Forschungsstand Mathematisches Argumentieren und Beweisen vom Elementarbis zum Hochschulbereich - Mitteilungen der Gesellschaft für ...
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74 Aktivitäten GDM-Mitteilungen 111 · 2021 Forschungsstand Mathematisches Argumentieren und Beweisen vom Elementar- bis zum Hochschulbereich Eine Synthese aus drei Expert*innenpodiumsdiskussionen Daniel Sommerhoff und Esther Brunner Dass mathematisches Argumentieren und Beweisen Neben der Konstruktion von Beweisen sind zentrale Aktivitäten innerhalb der Mathematik sind auch andere Aktivitäten, wie das Verstehen, Va- (vgl. Heintz, 2000) und ein Aufbau entsprechender lidieren oder Präsentieren von Beweisen (Gia- Kompetenzen ein wichtiges Ziel der mathemati- quinto, 2005; Mejía-Ramos & Inglis, 2009), aber schen Ausbildung ist, dürfte für die Leser*innen der auch das Entwickeln von Hypothesen („Con- MGDM keine Überraschung darstellen. Dass das jecturing“) (Lin et al., 2011) oder das Erstel- Forschungsfeld in den letzten 10-15 Jahren deutlich len von Definitionen („Defining“) (Alcock & an Breite und damit auch an Relevanz zugenom- Simpson, 2016; Dawkins, 2014; Zandieh & Ras- men hat, mag hingegen für einige neu sein. Die mussen, 2010) und deren Rechtfertigen (Jahnke mathematikdidaktische Forschung zum Argumen- & Krömer, 2020) in den Fokus der Forschung tieren und Beweisen im deutschsprachigen Raum gelangt. hat sich bis zu den 2000er Jahren zum einen wesent- Parallel zu Entwicklungen in der sogenannten lich auf interpretative und rekonstruktive Studien (experimental) Philosophy of Mathematical Practi- in der Primarstufe (z. B. Krummheuer, 2001; Mey- ce (Hamami & Morris, 2020), welche nicht auf er & Voigt, 2009) und zum anderen im Bereich einen idealen Beweisbegriff fokussiert, sondern quantitativer Arbeiten auf die Sekundarstufe fokus- (unter anderem) mathematisches Beweisen in siert (z. B. Heinze et al., 2008; Reiss & Renkl, 2002) der Praxis untersucht (vgl. auch Brunner, 2014; und dort entweder die Konstruktion von Beweisen Heintz, 2000), entwickelte sich ein zunehmen- selbst oder einen engeren Argumentationsbegriff des Interesse an Argumentationskulturen (für – im Sinne eines Vorläufers von Beweisen – unter- einen frühen Beitrag siehe Chazan, 1993), sozio- sucht. Dem gegenüber steht ein breiter Argumen- mathematischen Normen (Yackel & Cobb, 1996), tationsbegriff und integrierende Sichtweisen, die der Akzeptanz von Beweisen innerhalb verschie- in der internationalen Forschung seit längerem dis- dener Communities (Sommerhoff & Ufer, 2019) kutiert werden (Balacheff, 1999; Boero et al., 1996; sowie damit einhergehend ein stärkeres Interes- Inglis & Mejía-Ramos, 2008; Pedemonte, 2007; Reid se an didaktischen Beweiskonzeptionen (Kem- & Knipping, 2010). Eine solche Fokussierung hat pen, 2018). sich nicht zuletzt aufgrund der folgenden Entwick- Um diese Entwicklungen und deren Einfluss auf lungen in den letzten Jahren deutlich ausgewei- die Forschung in der deutschsprachigen mathema- tet: tikdidaktischen Community zu diskutieren, wur- den im Rahmen des GDM Monats 2021 drei Podi- Im Rahmen der Bildungsstandards Mathema- umsdiskussionen mit insgesamt zwölf Expert*innen tik wurde ein vergleichsweise allgemeiner Argu- zum mathematischen Argumentieren und Bewei- mentationsbegriff in den Fokus der didaktischen sen aus dem deutschsprachigen Raum durchge- Bemühungen gestellt (Kultusministerkonferenz, führt: Für die Elementar-/Primarstufe waren dies 2003) – und das nicht nur in der Sekundarstufe, Esther Brunner, Hedwig Gasteiger, Kathleen Phil- sondern auch im Elementar- und Primarbereich ipp und Silke Ruwisch, für die Sekundarstufe Aiso (Kultusministerkonferenz, 2004). Heinze, Christine Knipping, Sebastian Kuntze und Unter anderem angeregt durch die Qualitätsof- Michael Meyer und für