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Sven C. Singhofen Russland nach den Präsidentschaftswahlen Wohin geht die gelenkte Demokratie und Energiegroßmacht unter Dmitrij Medwedew? Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 24 ISUK org . Institut für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org Zusammenfassung Bei den Präsidentschaftswahlen vom 02.03.2008 ist Dmitrij Medwedew mit großem Abstand zum Nachfolger Wladimir Putins im Kreml gewählt worden. Verglichen mit den übrigen Kandidaten aber auch mit Putin selbst erscheint der neue Präsident Russlands als ein eher liberal ausgerichteter Akteur. Ein Blick auf seine Biographie und seine programmatischen Äußerungen während und nach den Wahlen bestätigt diesen Eindruck. Berücksichtigt man allerdings die Rahmenbedingungen, die durch Russlands momentane Verfasstheit als „ge- lenkte Demokratie“ und durch die Weichenstellungen der letzten Jahre vorge- geben werden, dann scheint der Spielraum für einen substantiellen Politik- wechsel in der Innen- und Außenpolitik begrenzt zu sein. Sven C. Singhofen Russland nach den Präsidentschaftswahlen. Wohin geht die gelenkte Demokratie und Energiegroßmacht unter Dmitrij Medwedew? Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 24 Kiel, Mai 2008. Impressum: Herausgeber: Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. Dr. Joachim Krause Westring 400 24118 Kiel ISUK.org Die veröffentlichten Beiträge mit Verfasserangabe geben die Ansicht der betreffenden Autoren wieder, nicht notwendigerweise die des Herausgebers oder des Instituts für Sicherheitspolitik. © 2008 Institut für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (ISUK). -1-
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org 1. Russland nach den Den zweiten, etwas heikleren, weil macht- Präsidentschaftswahlen 2008 politisch wichtigeren, Akt dieses Schau- spiels bildeten die Präsidentenwahlen vom Die Kuh ist vom Eis. Das sogenannte 02.03.2008. Der siegreiche Kandidat, „Projekt 2008“ – die Suche nach einem Dmitrij Medwedew, erhielt mit 70,24 Pro- Nachfolger für Präsident Putin –, das viele zent bereits im ersten Wahlgang die erfor- politische Eliten Russlands wohl die ein derliche Mehrheit. Seine „Konkurrenten“ oder andere schlaflose Nacht gekostet folgten mit 17,75 Prozent (G. Sjuganow – hat, zu immer neuen Spekulationen ge- KPRF), 9,36 Prozent (W. Schirinowskij – führt und auch zu solchen Stilblüten wie LDPR) und 1,3 Prozent (A. Bogdanow – dem Projekt, Wladimir Putin zu einem über DPR). den Verfassungsorganen stehenden „Na- Für beide Wahlen ist festzustellen, dass tionalen Führer“ zu machen, ist erfolgreich sie nicht frei von Statten gingen, sondern und nach Plan abgeschlossen worden. weitgehend vom Zentrum, sprich: dem Russland hat mit Dmitrij Medwedew einen Kreml, gesteuert, kontrolliert, monopoli- neuen Präsidenten, der am 07.05.08 die siert und in geringem Ausmaße wohl auch Amtsgewalt von seinem Vorgänger Wla- manipuliert worden sind. So hat der Kreml dimir Putin übernehmen wird. bereits im Vorfeld durch eine geeignete Das Projekt ist in zwei Akten über die Wahl- und Parteiengesetzgebung auf das Bühne gegangen. Den Auftakt bildeten die Feld der Bewerber Einfluss genommen, Dumawahlen im Dezember vergangenen missliebige Konkurrenten im Registrie- Jahres, bei denen die Partei Einiges Russ- rungsprozess ausgeschlossen, anderer- land (Edinaja Rossija), maßgeblich unter- seits dem Kreml nahe stehende Parteien stützt durch die Entscheidung des oder Präsidentschaftskandidaten zugelas- amtierenden Präsidenten Wladimir Putin, sen und die Chancen der Parteien der die Wahlliste der Partei anzuführen, eine Macht und insbesondere der Partei Eini- deutliche Mehrheit von 64 Prozent der ges Russland und ihres Kandidaten Dmitrij Stimmen gewann. Im neuen Parlament Medwedew durch eine einseitige Bericht- verfügt Einiges Russland nun allein mit erstattung in den staatlichen Medien er- 315 von insgesamt 450 Sitzen über eine heblich angehoben. Zudem ist auch wie- mehr als komfortable (Zwei-Drittel-) derholt von Beeinflussungen der Wähler- Mehrheit. Zusammen mit den 40 Sitzen schaft von staatlicher Seite durch admi- der LDPR (8 Prozent der Stimmen) und nistrative Ressourcen berichtet worden jenen 38 der Partei Gerechtes Russland und die überraschend hohen Wahlergeb- (knapp über 7 Prozent der Stimmen) nisse in einigen Regionen Russlands für summiert sich dies auf eine der Regierung den favorisierten Kandidaten des Kreml, nahe stehende Mehrheit von insgesamt Dmitrij Medwedew, legen den Verdacht 397 Sitzen in der Duma. Eine mehr als nahe, dass diese Ergebnisse auch auf die ausreichende Mehrheit, um die Einflussnahme staatlicher Behörden bei zukünftigen Vorlagen der Regierung sicher der Stimmenauszählung zurückzuführen durch das Parlament zu bringen oder sind.1 Russische Wahlbeobachtungsorga- selbst die Verfassung der Russischen Föderation zu ändern. Die einzig 1 So lag die Wahlbeteiligung in einigen Re- verbliebene oppositionelle Kraft, die publiken der Russischen Föderation wie Kommunistische Partei der Russischen Tschetschenien, Inguschetien, Kabardino- Balkarien, Mordwinien, Karatschaewo- Föderation (KPRF) die in den Wahlen we- Tscherkessien, Dagestan, Baschkortostan niger als 12% der Stimmen auf sich verei- und Tatarstan mit 80-90 % der Wahlberech- nen konnte, ist in der Duma hingegen mit tigten signifikant über dem Durchschnitts- nur 57 Sitzen vertreten. wert von 64 %. Auch die Zustimmung für -2-
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org nisationen wie die NGO „Golos“ sowie Be- denten Russlands, der sich sowohl in sei- obachter aus dem Ausland wie die Vertre- nem Programm als auch bei den seltenen ter des Europarats und der Parlamentari- Auftritten während des Wahlkampfs für schen Versammlung der OSZE kritisierten mehr Pressefreiheit, einen stärkeren Ein- die Wahlgänge daher.2 fluss der Zivilgesellschaft, mehr Rechts- Auf den Punkt gebracht hat dies kürz- staatlichkeit und den Kampf gegen Recht- lich eine der bekanntesten russischen Po- losigkeit und Korruption aussprach, eine litikwissenschaftlerinnen, Lilija Schewzo- Verbesserung des zuletzt angespannten wa: „Liberale Demokratien lösen ihre Verhältnisses. Für Europa ist dies von Probleme des Machtwechsels gemeinhin strategischer Bedeutung, hängt von einer nach einer Formel, die kurz gefasst so lau- Verbesserung des Verhältnisses doch ten könnte: „Klare Spielregeln, unsicherer nicht zuletzt auch die Sicherheit der euro- Ausgang“. Die russischen politischen Eli- päischen Energieversorgung ab. ten haben sich quasi auf das Gegenteil Allerdings gibt es hier ein Problem: festgelegt: „Unklare Spielregeln, sicherer Nach den Wahlen ist zwar klar, wer der Ausgang.