Experimente - Reformierte Stadtkirche
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Experimente Wagneropern zu verkürzen und ihnen dabei neue Facetten abzugewinnen, hat Tradition. Berühmt Nestroys „Tannhäuser“ oder Loriots „Ring“, denen außeror- dentlich unterhaltsame Versionen gelungen sind. So sehr, dass Richard Wagner bei der Erstaufführung seines Tannhäuser in Wien, nachdem Nestroys Version bereits gelaufen war, über das sichtlich amüsierte Publikum verwundert war. Dazu die kleine Bühne und eine tiefenpsychologische Schablone über dem Drama des Liebesbanns, in dem sich Wagner in seiner aussichtslosen Liebe zu Mathilde Wesendonck selbst ausdrückte. Das „Tristan Experiment“ an der Wiener Kammeroper darf sich mit Fug und Recht als gelungener Beitrag fei- ern. Man ist zwar versucht, ob der stimmgewaltigen Sänger und Sängerinnen und dem erstaunlich kräftig aufspielenden kleinen Orchester sich die weiten Hallen eines großen Hauses zu wünschen. Aber die Bühnengestaltung gewinnt gerade im kleinen Raum den Seelenkrämpfen der Liebenden besondere Tiefe ab, während Videoüberblendungen (Philipp Batereau) durch Raumverzerrun- gen und Nahaufnahmen oder schwankende, ozeanische Weite den wahnhaften Gefühlen ihre Widersprüchlichkeit aus Totalität und Enge bloßstellen. Für das Gelingen des kleinen-großen Opernabends steht zuerst Hartmut Keil, der u.a. mit Bayreuther Erfahrungen reüssieren kann und das Wiener KammerOrchester zu einem fein ausdifferenzierten Spiel führt, das dem sän- gerischen Ensemble Gelegenheit zu vollem Klang wie auch zarten Tönen gibt. Dem in der Bass-Rolle des König Marke mit auf der Bühne stehende Günther Groissböck verdankt sich dieses „Experiment“, das nicht nur den Versuch un- ternimmt, die Wagneroper im kleinen Fokus zu zeigen, sondern auch als „Tris- tan-Experiment“ dem Thema der wahnhaften Liebe folgt in ihrer Verzerrung der Wirklichkeit. „Ist unsere materielle Welt nur eine Hülle, eine Täuschung oder gar ein Experiment, das einer matrixartigen Versuchsanordnung folgt?“ Nathalie Winogradow (Pflegerin), Kristiane Kaiser (Isolde), Kristján Jóhannesson (Kurwenal), Günther Groissböck (König Marke), Nobert Ernst (Tristan), Marco Otoya (Pfleger)
Tristan und Isolde (Norbert Ernst und Kristiane Kaiser) werden in eine Irrenanstalt, zu den Behand- lungsstühlen geführt und darauf fi- xiert. Im anderen Kostüm als Richard Wagner und Mathilde Wesendonck höchstselbst. Das Chargieren und Irritieren als Kunstgriff, der die breit angelegten Arien der Gefühlswallun- gen trotz ihrer Romantisierung des 19. Jahrhunderts zeitlos wirken lässt. Dazu Juliette Mars, die der Rolle der Brangäne geradezu herzzerrei- ßende Töne der Warnung und des Mitleidens abgewinnen kann. Wie auch Kristján Jóhannesson Kur- wenal in seiner Ambivalenz aus Lo- yalität und Eifersucht bis in die Kör- persprache schmerzhaft spüren lässt. Kristiane Kaiser (Isolde), Norbert Ernst (Tristan) © Herwig Prammer Ein anhaltend umjubelter Abend, an dem sich das von den einschränken- den Maßnahmen „eingeschüchterte“ Publikum (wie auch in anderen Häusern derzeit zu beobachten) erst zögerliche dann doch in vielen Bravo-Rufen laut- hals äußerte. Ein anderes Experiment veranstaltet das Akademietheater. Nachdem sich Bush Moukarzel & Ben Kidd in einer sehr dynamischen Produktion, in der eine zufällig aus dem Publikum gewählte Frau auf die Bühne geholt und mit ihrem Traum praktisch zur Hauptperson des Stückes „Die Traumdeutung nach Sigmund Freud“ wird, versuchen sie sich nun an der anderen Wiener Geistes- größe. „Alles, was der Fall ist“ wird zur Illumination des "Tractatus Logicus" von Ludwig Wittgenstein. Ein bravouröser Abend, von dem sich niemand abhalten lassen sollte in der Furcht vor überbordender Philosophie und Wortkaskaden. Das Gegenteil ist