Mit Bürgerwissenschaft zur Flora des Kantons Zürich 2020
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4 FO R S C H U N G — A KT U E L L Mit Bürgerwissenschaft zur Flora des Kantons Zürich 2020 Von 2012 bis 2019 arbeiteten 250 fasst. Die letzte Flora wurde 1839 publiziert und Personen ehrenamtlich für die neue enthält 1140 Arten mit etwa 300 konkreten Fund- Flora des Kantons Zürich. Das um- angaben (Kölliker 1839). fangreiche Projekt konnte dank Bei- Im Jahr 1890 wurde die ZBG zum Zweck trägen verschiedener Sponsoren der Erarbeitung einer neuen Flora gegründet. Das professionell koordiniert und mit Resultat von rund 40 Jahren Arbeit waren 1200 einem Buch und einer Webseite handgeschriebene Manuskriptseiten mit rund erfolgreich abgeschlossen werden. 70 000 Angaben zu Fundorten und Häufigkeiten Die Flora besteht aus Steckbriefen von 2000 Arten (Baumann 1933), die jedoch unver- für 1757 im Kanton wildwachsende öffentlicht blieben. 2010 befand ein Ausschuss der Pflanzenarten, die sowohl historische ZBG, dass die bestehende Informationslücke zum als auch aktuelle Angaben zum Vor- aktuellen Zustand der Flora des Kantons und zu kommen enthalten. Ausführliche Be- den historischen Veränderungen mit einer neuen schreibungen des Naturraums, eine Flora gefüllt werden könnte und dass sich ein Pro- Bilanzierung des Florenwandels und jekt lohnen würde. Doch die Bedenken waren Exkursionsvorschläge sind wesentli- gross, sich auf eine mehrjährige Arbeit in der Frei- che Elemente des Buchs. zeit einzulassen. Eine Flora ist eine Liste von Pflanzenarten, die in Zwei Jahre Vorbereitungszeit einem Gebiet vorkommen. Oft sind in einer Flora Während zwei Jahren planten einige ZBG-Mitglie- Artbeschreibungen und Angaben zur Häufigkeit zu der an einem realisierbaren Projekt. Als Ziel wurde finden, und neuere Florenwerke enthalten Verbrei- festgelegt, innert fünf Jahren Felderhebungen tungskarten und Bilder zu einzelnen Arten. Gebiets- durchzuführen und einen Vergleich mit der frühe- floren werden in der Regel als Bücher publiziert. ren Flora zu ermöglichen. Das Projekt sollte nach Heute wird erwartet, dass derartige Informationen sieben Jahren mit einer Buchpublikation abgeschlos- auch im Internet auffindbar oder via App auf einem sen werden. Der ausführliche Projektplan mit dem Smartphone verfügbar sind. Ziel der Erstellung eines Buches und einer Websei- Info Flora, das nationale Daten- und Infor- te wurde 2012 beim Lotteriefonds des Kantons Zü- mationszentrum der Schweizer Flora, liefert ent- rich eingereicht. Gleichzeitig startete das Projekt sprechend schon länger landesweite Verbreitungs- mit einem Aktionsplan für das erste Projektjahr, karten sowie ökologische Angaben zu allen an dem sich rund 120 begeisterten Botanikerinnen, Pflanzenarten der Schweiz (www.infoflora.ch). Und Experten und Laien beteiligten. in Wikipedia sind viele dieser Arten zum Teil recht Das Inventar fand als Stichprobe auf 210 ausführlich beschrieben. Die Frage liegt daher auf Quadraten von je 1 × 1 km 2 Grösse statt (Abb. 1; Wohl- der Hand: Wozu dient eine Flora des Kantons Zü- gemuth et al. 2020). In jedem dieser Quadrate sollte rich, wenn bereits viele Informationen vorhanden von zwei bis vier Personen während zwei Jahren sind? Sollte überhaupt eine neue Flora erarbeitet eine Artenliste samt Angabe von Abundanzen er- werden? stellt werden. Für seltene Arten und Neophyten wurden koordinatengenaue Ortsangaben verlangt. Von der Initiative zur Flora Die Arbeiten dauerten letztlich sechs Jahre Diese Fragen stellte sich die Zürcherische Botani- und berücksichtigten auch 47 Quadrate in Grenz- sche Gesellschaft (ZBG) wiederholt, zuletzt 2009 lagen. Insgesamt kamen 130 000 Datensätze zu- nach einem inspirierenden Vortrag über die Flora sammen. Dank dem grossen Support durch Info von Küsnacht. Damals gab es keine aktuelle Flora, Flora konnten Artenlisten via Internet direkt er- die alle Farn- und Blütenpflanzen des Kantons um- fasst und in die Info Flora-Datenbank eingespeist
5 Vierteljahrsschrift — 1 | 2021 — Jahrgang 166 — NGZH Abb. 1. Geographische Lage der Stichprobe- quadrate (a), der unter- schiedenen Regionen (b), der historischen Fundorte bis 1930 sowie der aktuellen Fundmeldungen seit 2000. Die Farben in c) und d) kennzeichnen die Datenherkunft. Grün: Baumann (1933, nur in c); violett: Herbar; blau: Kölliker (1839, nur in c); rot: Info Flora; oliv: Kar- tierung der Flora des Kantons Zürich (2012– 2017, nur in d). werden. Da der Lotteriefonds im Frühling 2013 tematische und Evolutionäre Botanik am Botani- eine finanzielle Unterstützung des Projekts gut- schen Garten der Universität Zürich. Zusammen hiess, konnten alle Aktivitäten für die Dauer von mit dem Haupt Verlag wurde ein Buchprojekt ent- insgesamt sieben Jahren durch eine professionel- worfen, das Pflanzenbilder und Steckbriefe mit An- le Projektleitung koordiniert werden. Zusätzlich gaben zur Dynamik der Artverbreitung enthalten zum «Lottosechser» wurden weitere Mittel akqui- sollte. Mit einjähriger Verspätung auf den Projekt- riert, um die gesamten Projektkosten von CHF plan konnte das Buch am 9. März 2020 publiziert 925 000 zu decken. Weit mehr als 50 000 Arbeits- werden. Zeitgleich wurde auch die Flora-Webseite stunden wurden von rund 250 freiwilligen Mitar- aufgeschaltet: www.florazh.ch. beiterinnen und Mitarbeitern geleistet. Ein Steuerungsausschuss erarbeitete einen Historische und aktuelle Vorkommen etappierten Zeitplan, für dessen Einhaltung die Für die Erfassung von früheren Fundorten von Pflan- Projektleitenden Corina del Fabbro (2013–2018) zenarten waren insbesondere die Baumann-Flora und Gregory Jäggli (2019) zuständig waren. Das von 1933 sowie die Vereinigten Herbarien der Uni- Koordinationsbüro befand sich am Institut für Sys- versität und ETH Zürich als Quellen vorgesehen.
6 FO R S C H U N G — A KT U E L L Abb. 2: Artsteckbrief der Gemeinen Nattern- zunge, einer von 1757 wildwachsenden Gefässpflanzen im Kanton Zürich Durch die Transkription der Flora lagen viele Fund- nem dreiteiligen Text aus maximal 1000 Zeichen: ortsangaben in Form von Flurnamen vor. Mithilfe (1) Artbeschreibung, (2) Dynamik der Artverbrei- alter Karten wurden diese Orte geographisch loka- tung seit der ersten Flora und (3) Information über lisiert (Georeferenzierung). Die gleiche Arbeit wur- die Art zu Themen wie Ökologie, Taxonomie, Ge- de auch für alte Herbarbelege durchgeführt. Hierzu fährdung und Schutz, Morphologie, Evolution, dienten tausende Fotos von verifizierten Pflanzen- Nutzung, Toxikologie, Bedeutung des Namens funden. oder Volksnamen. Die 1757 Steckbriefe stammen Den Arbeiten zuhause am Computer und im von 24 Autorinnen und Autoren. Für weitere 503 Herbar widmeten sich 23 Personen. Mithilfe von Arten (Adventivarten, die nur vorübergehend Datenbank-Applikationen und Internet-Schnitt- durch menschliche Aktivität erschienen und wie- stellen von Alex Baumann wurden rund 43 000 der verschwanden, Nutz- und Zierpflanzen sowie historische Fundorte aufbereitet. knapp ausserhalb des Kantons wachsende Arten) In den Verbreitungskarten sind die histori- wurden Kurzbeschreibungen verfasst. schen und aktuellen Vorkommen der Arten – die ZBG-Feldinventare und alle weiteren bei Info Flo- Fotografien zu allen Arten ra gemeldeten Artvorkommen im Kanton – kombi- Während vier Jahren wurden Pflanzenarten mög- niert dargestellt. Während die aktuelle Häufigkeit lichst im Kanton fotografiert, um das Buch zu illus- einer Art – unterteilt nach «sehr selten», «selten», trieren. Mehrere hundert Arten konnten infolge «lokal häufig oder verbreitet», «häufig», «sehr häu- ihrer Seltenheit nicht gefunden werden, weshalb fig» – über eine Formel definiert ist (vgl. dazu den 2. auf bestehende Fotosammlungen zurückgegriffen Artikel auf S. 8-11), wurde die historische Häufigkeit wurde. Aus einem Fundus von ca. 36 000 Pflan- basierend auf den historischen Quellen gutachtlich zenbildern wurden schliesslich 3650 ausgewählt. abgeleitet. Die Einschätzungen ermöglichten span- Die Fotos stammen von 64 verschiedenen Bildau- nende Vergleiche. torinnen und weiteren Quellen. Artsteckbriefe Datenqualität Jede Art, die seit der ersten Flora über längere Zeit Während dem gesamten Projekt wurde grossen im Kanton gewachsen ist, wurde in einem Artsteck- Wert auf die Nachvollziehbarkeit der Daten und brief charakterisiert (Abb. 2). