Johann Sebastian Bach, ein Europäer - PETER WOLLNY (Leipzig) - Brill

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PETER WOLLNY (Leipzig)

Johann Sebastian Bach, ein Europäer

Fragt man nach führenden Vertretern der europäischen Idee in der
deutschen Musikgeschichte des frühen 18. Jahrhunderts, so kommt ei-
nem der Name Johann Sebastian Bach wohl kaum als Erstes in den Sinn.
Wenn wir nach einem Komponisten suchen, dessen Leben und Wirken
europäisches Format hatte, denken wir zunächst vielmehr an Georg
Friedrich Händel, der – aus der kleinen vormaligen sächsischen Resi-
denz und späteren preußischen Universitätsstadt Halle stammend –
schon in jungen Jahren über die Hamburger Gänsemarktoper den Sprung
aufs internationale Parkett schaffte. Als Händel im Sommer 1706 dort
dem Sohn des toskanischen Großherzogs begegnete und die Einladung
erhielt, diesem nach Florenz zu folgen, war der illustre Weg des jungen
Komponisten vorgezeichnet. In den nächsten Jahren feierte er Trium-
phe auf den Opernbühnen von Florenz, Rom, Neapel und Venedig. Eine
kurzzeitige Anstellung am kurfürstlichen Hof zu Hannover im Frühjahr
1710, Besuche in Düsseldorf im Sommer 1711 und in der Heimatstadt Hal-
le im Herbst desselben Jahres waren nur weitere Zwischenstationen,
denn seine Aufmerksamkeit richtete sich bereits auf die große Kultur-
metropole London. Mit Mitte Zwanzig war Händel in künstlerischer
Hinsicht längst zum Europäer geworden.1
   Ein weiterer Kandidat für das Attribut eines europäischen Komponi-
sten wäre vielleicht Georg Philipp Telemann, der den Kontinent in ost-
westlicher Richtung vom sorbischen Sorau bis nach Paris durchstreifte
und dessen weltmännischer Habitus sich, nach dem Zeugnis des Mu-
sikschriftstellers Johann Mattheson, unter anderem in der Beherrschung
der führenden Fremdsprachen Französisch, Italienisch und Englisch
kundtat.2

 1 Siehe besonders die Würdigungen bei Johann Mattheson: Grundlage einer Ehrenpfor-
   te, Hamburg 1740, Neudruck, hg. von Max Seiffert, Berlin 1910, 93–101; sowie John
   Mainwaring: Georg Friedrich Händels Lebensbeschreibung nebst einem Verzeichnisse
   seiner Ausübungswerke und deren Beurtheilung übersetzet, auch mit einigen Anmer-
   kungen, absonderlich über den hamburgischen Artikel, versehen vom Legations-Rath
   Mattheson, Hamburg 1761, Reprint Leipzig 1976.
 2 Siehe Mattheson: Grundlage einer Ehrenpforte [Anm. 1], 354–370, speziell 366.

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   Verglichen mit diesen Biographien ist die Bach-Familie als ausge-
sprochen bodenständig zu bezeichnen. Seit dem frühen 17. Jahrhundert
waren ihre Vertreter in Thüringen ansässig und wagten sich – von weni-
gen Ausnahmen abgesehen – kaum jemals über die Grenzen der ernes-
tinischen Territorien hinaus. Das berufliche Wirkungsfeld Johann Seba-
stian Bachs erwies sich im Vergleich mit der Generation seines Vaters
zwar schon als bemerkenswert überregional, doch fällt immer noch der
enge Radius seiner Lebensstationen auf – Arnstadt, Mühlhausen, Wei-
mar, Köthen und Leipzig lagen zwar in unterschiedlichen Herrschafts-
gebieten (aus denen später die heutigen Bundesländer Thüringen,
Sachsen und Sachsen-Anhalt erwuchsen), doch sollten wir uns dessen
bewusst sein, daß die weiteste Entfernung innerhalb des von diesen Or-
ten gebildeten Fünfecks gerade einmal 130 Kilometer misst. Auch die
wenigen Reisen, die Bach von seinen Wirkungsorten aus unternahm –
nach Hamburg, Lübeck, Kassel, Berlin, Dresden und Karlsbad – bilden
einen noch recht überschaubaren Rahmen.
   Bachs zweiter Sohn, Carl Philipp Emanuel, scheint die Bodenständig-
keit seiner Familie – und damit auch seine eigene – als Makel empfun-
den zu haben. Mehrere Male kam er in merkwürdig defensiver, ja apo-
logetischer Weise darauf zu sprechen, am deutlichsten vielleicht in der
Einleitung zu seinem 1754 veröffentlichten Nachruf auf den Vater, in der
er die künstlerische Bedeutung seiner Vorfahren zu umreißen versuch-
te. Fast könnte man seine Worte sogar als antieuropäisches Ressenti-
ment interpretieren, dienten sie nicht vor allem der Ehrenrettung einer
erlesenen Schar von fast vergessenen Musikern, deren über ihren engen
Wirkungsraum hinaus kaum bekannten Werken er hier einen ihrer
Qualität angemessenen überregionalen Rang zusprach:
     Es würde zu verwundern sein, dass so brave Männer außer ihrem Vaterlande so
     wenig bekannt worden; wenn man nicht bedächte, dass diese ehrlichen Thüringer
     mit ihrem Vaterlande, und ihrem Stande so zufrieden waren, dass sie sich nicht
     einmal wagen wollten, weit außer demselben ihrem Glücke nachzugehen. Sie zo-
     gen den Beifall der Herren, in deren Gebiete sie geboren waren, und einer Menge
     treuherziger Landsleute, die sie gegenwärtig hatten, andern noch ungewissen, mit
     Mühe und Kosten zu suchenden Lobeserhebungen, weniger, und noch dazu viel-
     leicht neidischer Ausländer, mit Vergnügen vor.3