“3 neue Präsident Russlands ist. Was jedoch Die meisten Beobachter im In- wie im noch im Unklaren liegt, ist das, was man Ausland zeigten sich aber im Wesentli- das zukünftige „Organigramm der Macht“ chen erfreut über das Ergebnis. In Russ- in Russland nennen könnte, d.h. die zu- land sind die Liberalen zufrieden, weil der künftige Machtverteilung zwischen Präsi- neue Präsident einer von ihnen ist, wäh- dent und Ministerpräsident, denn der rend die Falken (Silowiki) ebenfalls einver- scheidende Präsident Putin, der im Volk standen sind, weil sie überzeugt sind, nach wie vor große Unterstützung genießt dass sie über den neuen Ministerpräsiden- und von den unterschiedlichen Elitengrup- ten Putin genügend Einfluss auf den ver- pierungen als Garant der Stabilität gese- meintlich schwachen Präsidenten haben hen wird, wird nach der Amtsübergabe werden, um ihre Interessen durchzuset- nicht von der politischen Bühne ver- zen. Im westlichen Ausland, zumal in Eu- schwinden.4 ropa und insbesondere in Deutschland, Vor diesem Hintergrund stellt sich die erwartet man sich von dem neuen Präsi- Frage nach der weiteren Entwicklung der russischen Innen- und Außenpolitik: Kann der neue Präsident sich als eigenständiger Einiges Russland erreicht hier mit 81-99 % Machtpol etablieren und seine Ankündi- Marken, die andernorts nicht erreicht wur- den. Allgemein wird angezweifelt, dass die- gungen aus dem Wahlkampf in praktische se Ergebnisse auf regulärem Wege zustan- de gekommen sind. Vgl. Coalson, Robert, 4 Zum einen wird Wladimir Putin das Amt des How the Kremlin Manages to Get the Right Ministerpräsidenten innehaben. Zum ande- Results, in: Radio Free Europe/ Radio Lib- ren wird er aber auch die Führung der Par- erty, 07.03.2008 (http://www.rferl.org). Vgl. tei „Einiges Russland“ in der Staatsduma auch Schröder, Hans-Henning, Genügend übernehmen. Damit dürfte er, trotz seiner Legitimation für einen Schattenpräsiden- qua Verfassung nachgeordneten formalen ten?, in: Russlandanalysen, Nr. 152, Machtfülle, de facto auf absehbare Zeit ei- 07.12.2007, S. 2-4. nen bedeutenden Einfluss auf den politi- 2 Vgl. dazu Frankfurter Allgemeine Zeitung schen Prozess und die Entscheidungen in (im Folgenden zitiert als FAZ), 04.03.2008, Russland ausüben. Dies umso mehr als er S. 2: Kritik am Verlauf der russischen Prä- unter den gegenwärtigen Bedingungen der sidentenwahl. Vgl. auch FAZ, 08.02.2008, von den konkurrierenden Elitengruppierun- S. 5: OSZE beobachtet russische Präsiden- gen anerkannte Schlichter bzw. Schieds- tenwahl nicht. richter bleiben wird und über die besten 3 Vgl. Schewzowa, Lilija, Der Schein trügt, in: Beziehungen zu den Geheimdiensten ver- Internationale Politik, 63. Jahrgang, Nr. 2, fügt. Vgl. FAZ, 29.03.2008, S. 7: Putin wird Februar 2008, S. 8-18, hier S. 8. vom Moskauer Staatschef zum Parteichef. -3-
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org Politik umsetzen oder wird er lediglich ein lem ein Blick auf seinen bisherigen Wer- Verwalter von Putins Gnaden oder nur ein degang, sein Programm sowie seine Äu- vorübergehender Platzhalter? Welche ßerungen aus dem Wahlkampf und Funktion und Stellung wird dem scheiden- schließlich sein Verhalten nach den Wah- den Präsidenten Putin in dem neuen len vom 02. März 2008 geeignet zu sein, Machtgefüge zukommen? Wohin geht das Aufschluss darüber geben zu können, ob „System Putin“, das auf einem schwierigen er ein liberalerer Präsident sein könnte als Balanceakt zwischen konkurrierenden Eli- Wladimir Putin. tengruppierungen beruht/e? Welche Ände- rungen sind in der Außenpolitik Russlands 2.1. Die Person Dmitrij Medwedew zu erwarten? Wird Russland seinen An- Einzelne, hervorgehobene Personen – spruch auf eine Großmachtrolle weiter ver- und der Präsident Russlands ist qua folgen und wenn ja mit welchen Mitteln? Verfassung der Russischen Föderation Einen guten Monat vor der offiziellen eine solche Person – können einen Amtsübergabe an den neu gewählten rus- entscheidenden Einfluss auf die sischen Präsidenten gibt es viele Mutma- Geschicke eines Landes nehmen. Dafür ßungen und Stimmen, welchen Kurs lassen sich Beispiele en masse anführen: Russland unter Dmitrij Medwedew ein- Adenauer, Churchill, de Gaullle, Roosevelt schlagen wird.5 Allen Einschätzungen ist auf westlicher Seite; Gorbatschow, Jelzin, gemeinsam, dass sie notgedrungen noch Putin auf russischer Seite. Wenn sehr im Vagen liegen. Bevor Dmitrij Med- Politikwissenschaft sich auch nicht mehr wedew sein Amt noch nicht angetreten hat vorrangig mit dem Einfluss „großer und sein Agieren als Präsident die ersten Männer“ beschäftigt, so ist doch un- Hinweise über seine Absichten und Mög- umstritten, dass persönliche Faktoren in lichkeiten geben wird, wird sich daran der Politik durchaus einen wichtigen auch nichts ändern. Aufschluss über die Stellenwert besitzen.6 aufgeworfenen Fragen können in dieser Der neue Präsident Russlands ist, wie Situation behelfsweise Betrachtungen lie- sein Mentor, Förderer und Vorgänger im fern, die sich erstens an der Person Dmitrij Amt Wladimir Putin, zunächst einmal Pe- Medwedews und zweitens an bestimmten, tersburger.7 Er wurde am 14. September durch das derzeitige politische System 1965 in St. Petersburg/ damals: Lenin- Russlands vorgegebenen, v.a. informellen, grad, der nördlichen, zweiten Hauptstadt Rahmenbedingungen ausrichten. Russlands an der Newa, geboren. Im Un- terschied zu Wladimir Putin ist Dmitrij Ana- 2. Der neue Präsident Russlands – Ein „liberaler“ Herrscher? 6 Vgl. dazu Schwarz, Hans-Peter, Anmer- kungen zu Adenauer, 2. Aufl., München 2005. Was die Betrachtungen zur Person Dmitrij 7 Vgl. Biografija (http://www.medvedev2008. Medwedews angeht, so scheinen vor al- ru/bio.htm). Vgl. auch Russia Profile, Who’s Who, Medvedev, Dmitry Anatolyevich (http: //www.russiaprofile.org), Download 15.01. 5 Einer der wenigen verbliebenen Oppositi- 2008. Vgl. auch Ludwig, Michael, Der nette onspolitiker, Wladimir Ryschkow, hat gar Junge aus dem Petersburger Plattenbau, gemutmaßt, dass die wohlklingenden Worte in: FAZ, 04.03.2008; Manutscharjan, A- von Dmitrij Medwedew aus dem Wahlkampf schot, Aktion Nachfolger gelungen, in: Das nur für die Ohren des Westens formuliert Parlament, Nr. 11, 10.03.2008, S. 10 sowie worden seien und ein liberaleres Regime in RIA Nowosti, 07.02.2008: „Nesawissimaja Russland auch unter Medwedew nicht zu Gaseta“: Putin und Medwedew: Unter- erwarten sei. Vgl. dazu Krumm, Reinhard, schiedliche Typen – zwei Regierungsstile? „Bremsen lösen“, Kurzbericht der Friedrich- (http://de.rian.ru/analysis/20080207/986441 Ebert-Stiftung, 03/ 2008, S. 3. 96-print.html). -4-
