Kastration Europäischer Landschildkröten - SIGS
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Kastration Europäischer Landschildkröten BRIGITTE BRUN 1986 kam unsere erste Schildkröte Kle- Tiere hinzukamen, erweiterte sich sein opatra zu uns, ein ausgewachsenes Betätigungsfeld. Während der nächsten weibliches Tier. Wir hatten sie auf dem Jahre lebten diese vier Tiere einiger- Pannenstreifen der Autobahn gefunden. massen friedlich zusammen. Im folgenden Jahr wollten wir ihr Ge- 1995 und 1996 kamen zwei weitere sellschaft besorgen; Orpheus, eine männliche Tiere hinzu. Uns war damals halbwüchsige männliche Maurische noch nicht bewusst, welche Probleme Landschildkröte aus dem Zoofachge- dies auslösen würde. Orpheus und seine schäft, lebt seither bei uns. Während männlichen Kollegen wurden mit ih- der ersten Wochen schien er allerdings rem aggressiven Verhalten zunehmend Angst vor seiner Mitbewohnerin zu ha- zum Problem. Einmal bot sich uns die ben und rannte so schnell als möglich Möglichkeit, Orpheus, der mit Abstand weg, wenn er sie sah. Dieses Verhalten das aggressivste Verhalten zeigte, ab- änderte sich aber bald und er begann, zugeben. Unsere Kinder, die ihn jedoch sie zu rammen und zu besteigen. Als für sein Temperament und die Ge- kurz darauf zwei weitere weibliche schwindigkeit bewunderten, mit der er Unsere männliche Maurische Landschildkröte Orpheus. Foto: Brigitte Brun Testudo (SIGS), 29(3), 2020 21
auf kürzestem Weg dorthin gelangte, ren Verletzungen bei den weiblichen wo er wollte (also dort wo sich die Tieren. Weibchen aufhielten), wehrten sich je- Als wir 2007 von der Möglichkeit hör- doch vehement und so blieb Orpheus ten, mit Medikamenten den Ge- bei uns. schlechtstrieb zu dämpfen, beschlossen Ein Blick auf die Inserate in Onlinepor- wir deshalb, einen Versuch zu wagen. talen oder auf Abgabeversuche über Fa- Die Wirkung trat umgehend ein und der cebookgruppen zeigt die Dimension Sommer verlief in unserem Schildkrö- dieses Problems eindrücklich: Für Dut- tengehege angenehm entspannt. Gross zende von männlichen Tieren, deren war der Schreck, als im folgenden Verhalten untragbar geworden ist, wird Frühjahr zwar noch alle vier behandel- ein neuer, möglichst guter Lebensplatz ten Tiere aus der Winterstarre erwach- gesucht. Ein meist aussichtsloses Un- ten, bald aber massive gesundheitliche terfangen, da es bereits viel zu viele Probleme zeigten. Trotz intensiver männliche Tiere gibt. Am erfolgreichs- Pflege starben zwei Schildkröten innert ten ist die Haltung männlicher Tiere of- kurzer Zeit, ein Tier überlebte dank wo- fenbar in einer grossen Gruppe ohne chenlanger Pflege. Nur Orpheus hatte Weibchen, aber auch da muss sorgfältig keinerlei Probleme. auf den Umgang miteinander geachtet Ein Zusammenhang mit der chemi- und allenfalls die Zusammensetzung schen Kastration konnte zwar nicht der Gruppe verändert werden. nachgewiesen werden, aber für uns Mittlerweile lebten unsere Tiere in zwei kam diese Art der Behandlung nicht grossen Gehegen mit flexiblen Abtren- mehr in Frage. Als dann 2013 erstmals nungen. Orpheus Verhalten war derart erfolgreich Schildkröten im Tierspital aggressiv, dass er nicht einmal zeit- Zürich kastriert wurden, mussten wir weise mit weiblichen Tieren zusam- nicht lange überlegen und meldeten un- mengehalten werden konnte. War er al- seren