 3 Siehe den Nekrolog auf Johann Sebastian Bach, zitiert nach Bach-Dokumente, heraus-
   gegeben vom Bach-Archiv Leipzig. Supplement zu Johann Sebastian Bach. Neue Ausga-
   be sämtlicher Werke, Band III: Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs

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Da allerdings nicht bekannt ist, ob diese idealisiert dargestellte Beschei-
denheit der älteren Bach-Familie (einschließlich Johann Sebastians)
und deren an Selbstverleugnung grenzendes ›Wirken im Verborgenen‹
der historischen Wahrheit entsprechen, ist dieses Zeugnis für unsere
Themenstellung nur von begrenzter Aussagekraft.
   Versuchen wir daher, einen anderen Zugang zu Bach dem Europäer
zu finden. Wenn wir einen Eindruck von der mitteldeutschen Musik-
landschaft des späten 17. Jahrhunderts – also dem prägenden Umfeld
des jungen Komponisten – gewinnen wollen, sollten wir uns vergegen-
wärtigen, daß gerade diese Region von den Verheerungen des Dreißig-
jährigen Krieges besonders stark betroffen war und nach dem Westfäli-
schen Frieden von 1648 und dem Abzug der schwedischen Besatzung
im Sommer 1650 noch geraume Zeit unter dessen Auswirkungen litt. Im
Blick auf die Musik bedeutete der Krieg, speziell in seiner letzten Phase,
die weitgehende bis völlige Auflösung der städtischen und höfischen
musikalischen Institutionen sowie auch für lange Zeit das Versiegen
jeglicher Kontakte zu den musikalischen Zentren Europas. Die hieraus
resultierende Stagnation der Musikpflege, ja ihre zunehmende Rück-
ständigkeit, lässt sich an den heute noch erhaltenen Repertoirebelegen
deutlich ablesen.4 Auch wurden die durch den Krieg aufgerissenen Grä-
ben aufgrund der sich immer stärker bemerkbar machenden konfessio-
nellen Separierung im Laufe der Zeit eher noch vertieft. Eine weitere
Folge der langjährigen Isolierung war die zunehmende Regionalisie-
rung der Musik – in Nord-, Mittel- und Süddeutschland entstanden aus-
geprägte Lokal- und Regionalstile, die sich wegen der fehlenden Reper-
toiredurchmischung erstaunlich lange behaupten konnten. Selbst wenn
wir, dem Musikhistoriker Werner Braun folgend, die mitteldeutsche
Musikgeschichte zwischen 1650 und 1680 als einen »epochalen musika-
lischen Wiederaufbau« interpretieren, dessen regenerative Kraft aus
den »veränderten Bedingungen« nach dem großen Krieg resultierte,5 ist
doch dieser beharrliche retrospektive Zug nicht zu übersehen. Denn
vor allem in den städtischen Kantoreien dominierte zunächst das Stre-

   1750–1800, vorgelegt und erläutert von Hans-Joachim Schulze, Leipzig und Kassel
   1972, Nr. 666.
 4 Siehe Verf.: Studien zum Stilwandel in der protestantischen Figuralmusik des mittleren
   17. Jahrhunderts, Beeskow 2016 [Forum Mitteldeutsche Barockmusik, Bd. 5].
 5 Siehe Werner Braun: »Die Mitte des 17. Jahrhunderts als musikgeschichtliche Zäsur«,
   in: Schütz-Jahrbuch 21 (1999), 39–48.

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ben nach einer »restituirung der alten eingegangenen gebräuche«6, das
in der Regel jegliche Offenheit gegenüber neuen stilistischen Strömun-
gen vermissen ließ. So war in Mitteldeutschland vielerorts der Abstand
zu den musikalischen Entwicklungen in Italien und Frankreich noch
bis in die 1690er Jahre hinein spürbar.
   Johann Sebastian Bach wuchs also in einer Zeit und in einer Region
auf, in der die Provinzialisierung und Rückwärtsgewandtheit der Musik
noch allenthalben präsent war. Mithin kann man mit gutem Grund und
gestützt auf glaubwürdige Dokumente die Jugendzeit des Komponisten
als ein gezieltes Ausbrechen aus der kulturellen Isolation beschreiben.
Im Nekrolog finden sich hierfür bemerkenswert frühe Belege: Sein »Ei-
fer, immer weiter zu kommen«, veranlasste Bach mit zehn oder zwölf
Jahren zum heimlichen Abschreiben eines von seinem Bruder streng
gehüteten Manuskripts »voller Klavierstücke von den damaligen be-
rühmtesten Meistern«. Nach erfolgter Kopie erfasste ihn »eine ausneh-
mende Begierde«, sich diese Kompositionen zunutze zu machen, das
heißt sich die Kompositionstechniken in der Ferne wirkender Meister
anzueignen. Darüber hinaus können auch die offenbar stets mit Be-
dacht gewählten beruflichen Stationen Bachs als Etappen der persönli-
chen Annäherung an die große Welt und der gezielten Erweiterung sei-
nes musikalischen Horizonts verstanden werden.
   Eine erste Befreiung aus den festgefügten Traditionen stellt der –
durch äußere Zwänge bedingte – Abgang vom Ohrdrufer Lyceum und
die Fortsetzung der Ausbildung an der Michaelisschule in Lüneburg in
den Jahren 1700 bis 1702 dar. Von hier aus besuchte der junge Bach of-
fenbar mehrmals die nahegelegene Weltstadt Hamburg, die als das ei-
gentliche Ziel seiner musikalischen Ambitionen bezeichnet worden
ist.7 Über den künstlerischen Nutzen des Aufenthalts in Lüneburg und
die von Bach in dieser Zeit unternommene Sondierung des musikali-
schen Umfelds findet der Nekrolog deutliche Worte:

 6 Formulierung des Delitzscher Kantors Christoph Schultze, zitiert nach Werner Braun:
   »Der Kantor Christoph Schultze (1606–1683) und die ›Neue Musik‹ in Delitzsch«, in:
   Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg X/4
   (1961), 1187–1225, hier 1200.
 7 Siehe Christoph Wolff: »Johann Adam Reinken und Johann Sebastian Bach: Zum
   Kontext des Bachschen Frühwerkes«, in: Bach-Jahrbuch 71 (1985), 99–118, speziell
   101–103.

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   Von Lüneburg aus reisete er zuweilen nach Hamburg, um den damals berühmten
   Organisten an der Catharinenkirche Johann Adam Reinken zu hören. Auch hatte
   er von hier aus Gelegenheit, sich durch öftere Anhörung einer damals berühmten
   Capelle, welche der Hertzog von Zelle unterhielt, und die mehrentheils aus
   Frantzosen bestand, im Frantzösischen Geschmacke, welcher, in dasigen Landen,
   zu der Zeit was ganz Neues war, fest zu setzen.8

In seinen Lüneburger Schuljahren legte der junge Bach offenbar auch
den Grundstock zu seiner bedeutenden Musikaliensammlung. Wir be-
sitzen aus dieser Zeit zwar nur noch einen einzigen, wenngleich über-
aus aufschlussreichen Beleg – die vor einem Jahrzehnt entdeckte Tabu-
laturabschrift der großen Choralfantasie An Wasserflüssen Babylon von
Jan Adam Reinken –, doch ist anzunehmen, daß die große Zahl erlese-
ner Orgelwerke der norddeutschen Schule (Reinken, Dietrich Buxtehu-
de, Nikolaus Bruhns, Georg Böhm), die noch ein bis zwei Jahrzehnte
später in den Sammelbänden von Bachs älterem Bruder Johann Chri-
stoph Bach und seinem Vetter Johann Gottfried Walther auftauchen,
auf Bachs frühe Sammeltätigkeit zurückgehen.9
   Von seiner ersten Anstellung als Organist der Neuen Kirche in Arn-
stadt (1703–1707) aus unternahm Bach im Winter 1705/06 einen auf vier
Monate ausgedehnten Besuch in der Hansestadt Lübeck. Der Nekrolog
formuliert wiederum sehr plastisch die Wissbegierde und den inneren
Drang des jungen Musikers: »Hier in Arnstadt bewog ihn einsmals ein
besonderer starker Trieb«, eine Reise nach Lübeck zu unternehmen,
»um den dasigen berühmten Organisten der Marienkirche Dietrich
Buxtehuden zu behorchen«.10 Bachs Beweggründe für seine Reise bele-
gen auch die Protokolle des Arnstädter Konsistoriums: »Er sey zu Lübeck
geweßen vmb daselbst ein vnd anderes in seiner Kunst zu begreiffen«.11

 8 Nekrolog auf Bach [Anm. 3], Nr. 666.
 9 Siehe Michael Maul und Verf.: Weimarer Orgeltabulatur. Die frühesten Notenhand-
   schriften Johann Sebastian Bachs sowie Abschriften seines Schülers Johann Martin
   Schubart mit Werken von Dietrich Buxtehude, Johann Adam Reinken und Johann Pa-
   chelbel. Faksimile, Übertragung und Kommentar, Kassel 2007 [Faksimilereihe Bach-
   scher Werke und Schriftstücke. Neue Folge, Bd. III; zugleich Documenta Musicologi-
   ca, Bd. II/39]; sowie dies.: »Bach und Buxtehude – neue Perspektiven anhand eines
   Quellenfundes«, in: Dieterich Buxtehude. Text – Kontext – Rezeption. Bericht über das
   Symposion an der Musikhochschule Lübeck 10.–12. Mai 2007, hg. von Wolfgang Sand-
   berger und Volker Scherliess, Kassel 2011, 144–187.
10 Nekrolog auf Bach [Anm. 3], Nr. 666.
11 Protokoll vom 21. Februar 1706, zitiert nach Bach-Dokumente, herausgegeben vom
   Bach-Archiv Leipzig. Supplement zu Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher

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Wie Christoph Wolff vermutet hat, wählte Bach den Termin seiner Reise
mit Bedacht, denn Buxtehude führte immer in der Adventszeit große
Abendmusiken auf; so erklangen auch im Dezember 1705 zwei großbe-
setzte Oratorien, an denen Bach möglicherweise als Musiker teilnahm.12
Bei dieser Gelegenheit erhielt er grundlegende Anregungen für sein ei-
genes Schaffen, die sich im Bereich der Orgelmusik in den großen Peda-
liter-Präludien und im Bereich der Vokalmusik in der kühnen Faktur
der Mühlhäuser Ratswahlkantate Gott ist mein König BWV 71 niederge-
schlagen haben.
   Mit seiner 1708 erfolgten Anstellung als Organist und Kammermusi-
ker am Weimarer Hof erweiterte sich Bachs musikalischer Horizont er-
neut. An den Höfen des ernestinischen Sachsen (dem Territorium des
heutigen Thüringen) entwickelte sich ab etwa 1700 ein reges Interesse
an der neuesten italienischen und französischen Musik. Trotz großer
Überlieferungslücken belegen die Musikalienbestände der Hofkapellen
in Eisenach, Gotha, Weimar und Rudolstadt eindrucksvoll, daß der
Dreißigjährige Krieg und seine Folgen nun endgültig überwunden wa-
ren. Wir beobachten eine erstaunliche Erweiterung des Repertoires in
die verschiedensten Richtungen, deren Voraussetzungen und Bedin-
gungen im Einzelnen noch zu erforschen sind. Für Weimar zeichnen
sich folgende Stadien ab:
   – Um 1703 unternahm der Weimarer Musiker Johann Wilhelm Drese,
Sohn des Kapellmeisters Samuel Drese und von 1707 bis 1714 Bachs Vor-
gänger im Amt des Konzertmeisters, auf Kosten des Hofes eine achtmo-
natige Italienreise, um sich in der Komposition zu perfektionieren. Er
wird von dort einen großen Schatz an Musikalien mitgebracht haben,
denn offenbar beruhen Bachs frühe Kenntnisse der Konzerte von Giu-
seppe Torelli und Tomaso Albinoni sowie der Kammermusik von Mei-
stern wie Arcangelo Corelli und Giovanni Maria Bononcini auf diesem
Repertoire.13 Ebenfalls über Drese könnten die ersten italienischen So-

   Werke, Band II: Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Jo-
   hann Sebastian Bachs 1685–1750, vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und
   Hans-Joachim Schulze, Leipzig und Kassel 1969, Nr. 16.
12 Siehe Christoph Wolff: »Dietrich Buxtehude and Seventeenth-Century Music in Re-
   trospect«, in: Church, Stage, and Studio, hg. von Paul Walker, Ann Arbor 1990, 3–20.
13 Vgl. Jean-Claude Zehnder: Die frühen Werke Johann Sebastian Bachs: Stil – Chronolo-
   gie – Satztechnik, Basel 2009 [Schola Cantorum Basiliensis Scripta 1.] und Rodolfo
   Zitellini: »Das »Thema Legrenzianum« der Fuge BWV 574 – eine Fehlzuschrei-
   bung?«, in: Bach-Jahrbuch 99 (2013), 243–259.

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lokantaten nach Weimar gelangt sein. Bachs frühe Vertrautheit mit die-
ser Gattung ist durch seine um 1708–1710 anzusetzende – leider nur
fragmentarisch erhaltene – Abschrift der Solokantate Amante moribon-
do von Antonino Biffi belegt.14
   – Eine von dem jungen Weimarer Prinzen Ernst August von Mitte
1706 bis Ende 1707 unternommene Kavalierstour in die Spanischen Nie-
derlande (Brüssel, Mons) und nach Paris scheint in der Folge das musi-
kalische Leben am Weimarer Hof um erlesene französische Komposi-
tionen bereichert zu haben. Bach hatte offenbar nicht nur Gelegenheit,
diese Musik aus den Druckausgaben zu spielen, sondern konnte auch in
größerem Umfang Kopien für den eigenen Gebrauch anfertigen. In sei-
nem Umkreis tauchen ab etwa 1708 Abschriften von Cembalo- und Or-
gelwerken von Meistern wie Jean-Henri d’Anglebert, Nicolas Antoine le
Bègue, Jacques Boyvin, Charles François Dieupart, Nicolas de Grigny,
Pierre du Mage, Louis Marchand, Guillaume Gabriel Nivers, André Rai-
son und Gaspard le Roux auf.15 Der Einfluss der französischen Komposi-
tions- und vor allem auch der Vortragstechnik hat in Bachs Schaffen
ebenfalls deutliche Spuren hinterlassen, die noch in einigen seiner spä-
ten Leipziger Werke nachweisbar sind. Das intensive Studium des fran-
zösischen Repertoires hatte zudem nicht zu unterschätzende Auswir-
kungen auf seine Unterrichtspraxis; dies belegen etwa die bekannte
Verzierungstabelle zu Beginn des Clavier-Büchleins für Wilhelm Friede-
mann Bach und die ornamentierten Fassungen einiger Inventionen
und Sinfonien in den entsprechenden Abschriften der Bach-Schüler
Heinrich Nikolaus Gerber und Bernhard Christian Kayser. Bachs eige-
nes Spiel scheint bis in die späten Jahre hinein von der französischen
Praxis geprägt gewesen zu sein, wie sich an der stark ausgezierten Fas-
sung der Aria in seinem Handexemplar der Goldberg-Variationen able-
sen lässt; und auch Jacob Adlungs knappe Schilderung von Bachs Vor-
trag der Suiten Louis Marchands (»so spielte er sie mir vor nach seiner
Art, das ist sehr flüchtig und künstlich«)16 dürfte sich auf den reichen
Einsatz von Agréments beziehen.

14 Vgl. Verf.: »Neue Bach-Funde«, in: Bach-Jahrbuch 83 (1997), 7–50, speziell 8–20.
15 Siehe hierzu ausführlich Verf.: »Vom ›apparat der auserleßensten kirchen Stücke‹
   zum ›Vorrath an Musicalien, von J. S. Bach und andern berühmten Musicis‹ – Quel-
   lenkundliche Ermittlungen zur frühen Thüringer Bach-Überlieferung und zu einigen
   Weimarer Schülern und Kollegen Bachs«, in: Bach-Jahrbuch 101 (2015), 99–154, spe-
   ziell 120–127.
16 Bach-Dokumente, Bd. III [Anm. 3], Nr. 696.