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org tolijewitsch allerdings der Sprössling einer Wie viele andere ehemalige Kollegen und Familie, die der gehobenen Schicht der Mitstreiter wurde Medwedew dann, nach- sowjetischen Intelligenzija zuzurechnen dem Putin 1999 russischer Ministerpräsi- war. Sein Vater arbeitete als Professor für dent geworden war, nach Moskau geholt. Maschinenbau, während die Mutter als Zur Petersburger Seilschaft zählten neben Philologin und Lektorin an der Pädagogi- Medwedew nicht nur liberale Wirtschafts- schen Universität St. Petersburgs tätig politiker und Juristen, sondern auch Ge- war. Der junge Dmitrij Medwedew, der üb- heimdienstler. Als Vertrauter des Präsi- rigens ein Einzelkind ist, wuchs demnach denten leitete er dessen Wahlkampfstab in wohlbehüteten und gutsituierten Ver- bei Putins erster Präsidentschaftswahl im hältnissen auf. Jahr 2000. Als Dank für die dabei erwor- Was seine berufliche Ausbildung an- benen Verdienste wurde Dmitrij Medwe- geht, so ist der neue Präsident Russlands dew von Wladimir Putin im Juni 2000 zu- – und dies ist eine weitere Gemeinsamkeit nächst zum Ersten Stellvertretenden Leiter mit Wladimir Putin – Jurist. Er schloss sein und im Oktober 2003 dann zum Leiter der Studium der Rechtswissenschaften an der mächtigen Administration des Präsidenten Juristischen Fakultät der Leningrader im Kreml ernannt. In dieser Funktion war Staatlichen Universität 1987 ab. An das Medwedew auch an wichtigen politischen Jurastudium schloss sich eine Promotion Weichenstellungen in Russland beteiligt. in der gleichen Disziplin an, die Dmitrij So konzipierte er als Jurist unter anderem Medwedew mit einer Spezialisierung im die Entmachtung des Föderationsrates, Öffentlichen Recht 1990 abschloss. der zweiten Kammer und „Ländervertre- Seine ersten beruflichen Schritte mach- tung“ bzw. des „Oberhauses“ der russi- te Medwedew als Jurist in der St. schen Föderalversammlung mit dem Ziel, Petersburger Stadtverwaltung. Hier beriet die Vertikale der Macht des Präsidenten er 5 Jahre lang, von 1991 bis 1996, zu stärken. Wladimir Putin, der zu dieser Zeit unter Ein weiterer bedeutender, wenn nicht dem Bürgermeister Anatolij Sobtschak als sogar der wichtigste, Schritt in der berufli- Leiter des Komitees für die chen Karriere Medwedews, der sich im Außenbeziehungen unter anderem auch Jahr 2000 ergab, war seine Ernennung für die außenwirtschaftlichen Beziehungen zum Aufsichtsratsvorsitzenden von Gas- der Stadt Petersburg zuständig war.8 prom, dem weltweit größten Erdgaskon- Nebenbei arbeitete Dmitrij Medwedew zern und einem der wichtigsten Unter- (insgesamt von 1990 bis 1999) als Dozent nehmen in Russland. Von 2000 bis 2001 (bzw. Assistenzprofessor) an der war Medwedew als Aufsichtsratsvorsit- Juristischen Fakultät der Petersburger zender von Gasprom, dann von 2001 bis Universität und versuchte sich auch als Juli 2002 als stellvertretender Aufsichts- Unternehmer. ratsvorsitzender und seit Juli 2002 wieder 8 Vgl. Coalson, Robert, Putin’s Choice. A als Aufsichtsratsvorsitzender tätig. Profile of Dmitriy Medvedev, in: Radio Free Im November 2005 wurde Medwedew, Europe/ Radio Liberty, 23.03.2008 (http:// abermals von Putin, zum Ersten Stellver- www.rferl.org) sowie Biografija (http://www. medvedev2008.ru/bio.htm); Russia Profile, tretenden Ministerpräsidenten befördert. Who’s Who, Medvedev, Dmitry Ana- 2006 übertrug Putin ihm dann die Verant- tolyevich (http://www.russia profile.org), wortung für die strategisch wichtigen vier Download 15.01.2008; Ludwig, Michael, Der nette Junge aus dem Petersburger sogenannten „Nationalen Projekte“, groß Plattenbau, in: FAZ, 04.03.2008, S. 2 sowie angelegte, staatlich geförderte Entwick- auch Manutscharjan, Aschot, Aktion Nach- lungsprogramme in den zivilen Bereichen folger gelungen, in: Das Parlament, Nr. 11, Landwirtschaft bzw. ländlicher Raum, 10.03.2008, S. 10. -5-
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org Wohnungsbau, Gesundheits- und Bil- muslimischen Beschneidungsriten zu un- dungswesen. Besondere Erfolge konnte er terziehen. in dieser Tätigkeit nach allgemeinem Da- Unter Umständen kann der familiäre, e- fürhalten nicht verzeichnen. Allerdings war litäre Hintergrund aber auch eine Schwä- diese Aufgabe eine willkommene, und che darstellen. Denn es kann nicht ausge- wohl auch durchaus so beabsichtigte Ge- schlossen werden, dass Dmitrij Medwe- legenheit, um sich den Wählern bekannt dew gerade weil er vor seinem Hinter- zu machen, Wohltaten zu verteilen und – grund in Russland nicht automatisch als wie es in der Presse bisweilen hieß – zum durchsetzungsstarke oder volksnahe Füh- „Strahlemann“ zu werden.9 rungsfigur gesehen wird, besondere Stär- Vor diesem biographischem Hinter- ke und Härte demonstrieren muss. grund erscheint der neue Mann an der Spitze des russischen Staats zunächst 2.2. Der Kandidat Dmitrij Medwedew einmal überdeutlich und unzweifelhaft als Neben dem biographischen Hintergrund Schützling, Weggefährte und politischer können das Wahlprogramm Dmitrij Med- Freund des noch amtierenden Präsidenten wedews, sein Auftreten und einige seiner Wladimir Putin. Wie Putin ist Medwedew Äußerungen während des Wahlkampfs Jurist und stammt aus St. Petersburg. Aufschluss darüber geben, wohin er das Was seine Zugehörigkeit bzw. Unterstüt- Land unter Umständen steuern will. Die zung für eine der machtpolitischen Eliten- Kern- und Hauptpunkte dieses Pro- Gruppierungen10 angeht, so kann er den gramms11 lesen sich dabei fast wie das „Petersburger Juristen“ zugerechnet wer- Bekenntnis eines überzeugten Liberalen den. Er zählt also eher zu den liberalen und Verfechters von Rechtsstaatlichkeit und marktorientierten Reformern und ist und Demokratie. So lautete eine der kein, den Interessen der eher konservati- Hauptthesen Medwedews: Die Politik des ven Machtapparate (Innen-, Verteidi- Staates muss auf dem Prinzip „Freiheit ist gungsministerium, Geheimdienste) nahe besser als Unfreiheit“ basieren. Dabei geht stehender, Silowik. es um die Freiheit in all ihren Erschei- Blickt man auf seinen familiären Hinter- nungsformen: persönliche Freiheit, wirt- grund und seine Sozialisation im akademi- schaftliche Freiheit und die Freiheit der schen Umfeld, scheint es nahe liegend, auch von