Reparieren im Wandel der Konsumregime - Nomos eLibrary
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Reparieren im Wandel der Konsumregime Reparieren im Wandel der Konsumregime Bekleidung und Schuhe in Deutschland und Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs VON ANNE SUDROW Überblick In diesem Artikel werden die letzten Abschnitte der Produktlinie von Arte- fakten des täglichen Gebrauchs – die Pflege, Reparatur, Wiederverwertung und Sekundärnutzung – am Beispiel von Bekleidung und Schuhen in zwei der wohlhabendsten europäischen Länder untersucht. Die Jahre des Zweiten Welt- kriegs stehen dabei für eine spezifische Phase der Knappheit in den westlichen Industriegesellschaften, die mit vorangegangenen und nachfolgenden Phasen des relativen Wohlstandes verglichen werden muss. These ist, dass gerade die Analyse und der Vergleich von Organisation, Praktiken und Wertesystemen der Gebrauchserhaltung von Artefakten und Konsummustern zu einer mate- rialkulturellen und damit spezifisch technikgeschichtlichen Erweiterung des Konzeptes der „Konsumregime“ im 20. Jahrhundert beitragen können. Abstract This article explores the final phases of the product line of every day arte- facts – their maintenance, repair, recycling and secondary use – by discussing clothing and footwear as a case study. It examines the years of the Second World War as a period of scarcity in western industrial societies, which needs to be compared to periods of relative affluence or even material abundance. It is argued that an examination and a longer term and/or transnational com- parison of maintenance and repair practices, of moral systems, apparent in the patterns of use, and of the „disposability“ of everyday things, can provide better insights into the nexus of consumption and production in their differing cultural settings. This could be the basis for an extension of the concept of „consumption regimes“ in terms of material culture, and, ultimately, contribute to a history of technology that takes apparently mundane „things“ seriously. „Dinge“ statt „Technik“ – Gebrauch statt Innovation „Hören wir auf, über ‚Technik‘ nachzudenken, sondern machen wir uns über die ‚Dinge‘ Gedanken“, forderte jüngst der englische Technikhistoriker David Edgerton. Über den Gebrauch der Dinge, mit denen wir täglich umgehen, zu reflektieren, statt über ‚die Technik‘, verbinde uns als Historiker/innen „direkt mit der Welt, die wir kennen, anstatt mit der fremden Welt, in der ‚die Technik‘ Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 227 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Anne Sudrow lebt.“1 Statt immer nur das Neue, Innovative und oft als spektakulär Erfahrene und in den Quellen Beschriebene sollten Historiker/innen sich dem „Schock des Alten“ aussetzen und auch das Bewährte, lange Gebrauchte und alltäglich Funktionierende in den Blick nehmen. Eine solche Betrachtung von „Technik im Gebrauch“ könne unser Verständnis von Techniken und Technologien er- weitern und ihrer realen Bedeutung in der Gesellschaft, wo sie überwiegend als „alte Technik“ überdauert, eher gerecht werden.2 Betrachtet man also die „Dinge“ anstatt der „Technik“, so fällt der Blick auf ganz gewöhnliche Alltagsprodukte, Konsumgüter, die in der (deutschspra- chigen) Technikgeschichte trotz vieler gegenteiliger Forderungen immer noch ein stiefmütterliches Dasein fristen. Untersucht man die gesamte „Produktli- nie“ von Artefakten des täglichen Gebrauchs, gerade auch von vordergründig wenig „technisch“ erscheinenden Konsumgütern, wird deutlich, wie sehr auch ihre massenhafte Herstellung, Distribution und ihr Gebrauch bis hin zum Abfallproblem in den industrialisierten Gesellschaften Gegenstand techni- sierter Prozesse und technischer Vermittlung geworden sind. Es zeigt sich, dass auch eine einfache Plastikflasche, ein Brötchen oder ein Kleidungsstück zutiefst durch die industriellen Grundstrukturen geprägt sind. Somit ist zu vermuten, dass auch die Praktiken ihrer Instandhaltung und Reparatur jeweils historisch spezifischen Mustern folgten – in Abhängigkeit von politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie von den Anforderungen, die Gesellschaften jeweils an die Gebrauchsdauer der Produkte stellten. Die „Stoffströme“ und die Stoffnutzung zur Grundlage einer umwelt- und kon- sumhistorisch erweiterten Technikgeschichte zu machen, die dezidiert auch das Reparieren und das Recycling der Produkte als Teil der Ressoucennutzung einbezieht, forderte wiederholt Reinhold Reith.3 Am Beispiel der Analyse von „Produktlinien“ alltäglicher Artefakte lassen sich solche Einsichten in die sozialen und wirtschaftlichen Grundstrukturen der materiellen Kultur, in den Ressourceneinsatz und Austauschprozesse gegenwärtiger und vergan- gener Gesellschaften in ihrem Wandel gewinnen.4 Sie verdeutlichen weitere Dimensionen von „Technik im Alltag“, nachdem Historiker/innen bereits 1 David Edgerton, The Shock of the Old. Technology and Global History since 1900, London 2006, S. IX–XVIII, hier S. XVII (Übersetzung der Autorin). In diesem Buch geht der Autor in einem eigenen Kapitel auf die Instandhaltung (maintenance) von technischen Geräten, Rüstungsgütern und Informationsystemen ein; vgl. ebd., S. 75–102. 2 David Edgerton, From Innovation to Use: Ten Eclectic Theses on the Historiography of Technology, in: History and Technology 16, 1999, H. 2, S. 111–136. 3 Reinhold Reith, Recycling. Stoffströme in der Geschichte, in: ders. u. Sylvia Hahn (Hg.), Umwelt-Geschichte, Wien u. München 2001, S. 99–120; ders., Vom Umgang mit Rohstoffen in historischer Perspektive. Rohstoffe und ihre Kosten als ökonomische und ökologische Determinanten der Technikentwicklung, in: Wolfgang König (Hg.), Umorientierungen. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft im Wandel, Frankfurt a.M. 1994, S. 47–69. 4 Zum Konzept der historischen Produktlinienanalyse vgl. Anne Sudrow, Der Schuh im Na- tionalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich, Göttingen 2010, bes. S. 34–47. 