den Hochschulbereich Rolf fensive Lehrerbildung und die großen Schwie- Biehler, Jürg Kramer, Stefanie Rach und Stefan Ufer. rigkeiten von Studienanfänger*innen im Bereich Die Expert*innenpodiumsdiskussionen waren ent- Mathematik (Studienabbruchsquoten von etwa sprechend der drei Bildungsbereiche Elementar-/ 40 %; Heublein & Schmelzer, 2018), haben der Primarbereich, Sekundarbereich sowie Hochschule Übergang Schule–Hochschule sowie damit ein- (& Übergang) getrennt aufgebaut, jedoch entlang hergehend auch (quasi-)longitudinale Untersu- derselben drei Fragen strukturiert: chungen von Beweiskompetenzen und Argu- mentationskulturen ein hohes Forschungsinter- (1) Was ist der aus Ihrer Sicht zentrale Forschungs- esse erfahren (Hoppenbrock et al., 2016; Kem- befund im Kontext mathematischen Argumen- pen, 2019; Roth et al., 2015). tierens der letzten fünf Jahre?
GDM-Mitteilungen 111 · 2021 Aktivitäten 75 (2) Wie schätzen Sie den Stellenwert des Experi- mentieren gerade im Primarbereich auch als Metho- mentellen bzw. Exemplarischen beim mathema- de eingesetzt werden – quasi als „Fenster“ zum ma- tischen Argumentieren in Praxis, Theorie oder thematischen Denken der Schülerinnen und Schü- Forschung ein? ler – um mathematische Denk- und Verstehenspro- (3) Was ist Ihrer Meinung nach der Stellenwert von zesse genauer zu untersuchen. Der Aspekt spie- (inhaltlichem) mathematischem Wissen im Ver- gelt die Unterscheidung von „arguing to learn“ vs. gleich zu allgemeinen logischen Argumentati- „learning to argue“ wider (Andriessen et al., 2003; onskompetenzen (im Sinne des Schlussfolgerns) Andriessen, 2005). beim mathematischen Argumentieren? Jenseits dieser eher konzeptuellen Fragen, wur- de als zentrales Problem über die Ausbildung von An dieser Stelle wollen wir zentrale Punkte, die Lehrkräften und Pädagog*innen gesprochen, wel- im Rahmen der Expert*innenpodiumsdiskussionen che diese aktuell nicht ausreichend befähigt, An- angesprochen und diskutiert wurden, aufgrei- lässe für mathematische Argumentationen und Be- fen, wesentliche Aspekte skizzieren und zentra- gründungen überhaupt zu identifizieren. In diesem le Desiderate für die Forschung entwickeln. Da- Kontext zeigte auch eine kürzlich erschienene, lang- mit wollen wir die Ergebnisse der Expert*innen- fristig angelegte Studie (Melhuish et al., 2020), dass podiumsdiskussionen (i) für alle sicht- und greifbar selbst eine spezifische Förderung nur wenig effektiv machen, (ii) dem Bereich innerhalb der deutsch- war. Die Forschungslage ist hier bis dato als eher sprachigen Forschung zusätzlich Struktur geben so- heterogen anzusehen, zumal einzelne Studien auch wie (iii) für interessierte Forschende zentrale Ideen zeigen, dass Lehrpersonen durchaus auch in der aufzeigen, mit denen diese wichtige Beiträge zum frühen Bildungsstufe einen reichhaltigen Unterricht Forschungsstand liefern können. Die Darstellung zum mathematischen Argumentieren gestalten kön- orientiert sich dabei zunächst an den drei übergrei- nen (z. B. Brunner, 2019). Für die weitere Forschung fenden Fragen und integriert diese zum Abschluss. sind also sowohl vielversprechende Förderansätze sowie entsprechende Evidenz nötig. Zentrale Forschungsbefunde der Im Gegensatz zu den Entwicklungen im zurückliegenden fünf Jahre Elementar-/Primarbereich, attestierten die Ex- pert*innen dem Sekundarbereich nur wenig Fort- Gerade im Elementar-/Primarbereich zeigte sich schritt in den letzten Jahren. Ein großer Teil der eine deutliche Weiterentwicklung der Forschung so- dargestellten zentralen Befunde war bereits älter wie ein substanzieller Fortschritt. Gleichzeitig wur- als fünf Jahre (z. B. Healy & Hoyles, 2000; Heintz, de aber auch deutlich, dass in diesem Bereich zwar 2000; Heinze & Reiss, 2004). Als neuere Facette, zahlreiche, insbesondere qualitative Arbeiten vor- welche