einem anderen, weniger „hand- 11 Ein Wahlprogramm Dmitrij Medwedews gibt festen und rustikalen“ Stil gegenüber der es im Sinne eines einzigen, vorab oder während des Wahlkampfs der Öffentlichkeit heimischen und internationalen Öffentlich- vorgestellten, Dokuments nicht, was auch keit auszugehen. Es ist schwer vorstellbar, auf die Besonderheiten der Auswahl Med- dass Medwedew wie Putin öffentlich da- wedews als Kandidat zurückzuführen ist. von sprechen wird, separatistischen Kräfte Demnach hatte die Tatsache, dass er von Wladimir Putin als Nachfolger ausgewählt oder innenpolitischen Gegnern Russlands und empfohlen wurde, für die Wahlent- an nur für bestimmte Zwecke aufzusu- scheidung eine weitaus größere Bedeutung chenden Orten die Kehle umzudrehen o- als jedes mögliche Programm Medwedews sie hätte haben können. Aufschluss über der ausländischen Journalisten in einem die politischen Überzeugungen und Vorha- Akt verbaler Entgleisung empfiehlt, sich ben des Präsidentschaftskandidaten liefern jedoch Reden, die er vor oder während des 9 Vgl. Ludwig, Michael, Der nette Junge aus Wahlkampfs hielt und die auf der Website dem Plattenbau, in: FAZ, 04.03.2008, S. 2. Medwedews im Internet als „programmati- 10 Zur Unterscheidung der unterschiedlichen sche Auftritte“ bezeichnet und aufgeführt Eliten-Gruppierungen bzw. Machtclans, die sind. Auf diese wird im Folgenden Bezug den politischen Prozess Russlands hinter genommen. Vgl. Programmnye wystupleni- den formalen Kulissen prägen und bestim- ja (http://www.medvedev2008.ru/program. men, siehe Abschnitt 3.2. htm). -6-
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org Selbstverwirklichung. Eine weitere These - Schaffung eines starken und selbstän- lautete: „Die konsequente Verbesserung digen Finanzsystems, das in Perspek- der Gesetzgebung ist eine wichtige Auf- tive eine der Stützen der globalen Fi- gabe. Die Hauptaufgabe unserer Arbeit in nanzstabilität werden muss. Die Um- den kommenden vier Jahren wird die Ge- wandlung des Rubels in eine regionale währleistung einer wirklichen Unabhängig- Reservewährung; keit des Justizsystems von der Exekutiv- - Modernisierung der Transport- und der und der gesetzgebenden Gewalt sein.“ Energieinfrastruktur und Aufbau eines Auch die übrigen Punkte und Thesen, neuen Telekommunikationsnetzes; die aus den Auftritten Medwedews im Ja- - Schaffung von Grundlagen eines staat- nuar und März 2008 bekannt sind, setzen lichen Innovationssystems; interessante Akzente, die am ehesten zu - Umsetzung eines Sozialentwicklungs- einem überzeugten Reformer passen, der programms. auch eine Entwicklung in Richtung Demo- Diese Kernpunkte bekräftigte Medwedew kratie verfolgt: auch in seiner Rede vor dem Unterneh- - der Schutz der realen [d.h. einer ech- merforum im sibirischen Krasnojarsk.13 ten] Unabhängigkeit, die das Feedback Auch hier wurde den Aspekten Freiheit zwischen der gesamten Gesellschaft und der Anerkennung rechtlicher Prinzi- und den Machtorganen sichern; pien besondere Aufmerksamkeit gewid- - die Achtung des Privateigentums muss met. „Unsere Politik“, so Medwedew, eine der Grundlagen der Staatspolitik „muss auf einem Prinzip basieren, das aus werden; meiner Sicht das Wichtigste im Funktionie- - das Wirtschaftsprogramm in den kom- ren eines jeden modernen Staates ist, der menden vier Jahren wird auf vier „I’s“ hohe Lebensstandards anstrebt: Das Prin- beruhen: Institute12, Infrastruktur, zip „Freiheit ist besser als Unfreiheit“. Na- Innovationen und Investitionen. türlich, so Medwedew weiter, setze die Bei der Umsetzung und Realisierung die- Freiheit eine bedingungslose Einhaltung ser vier zentralen Vorhaben bzw. Prinzi- der Gesetze voraus. „Die Durchsetzung pien im Bereich der Wirtschaftspolitik wird einer Harmonie zwischen Freiheit und die Lösung der folgen Aufgaben als vor- Recht ist heute meines Erachtens das dringlich angesehen: Wichtigste in der jetzigen Epoche“. Und - Beseitigung des Rechtsnihilismus, die weiter: „Die Freiheit ist untrennbar von der durch die Verbesserung der Qualität faktischen Anerkennung der Macht des der Gesetze und die Gewährleistung Rechts durch die Bürger.“ einer effizienten Rechtsanwendung er- Bei einem früheren Auftritt auf dem reicht werden soll; zweiten Gesamtrussischen Bürgerforum - durchgreifender Abbau bürokratischer am 22.01.08 hatte Medwedew einen Punkt Hürden; - Senkung der Steuerlast zur Stimulie- 13 Vgl. Wystuplenie na V. Krasnojarskom eko- rung von Innovationen und Privatinves- nomitscheskom forume „Rossija 2008 – 2020. Uprawlenie rostom“, 15.02.2008, titionen in das Humankapital Russ- Krasnojarsk (http://www.medvedev2008.ru lands; /program_02_15.htm). Vgl. auch RIA No- wosti, 15.02.2008, Plan für Russland: Medwedew will weniger Staat und starken Rubel (http://de.rian.ru/analysis/20080215 12 Hiermit dürften aller Wahrscheinlichkeit /99305828-print.html). Vgl. auch Frankfurter nach formale Institutionen, d.h. Rechtsre- Allgemeine Sonntagszeitung (im Folgenden geln, gemeint sein, denn der Begriff „Institu- zitiert als FAS), 24.02.2008, S. 13: Recht tion“ (formale Institution, Rechtsregel) wird und Freiheit. Der unvermeidliche Medwe- auf Russisch mit „institut“ wiedergegeben. dew gibt sich als Liberaler. -7-
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org angesprochen, der als Motto seiner Inter- gehend zustimmt. Medwedew zeigte sich netsite vorangestellt worden ist und au- in diesem Gespräch als prinzipiell offener, genscheinlich von überragender axiomati- aber konsequenter Verteidiger russischer scher Bedeutung ist. Er stellt die Leitlinie Interessen, der sich gegen den Vorwurf des „Programms“ Medwedews dar: einer zu offensiven Außenpolitik oder den Einsatz von Energieressourcen als Waffe Das Wichtigste für unser Land ist die Fortset- zur Wehr setzte und auch auf dem Groß- zung einer ruhigen und stabilen Entwicklung. machtanspruch Russlands bestand. Ein Jahrzehnt einer stabilen Entwicklung ist notwendig. Das, was unserem Land im 20. Geht man nach diesen programmati- Jahrhundert genommen wurde: Ein Jahrzehnt schen Orientierungspunkten und Äuße- normalen Lebens und einer zielgerichteten Ar- rungen, dann fällt als Erstes auf, dass 14 beit. Medwedew, anders als etwa noch im De- Die Außenpolitik stand in seinen Auftritten zember 2007 vorgesehen,17 durchaus so im Wahlkampf nicht an erster Stelle. Bei etwas wie eigene Akzente gesetzt hat, in- seinem Auftritt vor dem Bürgerforum Ende dem er nicht den sogenannten „Plan Pu- Januar kam sie nur am Rande vor. Russ- tins“ der Partei Einiges Russland als