gelungen. Theaterkunst als spielerische, vielfältige Umsetzung dessen, was mit Worten letztlich doch nicht erklärbar ist. Stattdessen oder in Umsetzung des- sen dargestellt. Dabei wird gezielt das Medium des Schauspiels und der Schau- spielerei in ihren Grenzen und Möglichkeiten reflektiert und eingesetzt. Die Spielenden sind nicht sie selbst, aber auch niemand anderes oder jede und je- der beliebige Andere. Die Bühne ist leerer Ort, der imaginiert wird. Nach all den inzwischen vielen Bühneninszenierungen, die sich der Videotechnik bedie- nen, wird mit dieser Vorführung das Spektrum und die Geheimnisse der Video- kunst aufgedeckt (Videodesign Sophie Lux, Live-Kamera Mariano Margarit). Philipp Hauß, der durch den Abend als Ludwig Wittgenstein und auch König Macbeth, „den er immer schon mal spielen wollte“ führt, offenbart die Entste- hung und Umsetzung eines Theaterstückes an einem Regal auf der Vorrampe platziert. Kulissenmodelle werden aufgezogen, zusammengestellt und mit Re-
quisitenminiaturen sowie Püppchen präsentiert, um fast nahtlos als großes Bühnenbild aufzutauchen, in dem die Teile wie die Menschen „real“ erscheinen oder wieder ausgeblendet werden. Ein faszinierendes Wechselspiel aus Schein und Sein, das umgehend als Green-Box-Technik enttarnt wird und die in grü- nen Ganzkörperverhüllungen spielenden als beliebig anzuordnende und dar- stellbare Figuren zeigt. Dem Chargieren mit der angeblich sichtbaren Welt und den hin und her gewendeten Worten und Sätzen, die vergeblich versuchen, verständlich zu sein. Als Anlass der schweren Sinnfrage wird in Übernahme von Wittgensteins Ausgangspunkt für seinen Tractatus in einem Zeitungsbericht über ein Gericht, in dem der zu verhandelnde Unfall anhand eines Modells geklärt werden sollte, hier die Amokfahrt von Graz am 20. Juni 2015 genommen. Verstehensversu- che am Durchspielen des Geschehenen, seiner Hintergründe. Bis zur Flucht aus Bosnien, was ja schon Mal zur österreichischen Monarchie gehörte, wie zu Ju- goslawien royal und kommunistisch, ins Osmanische und zuvor Römische Reich. Wo ist die Identität? Was erzählt die Realität, wo die Frau ins Frauen- haus fliehen muss und der sich zurückziehende Jugendliche an Gewaltvideos austobt oder gar ausprobiert? Ja, bis hin zu dem Mordsdrama von Shake- speare, das mit Macbeth noch lange nicht das Böse erklärt hat. Der „calvinistisch“ sozialisierte Ludwig Wittgenstein (auf Wunsch der Mutter katholisch getauft, vom Vater Karl geprägt, der als österreichischer „Krupp“ galt und gerne als Idealverkörperung der „protestantischen Ethik“ nach Max Weber gilt) hat mit dem Genfer Reformator die Genauigkeit im Um- gang mit dem Wort gemeinsam. Johannes Calvin, der nie Kleriker war und aus der Juristerei kam, hat mit seiner präzisen Wortwahl und Gedankenführung das einflussreichste Werk zur protestantischen Lehre (Institutio Christianae Religi- onis) verfasste und wurde in allen Disputationen ob seiner Beiträge von den Gegnern gefürchtet.
Ludwig Wittgenstein hat die philosophische Spekulation enttarnt – und damit die Philosophie refor- miert -, indem er den Wortgehalt abklopfte, die metaphysische Ebene verwarf und damit dem Unfassba- ren seinen eigenen „unfassbaren“ Raum zurückgab. Der berühmte und beinahe sprichwörtlich gewor- dene Schlusssatz des Tractaus „Wo- rüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen“. spricht für sich. Dem Ensemble um Philipp Hauß - Alexandra Henkel, An- drea Wenzl, Tim Werths und Jo- hannes Zirner - gelingt ein munte- res Spiel, das aufzeigt, ohne den Sinn zu klären. „Was passiert, wenn man Wittgensteinsche Gedanken auf die Realität loslässt?“ (Philipp Hauß) Insgesamt eine Liebeserklä- © Marcella Ruiz Cruz rung an das Theater. Johannes Langhoff
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