allerdings aktuell noch nicht ausreichend liegen (z.B. Fetzer, 2011; Krummheuer, 2008; Meyer, bedient ist, wurden Argumentationskulturen und 2007; Schwarzkopf, 2000), die Forschung aber bis- sozio-mathematische Normen hervorgehoben. Ge- her noch wenig breit erfolgt. So wurde zwar hervor- rade auch in Verbindung zum Primarbereich bzw. gehoben, dass sich mathematisches Argumentieren beim Übergang zur Hochschule wurde entsprechen- auch im Elementar- und Primarbereich valide er- de Forschung, bspw. basierend auf den Arbeiten fassen lässt (bspw. Lindmeier et al., 2018; Nunes et von von Chazan (1993), Krummheuer (1995) oder al., 2015), das Forschungsfeld an sich jedoch noch Yackel und Cobb (1996), als zentrales Puzzlestück nicht ausreichend klar umrissen ist. Ebenso wie im zum Verständnis von Argumentieren und Bewei- Sekundarbereich die Begriffe Argumentieren, Be- sen in der Sekundarstufe dargestellt. Parallel zu gründen und Beweisen einer klaren Abgrenzung den Diskussionen im Primarbereich wurden auch bedürfen (vgl. bspw. Brunner, 2014; Jahnke & Ufer, im Sekundarbereich die Rolle der Lehrkräfte sowie 2015; Reid & Knipping, 2010; Sommerhoff & Ufer, die Rolle individueller Charakteristika diskutiert 2019), ist eine klarere Beschreibung des mathema- (z.B. Meyer & Schnell, 2020). Dabei wurden neuere tischen Begründens und Argumentierens auch in Befunde zur Metakognition im Kontext von selbst- dieser Altersstufe notwendig. Obwohl dies entlang reguliertem Lernen hervorgehoben (bspw. Desoete von einzelnen Kompetenzmodellen und Assess- & De Craene, 2019; Dignath & Büttner, 2018; Shilo ment Frameworks (Bezold, 2009; Lindmeier et al., & Kramarski, 2019), gleichzeitig aber auch in den 2018; Neumann et al., 2014) bereits geschehen ist, Kontext früherer Forschung gesetzt (vgl. Schnei- wird deutlicher Nachholbedarf in der spezifischen, der & Artelt, 2010) und der tatsächliche Mehrwert den unterschiedlichen Altersstufen angemessenen entsprechender Interventionen dialektisch disku- Beschreibung gesehen. tiert. Auch aufbauend auf dem GDM Hauptvortrag Neben diesen fundamentalen Gesichtspunkten (Ufer, 2021) wurde hier attestiert, dass es zwar ver- wurde auch über Stellenwert und Perspektive des mehrt Befunde dazu gäbe, welche Charakteristika Argumentierens diskutiert. Potenziell kann Argu- erfolgreiche Beweisende ausmachen, auf der Ebene
76 Aktivitäten GDM-Mitteilungen 111 · 2021 der Lehrkraft jedoch nur unzureichend Informa- rimentieren im Sinne eines (Gedanken)Experiments tionen vorlägen (Sommerhoff et al., 2019, in Vor- als grundlegendes mathematisches Denkprinzip bereitung). Im Kontext von Argumentations- und unterschieden (z.B. Philipp, 2012). Während der Beweiskompetenzen sowie verschiedenen Anfor- Charakter des (Gedanken)Experiments im Verlauf derungssituationen (Mejía-Ramos & Inglis, 2009) der mathematischen Ausbildung als weitgehend wurde schließlich auch die Rolle digitaler Werkzeu- konstant gesehen wurde, wurden dem Charakter ge (auch jenseits von digitalen Geometriesystemen des Experimentierens bereits im Elementar- und wie Geogebra) in Argumentationskulturen und als Primarbereich verschiedene Stufen und Entwick- Mittel für die Auseinandersetzung mit Beweisen lungen attestiert. Genannt wurde dabei zum Bei- erwähnt (z. B. Baccaglini-Frank & Antonini, 2016; spiel das materialbasierte Argumentieren (Welsing, Sümmermann et al., 2021). 