sein land, so Medwedew, werde auf keinen Fall Wahlprogramm propagiert hat, sondern Beziehungen zu „Problemstaaten“ der sein eigenes Programm vorgestellt und Weltgemeinschaft abbrechen. Der Ab- vertreten hat. Dieses Programm kann bruch von Beziehungen und Flächenbom- durchaus als liberal und vor allem auf die bardements seien der falsche Weg, sagte Innenpolitik ausgerichtet eingestuft wer- Medwedew. Russland sei seiner Verant- den. wortung gemäß, offen für den Dialog und Bei aller liberalen Rhetorik ergeben sich verfolge, ausgehend von seinen eigenen jedoch einige Fragen: So steht die liberale Interessen, eine demokratische Weltord- Programmatik zunächst unter dem Vorbe- nung.15 halt, dass Medwedew sich offenbar in ers- In einem Interview mit dem russischen ter Linie als Fortsetzer des Kurses Wladi- Politikmagazin „Itogi“ vom 18.02.200816 mir Putins versteht. Demzufolge wären machte Medwedew allerdings deutlich, keine großen Veränderungen, in erster Li- dass er der außenpolitischen Linie, die nie in der Innenpolitik, zu erwarten. Das Präsident Putin bis dato verfolgt hat, weit- Hauptaugenmerk der neuen Regierung dürften eine Fortsetzung der bisherigen Politik und die Sicherung von Ruhe und 14 Vgl. Wystuplenie na II. Obstscherossijskom grashdanskom forume, 22. Janwarja 2008 Stabilität sein. Allein, es bleibt der Zweifel, goda, Moskwa Manesh, Dmitrij Medwedew, welcher Wert diesen Worten beizumessen Programmnye wystuplenija, (http://www. ist. Auch Putin ist mit ähnlichen Bekennt- medvedev2008.ru/programm.htm). Vgl. nissen zur „Diktatur des Gesetzes“ ange- auch FAZ, 23.01.2008, S. 4: Medwedjew beklagt „Rechtsnihilismus“. Kreml-Kandidat: fangen und hat noch spät in seiner zwei- Der russische Staat muss von Bürgern kon- ten Amtszeit wie so viele andere russische trolliert werden. Vgl. auch Russland Aktuell, Führungsfiguren vor ihm gegen die allge- 22.01.2008, Medwedews Wahlprogramm: genwärtige Korruption gewettert. Auch hat Stabilität und Gerechtigkeit (http://www. ak- tuell.ru), Download vom 27.01.2008. Putin sich wiederholt zur Bedeutung von 15 Vgl. FAZ, 23.01.2008, S. 4: Medwedjew be- freien Massenmedien und einer unabhän- klagt „Rechtsnihilismus“. Kreml-Kandidat: gigen Zivilgesellschaft bekannt. Die Ver- Der russische Staat muss von Bürgern kon- trolliert werden. 16 Vgl. RIA Nowosti, 18.02.2008: Medwedew: 17 Vgl. RIA Nowosti, 17.12.2007: Plan Putins Russlands Machtzentrum bleibt der Kreml auch bei Präsidentenwahl Wahlprogramm (http://de.rian.ru/analysis/20080218/995225 von Geeintes Russland (http://de.rian.ru/ 55-print.html). russia/20071217/92850967.html). -8-
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org fassungswirklichkeit sah jedoch anders lizei, Gesundheitsamt u.a.) in kleinen und aus. Sind daher auch die Zielvorgaben mittleren Unternehmen nur unter Vorlage Medwedews nur Lippenbekenntnisse? eines entsprechenden Gerichtsbeschlus- Schließlich bleibt auch die Frage, was ses oder einer Ermächtigung durch die Dmitrij Medwedew, als er höchste Staats- Staatsanwaltschaften zulassen würde. Im ämter innehatte, unternommen hat, „als Streit um die Eigentumsrechte im Falle die Freiheit der Medien verlorenging, als des Moskauer Flughafens Domodedowo die Zivilgesellschaft abgebaut wurde, das sprach er sich erneut für eine Respektie- Privateigentum unter den Vorbehalt des rung des Eigentumsrechts und gegen eine Provisorischen gestellt und die Gerichte Rückverstaatlichung des Unternehmens der Lächerlichkeit preisgegeben wur- aus.19 den.“18 In Sachen Außenpolitik hielt er an der Position Putins fest, kritisierte die eventu- 2.3. Der neu gewählte Präsident elle Erweiterung der NATO um die Ukraine Medwedew vor der Inauguration und Georgien und sagte, dass Russland Das Verhalten Dmitrij Medwedews vor über die Diskussion um die Aufnahme die- seiner Amtseinführung am 07. Mai 2008 ser beiden Staaten in das Bündnis nicht lässt bislang keine größeren Rückschlüsse „glücklich sei“.20 Dieser Schritt führe aus auf seinen späteren Kurs als Präsident russischer Sicht zu extremen Schwierig- Russlands zu, zumindest keine Schlüsse, keiten für die existierende Struktur der eu- die über das bisher Erkennbare und im ropäischen Sicherheit. Russland sei als Wahlkampf Geäußerte hinausgehen. Staat, der dem Nordatlantischen Bündnis Nach der Wahlentscheidung war der nicht angehöre automatisch besorgt, wenn Aufsichtsratsvorsitzende von Gasprom sich dieses Militärbündnis seinen Grenzen und erste Stellvertretende Ministerpräsi- nähere. Zur gleichen Zeit hielt er aber in dent Russlands vornehmlich mit seinen einer anderen Frage, der Raketenabwehr Verpflichtungen bei Gasprom und der in Osteuropa, an weiteren Verhandlungen Vorbereitung auf die Amtsübernahme be- mit den USA fest. schäftigt. Anfang März, am 03.03.08, kün- digte er an, er werde die Zeit bis zu seiner 3. Der neue Präsident und das Russ- Amtseinführung dazu nutzen, sich ge- land Wladimir Putins meinsam mit dem noch amtierenden Prä- sidenten Putin über die Personalstruktur Medwedew scheint somit insgesamt ei- der neuen Regierung und des Präsiden- nerseits der Fortsetzer der unter seinem tenapparates zu verständigen. Amtsvorgänger Putin begonnenen Linie Abgesehen davon wurde bei verschie- der innen- und außenpolitischen Erneue- denen Gelegenheiten deutlich, dass er rung und Stabilisierung Russlands zu sein. tatsächlich gewillt ist, seine Ankündigun- Andererseits hat er im Wahlkampf aber gen aus dem Wahlkampf in praktische Po- auch eigene Akzente gesetzt und sich da- litik umzusetzen. So kündigte er etwa im Rahmen einer Sitzung des Staatsrats in 19 Vgl. The Moscow Times, 28.03.2008: Med- der sibirischen Stadt Tobolsk eine erste vedev Lays Out Anti-Graft Steps Gesetzesinitiative zur Bekämpfung der (http://www.the moscowtimes.com/stories/ 2008/03/28/042.html). Vgl. auch FAZ, Korruption an, die zukünftige Inspektionen 10.04.2008, S. 7: Medwedjew gegen Ver- von staatlichen Behörden (Feuerwehr, Po- staatlichungen. 20 Vgl. BBC News, 25.03.2008, Medvedev 18 Vgl. FAS, 24.02.2008, S. 13: Recht und spells out power sphere (http://newsvote. Freiheit. Der unvermeidliche Medwedjew bbc.co.uk). Vgl. auch FAZ, 31.03.2008, S. gibt sich als Liberaler. 12: Mahnungen und Lockrufe. -9-
