MANCHMAL WERFE ICH MITTEN IM SATZ EINEN BLICK AUF DIE BILDER
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«MANCHMAL WERFE ICH MITTEN IM SATZ EINEN BLICK AUF DIE BILDER…» EINE ANDERE ART DES LESENS: ERGEBNISSE AUS DEM PROJEKT Tema «READING GRAPHIC NOVELS IN THE EFL CLASSROOM» Reading graphic novels in general and in the foreign language classroom, is a complex multimodal decoding process which calls for comics literacy. Even though many pupils are familiar with comics and graphic novels, the project «Reading Graphic Novels in the EFL classroom» provides both evidence of the pupils’ comics literacy and the need to embed graphic novels in the curriculum in order to train their competences of reading graphic novels, at the same time enhancing further competences (linguistic, cultural and literary). The article shares insights into the pupils’ reading habits, their oral retelling competences. Nikola Mayer | Graphic Novels1 haben in den vergange- argumentierten: «[…] either comics are nen 20 Jahren den Buchmarkt und die Le- effective aids to literacy, because they are PH Zürich senden erobert. Ihr Weg in die Literatur “easy”»; or comics are poor aids, perhaps und ihre Akzeptanz als ebenbürtige und even obstacles to literacy, because they gewinnbringende Lektüre und Leseer- are “easy”.» (Hatfield 2005, 38) Prof. Dr. Nikola Mayer fahrung, die schliesslich Eingang in die ist Professorin an Lehrpläne der Schulen fand, war steinig. Eine andere Art des Lesens: der Pädagogischen Hatfield (2005) liefert eine Darstellung Comics Literacy Hochschule Zürich dieses Prozesses anhand der US-amerika- Was in dieser frühen Debatte keine Be- und als Dozentin in nischen Comics-Forschung ab den 1940er achtung fand, wird heute herausgehoben, der Ausbildung von Jahren. Er stellt die abwertenden Ein- nämlich dass Comics und Graphic Novels Englischstudierenden schätzungen dar, mit denen Comics und eine eigenständige Kategorie bilden und für die Sek I tätig. Comics-Lesende konfrontiert wurden dass das Lesen dieser Texte nicht mit dem und die über allem schwebende Grund- Lesen von Verbaltexten2 gleichgesetzt satzdiskussionen, ob die Lektüre von Co- werden kann, sondern eigenen, nicht mics überhaupt als «Lesen» bezeichnet minder komplexen, Gesetzmässigkei- werden könne. Im Vergleich zum Lesen ten folgt. Hatfield benennt dies als «the von Verbaltexten fielen Comics stark ab, specificity of the comics reading experi- da die Bildebene zu dominant sei und ence.» (ibid.) Der aktuelle Forschungs- der verbale Teil nur «einfache» Spra- stand zu graphischen Texten anerkennt che biete. Es kristallisierten sich zwei dieses Alleinstellungsmerkmal. Schüwer Denkschulen heraus, die beide mit der betitelt sein Abschlusskapitel «Only in Einfachheit dieser visuell/verbalen Texte the comics» und zahlreiche andere Co- 1 Für eine Diskussion des Begriffs Graphic Novels verweise ich auf die Einleitung in diesem Heft. Mitunter verwende ich bewusst den Begriff Comics, wie z.B. beim Verweis auf die Diskussion von Hatfield. Oder ich verwende beide Begriffe, um so eine umfassendere Textgruppe zu adressieren. 42 | BABYLONIA tema 2|2020
Graphic Novels haben in den vergangenen 20 Jahren den Buchmarkt und die Lesenden erobert. Ihr Weg in die Literatur und ihre Akzeptanz mics-Forschende werden nicht müde, dern, sondern Verstehen erfordert die ak- die Eigenständigkeit des Mediums und tive Mitarbeit und das Sich-Einlassen der als ebenbürtige und die Andersartigkeit des Leseprozesses zu Leserschaft. McCloud (1994: 68) spricht betonen (vgl. u.a. Hescher 2016, Schüwer von einer Komplizenschaft zwischen Au- gewinnbringende Lektüre 2008, Hatfield 2005). Es gibt verschiedene tor und Lesenden als «silent accomplice» Auffassungen dazu, ob graphische Texte und «equal partner in crime». Aus dem und Leseerfahrung, die eher vom Bild oder vom Wort her ge- Zusammenspiel von sinnentnehmenden dacht werden sollten, ob also eine Ebene Lesekompetenzen und der Fähigkeit, schliesslich Eingang in stärker im Vordergrund steht. Unterm visuelle Medientexte zu dekodieren Strich geht es aber immer darum, wie – Visual Literacy – entwickelt sich die die Lehrpläne der Schulen sich diese beiden sinngebenden Elemen- multiliterate Kompetenz, Graphic Novels te ergänzen oder auf einander beziehen zu verstehen. Hierfür erscheint mir der fand, war steinig. und wie durch diese Wechselbeziehung Begriff der Comics Literacy als Bündelung ein Mehrwert generiert wird: «[…] the der verschiedenen Literalitäten, wobei interesting issue about the comics dis- das Ganze mehr ist als die Summe der course is how the verbal and the pictorial Einzelteile, besonders aussagekräftig. cross-reference to each other, how they Hammond definiert Comics Literacy als intersect on different planes and generate «fluency in the unique language of co- meaning on a larger, more complex sca- mics and its visual grammar» (Hammond le: in short, the verbal-pictorial mise en 2009, 42). Wallner (2017) geht darüber scène» (Hescher 2016: 107). Bild und Text hinaus und spricht sich für die Notwen- stehen miteinander in Verbindung, aber digkeit der gegenseitigen Verquickung sie verschmelzen nicht notwendigerwei- der Ebenen aus. Er definiert Comics Liter- se. Aus diesem Grund macht es Sinn, acy als «social and contextual meaning Comics und Graphic Novels als hybride making with comics – both how we view Textform – «hybrid medium» (Chute comics as a form of literature and how / DeKoven 2006, 767) – zu verstehen: we make meaning with those comics we «The medium of comics […] is compo- have in front of us.» Ich schliesse mich sed of verbal and visual narratives that diesem Verständnis von Comics Literacy do not simply blend together, creating an. Koch (2016) verwendet den Begriff a unified whole, but rather remain dis- der Comickompetenz (im Folgenden zur tinct.» (ibid. 769) Es handelt sich also besseren Lesbarkeit Comic-Kompetenz). nicht um einfache Texte, sondern um Comic-Kompetenz ist für Koch kein se- komplex verwobene, multimodale Texte parater Kompetenzbereich und umfasst (siehe hierzu die Darstellung zu Bull/ «zugeschnitten auf Comics relevante Anstey 2019 später im Text). Rezeptionsmodalitäten» wie «Sprechrei- Auch der Leseprozess ist keineswegs nur henfolge bzw. Leserichtung», «Gefühle» ein Überfliegen mit Fokus auf den Bil- und «Text-Bild Bezüge». (Koch 2016, 26) 2 Der Begriff «Verbaltexte» ist im Deutschen etwas ungewöhnlich, ist aus meiner Sicht eine treffende Formulierung. Verwendet wird er z.B. von Hangartner, Keller, Oechslin (2014). Wissen durch Bilder. Bielefeld: transcript Verlag. Ebenfalls bei O’Sullivan (2000) und Weinkauf/von Glasenapp 2018, 3. Aufl. In der englischsprachigen Literatur findet sich häufig die Gegenüber- stellung von «verbal» and «visual» text. 2|2020 tema BABYLONIA | 43
Zudem erfordert das Lesen von Graphic Novels andere Strategien als das Lesen von Verbaltexten. Statt schnell darüber hinwegzufliegen, geht es Mit Blick auf die Comic-Kompetenz der Das Projekt «Reading Graphic darum, in die Bildwelten SuS weisen Kochs Daten darauf hin, dass Novels in the EFL Classroom» in den von ihr überprüften Bereichen die Um mehr darüber herauszufinden, wie einzutauchen, sie zu Mehrzahl der SuS über eine mittlere oder SuS Graphic Novels in der Fremdsprache hohe Comic-Kompetenz verfügt. Dabei Englisch lesen, habe ich an einer Schwei- studieren, mit dem Text zeigt sich, dass mit steigender Klassen- zer Kantonsschule in drei Parallelklassen stufe und sprachlicher Kompetenz auch der Klassenstufe 8 ein Forschungsprojekt abzugleichen und erneut zu die Comic-Kompetenz der SuS wächst. durchgeführt. Die Lehrperson unterrich- (vgl. Koch 2016, 217-220). Wenig über- tete in allen drei Klassen die Graphic No- lesen. raschend lässt sich auch ein «positiver vel American Born Chinese (im Folgenden Zusammenhang» (Koch 2016, 219) zwi- ABC) von Gene Luen Yang. Erkenntnis- schen der Häufigkeit, in der Comics im leitend für meine Untersuchung waren Englischunterricht eingesetzt werden folgende Forschungsfragen: und der Comic-Kompetenz der SuS ab- 1. Wie lesen bzw. dekodieren Schülerin- lesen. nen und Schüler eine englische Graphic Novel? Welche Verbindungen entstehen Graphic Novels im zwischen der visuellen und der verbalen Englischunterricht der Ebene? Wie werden die multimodalen Sekundarstufe Informationen in Sprache bzw. in die Auch wenn die Meinung häufig vertre- Fremdsprache überführt? ten wird, dass Jugendliche bereits mit 2. Welche methodischen und inhalt- der Lektüre von Graphic Novels vertraut lichen Schlussfolgerungen lassen sich sind, widersprechen die Erfahrungen von daraus für das Unterrichten mit Graphic Lehrpersonen dieser Auffassung: «Tea- Novels im Englischunterricht ziehen? ching graphic novels to students has Der Ansatz von Bull and Ansteys für die taught me that it is important to avoid Arbeit mit multimodalen Texten im Klas- the assumption that students are fami- senzimmer war eine wichtige Leitlinie liar with reading comics merely because für die Analyse meiner Daten. Die Auto- comics are most often associated with ren haben fünf semiotische Systeme der kids.» (Bakis 2014, 2). Vor allem das vi- Multimodalität (u.a. Bull/Anstey 2019) suelle Dekodieren, das einen wesentli- herausgearbeitet: linguistic, visual, audio, chen Teil der Comics Literacy darstellt, ist gestural, spatial. Sind zwei dieser Systeme nicht automatisch vorhanden, sondern gegeben, so sprechen Anstey/Bull von muss im Zusammenhang mit dem Ein- einem multimodalen Text. In Graphic satz von Graphic Novels geschult wer- Novels sind, in einer comics-spezischen den. Decke-Cornill/Küster (2015, 150) Auslegung, fast immer alle Systeme verweisen darauf, wenn sie schreiben, vorhanden. Die verbale (linguistic) und dass «[d]em Bildhaften fälschlicherweise visuelle Komponente bilden jeweils die gemeinhin eine Selbstevidenz unterstellt Grundlage. Bei der auditiven Dimension [wird].» Zudem erfordert das Lesen von (zentral sind volume und sound effects) Graphic Novels andere Strategien als das fehlen zwar akustische Signale, aber die- Lesen von Verbaltexten. Statt schnell da- se kommen über Comics-Elemente wie rüber hinwegzufliegen, geht es darum, Lautmalerei (Bang, Arrgh etc.), beson- in die Bildwelten einzutauchen, sie zu dere Markierungen (Fettdruck = laut; studieren, mit dem Text abzugleichen gestrichelte Sprechblase = Flüstern etc.) und erneut zu lesen oder anders ausge- und die Auswahl der Farben in den Text. drückt, um das Anwenden einer «in der Das gestische System präsentiert auf der Textgattung angelegten Zickzack- und visuellen Ebene alle von Anstey/Bull an- Mehrfachlektüre» (Koch 2016: 23). gegebenen Aspekte (movement, speed and 44 | BABYLONIA tema 2|2020
In Graphic Novels sind, in einer comics-spezischen Auslegung, fast immer alle semiotischen Systeme vorhanden. Die verbale und visuelle Komponente bilden stillness in facial expression and body langu- zu ihrem Leseprozess heraus. Der he- jeweils die Grundlage. Bei age). Auch die Untergruppen des räumli- terogenen Schülerschaft3 wurde wurde chen Systems (proximity, direction, position die unten abgebildete Aufgabe vorgelegt der auditiven Dimension of layout and organisation of objects in space) (vgl. Abb. 1): sind elementar für Graphic Novels. Eine ausführliche Analyse dieser Szene fehlen zwar akustische Im Folgenden möchte ich nun Einblicke findet sich im Babylonia 2/2019 und in in das Projekt geben und ausgewählte Mayer/Tesch 2020 (hier vor allem mit Signale, aber diese Ergebnisse darstellen. Ich stelle zunächst einem kulturellen Fokus). An dieser die Comics-Aufgabe «Journey into Moha- Stelle sollen deshalb nur die markanten kommen über Comics- wk Country» aus dem ersten Fragebogen Ergebnisse gebündelt werden: (Q1) vor, die sowohl den Leseprozess als › Ein Teil der SuS fokussiert zuerst auf Elemente wie Lautmalerei, auch die Interpretation der Szene bein- das Gesicht des jungen Schreibers und haltet. In einem zweiten Schritt präsen- versucht dessen sich leicht ändernde besondere Markierungen tiere ich die Videostudie zu ABC. Hierbei Mimik zu deuten. Die SuS stellen eine handelt es sich um eine mündliche Nach- Verbindung zu der dargestellten Person und die Auswahl der Farben erzählung mit Bildunterstützung einer her, nehmen den Schreiber als Gegen- zuvor gelesen Originalszene. über wahr und dekodieren seinen Ge- in den Text. sichtsausdruck: «Der Mann wird von Fragebogen 1 (Q1): Die Comics- Bild zu Bild wütender»; «[…] and that Aufgabe «Journey into Mohawk he has another face» Country» › Ein anderer Teil der SuS richtet das Vor Beginn des Unterrichtsprojekts Augenmerk als erstes auf das Kreuz, mit der Graphic Novel ABC füllten die das durch den Strahlenkranz und die Schülerinnen und Schüler den ersten zentrale Position auf der Brust des Fragebogen (Q1) aus, über den ich gene- Schreibers auf dem mittleren der drei relle Informationen über die SuS, aber Panels und die goldene Farbe herausge- auch Einblicke in ihre Comics Literacy hoben ist. Für die Szene ist das Kreuz, gewinnen wollte. Ich greife aus diesem das eine kulturkritische Anmerkung Fragebogen die Comics-Aufgabe und die des Comiczeichners aus dem Jahr 2006 daran anschliessenden Aussagen der SuS zu dem Originaltext aus dem Jahr 1634 3 In Absprache mit der Lehrperson habe ich die Aufgabe auf Englisch und Deutsch formuliert, um so die unterschiedlichen Kompetenzen der SuS zu berücksichtigen. Einige SuS der Klasse sind muttersprach- lich Englisch. Es stand den SuS frei, in Abbildung 1: Journey into Mohawk Country 2006, 22. welcher Sprache sie antworten. 2|2020 tema BABYLONIA | 45
Die Fokussierung auf den Text verweist auf unsere westliche ist, der Schlüssel zum Verständnis. Erst 42% der Schülerschaft (n=78) kreuzt an, kulturelle Prägung, die wenn das Kreuz in Verbindung mit den dass ihr Fokus zuerst auf die Bilder ging. Glücksbringern der amerikanischen Ein ebenfalls hoher Anteil der SuS (36%) dem geschriebenen Wort Ureinwohner gebracht wird, verändert liest zuerst den Text. Die Option Text sich die Auslegung der Szene: die Le- und Bild gleichzeitig aufgenommen zu einen hohen Stellenwert serschaft sieht und weiss sozusagen haben, wählen 15%. Ein geringer Pro- mehr als der Schreibende selbst und zentsatz (6%) der SuS sieht die eigene einräumt. so können jetzt kulturelle Praktiken Lesart in keiner der drei vorgegebenen hinterfragt werden (vgl. hierzu Mayer/ Varianten bestätigt. Tesch 2020). Die vorangestellten Ergebnisse zu der Co- › Für einen Teil der Schülerschaft blei- mics-Aufgabe haben bereits die visuelle ben die Ebenen getrennt; sie beschrei- Auslegung aufgegriffen, deshalb gehe ich ben die Szene, entschlüsseln sie aber nun auf die anderen Antwortmöglichkei- nicht oder nur in Ansätzen. ten ein. Die Fokussierung auf den Text › Ein weiteres Ergebnis, das sich an- verweist auf unsere westliche kulturelle hand der kurzen Texte der SuS ablesen Prägung, die dem geschriebenen Wort lässt, ist, dass die SuS die kleinen Ver- einen hohen Stellenwert einräumt. Eine änderungen zwischen den drei Panels Schülerin bringt dies auf den Punkt: «I wie die kleinen, aber bedeutsamen Be- am a person that starts reading a text wegungen (der Griff zum Kreuz) und automatically, if there is one. My eyes die (scheinbar plötzliche) Präsenz des just start reading every written thing Kreuzes, verbalisieren und so ihren they see.» Interessant sind auch die bei- Texten eine neue Dynamik verleihen: den anderen Zugänge («I took it all in at «[…] but then I saw the cross»; «Mir fiel once.» bzw. «other»). 12 SuS sprechen auf, dass plötzlich das Kreuz da war.»; sich dafür aus, dass sie alles gleichzei- «Then, suddenly, a cross falls out of his tig im Blick haben. Schüwer zweifelt shirt, a symbol of luck in the Christian an, dass das wirklich möglich sei und world.» (meine Hervorh.) argumentiert stattdessen für eine so- genannte «virtual simultaneity» (vgl. Bild oder Text? Wohin geht der Schüwer 2008: 322; 399). Diejenigen SuS, primäre Fokus? die sich für keine der drei vorgegebenen Im Anschluss an die Comics-Aufgabe Aussagen entscheiden konnten, doku- wurden die SuS gebeten, zu markieren, mentieren ihren Leseprozess bewusst als welche der folgenden Aussage für ihren Wechselbeziehung zwischen Wort und Leseprozess zutrifft: Bild: «Manchmal werfe ich mitten im Satz einen Blick auf die Bilder, damit How did you do it? Please tick:: der Satz einen Zusammenhang mit der bisherigen Geschichte für mich ergibt.» I first read the text and then Eindrücklich ist auch das Beispiel eines o 33 x looked at the pictures. Comics-affinen Schülers, der ein mehr- I first looked at the pictures schrittiges Verfahren dokumentiert: o 88 x and then read the text. › Ich sah zuerst die Art des Comics. 4 Eine Zusatzfrage war an Comics-affine SuS o I took it all in at once. 12 x › Dann überflog ich das Bild für einen adressiert und bezog sich darauf, ob sie Gesamteindruck. Other ways / further com- graphische Texte schneller oder langsamer 05 x › Dann las ich den Text genau durch ments lesen. › und dann sah ich mir das Bild noch- 46 | BABYLONIA tema 2|2020
Die Antworten der SuS zeigen die individuellen mal genau an und achtete auf die Einzelheiten. Lesarten und dass die Diese Beschreibungen des Leseprozesses korrespondieren mit den Erkenntnissen von Comics-Forschenden und der Strategie des Zickzack- und Mehrfachlesens und Frage nach dem primären unterstreichen die Hybridität des Mediums und des Dekodierungsprozesses (vgl. z.B. Downey 2009, 181). Einige SuS4 haben zudem Aussagen zur Lesedauer gemacht. Fokus auf Text oder Bild Einige bestätigen das überfliegende Lesen von Comics mit dem Argument, dass es nur wenig Text gibt: «I think [I read] faster, because there is less text and I mostly variiert. browse comics.»und «I think I just fly through the text. I think normal reading takes much more concentration. In comics there’s often less text than in normal books.» Demgegenüber stehen diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich mehr Zeit zum Lesen eines Comics nehmen, die die Bilder eingehend betrachten, richtiggehend studieren, Text und Bild abgleichen und im wahrsten Sinne auf der Seite verweilen: Hier schliesst sich der Kreis zu der Comics-Aufgabe: die Antworten der SuS zeigen die individuellen Lesarten und dass die Frage nach dem primären Fokus auf Text oder Bild variiert. Zentral ist jedoch, dass immer dann, wenn die SuS zwischen beiden Ebenen hin- und herwechseln und sie miteinander in Verbindung setzen, so wie das die erfahrenen Comics-affinen SuS beschreiben, die sich in der Regel hierfür auch Zeit nehmen, die Komplexität der Szene aufgebrochen und der Sinn erschlossen wird; oder anders ausgedrückt, diese SuS belegen, dass sie über Comics Literacy verfügen. Die Videostudie zu einer Szene aus American Born Chinese Während die Graphic Novel ABC im Unterricht behandelt wurde, habe ich mit ausgewählten SuS eine Lernaufgabe videographiert. Die Aufgabe bestand aus zwei Teilen: im ersten Teil wurde den SuS eine doppelseitige Szene aus ABC (Abb. 2) im Original vorgelegt. Die Probanden durften diese in Ruhe durchlesen und Fragen zum Verständnis stellen. In einem zweiten Schritt wurde die Szene mit leeren Sprech- blasen angeboten, wobei die Denkblase mit der Abbildung der Schildkröte (Panel 7) beibehalten wurde und bei den letzten beiden Panels zwei Sprechblasen (Panel 8) und eine Denkblase (Panel 9) eingefügt wurden. 2|2020 tema BABYLONIA | 47
Amelia, in die Jin Wang verliebt ist, hat die Phrase «in actuality…». Zudem finden sich freiwillig für eine Zusatzaufgabe ge- sich typische Elemente von classroom meldet. Der Lehrer sucht nun noch ei- language wie «to raise one’s hand», «to nen zweiten Freiwilligen. Wei Chen will volunteer» oder «to make noise». seinen Freund Jin Wang dazu überreden. Jin Wang versucht ihn zum Schweigen «… then why are you making so zu bringen und so entsteht das Miss- much noise back there?» verständnis, dass der Lehrer Wei Chens Bei der Analyse der Videos habe ich mich ausladende Arme als Meldung auffasst. an den semiotischen Systemen der Mul- Wei Chen bleibt nichts anderes übrig, timodalität von Bull/Anstey (2019) ori- als den Job selbst zu übernehmen. Die entiert. In meinem Beispiel stehen das Panels sind alle aus der Frontal- bzw. akustische und das gestische System im Semifrontal-Perspektive dargestellt. Der Vordergrund. Mein Fokus liegt darauf, Blick geht auf die hinteren beiden Reihen wie die SuS die Frage des Lehrers an Wei im Klassenzimmer; nur auf den Panels 3 Chen: «… then why are you making so und 5, wo der Lehrer zu sehen ist, dreht much noise back there?» aufgegriffen sich die Perspektive. Die Panels 1, 2, 4, haben. Das akustische System in diesen 6 und 7 sind gleich gross und zeigen Jin 5 Panels (Abb. 3 ABC 2006, 92 ) bezieht Wang und Wei Chen vor der braunen sich zum einen auf das Gespräch zwi- Wandtafel. Panels 3 und 5 (Fokus auf schen den beiden Jungen auf der verbalen den Lehrer) rahmen Panel 4 graphisch Ebene. Dies findet im Flüsterton statt ein. Panel 8 nimmt Amelia und Greg in (gestrichelte Sprechblase), eskaliert aber den Fokus. Panel 9 ist ein schmales Ein- rasch (Fettdruck). Parallel dazu verläuft zelbild von Jin Wang. Aus sprachlicher das gestische System auf Bildebene. Jin Sicht enthält die Szene die idiomatische Wang beugt sich zu Wei Chen und nimmt Wendung bzw. den Chunk «Now is a den Zeigefinger vor den Mund, um ihn chance for your lifetime.»; die kulturell zum Schweigen zu bringen. Wei Chen kodierte Metapher «cowardly turtle» und macht eine ausladende Bewegung mit Abbildung 2: ABC 2006, 92-93. 48 | BABYLONIA tema 2|2020
seinem Arm (Panel 1); seine Gestik wird ziehen, dass die idiomatische Wendung im folgenden Panel grösser, wenn sein «to make noise» bei der Mehrzahl der Arm nach oben geht und er mit dem SuS noch nicht gefestigt ist. Die Ver- Zeigefinger auf Jin Wang deutet. Diese wendung im Originaltext im present Interaktion wird durch die erste Frage Continuous – «why are you making so des Lehrers unterbrochen «Wei Chen, are much noise» und die Verstärkung mit you volunteering?» Dadurch verändert «much» könnten mögliche Stolpersteine sich die Körperhaltung der Jungen. Sie sein. Die Paraphrasierung mit den Adjek- sitzen jetzt kerzengerade und verharren tiven «loud» und «quiet» ist zwar eine in ihren jeweiligen Positionen, so dass sprachliche Vereinfachung, erfüllt aber Panel 4 wie ein «freeze frame» wirkt. den Zweck, die Geschichte sinngemäss zu Wei Chen gerät in Stress (die kleinen wei- erzählen und könnte ein Hinweis darauf ssen Flecken hinter ihm deuten Schwit- sein, dass die SuS die visuelle Ebene als zen an) und stottert («uh…»), bis ihn der Unterstützung herangezogen haben. Lehrer mit seiner zweiten, in zwei Panels Im Nachgespräch habe ich die SuS ge- aufgebrochene Frage unterbricht: «Wei beten, mir die Panels zu zeigen, bei de- Chen if you aren’t volunteering» (Panel nen ihnen die Bilder geholfen haben. 4) «then why are you making so much Ein Grossteil der SuS weist auf Panel 2 noise back there?» (Panel 5) Das «back hin und dass dieses Panel sozusagen ein there» ist verbal und visuell verankert: Schlüssel für das Verständnis der Sze- hinter den beiden Jungen ist jeweils eine ne ist: «Also, zum Beispiel da halt die Wandtafel sichtbar. Gestik, da steht sozusagen schon alles, Bei der Auswertung der Schülertexte dass er sagt «Nein, du bist jetzt einfach zeigt sich, dass der Baustein «back the- ruhig!» Und er ruft so und es sieht so re» nur von zwei SuS aufgegriffen wird: aus, als wäre er ganz laut, weil er noch «Wei Chen, why are you volunteering? die Hand so hebt. Also, das sieht so aus, And when not, why are you making so much noise back there?» und «You boys back there, what are you doing right now?» (meine Hervorheb.) Die übrigen SuS lassen diese räumliche Verortung weg. Die Wendung «making so much noise» hingegen ist zentral für die Sto- ryline. Alle SuS rekurrieren darauf, wenn auch nicht alle mit dem Idiom selbst. Es zeigen sich folgende Variationen: die SuS übernehmen die Formulierung fast ori- ginalgetreu; einige verwenden «noise» in der nicht gebräuchlichen Pluralform «Why do you make such noises?»; das Verb «make» wird mit «do» ersetzt «Why did you done so much noise?» [sic] Einige SuS paraphrasieren die idi- omatische Wendung mit akustischen Adjektiven: «Wei Chen, why are you so loud?»; «Wei Chen, why so loud?»; «Please be quiet.» Aus den Texten der Schülerinnen und Schüler lässt sich die Schlussfolgerung Abbildung 3: ABC 2006, 92 2|2020 tema BABYLONIA | 49
Gerade das Spiel mit der Perspektive, dass wir als Lesende den Schreiber mitbeobachten und über seine eigene Befremdung bzw. Begrenztheit hinausgehen können, ist ein grosses Potential bei der Arbeit mit Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht. als würde er halt ganz laut sprechen und verschiedenen semiotischen Systeme ihm sagen «Du musst das machen, das aufgegriffen haben, um die Geschichte ist deine Chance!» kohärent nachzuerzählen. Sprachlich gab In der Gesamtschau der Schülertexte es eine Bandbreite an Formulierungen zeigt es sich, dass alle SuS die Storyline und Komplexität und Korrektheit. Ein stimmig nachvollziehen und dabei so- spannendes Ergebnis war auch, dass die wohl durch die leeren Sprechblasen als SuS stark auf die Emotionen und Be- auch durch die Bilder unterstützt und ge- wegungen fokussierten und dies auch leitet werden. Anhand der Frage «…then sprachlich verarbeiteten. Als Ausblick why are you making so much noise back möchte ich nun mit Bezug auf die zweite there?» wird eine Priorisierung auf das Forschungsfrage einige zentrale metho- Wesentliche deutlich – die Szene funk- dische und inhaltliche Vorgehensweisen tioniert nur, wenn das Missverständnis für die Arbeit mit Graphic Novels im zwischen Wei Chen und dem Lehrer er- Fremdsprachenunterricht vorstellen: zählt wird, wohingegen die räumliche Verortung «back there» in dieser iso- Die Strategie des Verweilens: lierten Szene nicht signifikant ist. Die Aufbau von Comics Literacy Nachgespräche haben zudem deutlich In beiden Aufgaben habe ich mit begrenz- gemacht, dass die SuS die visuelle Ebene, ten Szenen gearbeitet. Die Comics-Lern- und hier vor allem auch die Körperspra- aufgabe bestand aus 3 Panels, die Szene che interpretiert und in Verbindung mit aus ABC aus 9 Panels. Die Zentrierung auf der Textebene gebracht haben. kurze, sinnvolle Ausschnitte – das kann auch ein Einzelpanel sein – bietet die Zusammenführung und Ausblick Möglichkeit, inhaltlich und analytisch in Abschliessend möchte ich meine For- die Tiefe zu gehen. Dabei geht es zunächst schungsfragen nochmals aufgreifen. darum, vor allem die Visual Literacy der Frage 1 verfolgte das Anliegen, mehr da- SuS durch detaillierte Beschreibungen rüber herauszufinden, wie die SuS eine und Wahrnehmung der Wirkung be- englische Graphic Novel lesen, wie sie stimmter visueller Aspekte auszubauen: die visuelle und verbale Ebene verbin- Describe the panel in your own words? What den und ihr Verstehen in die (Fremd-) is presented in the front/middle/back of the Sprache überführen. Hierzu haben mir panel? How do the colors affect your reading die Aussagen der SuS aus dem Frage- of the panel? How do the persons stand to bogen 1 wichtige Informationen über each other? etc. Dann wird die Verbindung die verschiedenen Lesegewohnheiten zur Textebene hergestellt, wobei hier die gegeben und vor allem die Comics-af- Reihenfolge nicht vorgegeben sein muss finen SuS konnten sehr klar über ihren und es letztlich darum geht, die Strategie Leseprozess berichten. Ein Teil der SuS des Zickzack-Lesens und des Mehrfach- war bereits in der Lage, die komplexe Co- lesens zu etablieren und um damit auch mics-Aufgabe aufzuschlüsseln und zeig- die Komplexität des Lesens von Graphic te so ein hohes Mass an Comics Literacy. Novels zu untermauern. Reflektierende Auch bei der Lese- Nacherzählaufgabe Gespräche über das Leseverhalten können zu ABC zeigte es sich, dass die SuS die diesen Prozess positiv unterstützen. 50 | BABYLONIA tema 2|2020
Förderung fremdsprachlicher der Sprachproduktion, und zwar sowohl Kompetenzen mit Graphic mündlich als auch schriftlich. Durch das Novels genaue Hinschauen und das daraus er- Die beiden von mir verwendeten Aufga- wachsende Verstehen kann, mit einiger benformate bieten viele Möglichkeiten, Übung, eine detaillierte sprachliche Dar- die sprachlichen Kompetenzen der SuS stellung angeregt werden. auf- bzw. auszubauen. Bei der Arbeit mit Graphic Novels bietet es sich an, die Kulturelles und literarisches Vokabelarbeit (auch in den Vokabelhef- Lernen mit Graphic Novels ten der SuS) immer situativ einzubetten Bei der Comics-Aufgabe geht es um eine und bildlich zu untermalen. Ausgehend kulturelle Aufarbeitung der Szene und von einzelnen Wörtern kann der Fokus das Hinterfragen von Perspektiven und zudem auf idiomatische Wendungen kulturellen Prägungen: What is familiar? und Chunks gelegt werden, die häufig What is different? Gerade das Spiel mit der Alltagssprache entnommen sind. Es der Perspektive, dass wir als Lesende den lohnt sich, intensiv an Szenen/Panels zu Schreiber mitbeobachten und über seine arbeiten und den Wortschatz mit bild- eigene Befremdung bzw. Begrenztheit lichen Darstellungen zu kodieren. Die hinausgehen können, ist ein grosses Po- «cowardly turtle» ist hierfür ein gutes tential bei der Arbeit mit Graphic Novels 5 Hierzu gibt es noch wenige Studien. Beispiel, aber auch die idiomatische Wen- im Fremdsprachenunterricht. Die visuelle Angwin, Cummings und Daellenbach dung «to make noise». Durch die Knüp- Ebene bietet eine direkt zugängliche Ver- (2019) haben eine Studie vorgelegt, bei fung an die visuelle Darstellung, kann die stehensbrücke an, die in einem Verbal- der sie der einen Hälfte der Probanden Behaltensleistung erhöht werden.5 Auch text nicht in dieser Form vorhanden ist. eine PP Präsentation mit Text, der anderen können so feine Unterschiede themati- Durch das Format der «Text-Bild-Auf- eine Präsentation mit Text und Bildern siert und herausgearbeitet werden, wie gabe» wird die Neugier der SuS geweckt vorlegte. Das Fazit der Forscher ist, dass die z.B. der zwischen «to raise one’s hand» und durch die Verbindung von Bild und Probanden mit der visuellen Unterstützung und «to volunteer», der für alle SuS zu- Text kommen die SuS kulturellen Fragen sich besser an die vorgestellten Strategien nächst unklar war. auf die Spur. Bei der von mir ausgewähl- erinnern konnte. Auch das eigene Malen Beide Aufgaben haben gezeigt, dass die ten Szene aus ABC stehen literarische und Zeichnen scheint sich hier positiv auf SuS ihre visuellen Wahrnehmungen (v.a. Aspekte wie Perspektivenwechsel und die Erinnerung und das Verstehen auszu- Emotionen, Körpersprache und Bewegun- Charakterentwicklung stärker im Vor- wirken vgl.: https://journals.aom.org/doi/ gen) in Sprache überführen. Auch das dergrund. epub/10.5465/amle.2018.0066 ist ein spannendes Feld zur Förderung Referenzen Bakis, M. (2012). The Graphic Novel Classroom. Hammond, H. (2009). Graphic Novel and der Befremdung’ – Kulturelles Lernen mit Powerful Teaching and Learning with Images. Multimodal Literacy. A Reader Response Graphic Novels. In: König, Lotta/ Schädlich, Thousand Oakes, CA: Corwin / Sage. Study. Zugriff 15. Juni 2020: http://hdl.handle. Birgit/Surkamp, Carola (Hrsg.): unterricht_ Bogaert, van den H.M.; O’Connor, G. 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