228 Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Reparieren im Wandel der Konsumregime die „Implantierung“ technischer Geräte in den Haushalt, die Technisierung von alltäglichen Handlungsvollzügen, die Vermittlung von technischem An- wendungswissen, die soziale Markierung von Geschlechtergrenzen durch Technikperformanz sowie jüngst die Aneignung und „Ko-Konstruktion“ von technischen Konsumgütern durch ihre Nutzer/innen zum Gegenstand der Un- tersuchung gemacht haben.5 Durch die historische Produktlinienanalyse lassen sich Produktions- und Konsumgeschichte systematischer verknüpfen und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten untereinander sowie die unterschiedlichen Rationalitäten der jeweiligen Akteure genauer erfassen. Hier wird die These vertreten, dass die Untersuchung der Produktlinie und besonders ihrer letzten Abschnitte, der Pflege-, Reparatur- und Umnut- zungsprozesse von Konsumgütern, sowie der transnationale Vergleich zu einer materialkulturellen und damit technikhistorischen Erweiterung des Konzepts der „Konsumregime“ beitragen können.6 Neben der Produktivität der Unternehmen und dem Grad der Rationalisierung des Handels auf der Anbieterseite und der Kaufkraft bzw. Vorstellungen einer social citizenship, also dem Anspruch auf einen „angemessenen Lebensstandard“ auf Konsu- mentenseite, die Victoria de Grazia als Kennzeichen der von ihr diskutierten Konsumregime anführt, wären hierfür die Lebensdauer der Produkte und die vorherrschenden Wertesysteme und Praktiken im Umgang mit Alltagsgegen- ständen zu untersuchen. Gavin Lucas hat vorgeschlagen, die disposability von Dingen, also Mentalitäten und Praktiken der Beseitigung aus dem Haus- halt, des Beendens des Gebrauchs und der Wegwerfbarkeit, zu untersuchen. Lucas regte an, die sich wandelnden und zum Teil in Konkurrenz stehenden „Moralsysteme“ im privaten Haushalt, etwa von „Sparsamkeit“ (thrift) auf der einen und „Hygiene“ (hygiene) und „Bequemlichkeit“ (convenience) auf der anderen Seite zu untersuchen. Diese konkurrierten seiner Ansicht nach im 20. Jahrhundert beim Konsum von Alltagsgegenständen. Er zeigte, dass die physischen und symbolischen Prozesse des Entfernens von Gegenständen aus dem Haushalt – und damit auch die Entscheidung, wann ein Gegenstand 5 Martina Heßler, „Mrs. Modern Woman“. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Haushalts- technisierung, Frankfurt a.M. 2001; Heike Weber, Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld 2008; Karin Zachmann, Technik, Konsum und Geschlecht. Nutzer/innen als Akteure/innen in Technisierungsprozessen, in: Petra Lucht u. Tanja Paulitz (Hg.), Recodierungen des Wissens. Stand und Perspektiven der Geschlechterforschung in Naturwissenschaften und Technik, Frankfurt a.M. u. New York 2008, S. 69–86. 6 Victoria de Grazia konzentrierte sich mit dem von ihr geprägten Begriff des Konsumregimes auf den Bereich der Distribution und seine Auswirkungen auf den entstehenden Massenkon- sum in Westeuropa. Sie benannte für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Typen von Regimen: Das „fordistische“ Konsumregime, das sie mit den USA der Zwischenkriegszeit identifizierte, und das „bürgerliche“, das sie bis in die 1960er Jahre in Europa verbreitet fand. Vgl. Victoria de Grazia, Changing Consumption Regimes in Europe, 1930–1970, in: Susan Strasser, Charles McGovern u. Matthias Judt (Hg.), Getting and Spending. European and American Consumer Societies in the 20th Century, Washington D.C. 2001, S. 59–83. Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 229 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Anne Sudrow schließlich als verbraucht galt – für das Verständnis von Konsumprozessen ebenso aufschlussreich sind wie die Prozesse der Anschaffung.7 Als eine weitere Dimension des technikhistorisch erweiterten Konzepts unterschiedlicher Konsumregime können die von Reinhold Reith – in Anleh- nung an den Nationalökonomen Karl Bücher – vorgeschlagenen, wechselnden Relationen von Stoffwert und Formwert der Artefakte in die Untersuchung einbezogen werden.8 Der Formwert entfaltete in Kontexten des Wohlstands ein immer dynamischeres Eigenleben. Unmittelbar vor dem hier zu betrachtenden Zeitraum, seit den 1920er Jahren, veränderten sich deutlich der „Geschmack“ und die Anforderungen der Nutzer/innen an die Produkte. Mit der wachsen- den Bedeutung der Mode erhöhte sich die Frequenz von Modellwechseln im Konsum wie in der Produktion, besonders von körpernahen Gebrauchsgütern. Diese wurden nun nicht mehr „aufgebraucht“, sondern „veralteten“ bereits vor ihrem physischen Verschleiß, wurden in den Augen ihrer Nutzer „unmo- dern“. Ein Wandel der Konsummuster manifestierte sich also in wechselnden Verhältnissen von physischer und symbolischer Obszolenz der Produkte. Auf Seiten der Produktion entwickelten sich in Auseinandersetzung mit den modischen Bedürfnissen der Kunden unterschiedliche Produktformate, die Standard- oder Stapelware und das modische Produkt. Letzteres war oft aus billigeren Materialen in weniger haltbaren Konstruktionen hergestellt, genügte aber dafür höheren ästhetischen und sozialen Anforderungen – sei es, dass sie leichter, geschmeidiger, eleganter, repräsentativer, farbiger oder auf einen bestimmten Verwendungszweck spezialisiert waren.9 In allen diesen Dimensionen des Gebrauchs spielten unterschiedliche Vorstellungen der „Qualität“ von Produkten, Definitionen von Brauchbarkeit und die Möglichkeiten der Verlängerung der Lebensdauer von Produkten eine entscheidende Rolle. Damit rücken die Reparaturprozesse ins Zentrum der Untersuchung von Konsummustern, -praktiken und -mentalitäten. Sie sollen hier am Beispiel des Verhältnisses von (Neu-)Produktion, Reparatur und Wiederverwertung sowie der Umwertung und Umnutzung von alltäg- lichen Konsumgütern in einer Krisenphase der westlichen Industriegesell- schaften skizziert werden: in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Die für die Kriegswirtschaften am besten dokumentierten Gebrauchsgüter sind textile Bekleidung und Schuhwerk. Daher werden sie hier als empirische Beispiele für die allgemeine Entwicklung angeführt. Zunächst soll in diesem Beitrag die Ausgangslage umrissen und die immense Bedeutung der Reparatur für die Versorgung der Bevölkerung gezeigt werden. In beiden Ländern sind die Praktiken der Instandsetzung in den 1930er Jahren zu betrachten und zu 7 Gavin Lucas, Disposability and Dispossession in the Twentieth Century, in: Journal of Material Culture 7, 2002, Nr. 1, S. 5–22. 8 Reinhold Reith, Recycling im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. Eine Material- sammlung, in: Frühneuzeit-Info 14 , 2003, S. 47–65, hier S. 48. 