2017), welches zwar zunächst auf die Darstellung Der Stellenwert der Argumentationskulturen einzelner Beispiele fokussiert, schnell aber auch im Sekundarbereich sowie die (anscheinend) hohe zur Ablösung von den Materialien und der Ent- Varianz ebendieser wurde auch im Hochschulbe- wicklung generischer Repräsentationen von Objek- reich diskutiert, wo insbesondere die geringen und ten führt. Dort schließen sich im Kontext des Ar- inkohärenten Vorerfahrungen von Studienanfän- gumentierens generische Beispiele und inhaltlich- ger*innen diskutiert wurden (vgl. Kempen, 2019). anschauliche Beweise an, welche klar über rein ex- Ergebnisse zum Einsatz verschiedener didaktischer perimentelle Beweise hinaus gehen (Wittmann & Beweiskonzepte zeigten beispielsweise, dass auch Müller, 1988). Der Übergang von Beispielen und inhaltlich-anschauliche Beweise bzw. generische realen Handlungen zu Denkobjekten, im Sinne ei- Beispiele für Studierende nicht trivial waren, trotz ner Systematisierung und Abstraktion, wurde da- der im Vergleich zu einem formal-deduktiven Be- bei als zentrales Lernziel hervorgehoben, welches weis verringerten Ansprüche hinsichtlich formeller wiederum einer typisch mathematischen Tätigkeit Aspekte (Biehler & Kempen, 2016; Kempen, 2018, entspricht. Exemplarität wurde aber auch thema- 2019). Die Ergebnisse unterstreichen, dass Schwie- tisch ausgelegt und beispielsweise auf begriffliches rigkeiten nicht nur durch diese Aspekte erzeugt Argumentieren im Bereich Form und Raum (Unter- werden, sondern Argumentieren und Argumentati- hauser & Gasteiger, 2017) oder datenbasiertes Ar- onskulturen noch deutlich ganzheitlicher betrachtet gumentieren (Krummenauer & Kuntze, 2018) hin- werden müssen. In diesem Kontext wurde auch die gewiesen. Konzeptualisierung von Beweis als „Cluster Con- Obwohl der Wert des Exemplarischen und Ex- cept/Category“ (Czocher & Weber, 2020) sowie das perimentellen auch von den Expert*innen im Se- notwendige Mitdenken anderer Aktivitäten als An- kundarbereich gesehen wurde, zeigten sich hier forderungssituationen diskutiert. Offen sind hier deutlich andere Diskussionspunkte. Im Sinne ei- Fragen zum Stellenwert der anderen Aktivitäten ner systematischen Betrachtung verschiedener (di- als genuine mathematische Aktivitäten einerseits daktischer) Argumentations- bzw. Beweisformen und als mögliche „einfachere Vorläufer“ für das (Biehler & Kempen, 2016) wurde dabei insbeson- Konstruieren von Beweisen andererseits. Empiri- dere aufgezeigt, dass den Schüler*innen der episte- sche Evidenzen zu entsprechenden Verbindungen mologische Status einzelner Argumentations- bzw. sind jedoch rar. Beweisformen bekannt sein muss, um diese später als mehr oder weniger tragfähig für die Annahme oder Ablehnung von Aussagen bewerten zu kön- Stellenwert des Experimentellen und nen (Healy & Hoyles, 2000). Der Erforschung von Exemplarischen sozio-mathematischen Normen und Meta-Wissen über Argumentieren und Beweisen sowie der Ent- Dass dem Experimentellen und Exemplarischen wicklung tragfähiger Konzepte für deren Aufbau im Elementar-/Primarbereich ein großer Wert zu wurde entsprechend viel Wert für die Mathematik- kommt, wurde bereits in einer Vielzahl mathema- didaktik zugesprochen. Neben dem Erwerb dieses tikdidaktischer Publikationen festgehalten (bspw. Meta-Wissens wurde aber auch betont, dass expe- Schwarzkopf, 2000). Entsprechend wenig verwun- rimentelles Vorgehen und beispielsweise der Um- derlich war die von den Expert*innen festgestellte gang mit generischen Beispielen, ikonischen Reprä- hohe Relevanz. Die darauf aufbauenden Diskus- sentationen für Beweise oder die Verwendung von sionen zeigten jedoch einerseits, wie vielfältig ex- Diagrammen beim Experimentieren im Sinne eines perimentelles und exemplarisches Arbeiten sein materialbasierten Argumentierens selbst für Studi- kann, andererseits aber auch, dass beide Begriff- enanfänger*innen nicht einfach ist (Healy & Hoyles, lichkeiten noch nicht abschließend konzeptualisiert 2000; Kempen, 2018, 2019) und ebenso erworben sind. So wurde beispielsweise zwischen Experi- werden muss, wie abstraktere oder formellere Ar- mentieren als Tätigkeit im Unterricht und Expe- gumentationskompetenzen.
GDM-Mitteilungen 111 · 2021 Aktivitäten 77 Schließlich diskutierten auch die Expert*innen Stellenwert mathematischen Wissens und im Sekundarbereich über die konkrete Bedeutung allgemeiner (logischer) des Begriffs „Exemplarisch“, welcher sich auf die Argumentationskompetenzen exemplarische Bedeutung von Zahlen für Argu- mentationsmuster, aber auch die Durchführung ei- Dass mathematisches Argumentieren und Bewei- nes spezifischen Beweises als exemplarische Dar- sen wissensbasierte Prozesse sind, für die Einblicke stellung einer Beweismethode beziehen kann. So in die jeweiligen Themengebiete, insbesondere bzgl. sind zwar der Satz von Thales und dessen Um- Definitionen, Sätzen, und bekannten Beispielen, so- kehrung bereits in sich wichtige Aussagen, wer- wie Meta-Wissen, bspw. über die lokalen Akzep- den darüber hinaus jedoch oft auch als zentra- tanzkriterien von Beweisen oder gängige Beweis- les Beispiel für die Begriffe Satz, Umkehrung und methoden, benötigt werden, wurde auch vor dem Äquivalenz gesehen (im Sinne des „learning to Hintergrund des Hauptvortrags von Stefan Ufer argue“), welche dann bspw. im Kontext des Sat- (2021) und entsprechenden Forschungsbefunden zes von Pythagoras erneut exemplarisch vertieft (vgl. Chinnappan et al., 2012; Sommerhoff, 2017; werden. Die Verwendung von Beispielen und die Ufer et al., 2008) in allen drei Podiumsdiskussio- anschließende Abstraktion auf eine allgemeinere nen klar hervorgehoben. Die mögliche Relevanz all- Aussage bzw. ein allgemeineres Vorgehen wurde gemeiner (logischer) Argumentationskompetenzen hier erneut als typisch mathematische Tätigkeit wurde hingegen sehr viel differenzierter diskutiert. gesehen, wenn auch teils auf einer anderen Ebe- Im Kontext des Elementar- und Primarbereichs ne als im Rahmen der Elementar-/Primarbereich- wurde dabei zunächst erneut aufgegriffen, welchen Expert*innenpodiumsdiskussion. Inwieweit der Er- Zweck Argumentieren in diesem Bereich erfüllt und werb dieser Tätigkeit in beiden Bereichen aneinan- ob eher von arguing to learn, als ein Argumentieren der angebunden ist und im Sekundarbereich auf um des mathematischen Inhalts willen, oder lear- gemachte Erfahrungen und Begriffe aufbaut wird, ning to argue, also ein Lernen des Argumentierens, ist bisher nicht untersucht. im Sinne von Andriessen et al. (2003) im Vorder- Hervorgehoben wurde der Stellenwert des Ex- grund steht. Auch wurde diskutiert, was genau perimentellen und Exemplarischen auch im Be- unter allgemeinen Argumentationskompetenzen in reich der Hochschule, wobei dafür insbesondere dem Altersbereich bzw. der Bildungsstufe über- die Unterscheidung von Beweisprozess und Be- haupt zu verstehen wäre (vgl. Markovits, 2000; Mar- weisprodukt zentral war. Zwar wurde festgehal- kovits & Thompson, 2008; Sodian & Mayer, 2013). ten, dass Beweisprodukte in der Hochschule, wel- Wissen über die Bedeutung und Aussagekraft von che sich an einem idealen Beweiskonzept orien- Beispielen zur Stützung einer These sowie Gegen- tieren (Hamami & Morris, 2020; Hilbert, 1931), beispielen zur Ablehnung einer These wurden als wenig Raum für Experimentelles oder Exempla- ein Baustein logischer Argumentationskompeten- risches beinhalten – höchstens im Sinne eines vor- zen zwar als wichtig angesehen, inwieweit diese angehenden Beispiels oder einer Motivation des inhaltsunabhängig erworben und gleichzeitig in Beweises in eher didaktisch orientierten Darstel- fachspezifischen Kontexten erfolgreich angewendet lungen von Beweisen. Beweisprozesse wurden je- werden können (Transfer), ist aktuell jedoch weit- doch als teils „chaotisches Arbeiten“ charakterisiert. gehend unklar. Die Expert*innen sprachen sich im Sie beruhen oft auf Beispielen oder anschaulichen Gegenteil eher für fachlich authentische Argumen- Ideen, sind hochgradig nichtlinear und beinhalten tationsanlässe aus, aus denen allgemeinere