Orpheus zusammen mit Attila, ei- lerdings allein in einem Gehege, nem Breitrandmännchen zur Kastration machte er einen sehr unglücklichen an. Unsere Kinder äusserten allerdings Eindruck, sass nur noch in einer Ecke Bedenken, dass sich dadurch auch sein und wollte nicht mehr fressen. Zum lebhaftes Temperament verändern Glück vertrug er sich mit einer männli- könnte. Denn dieses Verhalten war chen Griechischen Landschildkröte. nicht nur negativ: War er nicht gerade Die beiden lebten entspannt zusammen. auf Weibchenjagd, war er auch uns ge- Trotzdem war dies keine optimale Lö- genüber sehr neugierig, aufgeweckt sung, hätten wir es unseren Tieren doch und in der Hoffnung auf Futter stets be- gegönnt, wenn sie gemeinsam den gan- reit, auf dem kürzesten Weg zu uns zu zen verfügbaren Platz hätten nutzen kommen. können. Unsere anderen männlichen Im Juni 2015 war es so weit. Die beiden Tiere lebten mal gemeinsam, mal von Tiere hatten bereits zwei Tage vor dem den Weibchen abgetrennt. Trotz aller Eingriff nicht mehr fressen dürfen und Vorsicht kam es gelegentlich zu kleine- wurden von uns am Vortag der Opera- 22 Testudo (SIGS), 29(3), 2020
tion ins Tierspital gebracht. Am 17. schnell und nach etwa fünf Wochen Juni fand die Kastration statt. Dazu stand noch ein Besuch bei unserem wurden die Schildkröten narkotisiert. Tierarzt an, um die Fäden zu entfernen. Links und rechts in der Kniefalte vor Während Attila bereits unmittelbar dem Hinterbein wurde ein ca. 2 cm lan- nach dem Eingriff kein aggressives ger Schnitt gemacht. Mit dem Endo- Verhalten mehr zeigte, mussten wir skop und speziellen endoskopischen In- Orpheus weiterhin von den weiblichen strumenten wurden die Hoden, welche Tieren getrennt halten. Bei ihm hatte in der Körperhöhle liegen, entfernt. das aggressive Verhalten zwar deutlich Orpheus und Attila wachten anschlies- nachgelassen, war aber noch immer send in der Klinik auf und wir wurden nicht zumutbar für die Weibchen. Im telefonisch über den Verlauf der Opera- Folgejahr wurde der zweite Hoden ent- tion informiert. Allerdings war etwas fernt und das aggressive Verhalten liess Spezielles geschehen: Bei Orpheus langsam nach. Gross war unsere hatte aufgrund der enormen Grösse des Freude, als Orpheus drei Jahre nach der Hodens nur eine Seite operiert werden zweiten Operation endlich ins grosse können. Er sollte ein Jahr später (für Gehege zu den anderen Tieren umzie- uns kostenlos) auch noch auf der ande- hen durfte. Seither lebt er mit acht an- ren Seite operiert werden. Bei Attila deren Schildkröten (drei kastrierte war alles normal verlaufen. Männchen, fünf Weibchen) völlig ent- Am folgenden Tag durften wir die Bei- spannt zusammen, was zuvor undenk- den mit ausführlichen mündlichen und bar gewesen wäre. schriftlichen Instruktionen wieder ab- Für uns hat sich die Kastration unserer holen: Sie sollten die nächsten Tage männlichen Tiere gelohnt und wir wür- noch nicht im Freigehege verbringen, den dies sofort wieder machen. Der um ein Verschmutzen der frischen Ope- Eingriff löste viele Haltungsprobleme rationswunden zu verhindern. Zudem auf einen Schlag: Wir mussten seither wurden uns Spritzen mit einem bereits keine Abtrennungen mehr ins Gehege verwendungsfertig vorbereiteten einbauen, bei den weiblichen Tieren Schmerzmittel mitgegeben und es kam es nie mehr zu Verletzungen durch