9 Zum Konzept der Produktformate vgl. Sudrow (wie Anm. 4), S. 148ff. 230 Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Reparieren im Wandel der Konsumregime fragen, ob diese vergleichbar waren. Dann wird auf die spezifischen Ände- rungen dieser Routinen in den Kriegsjahren eingegangen. Dabei änderte sich auch der Kreis der Akteure, die für die Reparatur zuständig waren. Zentral für die Entwicklung der Lebensdauer der Konsumgüter und den Wandel der Stoffnutzung war die jeweilige Konsumpolitik Großbritanniens und des Deut- schen Reichs. Am Ende wird die Frage stehen, inwieweit mit dem Konzept der Konsumregime die Prozesse des Wandels, die nationalen Unterschiede und ihre Entwicklung in der Krisenzeit des Zweiten Weltkriegs im Hinblick auf eine Technikgeschichte des Konsums angemessen erklärt werden können. Konsum, Produktion und Reparatur vor 1939 Für die Versorgung mit Konsumgütern spielten die gründliche, regelmäßige Pflege sowie die Reparatur von schadhaft gewordenen Produkten in den 1930er Jahren eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dies galt in umso größe- rem Maße, je geringer das Haushaltsbudget einer Familie war. Während der Weltwirtschaftskrise beobachteten sowohl Schneider als auch Schuhmacher in Deutschland und Großbritannien, dass Konsument/inn/en ihre Kleider und Schuhe länger trugen und viel öfter reparieren ließen als vorher.10 Britische Pfandleiher beklagten, dass Kleidungsstücke, die vor dem Ersten Weltkrieg zu den am häufigsten gegen Bargeld verpfändeten Gegenständen gehörten, von den Konsumenten kaum noch aus der Hand gegeben wurden, da die Neu- anschaffung so teuer geworden war.11 Durch die Verarmung großer Teile der Bevölkerung verschob sich hier das bis dahin übliche Verhältnis der zwei Ab- schnitte der Produktlinie von Gebrauch und Sekundärnutzung, die jeweils mit Reparaturen verbunden waren. Bislang wurden hochwertige, gebrauchte Klei- dung und Schuhe an Gebrauchtwarenhändler, die oft als ambulante Händler („Hausierer“) oder auf Märkten ihre Ware darboten, verkauft und konnten dort als reguläres Handelsgut von weniger begüterten Kunden erstanden werden. Nun trugen männliche Verbraucher ihre Kleidung und Schuhe oft selbst bis zum Verschleiß – mittels mehrmaliger und vielgestaltiger Reparaturarbeiten.12 Bei der Bekleidung waren das Stopfen und Aufsetzen von textilen Flicken, 10 Für Deutschland vgl. Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Das deutsche Handwerk (Hg.), Sonderuntersuchungen (IV.) über das Schuhmacher- und (V.) Schneiderhandwerk, Berlin 1930, S. 245–343 u. 345–469; für Großbritannien vgl. Laura Ugolini, Men and Menswear. Sartorial Consumption in Britain, 1880–1939, Aldershot 2007, S. 155–200. 11 Vgl. Ugolini (wie Anm. 10), S. 171. Ein weiterer Grund hierfür war aber auch die wach- sende Bedeutung modischer Modellwechsel, die die alten Standardwaren in den Augen der Konsumentinnen schneller veraltet erscheinen ließen. 12 Für Großbritannien vgl. ebd., S. 203–212. Für Deutschland: Ein Schneidermeister berichtete vor dem Ausschuss von 1930: „In meinem Geschäft kamen früher sehr selten Reparaturar- beiten vor, aber heute werden die Anzüge, wenn sie abgetragen sind, noch einmal durchre- pariert. Früher wurden sie an den Altwarenhändler verkauft.“ Vgl. Ausschuss, Handwerk (wie Anm. 10), S. 389, 392 u.v.a. Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 231 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Anne Sudrow Knöpfen etc., das Wenden und Umschneidern von textilen Gegenständen, die Änderung der Passform von Kleidungsstücken und die Erneuerung von Säumen und Futtern die wichtigsten Reparaturmaßnahmen.13 Beim Schuhwerk bestand die Reparatur entweder im „Riestern“, d.h. in Ausbesserungen durch Flicken am Oberleder, in der Erneuerung von Nähten oder in verschiedenen „Bodenarbeiten“, d.h. Ausbesserungen an der Sohle, der Verbindung von Sohle und Schaft oder am Absatzleder bzw. Absatzeisen. Bei knappen Mitteln war die Tatsache, dass die Lebensdauer von Lederschuhen bei gründlicher Pflege um das Fünf- bis Zwanzigfache erhöht werden konnte, von großer Bedeutung.14 Bei den weiblichen, deutschen Verbrauchern erhöhte sich der Reparaturbedarf nach Aussagen der Schneider in der Weltwirtschaftskrise kaum. Dies hing mit den geschlechterspezifischen Konsummustern zusammen. Bei Frauen gab es in der Zwischenkriegszeit eine allgemeine Entwicklung hin zu Modewaren und zu bedeutend schnellerem Modellwechsel bei Konfektionskleidung und billigeren Damenschuhen, während Männer meist weiterhin über lange Zeit unveränderte Standardwaren trugen. Doch ließen Frauen, diesem Trend fol- gend, nun öfter Produkte umändern.15 Im Jahrzehnt vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden zwei quantitati- ve Studien, die unter anderem die Bedeutung der Reparatur in deutschen Haushalten untersuchten. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre stellte das Arbeitswissenschaftliche Institut der Deutschen Arbeitsfront zur Vorberei- tung der nationalsozialistischen Konsumlenkung Haushaltsbudgetstudien in 3.000 Arbeiterhaushalten an.16 Wie die Forscher feststellten, floss etwa ein Drittel bis zur Hälfte aller Ausgaben für die Fußbekleidung in die In- standsetzung gebrauchter Schuhe. Dies war gegenüber der Neuanschaffung ein sehr bedeutender Anteil. Dieser lag bei Schuhen noch höher als bei der Bekleidung. Das Statistische Reichsamt errechnete in den Jahren 1927/28 in 2.000 deutschen Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalten (also in drei verschiedenen Einkommensgruppen) die Ausgaben für Bekleidung und Schuhwerk. Danach entfiel bei Oberbekleidung und Wäsche etwa ein Viertel der Ausgaben auf die Reparatur. Für die Reparatur von Schuhen brachten alle drei Einkommensgruppen anteilsmäßig rund 40 Prozent der Gesamtausgaben 13 Vgl. Hedwig Gamm, Das Flickbuch, Leipzig 1919. 14 Zu dieser Zeit wurden für die Pflege entweder Stiefelwichse, Schuhcreme, Lederfett oder Lederöl verwendet. Vgl. Hermann Naegele, Entwicklung und Produktionsfaktoren der deutschen Schuh- und Lederpflegemittelindustrie, Erlangen 1944, hier S. 50ff. 15 Ausschuss, Handwerk (wie Anm. 10), S. 390; Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Hg.), Die Deutsche Schuhindustrie, Berlin 1930, S. 110. 16 Die DAF konnte sich dabei auf bereits ältere Untersuchungen des Haushaltsbudgets verschie- dener Einkommensgruppen in der Weimarer Republik und längerfristig angelegte Forschun- gen, vor allem der Wiener Haushaltsstatistik und der Wiener „Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“, stützen. Vgl. Arbeitswissenschaftliches Institut der Deutschen Arbeitsfront (Hg.), Beiträge zur Statistik der Lebenshaltung des deutschen Arbeiters, Berlin 1940. 232 Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Reparieren im Wandel der Konsumregime für die Fußbekleidung auf.17 Der deutliche Unterschied zwischen der textilen Bekleidung und Schuhen ist darauf zurückzuführen, dass die Ausbesserungen bei der Bekleidung im Wesentlichen die Hausfrau selbst ausführte und sich damit ihre produktive Arbeit auf den Kleidungsetat auswirkte.18 Beim kom- plexeren Schuhwerk dagegen war die Reparatur durch eine haushaltsexterne, handwerkliche Fachkraft nötig.19 Diese Diskrepanz weist auf die wichtige Frage hin, welche Akteure ei- gentlich Reparaturen ausführten. Wer besaß die handwerkliche Kompetenz, Ausbesserungen an Gebrauchsgegenständen durchzuführen? Oder wem sprachen die Nutzer/innen diese Aufgabe zu? Da diese Fertigkeiten geschlech- terspezifisch zugeschrieben wurden, unterschied sich dies bei den Reparateu- ren von Oberbekleidung, die meist weiblich, und bei den Reparateuren von Schuhen, die meist männlich waren.20 Im Zweiten Weltkrieg, wie bereits im Ersten Weltkrieg, erweiterte sich der Kreis dieser Akteure erheblich. Neben die für die Neuherstellung ausgebildeten, aber meist in der Reparatur tätigen Handwerker sollten Industriearbeiter und Zwangsarbeiter treten. Doch auch Laien eigneten sich – in Folge staatlicher Initiativen und Vermittlung – zu- sätzliche Reparaturfertigkeiten an. Im Handwerk war die Frage der Fachkompetenz für die Reparatur bereits in den Jahren der Weltwirtschaftskrise Gegenstand von Kontroversen. Noch um 1930 wurde der größte Teil der Reparaturen in Deutschland im innungsmäßig organisierten Handwerk durchgeführt.21 Während das Schuhmacherhandwerk nur noch einen Anteil zwischen 3 und 6 Prozent der Neuproduktion von Le- derschuhen bestritt – 1875 waren es noch 90 Prozent gewesen –,22 führten Schuhmacher zu diesem Zeitpunkt überwiegend Reparaturen durch.23 Solche Handwerksbetriebe, insgesamt rund 153.000 (1939), waren ganz überwiegend Alleinbetriebe oder Betriebe eines Meisters mit nur einem oder sehr wenigen Gesellen und Lehrlingen. Sie beschäftigten kurz vor Kriegsbeginn noch rund 220.000 Arbeitskräfte, während in der Neuschuhproduktion (Schuhindustrie) rund 112.000 Arbeitskräfte tätig waren.24 Allein daran wird die große Bedeu- 17 Statistisches Reichsamt, Die Lebenshaltung von 2.000 Arbeiter-, Angestellten- und Beam- tenhaushaltungen. Erhebung von Wirtschaftsrechnungen im Deutschen Reich vom Jahre 1927/28, Berlin 1932, S. 55. 18 Vgl. dazu Sigrid u. Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltags- und Sozialgeschichte Deutsch- lands 1900–1945, Münster 1995, S. 303f. 19 Vgl. Statistisches Reichsamt (wie Anm. 17), S. 52–55. 20 Die Schneidereien wurden in den frühen 1930er Jahren jedoch in Herren- und Damen- schneider unterschieden. Die Betriebe wurden jeweils auch meist von Männern bzw. Frauen geleitet. Vgl. Ausschuss, Handwerk (wie Anm. 10), S. 351–359. 21 Vgl. Ausschuss, Handwerk (wie Anm. 10), S. 260. 22 Richard Stade, Der Niedergang des Schuhmacherhandwerks als Produktionsgewerbe, Halle 1932, S. 80 u. 154ff. 23 Ausschuss, Handwerk (wie Anm. 10), S. 249. 24 Archiv des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Berlin, Rep. 308, Nr. 1ÜF, Bl. 77: Reichsstand des Deutschen Handwerks, Betriebsstätten- und Beschäftigtenzahlen Juli 1939 Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 233 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Anne Sudrow tung der handwerklichen Reparatur für die Versorgung der Bevölkerung mit Schuhwerk ersichtlich. In Großbritannien ergab eine Zählung von Schuh- reparaturbetrieben im Sommer 1942 dagegen nur 37.000 Betriebe. Dazu zählten 27.000 Ein-Mann-Betriebe und 400 Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten. Dies war insgesamt nur etwa ein Viertel der Zahl von Repa- raturbetrieben im Deutschen Reich.25 In Großbritannien wurden gebrauchte Schuhen vor allem in den Schuhfabriken ihrer Herkunft neu besohlt. Ein kleinbetriebliches Reparaturhandwerk existierte auf den britischen Inseln nur noch sehr begrenzt. Die Reparatur hatte in Großbritannien also bereits in den 1930er Jahren überwiegend großbetrieblichen Charakter und wurde von industriellen Facharbeitern ausgeführt. Dies hieß allerdings nicht, dass tat- sächlich alle Reparaturen von gewerblichen Fachleuten geleistet wurden. Die ärmsten Konsument/inn/en schritten selbst zur Tat. Dabei waren der Fantasie des Notbehelfs keine Grenzen gesetzt: Flicken aus Stoffresten aller Art hielten die Alltagskleidung von Erwachsenen und Kindern notdürftig zusammen. Arbeitslose legten Kartonstücke und Zeitungen in durchgelaufene Sohlen oder benagelten Absätze mit Leder, Gummistücken oder gar Blechresten.26 Mit zusätzlichen Riemen wurden zu große oder zu kleine Gebrauchtschuhe passend gemacht. Offenbar entdeckten während der Weltwirtschaftskrise auch wohlhabendere Konsument/inn/en die Eigenreparatur als Möglichkeit, die immer knapperen Haushaltsmittel zu sparen. Deutsche Warenhäuser boten seit den frühen 1930er Jahren Gummiabsätze mit vorgeformten Löchern an, die auf den abgelaufenen Lederabsatz aufgeschraubt werden konnten. Zusammen mit den dazu benötigten Werkzeugen fanden sie bei männlichen Konsumenten reißenden Absatz. Näh- und Stopfgarne, Farben zum Umfärben von Stoffen sowie die neuen „Schnittmuster“ für das „Eigenkleid“ zählten dagegen zu beliebten Warengruppen für weibliche Kunden.27 Näh- und Stopftechniken („Nadelarbeit“) zu lernen, gehörte in Großbritannien wie Deutschland für alle Mädchen und jungen Frauen zum Kanon der bürgerlichen Erziehung.28 Den bis Mai 1943: Schuhmacher; Bundesarchiv Berlin (BA), R 13 XIII, Nr. 195; R 12 XIII, Nr. 199. 25 In Großbritannien gab es vor dem Krieg keinerlei zentrale Information über die Anzahl der Schuhreparaturbetriebe. Erst 1942 erfasste das Board of Trade alle Reparaturbetriebe. 3.000 Betriebe wurden im Nebenerwerb betrieben. Die Zahl änderte sich bis Kriegsende kaum. Vgl. National Archives (NA/PRO) London, BT 131, Nr. 43: Repairs. Civilian Footwear (1941–1945); The Shoe Industry’s War Effort. The Problem of Repairs. 37.000 Units Under Control, in: Shoe and Leather News v. 27. 12. 1945, S. 32. 26 Vgl. z.B. Gundula Rentrop, Von Siebenmeilenstiefeln und Klapperlatschen. Die wunderbare Welt der Schuhe. Kultur-, handwerks- und regionalgeschichtliche Aspekte eines Kleidungs- stücks, Syke 2005, S. 46f.; Ugolini (wie Anm. 10), S. 119. 27 Vorgänge auf dem Gebiete des Schuhreparaturgeschäfts, in: Schuhfabrikantenzeitung v. 6. 5. 1933, S. 8; Jacobeit (wie Anm. 18), S. 298f.; Ausschuss, Handwerk (wie Anm. 10), S. 349–351. 28 Suzanne Griffith, Stitching for Victory, Stroud 2009, S. 68ff; Jacobeit (wie Anm. 18), S. 298f. 234 Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Reparieren im Wandel der Konsumregime Fachleuten des Schneiderhandwerks war es eher ein Dorn im Auge, dass die „Hausschneiderei“ durch obligatorische Kurse an Hauswirtschaftsschulen und auch durch das Angebot von „Schnellkursen“ im Schneidern durch Wa- renhäuser und Stoffhändler gefördert wurde. Das Interesse, wenn auch nicht unbedingt die Fertigkeiten, von jungen Frauen an der eigenen Herstellung und Reparatur seien in den letzten Jahren gestiegen.29 Im Verlauf der 1920er Jahre und in Folge der Weltwirtschaftskrise hatten die kleinbetrieblichen Reparateure in Deutschland Konkurrenz auch von neuartigen Betriebsformen erhalten: von den „Schnellschuhsohlereien“ oder „Schnellbesohlanstalten“ für Schuhe bzw. den „Schnellbügelanstalten“ oder großen Reparaturwerkstätten für Bekleidung. Hier wurden mit einer für das Handwerk zu dieser Zeit noch unüblich hohen Maschinenausstattung und Ar- beitsteilung Kleidungsstücke geflickt, wieder in Form gebracht und gebrauchte Schuhe neu besohlt.30 Den Schuh in einer Schnellbesohlanstalt reparieren zu lassen, kostete nach zeitgenössischen Berechnungen 20 bis 40 Prozent weni- ger als bei einem Handwerker.31 Die Angehörigen von Beschäftigten großer Unternehmen konnten auch noch die sogenannten Regiebetriebe in Anspruch nehmen: Vor allem Staats- und städtische Versorgungsunternehmen unterhiel- ten solche eigenen Reparaturanstalten, aber auch große Industrieunternehmen und Bergwerks- und Hüttenbetriebe.32 Dort wurden Ausbesserungen für die Arbeiter und Angestellten von der Firma bezuschusst und praktisch zum Selbstkostenpreis durchgeführt.33 Das Schneider- wie das Schuhmacherhand- werk empfanden die Reparaturgroßbetriebe als bedrohliche Preiskonkurrenz und waren in der Weimarer Zeit beständig bestrebt, deren Zahl staatlich begrenzen zu lassen. Die Wirtschaftskrise wurde Anfang der 1930er Jahre vor allem als eine „Überbesetzung“ der beiden Handwerke wahrgenommen. Auch die häufige Schwarzarbeit von arbeitslosen Gesellen außerhalb der Meisterbetriebe, die zu geringeren Preisen Reparaturen ausführten, galt mehr als auslösender Faktor der Krise denn als ihre Folge. Unmittelbar nach 1933 führten die Nationalsozialisten gesetzliche Maß- nahmen ein, die für das Reparaturhandwerk als Teil des Mittelstandes, der von der NSDAP in ihrer Aufstiegsphase hofiert wurde, kurzzeitig eine Stabilisie- rung der wirtschaftlichen Situation brachte. Im Mai 1933 wurden zunächst 29 Ausschuss, Handwerk (wie Anm. 10), S. 394, 396 u. 403. 30 3,2 Prozent aller Schuh-Reparaturbetriebe in den Großstädten waren 1929 Schnellbesohl- anstalten. Vgl. ebd., S. 264, 350 u. 364. 31 Ebd., S. 341. 32 Dies waren etwa die Deutsche Reichsbahn und Reichspost, kommunale Polizeiämter und Feuerwehren, Krankenhäuser, Gefängnisse, Konsumvereine, Gewerkschaften, Studenten- werke und Hafenbauämter. In der Zeit der großen Arbeitslosigkeit wurden solche Groß- werkstätten für die Schuhreparatur auch von Arbeitsämtern und Institutionen der städtischen Wohlfahrtspflege betrieben. Vgl. ebd., S. 295. 33 Der Reichsverband Deutscher Schuhmachermeister schätzte 1929 die Anzahl auf 1.000 solcher Regiebetriebe im Reich; ebd., S. 263 u. 272. Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 235 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Anne Sudrow für Reparaturen in vielen Städten Deutschlands „Mindestpreise“ festgesetzt, um die „ungesunden Verhältnisse zugunsten des Handwerks zu bessern“, das von der Wirtschaftskrise besonders hart betroffen war.34 Noch 1935 waren die Schuhmacher-Kleinbetriebe der Handwerkszweig mit den geringsten Netto- Einkünften unter allen Handwerken, dicht gefolgt von den Damenschneidern, während sie nach Betriebszahlen den drittgrößten respektive größten Hand- werkszweig darstellten.35 Mit der Einführung des „Großen Befähigungsnach- weises“ im Januar 1935 entsprach die NS-Regierung der Forderung vieler Handwerksverbände, dass nur handwerklich ausgebildete Fachkräfte berechtigt sein sollten, Reparaturen auszuführen.36 Dieser legte gesetzlich fest, dass nur noch geprüfte Meister eines Handwerks selbstständig einen Betrieb führen konnten. Dies sollte einerseits die Konkurrenz durch arbeitslose Gesellen und andererseits die großbetrieblichen Formen der Reparatur beschränken. Eine Zeitlang durften keine großbetrieblichen Reparaturwerkstätten mehr eröffnet werden. Bis Kriegsbeginn nahm deren Zahl daher ab, während in der Zeit des Zweiten Weltkriegs großbetriebliche Reparaturformen aus Gründen der Rati- onalisierung und der „Auskämmungen“ im Handwerk wieder an Bedeutung gewannen. Der „Große Befähigungsnachweis“ regelte auch, dass die Preise für Reparaturen vereinheitlicht und für die Kunden sichtbar im Schaufenster ausge- stellt werden mussten.37 Für die Konsumenten waren aber Preissteigerungen die Folge.38 Für die Reparaturhandwerker wurde die anfängliche Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation bald durch andere Maßnahmen der NS-Regierung und durch die Qualitätsverschlechterungen der Produkte nach Einführung des zweiten NS-Vierjahresplanes im Herbst 1936 wieder konterkariert. Kriegswirtschaft, Qualitätsmanagement und Verbrauchslenkung Ab Beginn des Zweiten Weltkriegs spielte die jeweilige Konsumpolitik in Deutschland und Großbritannien für das Verhältnis von Neukauf, Reparatur und Wiederverwertung eine entscheidende Rolle. Beide Regierungen schränk- ten einerseits die Konsumgüterproduktion ein, um Arbeitskräfte und meist aus dem Ausland bezogene – und daher knappe – Rohstoffe zu sparen und möglichst effizient für die Rüstung zu nutzen.39 Andererseits regulierten sie 34 Vorgänge auf dem Gebiete des Schuhreparaturgeschäfts, in: Schuhfabrikanten-Zeitung, Nr. 36 v. 6.5.1933, S. 8. 35 Vgl. Reinhold Schulz, Die Größenordnungen der Handwerkswirtschaft, in: Deutsches Handwerk 8, 1939, Nr. 15, S. 203–207, hier S. 204 u. 206. 36 Vgl. Dritte Verordnung über den vorläufigen Aufbau des deutschen Handwerks v. 18.1.1935, RGBl. I, S. 14. Zur Entwicklung des Handwerksrechts im Nationalsozialismus s. Heinrich Kolbenschlag, Kurt Leßmann u. Richard Stücklen (Hg.), Die neue Handwerksordnung, Köln 1954, S. 7. 37 Vgl. Die Preisentwicklung des Handwerks im Jahre 1935, Berlin 1936, S. 21f. 38 Vgl. Sudrow (wie Anm. 4), S. 457–462. 39 In beiden Ländern wurde etwa die Hälfte der Schuhindustriebetriebe bis Kriegsende still- gelegt. In Großbritannien war die Konzentration der Produktion bereits im Sommer 1942 236 Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Reparieren im Wandel der Konsumregime die Neuherstellung von Gütern des täglichen Bedarfs und kontrollierten und lenkten durch eine Rationierung der wichtigsten Konsumgüter in gewissem Umfang den Verbrauch.40 Diese staatlichen Maßnahmen hatten unmittelbare Auswirkungen auf das Gebrauchsverhalten der Nutzer/innen und führten zu einer steigenden Bedeutung der Reparatur für die Versorgung ziviler und militärischer Verbraucher in den beiden Volkswirtschaften. Für die Konsumgüterindustrien beider Länder galt ab Beginn des Zweiten Weltkriegs, dass sie die Neuherstellung auf „notwendige“ Produkte zu kon- zentrieren hatten. Die Prioritäten der Versorgung lagen in Deutschland beim Militär und beim männlichen Verbrauch, während in Großbritannien zivile weibliche und minderjährige Konsumenten Vorrang genossen. In Deutsch- land setzte die staatliche Konsumlenkung im Zuge der frühen Aufrüstung bereits vor dem Krieg, verstärkt seit Ende 1936 ein. Der weibliche Konsum sollte auf den Gebrauch von Waren umgelenkt werden, deren Produktion keine Importrohstoffe erforderte und die in großen Serien hergestellt werden konnten. Eine für die Verbraucher anfangs fast unmerkliche Durchsetzung von Ersatzstoffen für Leder bei der Herstellung von zivilen Schuhen und für Baumwolle und Wolle in der textilen Bekleidung begann. Dies war mit einer immer effektiveren Modelenkung, d.h. einer unternehmensübergreifenden Vereinheitlichung von Modellen durch die Firmen selbst, verbunden. Für die Konsumentinnen bedeutete dies immer geringere Möglichkeiten, qualitativ hochwertige oder modischen Ansprüchen genügende Produkte zu erstehen. Bereits wenige Monate nach Beginn der Rationierung kam es in den Lan- deswirtschaftsämtern, die Bezugscheine für Schuhe ausgaben, zu ans Absurde grenzenden Kontrollmaßnahmen der deutschen Behörden gegenüber den Konsument/inn/en. An den Konflikten, die sich auf den Versorgungsämtern abspielten, werden vor allem die weiblichen Konsumentinnen als eigensinnige Akteure erkennbar, die durchaus andere Vorstellungen von ihrem legitimen Bedarf an Schuhwerk hatten als die NS-Wirtschaftsplaner. Ab 1941 gingen die Wirtschaftsämter dazu über, vor Zuteilung von Bezugscheinen eine sogenannte „Nachschau an Ort und Stelle“ vorzunehmen. Diese bestand in Überraschungs- besuchen in den Wohnungen der Antragssteller, um deren tatsächlichen Bedarf an Schuhen zu überprüfen.41 In einem Drittel der Fälle stellten die Beamten bei der Prüfung angeblich „falsche oder unvollständige Angaben“ der angegebe- nen Schuhbestände fest. Die Behördenvertreter waren zutiefst empört über das abgeschlossen, gegenüber 1944 in Deutschland. Vgl. BA Berlin, R 13 XIII, Nr. 195; Na/ Pro London, BT 131, Nr. 102: J. Hurstfield, The Leather Control. An Account of the Work of the Control during the War 1939–1945. 40 Die Rationierung von Konsumgütern dauerte in Deutschland von November 1939 bis Mai 1949, in Großbritannien von Juni 1941 bis 1952. 41 BA Berlin, R 10 VI, Nr. 31: Der Oberbürgermeister der Reichshauptstadt Berlin, Haupt- wirtschaftsamt, an den Reichswirtschaftsminister, Betr.: Nachschau an Ort und Stelle bei Anträgen auf Erteilung von Bezugscheinen, Runderlass Nr. 644/41 LWA, v. 27.2.1942 und andere Dokumente aus dieser Akte. Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 237 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Anne Sudrow Verhalten der Verbraucher. Rund 40 Prozent der Anträge hatten sich bei dieser Stichprobe in den Augen der Beamten „als unberechtigt herausgestellt“. „Jeder 3. Bezugsschein für Frauenschuhe und jeder 5. für Männerschuhe“ sei derzeit „erschwindelt“. In einzelnen Fällen hätten „Frauen bis zu 4 Paar tragfähige Schuhe“ vor den Behördenvertretern „verheimlicht“. Dies zeige, „dass viele Verbraucher ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesamtversorgung und bar jeden Verständnisses für die Notwendigkeit persönlicher Einschränkung ihre egoistischen Ansprüche zu befriedigen versuchen“. Die Beamten griffen zu weiteren „Nachschauen“ einige Wochen nach der Antragstellung, da sich die Maßnahme „schnell in der Bevölkerung herumspricht und dann schon vor der Antragstellung die zuviel vorhandenen Schuhe beiseite geschafft“ würden. Schließlich kontrollierten sie sogar Schuhmachereibetriebe auf Reparaturschuhe. Ausländische Beobachter in England und den USA sahen diese Schikanen gegen Schuhverbraucherinnen mit Kopfschütteln über die „charakteristische deutsche Gründlichkeit“ in der Versorgungspolitik. Dies führe in der Verteilungspraxis offensichtlich zu „großem Zeitverlust“ für die Verbraucher, die „große Irritation unter der Bevölkerung hervorrief“. Sie ergab außerdem kein klares Bild von dem wirklichen Bedarf der Bevölkerung.42 In Großbritannien hatte jede/r Verbraucher/in Anspruch auf Schuhe gegen die entsprechende Anzahl Punkte aus einem Clothing Ration Book.43 Als Kernproblem der Konsumpolitik in Zeiten der Knappheit und der zentralen Ressourcenbewirtschaftung erwies sich in beiden Ländern bereits im Ersten Weltkrieg die Qualität der Güter. Eine zentrale konsumpolitische Maßnahme, zu der die Wirtschaftsplaner in beiden Ländern griffen, war es daher, die Qualität der Konsumgüter zu steuern. Dies geschah einerseits über die staatlich kontrollierte Einführung von Ersatzstoffen und andererseits über die Entwicklung von Standardwaren in zentralen Bereichen der Konsum- güterversorgung. Die Regierungen nahmen dabei – mit unterschiedlichem Erfolg – durch konsum- und industriepolitische Maßnahmen Einfluss auf die Lebensdauer der Produkte. Die Entwicklung von Standardwaren und die Erschwinglichkeit von Gebrauchsgegenständen, die einem Kanon von Mindestansprüchen genügten, wurden von beiden Regierungen als ein Mit- tel der Sozialpolitik eingesetzt. Die deutsche Regierung reagierte auf die Rohstoffknappheit mit der Förderung der Entwicklung von Ersatzstoffen durch die Firmen. Die künstliche Vermehrung der Materialmenge hielt die quantitative Verfügbarkeit der Konsumgüter auf einem relativ hohen Niveau, setzte aber deren Qualität stark herab. Dagegen begegneten die britischen 42 Lothrop Stoddard, Into the Darkness. A Sympathetic Report from Hitler’s Wartime Reich, New York 1940, S. 92; Archiv des Imperial War Museum London, K 10116, S. 2: Reference Division (Foreign Information), Ministry of Information, Deterioration in German Clothing Rations, 31.1.1942. 43 Eric Hargreaves u. Margaret Gowing, Civil Industry and Trade. History of the Second World War, Bd. 18, London 1952, S. 484–497. 