logi- regelmäßig Fehler und „Sackgassen“. Empirisch sche Aspekte abgeleitet werden könnten. Fachliche wurde der Stellenwert des Experimentellen und Argumentationsanlässe und deren Beantwortung Exemplarischen für Forschungs- und Verstehen- könnten dann bspw. auch in fächerübergreifendem sprozesse bspw. von Wilkerson-Jerde und Wilens- Unterricht thematisiert werden, um so unterschied- ky (2011) festgestellt und auch Knuth et al. (2017) liche Normen in Bezug auf Evidenz und Evidenzge- oder Lockwood et al. (2016) berichten über den Stel- winnung in verschiedenen Fachbereichen zu thema- lenwert von Beispielen im Kontext der Konstruk- tisieren. Im Kontext der eigentlichen Fragestellung tion von Beweisen. Exemplarität als Lernprinzip wurde schließlich auch die Rolle von allgemeinen im Hochschulkontext könnte beispielsweise bedeu- sprachlichen Kompetenzen (Götze, 2019; Ufer et ten, sich die Frage zu stellen, welche Typen von al., 2020), deren Beziehung zu Argumentationskom- Argumentationen, welche Aussagetypen und letzt- petenzen sowie deren Einfluss auf die sprachliche lich auch welche Inhalte als Beispiele geeignet sind, Realisierung von Begründungen diskutiert, welcher um ein ausreichendes Verständnis für mathemati- sich im Elementar- und Primarbereich als bedeut- sches Arbeiten mit Beweisen zu vermitteln bzw. zu sam erwiesen hat (Neumann et al., 2014). erwerben. Ähnlich der Diskussion im Elementar- und Primarbereich zum Einfluss von sprachlichen Fä-
78 Aktivitäten GDM-Mitteilungen 111 · 2021 higkeiten, wurden im Sekundarbereich zusätzlich tationsanforderungen, welche bspw. über konditio- diskursive Kompetenzen (vgl. Cramer, 2018; Knip- nale bzw. syllogistische Inferenzen (Bronkhorst et ping, 2019), insbesondere auf Seiten der Lehrkräfte, al., 2020; Leighton, 2006) deutlich hinausgehen, eine als wichtiger Aspekt angesprochen. Allerdings zeig- Trennung von Logik und mathematischem (Vor-) te auch die Diskussion im Sekundarbereich ein un- Wissen überhaupt ausreichend möglich sei. So ist einheitliches Bild, obwohl hier bereits verschiedene die Messung von Argumentations- und Beweiskom- Untersuchungen zum Stellenwert von allgemeinen petenzen, bspw. im Sinne der Konstruktion von Argumentationskompetenzen für mathematisches Beweisen oder dem Lesen von Beweisen, im All- Argumentieren und Beweisen bzw. zur Domänen- gemeinen durch Vorwissen konfundiert und eine Spezifizität von Argumentationskompetenz existie- separate Messung methodisch aufwendig (vgl. Som- ren (vgl. bspw. Budke & Meyer, 2015; Fischer et merhoff, 2017). al., 2018). So wurde zwar im direkten Vergleich Schließlich wurde auch im Hochschulkontext von allen Expert*innen mathematisches Wissen als über den Stellenwert allgemeiner logischer Argu- zentrale Voraussetzung angesehen, der Status von mentationskompetenzen im Vergleich zu domänen- allgemeinen Argumentationskompetenzen je nach spezifischem Vorwissen zu Beweisstrategien bzw. genauem Verständnis jedoch unterschiedlich ein- Beweismustern als Elementen eines mathematisch- geschätzt. Zum einen wurde festgestellt, dass bis- strategischen Wissens oder noch allgemeineren Be- herige Ergebnisse bei Schülerinnen und Schülern weisverständnisses (Sporn et al., 2021) diskutiert. sowie Studierenden eher einen geringen Einfluss nahelegen (vgl. Ufer, 2021) und „inhaltsbezogene Zusammenfassung und Desiderata Argumentationen“ als wesentlicher im Vergleich zu eher formal-logischen Argumentation gesehen wur- So gerne wir „fertige Antworten“ zu den drei über- den (vgl. auch Unterscheidung syntactic & seman- geordneten Fragen präsentiert hätten, so sehr zei- tic reasoning; Easdown, 2009). Zum anderen wur- gen die obigen Ausführungen doch, dass es na- de Meta-Wissen zu Formen des Argumentierens tional wie international noch keinen einheitlichen und deren Gültigkeit (Evans et