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org bei als eher liberaler Kandidat präsentiert. bürgerlichen Freiheiten, so Steinmeiner, Es spricht also auf den ersten Blick Eini- „waren spektakulär in unseren Ohren“.22 ges dafür, dass er gewillt sein könnte, Re- Auch der britische und der französische formen einzuleiten und zu verfolgen, de- Außenminister teilten eine ähnlich positive nen neben einer Impulswirkung für die Erwartungshaltung. In einem gemeinsa- Wirtschaft auch eine Wirkung im Hinblick men Brief zur Russland-Politik der EU auf die Fortsetzung der Demokratisierung schrieben sie: „Wir sollten hervorheben, Russlands zukommen könnte.21 dass wir das Vorhaben des gewählten Der Westen und insbesondere die Eu- Präsidenten Medwedew, den Rechtsstaat ropäische Union und Deutschland haben in Russland zu fördern, begrüßen und un- daher positiv und erfreut reagiert, weil sie terstützen.“ In der Sitzung der EU- sich eine positive Weiterentwicklung der Außenminister schlossen sich Berichten zuletzt angespannten Beziehungen zu zufolge viele Mitgliedstaaten dieser Ein- Russland erhoffen. Bei einem Treffen der schätzung aus Deutschland, Großbritan- Außenminister der EU zeigte sich, dass nien und Frankreich an. Die Außenminis- sich vor allem die großen EU-Mitglied- ter erhoffen sich von dem neuen Präsiden- staaten im Westen den Wechsel im Kreml ten Russlands offensichtlich eine Verbes- als eine Chance werten. Deutschland zählt serung der gegenseitigen Beziehungen zu der Gruppe, die den Wechsel zu Med- (PKA, Energiecharta). wedew als günstige Gelegenheit sehen. Wie bei jedem Regierungswechsel – Dies fand beispielsweise in einer Ein- übrigens auch in westlichen Demokratien schätzung durch Außenminister Steinmei- – hängt die weitere Entwicklung und die er seinen Ausdruck: Die Reden Medwe- Ausgestaltung der Regierungspolitik aber dews über die Marktwirtschaft und die nicht ausschließlich von dem jeweils sieg- reichen Kandidaten und seinen Zielset- zungen vor der Wahl ab. Sie ist vielmehr 21 Interessant ist in diesem Zusammenhang besonders seine implizite, aber umso deut- auch von bestimmten formalen und infor- lichere Weigerung, den von Wladislaw Sur- mellen bzw. politischen Rahmenbedin- kow eingeführten Begriff der „souveränen gungen abhängig. So ist ein deutscher Demokratie“ für Russland und sein Verhält- nis zu westlichen Werten und dem Ord- Bundeskanzler bzw. eine Bundeskanzlerin nungsprinzip der Demokratie gelten zu las- bei der Verwirklichung seiner/ihrer politi- sen. In seiner Rede vor dem Bürgerforum schen Vorhaben zwingend auf Koalitions- am 22.01.08 in Moskau führte Medwedew partner und die fortdauernde Zustimmung dazu aus: “Es ist bekannt, dass in der mo- dernen Welt die sogenannte repräsentative in der eigenen Partei angewiesen und Demokratie am weitesten entwickelt ist. […] muss im Gesetzgebungsprozess immer Ich musste bereits wiederholt auf Fragen wieder Zugeständnisse an den Koalitions- zur nationalen Idee antworten. Die Diskus- partner, Gruppierungen in der eigenen sion zu diesem Thema halte ich für wenig effektiv. […] Hier brauchen wir nichts zu er- Partei, aber auch an institutionelle Gegen- finden. Die grundlegenden Werte wurden gewichte bzw. Akteure, wie etwa den von der Menschheit bereits vor langem Bundesrat, machen. formuliert. Allerdings stellt ihre Anwendung Eine zweite Rahmenbedingung besteht auf die russischen Besonderheiten mitunter ein Problem dar. Und die Hauptfrage be- in der Wirkung und Reichweite vorange- steht darin, wie man beides miteinander gangener Entscheidungen in der Innen- vereinen kann, es so zu machen, dass un- und Außenpolitik, d.h. den durch die Politik sere nationalen Traditionen mit dem Grundbestand demokratischer Werte in der letzten Jahre gewachsenen innen- wie Übereinstimmung kommen.“ Vgl. Wystuplenie na II. Obstscherossijskom 22 Vgl. dazu Busse, Nikolas, Mit Neugier und grashdanskom forume (http://www. medve- gewachsenem Selbstbewusstsein, in: FAZ, dev2008.ru/ program.htm). 31.03.2008, S. 6. - 10 -
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org außenpolitischen Grundkonstanten, von Staatsgewalt, sondern aufgrund der infor- denen sich ein neu gewählter Präsident mellen Machtposition des zukünftigen oder Ministerpräsident bzw. Regierungs- Premiers Wladimir Putin und seines Anse- chef nicht ohne weiteres über Nacht lösen hens in der Bevölkerung. Darüber, wie kann.23 sich dieses Verhältnis entwickeln könnte, gibt es im Wesentlichen drei unterschiedli- 3.1. Der neue Präsident und der neue che Annahmen bzw. Szenarien: Ministerpräsident – Tandem oder neu- - Das erste Szenario „Vorübergehendes es Machtgleichgewicht an der Spitze? Tandem und Medwedew als starker Ähnliches gilt auch für den neuen Präsi- Präsident“ geht von einer klar bestim- denten Russlands. Auch er wird sein poli- menden Position des neuen Präsiden- tisches Programm, wenn er tatsächlich ei- ten aus. Voraussetzung hierfür ist, nes in mehr oder weniger konkreter Form dass es Medwedew gelingt, eigene haben sollte, nicht eins zu eins in Regie- Vertrauensleute an die Schaltstellen rungspolitik übertragen können, sondern der Macht zu bringen und auch die Lei- gewisse Abstriche machen müssen.24 In tung der Geheimdienste mit Personen Russland mit seinem präsidialen – einige seines Vertrauens zu besetzen. In die- Beobachter sprechen aufgrund der Macht- sem Fall würde er sich, so wie es Wla- fülle und der besonders hervorgehobenen dimir Putin nach seiner überraschen- Stellung des Präsidenten sogar von einem den Ernennung zum Präsidenten ge- „super-präsidentiellen“ – Regierungssys- tan hat, von seinem Paten Putin lösen, tem wird dies nicht eine Frage des Ver- was allerdings einige Zeit in Anspruch hältnisses zwischen den Partnern einer nehmen würde. Eine Äußerung Med- Koalitionsregierung, sondern eine Frage wedews aus einem Interview, die poli- des zukünftigen Verhältnisses zwischen tische Macht in Russland liege bei dem dem Präsidenten und dem Ministerpräsi- denten sein. Dies allerdings weniger auf- grund der formalen Aufteilung der Kompe- weniger Machtfülle ausgestattet. Der Präsi- dent kann nach den Regeln der Verfassung tenzen25 zwischen den Organen der alle Regierungsentscheidungen aufheben und den Kabinettssitzungen vorstehen. Darüber hinaus ist der Ministerpräsident 23 Für die Bundesrepublik ist bspw. ein Ab- einzig vom Vertrauen des Präsidenten und schied von einer so wichtigen politischen nicht von der Parlamentsmehrheit abhän- Weichenstellung wie der von Konrad Ade- gig. Der Präsident hat zudem das Recht, nauer gewählten Westorientierung kaum den Ministerpräsidenten und die gesamte vorstellbar; eine Abkehr von dem sogar in Regierung jederzeit von der Verantwortung der Verfassung verankerten Prinzip der so- zu entbinden und zu entlassen. Zudem hat zialen Marktwirtschaft ist hingegen gar nicht sich der Präsident im