238 Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Reparieren im Wandel der Konsumregime Organisatoren der Kriegswirtschaft der Materialknappheit mit einer frühen Standardisierung, vor allem mit produktgestalterischen Mitteln, mit qualita- tiven Mindeststandards der Waren und einer staatlichen Qualitätskontrolle der Produkte. Sie erreichten somit – bei quantitativer Einschränkung der Produktion – eine qualitative Verbesserung der Konsumgüter. In Deutschland entsprach die staatliche Politik dem Interesse der herstellenden Industrie an einer Aufrechterhaltung des Produktionsniveaus. In Großbritannien orientierte sich die Konsumpolitik dagegen vor allem am Interesse der Konsument/inn/en an qualitativ hochwertigen Produkten.44 Zu einer Standardisierung von Mo- dellen und unternehmensübergreifender Typisierung aller Schuhformen kam es daher in Deutschland – nach langer Weigerung der Industrie – erst 1944. In Großbritannien begann diese, ebenfalls gegen den Widerstand der Unterneh- men, dagegen bereits im Juni 1941 als Teil eines umfassenden Programms der Standardisierung von Konsumgütern, den sogenannten Utility Schemes.45 In Großbritannien umfasste diese Standardisierung auch die textile Zivilbe- kleidung, in Deutschland dagegen nicht, mit Ausnahme von Bekleidung für KZ-Häftlinge und ausländische Zwangsarbeiter.46 Während die britischen Konsumenten in „Männer“, „Frauen“ und „Kinder“ unterteilt wurden, gab es im Deutschen Reich die Bedarfsgruppen „Männer“, „Frauen“, „Burschen und Mädchen“, „Kinder“ und „Juden“. Anspruch auf Versorgung (nach „Normalbedarf“) hatten alle Gruppen, mit Ausnahme von „Juden“.47 „Juden“ durften sich nur über den Erwerb von minderwertigen, d.h. nichtledernen, sowie von gebrauchten Schuhen oder Bekleidungsstücken, sogenannten „Altwaren“, versorgen. Gleiches galt für die anderen aus der deutschen „Volkgemeinschaft“ ausgegrenzten Gruppen, die aus politischen, rassistischen, religiösen und anderen Gründen Verfolgten sowie die auslän- dischen Zwangsarbeiter. In Großbritannien lag der Normalbedarf von Lederschuhen mit 1,8 Paar Lederschuhen im Jahr pro Kopf der Bevölkerung etwas höher als im Deut- schen Reich (1,2 Paar).48 Dort war das Verhältnis von Neukauf zu Reparatur von Kleidung und Schuhen etwas mehr vom elastischen Bedarf bestimmt. In Großbritannien fallen die Entstehung der Konsumforschung und erste, 44 Vgl. dazu ausführlich Sudrow (wie Anm. 4), S. 643–703 u. 745–786. 45 Judy Attfield (Hg.), Utility Reassessed. The Role of Ethics in the Practice of Design, Man- chester 1999; Christopher Sladen, The Conscription of Fashion. Utility Cloth, Clothing and Footwear, 1941–1952, Aldershot 1995. 46 Bärbel Schmidt, Geschichte und Symbolik der gestreiften KZ-Häftlingskleidung, Oldenburg 2000; Kleidung und Schuhe für Ostarbeiter, in: Deutsche Kohlenzeitung 61, 1943, Nr. 15, 3.8.1943. 47 Joseph Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetz- lichen Maßnahmen und Richtlinien. Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 1996, S. 312 u. 316; Wolf Gruner, Poverty and Persecution. The Reichsvereinigung, the Jewish Population, and Anti-Jewish Policy in the Nazi State, 1939–1945, in: Yad Vashem Studies 27, 1999, S. 23–60. 48 Vgl. Sudrow (wie Anm. 4), S. 463 u. 655. Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 239 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Anne Sudrow großflächige empirische Studien zum Konsumniveau und den Konsum- mustern von Bekleidung und Schuhen in die Zeit des Zweiten Weltkriegs.49 Konsumforscher der Organisation Mass-Observation, die im Rahmen der Kriegswirtschaftsplanung den Bedarf an Schuhen und Kleidungsstücken der Bevölkerung erhoben, stellten im April 1941 erhebliche Unterschiede in der Ausstattung mit den lebenswichtigen Gebrauchsgütern in verschiedenen sozialen Schichten fest. Besser betuchte, männliche Konsumenten waren mit etwa doppelt so vielen Paar Lederschuhen ausgestattet und weibliche sogar mit dreimal so vielen wie ungelernte Arbeiter und ihre Frauen. In den Un- terschichten hatte zu Beginn der Rationierung nur ein Fünftel der Befragten Kleidungsstücke im Schrank, die nicht bereits täglich in Gebrauch waren, bei den Wohlhabenderen ein Drittel.50 Ärmere Konsumenten tendierten nach Angaben der Sozialwissenschaftler dazu, billigere Produkte zu kaufen, deren Lebensdauer gering war. Sie hatten daher einen hohen Reparaturbedarf sowie schneller wieder einen Neubedarf als die Verbraucher, die sich teurere Waren leisten konnten. Die untersten Schichten der Bevölkerung traten damit in der Kriegswirtschaft als besonders versorgungsbedürftig in das Blickfeld der britischen Planer. Wie die Studien der staatlichen Consumer Needs Section, einer neuen wissenschaftlichen Abteilung des Wirtschaftsministeriums, ergaben, nutzten die untersten Einkommensgrup- pen in großem Maße den Second-Hand-Kauf auf Märkten, um an hochwertige Lederschuhe und Kleidungsstücke zu einem geringeren Preis zu gelangen. Sie traten so als Sekundärnutzer der gebrauchten Gegenstände der Begüterten in Erscheinung. Diese Gebrauchtwaren waren in der Kriegswirtschaft weiterhin unrationiert erhältlich und spielten eine wichtige Rolle für die Versorgung.51 Alle von Mass-Observation befragten Konsument/inn/en ließen ihre Schuhe zwei- bis viermal im Jahr neu besohlen. Die staatliche Preislenkung hatte daher auch bei den Reparaturen hohe Priorität. Im Juli 1941 wurden die Preise für Schuhreparaturen eingefroren und die Preise für den Handel mit gebrauchten Schuhen staatlich begrenzt.52 Im Oktober 1942 richtete das Wirtschaftsminis- terium die zentrale Lenkungsbehörde eines Director of Footwear Repairs für militärische und zivile Zwecke ein. Der militärische Bedarf an Reparaturen überstieg nie 10 Prozent des Gesamtaufkommens.53 Die Reparaturen von Ar- meeschuhen wurden auf die einzelnen Regionen verteilt. Auch das Material für zivile Reparaturen wurde rationiert.54 Als die Nachfrage nach gebrauchtem 49 Vgl. dazu Kerstin Brückweh (Hg.), The Voice of the Consumer. A History of Market Re- search, Consumer Movements, and the Political Public Sphere, Oxford 2011. 50 Mass-Observation, Clothes Rationing Survey. An Interim Report, in: Change. Bulletin of the Advertising Service Guild 1, 1941, S. 10–13. 51 BoT, Retail Trade Committee, Second Interim Report, The Impact of the War on the Retail Trades, 20.1.1942, London 1942, S. 7. 52 Goods and Services (Price Control) Act v. Juli 1941. 53 NA/PRO London, BT 64, Nr. 878: Boot Repair Industry, 26.8.1942. 54 NA/PRO London, BT 131, Nr. 43: Repairs. Civilian Footwear (1941–1945). 