al., 1993; Heinze & Forschungsstand zum Argumentieren und Bewei- Reiss, 2003; Inglis & Simpson, 2007; Johnson-Laird sen von Elementarbereich bis Hochschule gibt und & Byrne, 2002; Sporn et al., 2021) durchaus als we- viele Fragen derzeit noch unbeantwortet, teils sogar sentlich gesehen, auch wenn unklar war, inwiefern noch unbearbeitet sind. So war im Vergleich der dies nun als mathematisch oder allgemein logisch drei Bildungsstufen eine deutlich unterschiedlich zu interpretieren sei. Auch wurde eine Fähigkeit dynamische und intensive Forschungstätigkeit in zum Verallgemeinern im Sinne allgemeiner logi- den letzten Jahren erkennbar. Über alle Bildungs- scher Argumentationskompetenz als sehr wichtig stufen hinweg zeigte sich zwar, dass der Stellenwert herausgestellt und bspw. auch (sicherlich wichti- des Experimentellen bzw. Exemplarischen unum- ges) Wissen über den Stellenwert von Beispielen stritten ist. Wie diese Aspekte jedoch anschlussfä- und Gegenbeispielen als Teil allgemeiner logischer hig in den verschiedenen Bildungsstufen integriert Argumentationskompetenzen gesehen. Schließlich werden können und bspw. universitäre Veranstal- wurde auch auf die teilweise gegebene fächerüber- tungen weniger produktorientiert gestaltet werden greifende Vergleichbarkeit von Argumentationen können, ist aktuell weitgehend offen. Schließlich bzw. Argumentationskompetenzen verwiesen, ob- deutete sich im Hinblick auf den Stellenwert von schon sich diese durch verschiedene Arten von Ar- logischen Kompetenzen an, dass diese in den ver- gumenten (faktisch und normativ) unterscheiden schiedenen Bildungsstufen bisher nicht ausreichend (vgl. auch Budke & Meyer, 2015). klar konzeptualisiert sind, um über deren Einfluss Um Moderations- bzw. Mediationseffekte ging empirisch fundierte Aussagen machen zu können. es dann im Kontext der Hochschule. Dort wurde Die drei Expert*innenpodiumsdiskussionen ver- zunächst hinterfragt, inwieweit der Einfluss von deutlichten jedoch auch, dass die Diskurse in der logischen Argumentationskompetenzen und ma- Forschung zu den drei betrachteten Bildungsstu- thematisches Wissen überhaupt direkt betrachtet fen an vielen Stellen durchaus ähnliche Fragestel- werden können oder ob deren Einfluss als Dispo- lungen untersuchen und die Forschung in den sitionen auf spezifische mediierende Tätigkeiten drei Bildungsstufen vor ähnlichen Herausforderun- wie das Lesen oder Konstruieren von Beweisen (po- gen steht. Gerade im Sinne der Etablierung von tentiell im Sinne der situation-specific skills nach Argumentationskulturen und deren Veränderung Blömeke et al., 2015) und schließlich auf die Perfor- bzw. Adaptation im Laufe der schulischen Ausbil- manz in diesen Tätigkeiten deutlich differenzierter dung (sowie auch der Lehramtsausbildung und diskutiert und untersucht werden müsste. Auch dem Wiedereintritt in den Schulkontext) stellt sich wurde die Frage aufgeworfen, ob sich angesichts in der Zusammenschau der Diskussionen die Frage, der hohen Komplexität mathematischer Argumen- ob Unterricht bzw. Forschung in den drei Bildungs-
GDM-Mitteilungen 111 · 2021 Aktivitäten 79 stufen noch stärker verzahnt sein müssten. Selbst didaktischen Forschung sowie der Lehre an Schule im Kontext des Übergangs Schule-Hochschule, wel- und Hochschule nicht ausreichend explizit berück- cher in den letzten Jahren ein hohes Forschungs- sichtigt wurden. Insbesondere ist unklar, inwieweit interesse erfahren hat, gibt es bisher nur wenige diese Aktivitäten im Kontext von Argumentations- Untersuchungen, die beide Seiten des Übergangs bzw. Beweiskompetenzen trennbar sind bzw. ge- (also Schule und Hochschule) empirisch erfassen trennt werden müssen, inwieweit eine explizite Be- und die konstruktive Passung beider Seiten unter- rücksichtigung der Aktivitäten lernförderlich sein suchen. Ebenso