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   – 1713 unternahm ein weiterer Weimarer Prinz, der Bach-Schüler Jo-
hann Ernst von Sachsen-Weimar, eine ausgedehnte Bildungs- und Stu-
dienreise, in deren Folge die Konzerte Antonio Vivaldis und anderer
Italiener sowie verschiedene, heute nicht mehr näher zu bestimmende
Orchesterwerke französischer Meister nach Weimar gelangten.17 Bach
begann in der Folge Solokonzerte und Concerti grossi von Vivaldi, Mar-
cello und anderen für Cembalo und Orgel zu bearbeiten. Die Bedeutung
dieser halb rezipierenden, halb schöpferischen Beschäftigung ist kaum
zu überschätzen. Bereits Bachs erster Biograph Johann Nikolaus Forkel
bemerkte, daß der Bearbeitungsprozess diesen gelehrt habe, musika-
lisch zu denken.18 Anscheinend liegen hier auch die Wurzeln für Bachs
eigenes Konzertschaffen.
   – Weitere Beiträge zur Internationalisierung des Weimarer Reper-
toires dürften sich aus dem kollegialen Austausch mit Musikern ande-
rer Höfe ergeben haben. Ein Beispiel hierfür ist der 1714 nachgewiesene
Besuch des Dresdner Geigers Johann Georg Pisendel, in dessen Folge
Bach vermutlich mit den Triosonaten und anderen Werken von Fran-
çois Couperin bekannt wurde.19 Couperins Schaffen war von nachhalti-
gem Einfluss auf Bachs künstlerischen Geschmack, den er auch an sei-
ne Söhne weitervermittelte. Friedrich Wilhelm Marpurg schreibt 1750
mit Bezug auf den Thomaskantor und seine beiden ältesten Söhne, »die
gelehrten Bachen« hätten Couperin »ihres Beyfalls würdig« geschätzt.20
Und Johann Adam Hiller kommt 1768 in seinen Wöchentlichen Nach-
richten und Anmerkungen die Musik betreffend auf die seiner Beobach-
tung nach in Deutschland nicht sehr weit verbreitete französische Ta-
stenmusik zu sprechen und hebt besonders Couperin als vorzüglichen
Komponisten hervor, verbunden mit dem bekräftigenden Zusatz, daß

17 Vgl. Hans-Joachim Schulze: Studien zur Bach-Überlieferung im 18. Jahrhundert, Leip-
   zig und Dresden 1984, 156–163.
18 Bach-Dokumente, herausgegeben vom Bach-Archiv Leipzig. Supplement zu Johann Se-
   bastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Band VII: Johann Nikolaus Forkel. Ueber
   Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (Leipzig 1802). Editionen. Quel-
   len. Materialien, vorgelegt und erläutert von Christoph Wolff unter Mitarbeit von Mi-
   chael Maul, Kassel 2008, 36.
19 Siehe Kerstin Delang: »Couperin – Pisendel – Bach. Überlegungen zur Echtheit und
   Datierung des Trios BWV 587 anhand eines Quellenfundes in der Sächsischen Lan-
   desbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden«, in: Bach-Jahrbuch 93
   (2007), 197–204.
20 Bach-Dokumente, Bd. III [Anm. 3], Nr. 732.

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Johann Sebastian Bach, ein Europäer                           69

»auch der seel. Bach viel Hochachtung« vor ihm gehabt habe.21 Einen
wertvollen ergänzenden Aspekt spricht der Couperin-Artikel in Ernst
Ludwig Gerbers Historisch-Biographischem Lexicon der Tonkünstler von
1790 an.22 Wenn es dort heißt, daß »der große Seb. Bach« die Werke Cou-
perins »besonders schätzte und seinen Schülern empfahl« und der Au-
tor sodann ergänzend hinzufügt, Bach habe die »Spielmanieren« Cou-
perins »in seinem eigenen Vortrage, größtentheils beybehalten«, so
mögen hier die direkten Eindrücke und Erfahrungen von Gerbers Vater
Heinrich Nikolaus eingeflossen sein, die dieser 1724 und 1725 als Bachs
Schüler in Leipzig sicherlich hatte sammeln können.
   In seiner Zeit als Kapellmeister in Köthen (1717–1723) konnte Bach
hinsichtlich seines Bemühens um eine breitgefächerte Kenntnis der
zeitgenössischen europäischen Musik von den in der anhaltischen Resi-
denz engagierten Musikern der aufgelösten Berliner Hofkapelle profi-
tieren. Die wiederholten Reisen seines Dienstherrn Fürst Leopold von
Anhalt-Köthen nach Karlsbad brachten ihn zudem mit Musikern des
süddeutschen und österreichischen Raums in Kontakt – die regelmäßi-
ge Anwesenheit hoher Vertreter des Wiener Kaiserhofs und ihrer Musi-
ker bedingte das Aufkommen einer regelrechten Karlsbader ›Festspiel‹-
Atmosphäre.
   In Leipzig (1723–1750) traf Bach auf die kunstsinnige Atmosphäre
einer weltoffenen Handels- und Universitätsstadt. Seinem Rang als
städtischem ›Director musices‹ entsprechend demonstrierte er in den
hier geschaffenen Kompositionen seine innige Vertrautheit mit den
gängigen Stilen und musikalischen Entwicklungen. Die stilistische Pa-
lette, über die er inzwischen verfügte, tritt deutlich hervor, wenn wir
einen Blick auf die Kopfsätze der ersten vier Werke des Choralkanta-
ten-Jahrgangs von 1724/25 werfen. Das erste Werk, das Stück O Ewig-
keit, du Donnerwort BWV 20 (zum 1. Sonntag nach Trinitatis) beginnt
mit einer französischen Ouvertüre, in die das Kirchenlied als cantus
firmus eingearbeitet ist. Während die zweite Kantate Ach Gott, vom
Himmel sieh darein in ihrem ersten Eingangschor die Technik des mo-
tettischen Satzes exemplifiziert, überwiegen im Eingangschor der drit-
ten Kantate, Christ, unser Herr, zum Jordan kam BWV 7 (zum Johannis-
tag), Elemente des italienischen Solokonzerts. Die weiteren Kantaten