Januar 1994 auch alle vorstellbar. relevanten Ministerien unterstellt: Außen-, 24 Darüber scheint man sich auch unter den Verteidigungs-, Innen-, Justizministerium, europäischen Außenministern im Klaren zu die Direktoren des Inlands- und des Aus- sein. Sowohl bei Außenminister Steinmeier, landsgeheimdienstes (FSB, SVR), aber als auch in dem Brief des britischen und auch des militärischen Aufklärungsdienstes des französischen Außenministers folgte (GRU). Das Amt des Ministerpräsidenten daher auf die positiv-hoffnungsvollen Ein- wird daher in den meisten Analysen als ei- schätzungen der Hinweis, dass Russland ne koordinierende und ausführende Funkti- nicht an Worten, sondern an Taten zu mes- on, nicht aber eine von machtpolitischer sen sei. Vgl. dazu Busse, Nikolas, Mit Neu- und gestaltender Bedeutung gesehen. Vgl. gier und gewachsenem Selbstbewusstsein, stellvertretend Mommsen, Margareta, Das in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.03. politische System Russlands, in: Ismayr, 2008, S. 6. Wolfgang (Hrsg.), Die politischen Systeme 25 Formal ist das Amt des Ministerpräsidenten Osteuropas, 2. Aufl., Opladen 2004, S. 373- gegenüber dem Präsidenten eindeutig mit 427. - 11 -
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org Präsidenten,26 könnte als erstes An- weniger politischer Verfügungsgewalt zeichen für ein solches Vorhaben zu ausgestatteten und daher unbeliebten werten sein. Der Logik „personalisier- Amt zurückziehen. ter Macht“27 folgend, würde es dann für - Bei dem zweiten Szenario „Langfristi- Dmitrij Medwedew nahe liegen, das ges Tandem“ würden beide gemein- vorige Regime unter Putin abzulehnen sam ein Tandem bilden, wobei als Va- und zum Sündenbock für alle Fehlent- rianten ein funktionierendes Teamwork wicklungen unter seiner Präsident- oder ein neuer Machtdualismus an der schaft zu machen. Eine zweite Mög- Spitze vorstellbar sind. Bei der Team- lichkeit in diesem Szenario könnte a- work-Variante würden beide Akteure ber auch in einem kurzfristigen Füh- an einem Strang ziehen, d.h. als Prä- rungstandem mit Dmitrij Medwedew sident und als Vorsitzender der Regie- als Präsident und Wladimir Putin als rung ein gemeinsames inhaltliches loyalem Ministerpräsident in der Rol- Programm verfolgen und umsetzen. lenverteilung, wie sie die Verfassung Die Voraussetzungen dafür (Mehrheit der Russischen Föderation von 1993 in der Duma, gemeinsame strategi- vorsieht, bestehen. Wladimir Putin sche Ziele und politische Anliegen bei- würde dabei durch seine Kontrolle ü- der Personen) scheinen prinzipiell ber die Geheimdienste dafür sorgen, durchaus gegeben zu sein.28 Eine Ab- dass dieses Manko sich nicht als stimmung zwischen den beiden Per- Nachteil für den neuen Präsidenten sonen könnte jedoch nicht immer mög- auswirken würde. Zugleich würde dies lich sein und die beiden Akteure könn- für die anderen Elitengruppierungen ten daher im Einzelfall unterschiedliche bedeuten, dass der neue Präsident Ziele verfolgen. So könnte es auch zu nicht ausschließlich die Interessen und Unklarheiten hinsichtlich der obersten Anliegen der „Petersburger“ bzw. der Autorität und Entscheidungsgewalt und liberalen Reformer verfolgt und dass in Folge zu einem neuen Machtdua- sie in Folge der Nachfolgeentschei- lismus und einer Lähmung der Macht dung Putins für Medwedew nicht gänz- kommen. lich marginalisiert werden. So bald - Als dritte Möglichkeit kommt schließ- Medwedew seine eigene Machtpositi- lich das Szenario „Tandem und Med- on an der Spitze durch die Vergabe wedew als schwacher oder gelenkter von Pfründen weit genug stabilisiert Präsident“ in Frage, wobei auch hier hätte, könnte Putin sich aus dem mit zwei Varianten denkbar sind. In der ersten könnte Putin durch eine Verla- 26 Vgl. dazu das bereits angeführte Interview gerung von Kompetenzen den Posten aus dem Februar 2008 mit dem Politikma- des Ministerpräsidenten aufwerten und gazin „Itogi“, in dem Medwedew gesagt hat- te, dass es keine zwei, drei oder fünf so die politische Macht an sich ziehen. Machtzentren gebe, Russland vom Präsi- Medwedew wäre dann eher für reprä- denten verwaltet werde und es laut Verfas- sung nur einen geben könne. In diesem Gespräch hatte sich Medwedew auch dazu 28 Eventuell könnte es bei dieser Variante bekannt, dass Russland nur mit Hilfe einer auch zu einer Verlagerung größerer Kom- starken Präsidialmacht verwaltet werden petenzen in das Weiße Haus kommen und könne. als Folge des erfolgreichen Zusammenwir- 27 Vgl. dazu Schewzowa, Lilija, Der Schein kens, rein theoretisch, auch dazu, dass in trügt, in: Internationale Politik, 63. Jahr- den Augen der Bevölkerung etwas von dem gang, Februar 2008, S. 8-18, hier S. 18. Ansehen für die Institution und das Amt des Vgl. auch Rahr, Alexander, Putin und Med- Präsidenten auf das Amt des Ministerpräsi- wedew. Wer regiert?, in: Internationale Poli- denten und das Parlament übergehen tik, 63. Jahrgang, Februar 2008, S. 19-25. könnte. - 12 -
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org sentative Zwecke zuständig, während auch noch keines als gänzlich unwahr- die politischen und wirtschaftlichen scheinlich ausgeschlossen werden. Die Entscheidungen von Tragweite von der Szenarien 1.2 und 2.1. (kurzfristiges Tan- Regierung bestimmt würden. Putin dem und starker Präsident Medwedew / würde in dieser Variante de facto aus langfristiges Tandem als Teamwork) dem Weißen Haus weiterregieren. scheinen jedoch nach den bisherigen Ein- In der zweiten Variante würde Dmitrij drücken und Äußerungen Putins und Medwedew sein Amt vielleicht sogar Medwedews am ehesten die von den bei- nur für einige Monate ausüben und den Akteuren ursprünglich intendierten zu nach kurzer Zeit zurücktreten. Bei den sein, denn nach der Logik der gelenkten erneuten Wahlen zum Präsidenten Demokratie ist anzunehmen, dass die bei- könnte sich Wladimir Putin aus forma- den Akteure sich vorab verbindlich auf ei- len Gründen wieder erneut um die Zu- ne Aufgabenteilung geeinigt haben. Die stimmung durch das russische Volk übrigen Szenarien, d.h. ein Verdrängen bewerben, das ihn ohnehin weiter im Putins durch Medwedew nach kurzer Zeit, Kreml sehen wollte. ein neuer Machtdualismus an der Spitze Zur Zeit lassen sich durchaus Indizien fin- oder die Möglichkeit eines schwachen und den, die für jedes der einzelnen drei Sze- gelenkten Präsidenten, scheinen hingegen narien sprechen.29 Daher kann prinzipiell eher als prinzipiell mögliche, aber unbeab- sichtigte Entwicklungen in Frage zu kom- men. 29 Als Indizien für eine starke Machtstellung Die