ist unklar, inwieweit beispielswei- kann und welche Wissensfacetten sich beispielswei- se am Übergang Primarstufe-Sekundarstufe über- se besonders effektiv durch einzelne Aktivitäten haupt konstruktiv auf die Argumentationskulturen thematisieren bzw. aufbauen lassen. im Primarbereich eingegangen wird und dortige Die Expert*innenpodiumsdiskussionen waren Erfahrungen zu (generischen) Beispielen genutzt gut besucht und die Resonanz der Zuhörer*innen, werden bzw. genutzt werden könnten. welche oft alle drei Veranstaltungen besuchten, klar Zusammenfassend lässt sich ein deutlicher For- positiv. Basierend auf dieser Erfahrung, wäre es schungsbedarf auf theoretischer und empirischer wünschenswert, entsprechende Veranstaltungsfor- Ebene konstatieren. Dabei lassen sich basierend mate regelmäßig auch auf GDM-Tagungen anzu- auf den Gesprächen eine Reihe besonders inter- bieten. essanter und relevanter Themenbereiche für die Forschung in den nächsten Jahren identifizieren. Dank. Ein herzlicher Dank geht an die Expert*Innen, So scheinen Argumentationskulturen bisher nicht die im Rahmen der Podiumsdiskussionen ihre Ex- ausreichend theoretisch beschrieben und empirisch pertise und ihre Einschätzungen zur Verfügung untersucht zu sein. Dies wäre zusätzlich auch im gestellt haben. Besonders möchten wir uns darüber Hinblick auf Übergänge zwischen Elementarbe- hinaus bei Michael Meyer bedanken, welcher die- reich, Primarbereich, Sekundarbereich und Hoch- sen Beitrag aus Sicht der Experten kommentiert schule wichtig, um so weitere Hinweise zu deren hat. konstruktiven Gestaltung zu erhalten. Hier wä- re insbesondere spannend, wie Erfahrungen aus dem Elementar-/Primarbereich, bspw. mit mate- Literatur rialgebundenen Argumentationen oder zum Stel- lenwert von Beispielen und generischen Beispielen, Alcock, L., & Simpson, A. (2016). Interactions between defining, explaining and classifying: the case of incre- gewinnbringend in der Sekundarstufe 1 genutzt asing and decreasing sequences. Educational Studies werden könnten, um auf den bereits etablierten in Mathematics, 94(1), 5–19. DOI:10.1007/s10649-016- Argumentationskulturen und den gemachten Er- 9709-4 fahrungen aufzubauen, anstatt eine neue, teils alter- Andriessen, J., Baker, M., & Suthers, D. (2003). Argu- native Argumentationskultur aufzuzeigen. Schließ- mentation, computer support, and the educational lich wäre in dem Kontext zu erforschen, wie sich context of confronting cognitions. In Arguing to learn Argumentationskulturen (auch jenseits spezieller (pp. 1–25). Springer. Argumentations- und Beweisaufgaben) etablieren Andriessen, J. E. B. (2005). Arguing to Learn. In R. K. und aufrechterhalten lassen, um ein „argumentati- Sawyer (Ed.), The Cambridge handbook of the learning ves Klima“ zu schaffen. Ein zweiter zentraler For- sciences (pp. 443–459). Cambridge, Cambridge Univer- schungsbereich scheinen individuelle Charakteristi- sity Press. ka von Lehrkräften bzw. Pädagog*innen und deren Baccaglini-Frank, A., & Antonini, S. (2016). From con- Auswirkung auf die Argumentationskulturen in de- jecture generation by maintaining dragging to proof. ren Klassen bzw. Gruppen und letztlich natürlich arXiv:1605.02583. auf die Argumentationskompetenz der Lernenden Balacheff, N. (1999). Is argumentation an obstacle? Invitation zu sein. Ergebnisse könnten Möglichkeiten für die to a debate . . . www.lettredelapreuve.org/OldPreuve/ Newsletter/990506Theme/990506ThemeUK.html weitere Professionalisierung in der Lehrkräfteaus- Bezold, A. (2009). Förderung von Argumentationskompeten- und -weiterbildung aufzeigen. Ein dritter, paralle- zen durch selbstdifferenzierende Lernangebote. Eine Studie ler Forschungsbereich fokussiert die individuellen im Mathematikunterricht der Grundschule. Kovac. 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