21 Bach-Dokumente, Bd. III [Anm. 3], Nr. 749.
22 Bach-Dokumente, Bd. III [Anm. 3], Nr. 949.

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des monumentalen Zyklus führen den bunten Wechsel verschiedener
Partialstile fort.
   Ein anderes instruktives Beispiel für Bachs Fähigkeit, höchst unter-
schiedliche Anregungen aufzugreifen, zeigt die anlässlich einer univer-
sitären Gedenkfeier für die verstorbene sächsische Kurfürstin Chri-
stiane Eberhardine komponierte Trauerode von 1727. Bereits der Titel
des Werks (Tombeau de S[a] M[ajesté] la Reine de Pologne) bekundet
den internationalen Anspruch dieser pompösen Kantate. Bei den im
Orchester verwendeten Gamben und Lauten wie auch den in einem
zeitgenössischen Bericht genannten »Fleutes douces und Fleutes tra-
verses« handelt es sich um typische Instrumente einer französischen
Begräbnismusik. Gleichwohl bezeichnet eine Leipziger Chronik das
Werk als »nach Italienischer Art componiret«, womit vermutlich der
Wechsel von Rezitativen und Arien gemeint ist.
   Diese Beispiele zeigen, daß Bach in seinen Leipziger Kompositionen
einen ausgesprochenen Mischstil pflegte, der sich bewusst und mit gro-
ßem Geschick des gesamten Spektrums der europäischen Nationalstile
bediente. Bei diesem Prinzip handelte es sich allerdings nicht um eine
lokale Errungenschaft, vielmehr haben wir es hier mit einem allgemei-
nen Phänomen der 1720er und 1730er Jahre zu tun, das von zeitgenössi-
schen Musiktheoretikern wie Johann Adolph Scheibe und Johann
Joachim Quantz als »vermischter Geschmack« bezeichnet und von die-
sen bemerkenswerterweise als ein Zeichen der Überlegenheit der deut-
schen Musik gedeutet wurde. Das Ideal dieses »vermischten Geschmacks«
basierte letztlich aber auf einer von François Couperin geprägten Idee,
der zufolge die »réunion des gouts« – gemeint sind der italienische und
der französische Nationalstil – die langersehnte Vollendung der Musik
herbeiführen müsse.
   In Leipzig waren die Bedingungen für die Akzeptanz eines nuancen-
reichen Mischstils günstig. Das gebildete, musikalisch versierte Publi-
kum wusste dergleichen Experimente zu schätzen, verlangte vielleicht
gar danach; außerdem lockten die dreimal jährlich veranstalteten Mes-
sen eine große Zahl von Händlern aus aller Welt in die Stadt, zu deren
feilgebotenen Waren nachweislich auch gedruckte und geschriebene
Musikalien gehörten. Zwei der vermutlich auf diesem Wege in Bachs
Hände gekommenen Werke können wir konkret benennen: Zum einen
Händels italienische Solokantate Armida abbandonata, die Bach um
1730 in seinem Collegium musicum aufführte und deren Partitur auf-
grund des im Papier nachgewiesenen Wasserzeichens wohl aus Düssel-

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dorf stammte23; und zum anderen Francesco Gasparinis Missa canoni-
ca, die Bach um und nach 1739 mehrfach aufführte; Bachs Vetter Johann
Gottfried Walther berichtet in einem Brief, daß auch er 1735 eine Ab-
schrift des Werks auf der Leipziger Neujahrsmesse erworben habe.24
   Für die Musiker war die Ausführung dieses ideenreichen und kom-
plexen Repertoires mit hohen Anforderungen verbunden, da man von
ihnen eine angemessene stilgerechte Wiedergabe erwartete. Bach selbst
hat dies in seinem berühmten Entwurf einer wohlbestallten Kirchenmu-
sik von 1730 thematisiert. Hier heißt es an einer Stelle:
   Es ist ohne dem etwas Wunderliches, da man von denen teutschen Musicis
   praetendiret, sie sollen capable sein, allerhand Arten von Music, sie komme nun
   aus Italien oder Franckreich, Engeland oder Polen, sofort ex tempore zu musiciren,
   wie es etwa die jenigen Virtuosen, vor die es gesetzet ist, und welche es lange vor-
   hero studiret ja fast auswendig können, […] praestiren können.25