240 Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Reparieren im Wandel der Konsumregime Leder für die Reparatur immer weiter anstieg, wurde auch auf den britischen Inseln im März 1943 der Verkauf von Lederabfällen unter staatliche Kontrolle gestellt und Höchstpreise festgesetzt.55 Im Deutschen Reich galt eine solche Regelung seit Dezember 1940.56 Im Deutschen Reich waren Rohstoffe und Arbeitskräfte ebenfalls knapp. Angesichts der spezifisch deutschen Strategie, für Sohlleder Ersatzwerkstoffe aus Grundstoffen der chemischen Industrie zu entwickeln, die sich allerdings im Gebrauch als wenig hochwertig erwiesen, stiegen sowohl das Reparaturauf- kommen als auch der Materialverbrauch in der Ausbesserung von Schuhwerk.57 Dies erwies sich als großes Problem, da gleichzeitig Arbeitskräfte eingespart werden sollten. Schon im ersten Kriegsjahr waren die Schuhmacher von den „Auskämmungen“ im Handwerk, d.h. dem Abzug von Arbeitskräften, die in der Rüstungsproduktion eingesetzt werden konnten, und von Einberufungen zur Wehrmacht betroffen. Zwischen 1939 und 1943 sank die Zahl der Beschäftigten auf 72 Prozent der Vorkriegszeit.58 Gleichzeitig ließen die Rationierung und die spürbaren Einschränkungen der Möglichkeiten der Zivilbevölkerung, neue Schuhe zu kaufen, den Reparaturbedarf erheblich anwachsen. Seit 1940 kam es regelmäßig zu Beschwerden von Seiten der Verbraucher, als unzureichen- de Schuhbesohlungen schon nach wenigen Tagen erneut eine Ausbesserung erforderlich machten. Entsprechend häufig sind Unmutsbezeugungen aus der Bevölkerung in den geheimen Berichten des Sicherheitsdienstes der SS ver- merkt.59 Ein Bericht vom April 1942 konstatierte einen „derzeit bestehenden Notstand“ der Reparatur in verschiedenen Teilen Deutschlands: „Infolge der Zwangsbewirtschaftung und der gedrosselten Ausgabe von Bezugscheinen müssen [...] die alten Schuhe immer wieder zur Reparatur gegeben werden, wodurch sich eine Arbeitsanhäufung ergäbe, die eine Verdoppelung, wenn nicht sogar Verdreifachung der Arbeitskräfte im Schuhmacherhandwerk er- forderlich mache.“ Daher arbeite nun ein großer Teil der Betriebe „14 bis 16 Stunden täglich sowie auch sonntags.“ Die Kundschaft warte bereits bis zu vier Wochen auf die reparierte Ware.60 1944 hatte sich die Wartezeit auf acht Wochen erhöht.61 55 Control of Scrap Leather (Nr. 1) Order, 1943, v. 12.3.1943. 56 BA Berlin, R 13 XIII, Nr. 66: Anordnung 98 der Reichsstelle für Lederwirtschaft v. 13.12.1940. 57 Die schlechtesten Ersatzstoffe, die in Neuschuhen verboten waren, ließ die Reichsstelle für Lederwirtschaft für die Reparatur zu – so etwa Gummisohlen aus regeneriertem Kautschuk oder Lederfaserstoffe geringer Gütegrade. 58 Reichsstand des Deutschen Handwerks (wie Anm. 24). 59 BA Berlin, R 8 VI/38: RfL an alle Kreishandwerkerschaften v. 19.11.1940, Betr.: Bean- standung von Besohlungen; SD-Bericht Nr. 122 v. 9.9.1940, in: Heinz Boberach (Hg.), Meldungen aus dem Reich, Herrsching 1984, Bd. 5, S. 1561 und weitere SD-Berichte v. 14.7.1941, 26.1.1942, 16.4.1942 u. 20.4.1942, S. 1618f., 2524, 3217, 3638 u. 3655. 60 BA Berlin, NS 19, Film 3363, Folder 537: Sicherheitsdienst des HF-SS, Betr.: Auftretende Schwierigkeiten im Reparaturhandwerk. Lage im Schuhmacherhandwerk v. 20.4.1942. 61 Vgl. Gloria Sultano, Wie geistiges Kokain … Mode unterm Hakenkreuz, Wien 1995, S. 79. Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 241 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Anne Sudrow Änderung von Konsummustern: Verzichten, sparen und selbst herstellen Einige konsumpolitische Kampagnen der NS-Regierung zielten darauf, die zivilen Konsumenten zum sparsamen Verbrauch der Fertigprodukte bzw. gar zum Konsumverzicht zu bewegen. Bereits im zweiten NS-Vierjahresplan, der ab Herbst 1936 umgesetzt wurde, galt die Parole: „Eine gute Reparatur ist das beste Kampfmittel gegen den Verderb und Sparmittel im Verbrauch“.62 In der nationalsozialistischen Sprachregelung ersetzten ab 1937 zunehmend die „Instandsetzung“ bzw. „Gebrauchserhaltung“ das lateinische Wort „Repara- tur“. Im Dienste der „Sachwerterhaltung“ von Produkten wurden eigens neue „Schutzstoffe“ entwickelt.63 Bei Bekleidung und Schuhen spielten diese in Form von chemischen Imprägnierungen für Stoffe und Sohlenwerkstoffe sowie allen Arten von „Schonern“ und Beschlägen eine große Rolle. Das Frankfurter Modeamt etwa setzte diese unmittelbar in modische Kollektionen um.64 Als Vorbereitung auf den neuen Krieg versuchten Wirtschaftsplaner und zuständige Behörden, die Konsument/inn/en für die volkswirtschaftlichen Konsequenzen des eigenen Konsumverhaltens zu sensibilisieren. Ziel der Verbrauchslenkung war nichts weniger als eine „Umstellung der Verbrauchsgewohnheiten“ der Konsument/inn/en in Richtung einer „planmäßigen Entlastung der deutschen Versorgungslage“.65 Nachdem die privatwirtschaftliche Werbung von Un- ternehmen für die eigenen Produkte während des Vierjahresplans durch die neue Form der „Gemeinschaftswerbung“ ersetzt worden war, nutzten Firmen während der Kriegsjahre die „Sparsamkeits- oder Erinnerungswerbung“, um mittels allgemeiner Aufrufe zu einem veränderten Konsumverhalten trotzdem für ihre eigenen Produkte zu werben.66 Anzeigen von Schuhherstellern wiesen etwa darauf hin, nasses Schuhwerk nicht direkt auf die Heizung zu stellen, um das Brüchigwerden des Leders zu verhindern, und die Schuhe stattdessen mit Zeitung auszustopfen. Wie die Verbraucher auf solche „Erziehungsmaß- nahmen“ reagierten, ist aus den Quellen schwer zu erschließen. Wie den Studien der Gesellschaft für Konsumforschung in dieser Zeit zu entnehmen ist, schufen die Propagandamaßnahmen wohl zumindest rudimentär ein Be- wusstsein des volkswirtschaftlichen Problems der Weltmarktabhängigkeit der deutschen Industrie.67 Darüber hinaus zielten sie auf eine Moralisierung 62 Der Holzschuh- und Pantoffelmacher 5, 1937, Nr. 15, S. 3–4, hier S. 3. 63 Robert Oetker, Die betriebliche Werbung im Dienste des Vierjahresplanes. Eine Studie über die Aufgaben der betrieblichen Werbung als Mittel der Verbrauchslenkung im Dienste der Rohstoff- und Nahrungsfreiheit, Würzburg 1938, S. 75–87; Joachim Boehmer, Bewährung der Werkstoffe, in: Der Vierjahresplan 5, 1941, S. 869f. 64 Vgl. Almut Junker, Frankfurt Macht Mode, Frankfurt a.M. 1999. 65 Oetker (wie Anm. 63), S. 17. 66 Zur „Gemeinschaftswerbung“ und NS-Verbrauchslenkung vgl. Hartmut Berghoff, Von der „Reklame“ zur Verbrauchslenkung. Werbung im nationalsozialistischen Deutschland, in: ders. (Hg.), Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 77–112. 67 Vgl. etwa Mitteilungsblatt der GfK, Nr. 14, Okt. 1938, S. 278-295. 242 Technikgeschichte Bd. 79 (2012) H. 3 https://doi.org/10.5771/0040-117X-2012-3-227 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 17.10.2021, 03:38:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Sie können auch lesen