wurde uns gezeigt, wie wir ihnen dieses die Männchen und das Zusammenleben an den folgenden zwei Tagen unter die in der Gruppe erscheint sehr entspannt. Haut spritzen sollten. Orpheus wollte Sollten wir unsere Tiere einmal abge- im Spital noch nicht fressen. Zuhause ben müssen, können wir zudem mit gu- angekommen, stürzte er sich aber sofort tem Gewissen eine dauerhaft funktio- gierig auf das Grünfutter. Bald durften nierende Gruppe abgeben, die problem- unsere Tiere wieder zurück in ihr Ge- los zusammen gehalten werden kann. hege. Sie erholten sich völlig problem- Inzwischen haben wir noch drei weitere los und schienen sich zu keinem Zeit- Tiere unterschiedlichen Alters kastrie- punkt durch die beiden kleinen Schnitt- ren lassen. Auch in unserem Bekann- wunden oberhalb der Hinterbeine be- tenkreis wurden mehrfach Tiere kas- einträchtigt zu fühlen. Diese verheilten triert, die seither entspannt zusammen- Testudo (SIGS), 29(3), 2020 23
Die vorübergehende Unterkunft für die frisch operierten Schildkröten. Foto: Brigitte Brun Das Schmerzmittel musste nach der Operation noch täglich unter die Haut gespritzt werden. Foto: Brigitte Brun 24 Testudo (SIGS), 29(3), 2020
leben können. Das aggressive Verhal- sich komplett gewandelt: Unsere Tiere ten legte sich meist innert Tagen bis leben entspannt und ohne Abtrennun- Wochen nach der Operation oder spä- gen zusammen. Ganz selten hört man testens im Folgejahr. So lange wie bei noch ein „Klopfen“ im Gehege, wenn unserem Orpheus ging es bei keinem sich Orpheus an frühere Zeiten erinnert. anderen Tier, aber was sind schon drei Übrigens sind auch unsere Kinder mit Jahre angesichts der hohen Lebenser- dem Resultat zufrieden: Trotz Kastra- wartung unserer Tiere. tion hat sich der Charakter von Orpheus Ein weiterer zunehmend wichtiger As- nicht verändert und er könnte wohl pekt der Kastration: Naturbruten, die in nach wie vor eine Auszeichnung als den vergangenen Jahren zunehmend zu schnellste Schildkröte gewinnen. einem Problem wurden, können so zu- Adressen von Tierärzten, welche die verlässig verhindert werden. Man muss Kastration von männlichen Schildkrö- sich allerdings bewusst sein, dass weib- ten vornehmen, finden Sie im TE- liche Tiere noch einigen Jahre, ohne STUDO und auf der SIGS-Webseite Kontakt zu einem zeugungsfähigen (https://www.sigs.ch/kastration.aspx). Männchen zu haben, befruchtete Eier legen können. Diese Wirkung setzt also nicht sofort ein. Aktuell betragen im Tierspital Zürich die Kosten für eine Kastration CHF 800.-. Werden zwei Schildkröten aus demselben Bestand gleichzeitig behan- delt, reduzieren sich die Kosten auf ins- gesamt CHF 1’200.-. Die Kosten scheinen auf den ersten Blick sehr hoch. Die Kastration ist aber mit einem grossen technischen und per- sonellen Aufwand verbunden. Zudem ist zu bedenken, dass man sich für die gesamte Lebensdauer der Tiere sepa- rate Gehege, Frühbeete, Abtrennungen etc. ersparen kann. Wir sind deshalb überzeugt, dass sich die Kastration männlicher Schildkröten langfristig auch finanziell lohnt. Im Vordergrund steht aber die Chance, auch männlichen Tieren ein artgerechtes Leben zu er- möglichen. Wir sind froh, dass wir uns für das Kastrieren entschieden haben. Das Zu- sammenleben in unseren Gehegen hat Testudo (SIGS), 29(3), 2020 25
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