Bach wusste die schier unbegrenzten Möglichkeiten, die sich aus der
Verfügbarkeit der unterschiedlichen National- und Partialstile ergaben,
in seinen Kompositionen mit großem Geschick zu nutzen. Im 1735 er-
schienenen zweiten Teil der Clavier-Übung etwa werden die Kontraste
zwischen italienischem und französischem Stil pointiert einander ge-
genübergestellt. Im Titel heißt es: »Zweiter Teil der Clavier-Übung be-
stehend in einem Concerto nach Italienischem Gusto und einer Ouver-
türe nach Französischer Art vor ein Clavicymbel mit zweien Manualen«.
Diese Aufteilung der Stile auf zwei exemplarische Kompositionen geht
mit weiteren Kontrastbildungen einher, etwa der Verwendung von F-Dur
und h-Moll als den entgegengesetzten Polen des Tonartenspektrums.
Mit dieser deutlichen Betonung des Gegensatzes zwischen dem italie-
nischen und dem französischen Stil wollte Bach allerdings nicht etwa
die Errungenschaften des vermischten Geschmacks wieder rückgängig
machen; vielmehr sollte offenbar auf eine spielerische und zugleich di-

23 Vgl. Kirsten Beißwenger: Johann Sebastian Bachs Notenbibliothek, Kassel 1992 [Cata-
   logus Musicus, Bd. 13], 141f.
24 Vgl. Verf.: »Eine unbekannte Bach-Handschrift und andere Quellen zur Leipziger Mu-
   sikgeschichte in Weißenfels«, in: Bach-Jahrbuch 99 (2013), 129–170, speziell 130–
   137.
25 Bach-Dokumente, herausgegeben vom Bach-Archiv Leipzig. Supplement zu Johann Se-
   bastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Band I: Schriftstücke von der Hand Jo-
   hann Sebastian Bachs. Vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und Hans-
   Joachim Schulze, Leipzig, Kassel 1963, 63.

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daktisch geprägte Weise verdeutlicht werden, wie groß das Spektrum
der jeweiligen kompositorischen Optionen tatsächlich war.
   Doch es gab offenbar noch einen anderen Grund für diese deutliche
Differenzierung. Die kürzlich von Tatjana Schabalina aufgefundenen
»Leges« eines der Leipziger Collegia musica gewähren Einblicke in die
standardisierte Programmabfolge der Konzertdarbietungen solcher stu-
dentischer Ensembles in den Leipziger Kaffeehäusern.26 Nach Aussage
dieser Statuten begannen die Darbietungen offenbar stets mit einer
»Ouverture«, danach war ein »Concert« zu hören und sodann folgten in
loser Ordnung weitere Kammer- und Vokalwerke.27
   Das Erkennen stilistischer Eigentümlichkeiten war im intellektuellen
Klima der Universitätsstadt Leipzig ohnehin eine Spezialität der musi-
kalisch versierten Zuhörerschaft – ja diese Geselligkeits- und Gesprächs-
kultur bildete ganz offensichtlich den Hintergrund für die gezielten Ex-
perimente von Bach und seinen Kollegen.
   Die Leipziger Poetin Christiane Mariane von Ziegler (1695–1760) hat
in einer ihrer Dichtung den Auftritt eines Collegium musicum humor-
voll geschildert28:
     Auf! ihr Arions Söhn’ und Kinder!
     Fangt mit der Ouvertüre nur an.
     Vereiniget die Flöt und Saiten
     So künstlich, dass auch Pan von weiten
     Und Phöbus auf der Musen Hain
     Ganz außer sich muss drüber sein.
     […]
     O reizungsvoller Klang! der uns, geschickter Chor,
     Durch süße Zauberei das Ohr,
     Wie die Sirenen kann betören.
     Das ließ sich wahrlich hören;
     Wer muß davon wohl Componiste seyn?
     Ists Telemann? Bach? oder Hendel?

26 Siehe Tatjana Schabalina: »Die ›Leges‹ des ›Neu aufgerichteten Collegium musicum‹
   (1729) – Ein unbekanntes Dokument zur Leipziger Musikgeschichte«, in: Bach-Jahr-
   buch 98 (2012), 107–119.
27 Anhand dieser Beschreibungen ist erkennbar, daß anscheinend auch die Zusammen-
   stellung unterschiedlicher Werktypen in den drei Teilen von Telemanns Musique de
   Table (1733) – Ouvertüre, Konzert, Quartett, Trio, Solo, Conclusion – die idealisierte
   Werkabfolge eines Collegium-musicum-Konzerts abbildet.
28 Christianen Marianen von Ziegler In Gebundener Schreib-Art Anderer und letzter Theil,
   Leipzig 1729, 296f.

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Johann Sebastian Bach, ein Europäer                              73

   Ihr schweigt und räumt mir keines ein.
   Jedoch, er sei nur, wer er will,
   So kann man doch so viel
   Nach dem Gehöre schließen,
   Dass selbiger hieran ein Meisterstück bewiesen.

Fragen wir nach den Besonderheiten von Bachs Umgang mit dem »ver-
mischten Geschmack«, so muss auffallen, daß er sich nicht mit dem
Aufgreifen fremder Idiome – gleich einem nachgeahmten Dialekt – be-
gnügte. Vielmehr lag ihm offenbar daran, deren Spezifika fest in seinen
Personalstil zu integrieren. Dies wird besonders am Spätwerk deutlich:
Die um 1749 vollendete H-Moll-Messe ist ein wahres Kompendium der
zeitgenössischen Kompositionskunst, deren dezidierter Stilpluralismus
die Summe der musikalischen Erfahrungen eines langen Komponisten-
lebens darstellt. Gleiches gilt für die unvollendet gebliebene und erst
postum veröffentlichte Kunst der Fuge, wo in einem der Sätze – um nur
ein Beispiel zu nennen – die aus dem französischen Stil entlehnten
punktierten Rhythmen dem raffinierten polyphonen Gewebe neue Di-
mensionen eröffnen. An diesem von Bach eigens als »Contrapunctus
alla Francese« bezeichneten Satz wird noch eine weitere Eigenart sei-
nes Umgangs mit den Stilen deutlich: die immer wieder verblüffende,
hoch virtuos gehandhabte Verwendung einzelner Stilmerkmale über
die Gattungsgrenzen hinweg.
   Den im Kontext des sogenannten Scheibe-Birnbaum-Disputs veröf-
fentlichten Pamphleten entnehmen wir einige Anhaltspunkte zu Bachs
künstlerischen Ambitionen.29 Bach betrachtete die Harmonie als natur-
gegeben und sah die Aufgabe des Komponisten darin, deren verborgene
Geheimnisse mittels der polyphonen Elaboration ans Licht zu holen
und dabei etwaige Unvollkommenheiten der Natur auszubessern. Je
komplexer, je kunstvoller die satztechnische Ausarbeitung eines Werks,
desto größer seine Schönheit. Ich denke, wir dürfen diesen in seiner
Zeit einzigartig dastehenden Ansatz auf Bachs Umgang mit den unter-
schiedlichen Nationalstilen ausdehnen. Dann würde gelten: Je umfang-
und farbenreicher das verwendete Spektrum der Stile und Satztechni-
ken, je phantasievoller die Kombination der zur Verfügung stehenden

29 Siehe Bach-Dokumente, Bd. II [Anm. 9], Nr. 400, 409, 413, 417, 441, 442, 446, 530
   und 533.

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Mittel, desto größer die resultierende ästhetische Vollkommenheit ei-
ner Komposition.30
   Wir stoßen hier auf ein Phänomen, das Bachs Kunst aus der zeitge-
nössischen Produktion heraushebt und ihr eine bemerkenswerte Son-
derrolle zuweist. In seiner intellektuellen Durchdringung, ja Transzen-
dierung der Gattungen und Stile steht Bachs Schaffen außerhalb der
Tradition; in der Tat haftet ihm in gewissem Sinne etwas Unzeitgemä-
ßes und damit Überzeitliches an. Die teils bis in die Extreme gesteigerte
Kunstfertigkeit stiftet musikalischen Sinn auf einer Vielzahl stilistischer
Ebenen und erlaubt die unterschiedlichsten analytischen Zugänge und
Kontexte. Der von Ludwig Finscher formulierte »Überschuss« an musi-
kalischem Gehalt bildete zugleich aber auch die Grundlage für Bachs
speziell in den 1730er Jahren betriebene weitreichende Parodiepraxis:
Seine musikalischen Satzgewebe stiften »Sinn« auch in völlig neuen
textlichen Zusammenhängen.31 Um die geschichtliche Bedeutung die-
ser hochartifiziellen satztechnischen Komplexität angemessen bewer-
ten zu können, ist es hilfreich, abschließend kurz noch einen – notwen-
digerweise vereinfachenden – Blick auf die Rezeptionsgeschichte von
Bachs Schaffen zu werfen.
   Es zeigt sich, daß das Erkennen, Verstehen und Würdigen der beson-
deren Qualitäten von Bachs Kunst das Ergebnis eines langwierigen hi-
storischen Prozesses waren. Die frühe Bach-Renaissance in den Jahren
um und nach 1800 – die von historisch interessierten Musikern wie
Johann Nikolaus Forkel und Karl Friedrich Zelter initiiert und maßgeb-
lich geprägt wurde – betonte in patriotischem Eifer das »Deutsche«
von Bachs Kunst.32 Die Verwendung fremder Stilelemente, die Zelter
mit klarem Blick erkannte, wurde hingegen marginalisiert; in einem
Brief an Goethe spricht er von dem allgegenwärtigen »französischen
Schaum«, mit dem Bach einer Mode seiner Zeit folgend seine deutsche
Polyphonie geschmückt habe, den man aber leicht »abheben« könne,

30 Siehe hierzu auch Christoph Wolff: » ›Die sonderbaren Vollkommenheiten des Herrn
   Hofkompositeurs‹. Versuch über die Eigenart der Bachschen Musik«, in: Bachiana et
   alia Musicologica. Festschrift Alfred Dürr zum 65. Geburtstag, hg. von Wolfgang Rehm,
   Kassel 1983, 356–362.
31 Siehe Ludwig Finscher: »Zum Parodieproblem bei Bach«, in: Bach-Interpretationen,
   hg. von Martin Geck, Göttingen 1969, 94–105.
32 Siehe hierzu ausführlich die Aufsatzsammlung Johann Sebastian Bach und die Nach-
   welt, Bd. 1: 1750 bis 1850, hg. von Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrich-
   sen, Laaber 1997.

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wenn man zu der eigentlichen musikalischen Substanz vordringen
wolle. Im Hintergrund dieser – die erste Phase der Bach-Rezeption des
19. Jahrhunderts kennzeichnenden – frühen Vereinnahmung von Bachs
Kunst für nationalisierende Bestrebungen stehen die napoleonischen
Eroberungen, die Freiheitskriege und die Neuordnung und Nationali-
sierung Europas in der Folge des Wiener Kongresses.
   Erst in einer späteren, mit Felix Mendelssohn und seinen epochalen
Bach-Aufführungen anhebenden Phase der Bach-Rezeption werden die
satztechnische Komplexität und Bedeutungsfülle von Bachs Musik als
eigentliches Fundament ihres künstlerischen Wertes und als Vorausset-
zung für ihre Internationalität, ja Universalität erkannt. Inzwischen ist
Bachs Musik seit nunmehr zwei Jahrhunderten als fester Bestandteil
des kulturellen Erbes Europas – wenn nicht gar der Menschheit insge-
samt – etabliert.

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