein können: «Wir werden höchstwahrscheinlich ein
    zweites Festival veranstalten, in welcher Art und Weise auch immer. Ich
    könnte mir einen dreijährigen Turnus mit Literatur, Film und Musik, aber auch
    eine Ausweitung des Themas auf den Mittelmeerraum vorstellen. Spannend
    wäre auch ein gemeinsames Projekt der Zillertaler Schürzenjäger mit
    Wolfgang Puschnig.»

    Bleibt zu hoffen, dass auch im nächsten Jahr Überraschendes und
    Unvollendetes den Reiz des Festivals ausmachen wird und die Musik - wie in
    diesem sehr erfolgreichen Jahr - wiederum den Volkston trifft. Denn eines
    evozieren die Alpentöne auf verblüffende Art und Weise: frohes Heimatgefühl
    ohne hinterwäldlerischen Beigeschmack!

    → Published on August 09, 1999

    → Last updated on October 16, 2020

    Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist (PhD), AV-artist, and
    writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient, the Norient
    Space (Norient.com), and the founder and strategic director of the Norient Film
    Festival (NFF). He co-directed documentary films (e.g. “Contradict”, Berner
    Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness) and AV/theatre/dance performances, is the

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    author and co-editor of several books, teaches regularly at universities, and runs
    workshops for arts institutions. His experimental radio feature, «Gqom Edits – A
    Durban Visit», was nominated for Prix Europa in 2017. Currently, he is working on a
    new music project, and on the experimental podcast series’ Timezones and South
    Asian Sound Stories with musicians from the UK, Bangladesh, India, and Pakistan.

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