Chance, dass der Reformer Med- als Präsident, die von Medwedew ange- strebt wird, kann etwa auf das bereits zitier- wedew seine Ziele ohne größere Beein- te Itogi-Interview verwiesen werden, in dem flussung durchsetzen könnte, wäre insge- er gesagt hat, dass es in Russland auch samt aber nur im ersten Szenario gege- weiterhin nur ein Machtzentrum geben wer- ben. Das zweite Szenario würde bereits de. Für ein Tandem spricht, dass die bei- den Akteure bislang noch eine gemeinsame bedeuten, dass er Abstriche von seinen Agenda, wenn auch mit unterschiedlichen politischen Zielen machen müsste. Im drit- Akzenten, verfolgen. Für das dritte Szena- ten Szenario wäre hingegen nur von einer rio oder einen neuen Machtdualismus spre- chen die Kür Putins zum Vorsitzenden der sehr eingeschränkten oder gar nur vorü- Partei Einiges Russland, die Verwaltungs- bergehenden Einflussnahme des neuen reform auf föderaler Ebene (Unterstellung Präsidenten auszugehen. von Filialen der Bundesbehörden unter die Gouverneure, Recht zur Ernennung und Überwachung der Gouverneure durch den 3.2. Der neue Präsident und die alten Ministerpräsidenten, Neubestimmung des Seilschaften Zuständigkeitsbereichs der sieben Bevoll- Neben dem zukünftigen Verhältnis von mächtigten des Präsidenten in den Föde- ralbezirken und Unterstellung unter den Mi- Präsident und Ministerpräsident Russ- nisterpräsidenten bzw. die Regierung). Als lands gibt es eine weitere informelle Rah- Parteivorsitzender von Einiges Russland menbedingung, die von entscheidender mit direktem Zugriff auf die Zweidrittel- Bedeutung dafür sein wird, welche Hand- mehrheit in der Duma, dem Föderationsrat sowie in den regionalen Parlamenten, der lungskorridore Dmitrij Medwedew als neu- Kontrolle über die Gouverneure in den Re- em Herrn im Kreml offenstehen oder ver- gionen, der Kontrolle über die wichtigen sperrt bleiben werden. Mit größter Wahr- Geheimdienste sowie der Kontrolle über die scheinlichkeit wird unter Medwedew auch Geheimdienste verfügt Putin damit über ei- ne machtpolitisch eindeutig aufgewertete Position als Ministerpräsident. Vgl. FAZ, analysis/20080408/104060504-print.html). 29.03.2008, S. 7. Vgl. auch RIA Nowosti, Vgl. auch FAZ, 11.04.2008, S. 7: Kleiner 08.04.2008: „Kommersant“: Tritt Medwe- Umbau, große Wirkung. Russlands Präsi- dew vorzeitig zurück? (http://de.rian.ru/ dent verliert Macht. - 13 -
Russland nach den Präsidentschaftswahlen ISUK.org die Existenz von Einflussgruppen inner- hörten und zum anderen mehrere Grup- halb der politischen Eliten, sprich: die E- pierungen, die sich aus administrativen, xistenz von miteinander konkurrierenden bürokratischen oder wirtschaftlichen Eliten Elitengruppierungen nichts an ihrer Be- zusammensetzen. Für die Jelzin-Zeit wur- deutung einbüßen. Diese Gruppierungen de z.B. eine Gruppe von Eliten (Alexander haben bei vielen Entscheidungen großen Woloschin, Michail Kasjanow, Roman Einfluss auf die Politik von Präsident Putin Abramowitsch, Oleg Deripaska), die sich gehabt und die unterschiedlichen Positio- um die Familie Boris Jelzins gruppierte, nen und Zielrichtungen mussten durch den als „Familie“ bezeichnet. Nachdem sich Präsidenten immer wieder aufs Neue un- Wladmir Putin jedoch gegen diese Eliten- tereinander austariert werden.30 gruppierung durchsetzen bzw. von ihrem Dieses Phänomen, das von Soziologen Einfluss lösen konnte, wird meist von den auch als „kompetitive Oligarchie“ oder „bü- „Silowiki“, den wirtschaftsliberalen „Refor- rokratischer Pluralismus“ bezeichnet wor- mern bzw. Juristen aus St. Petersburg“, den ist und das es bereits zu Sowjetzeiten den „Oligarchen“ und „regionalen Führern“ gab,31 zeichnet sich durch informelle Seil- als nach wie vor existierenden Gruppie- schaften aus, die die Politik – wenn auch rungen ausgegangen.32 in wechselnder Zusammensetzung – so- Wollte Medwedew den Einfluss dieser wohl unter Jelzin als auch unter Putin hin- Elitengruppierungen per se auf ein für de- ter den Kulissen entscheidend beeinfluss- mokratische Verhältnisse normales Maß ten und beeinflussen. Zu unterscheiden zurückschneiden, müsste er sich von dem sind zum einen ein innerer Zirkel der System der gelenkten Demokratie als sol- Macht, dem zu Beginn der ersten Amtszeit chem (siehe dazu den nächsten Abschnitt) Wladimir Putins frühere Weggefährten aus verabschieden. Will er sich hingegen nicht Geheimdienst und seiner Zeit in der Pe- von diesem System entfernen, sondern es tersburger Stadtverwaltung wie Dmitrij beibehalten, so folgt daraus zwingend, Medwedew, Igor Setschin, German Gref, dass er nicht eine Politik verfolgen kann, Wiktor Iwanow und Sergej Iwanow ange- die ausschließlich den Interessen und Po- sitionen einer einzelnen Gruppierung ent- 30 Als eines der wichtigsten Beispiele für den gegenkommt. Vielmehr muss er dann – Einfluss der Elitenzirkel auf Entscheidungen wie vor ihm Putin – zum einen auch die In- des Präsidenten können der Druck auf Pu- teressen der anderen Gruppierungen be- tin, im Amt zu bleiben, sowie die letztliche rücksichtigen und zum anderen muss er Entscheidung Putins in der Frage, welchen der möglichen Nachfolger für das Amt des dann in den stets hinter den Kulissen ab- Präsidenten er in seiner Kandidatur unter- laufenden Auseinandersetzungen zwi- stützen solle, angeführt werden. Demnach schen den unterschiedlichen Gruppierun- ist die Entscheidung für Medwedew und gen vermitteln bzw. als Schiedsrichter das Verbleiben Putins in der Regierung Russlands in aller erster Linie auf das fungieren, es sei denn Putin übernimmt für Betreiben von Elitengruppierungen und der ihn diese Funktion. Dies jedoch bedeutet Bürokratie zurückzuführen, die eine Minde- rung ihrer Macht und Einkommensmöglich- keiten nicht hinnehmen wollten. Dies ver- 32 Vgl. Mommsen, Margareta/ Nußberger, An- deutlicht zugleich, dass die formale Macht gelika, Das System Putin, S. 64-75. Vgl. des Präsidenten sich in der Praxis erheblich auch Schneider, Eberhard, Zu Geschichte reduziert. Vgl. dazu Götz, Roland, Putins und politischen Voraussetzungen von Par- Nachfolge: Rückschritt oder Fortentwick- laments- und Präsidentschaftswahlen in lung des politischen Systems, SWP- Russland, in: Europäische Akademie Berlin Diskussionspapier, 14.10.2007, S. 3. (Hrsg.), Russland vor den Duma- und Prä- 31 Vgl. Mommsen, Margareta/ Nußberger, An- sidentschaftswahlen und die Konsequen- gelika, Das System Putin, München 2007, zen für das Verhältnis zur Europäischen S. 63-65. Union, Berlin 2003, S. 18-33. - 14 -
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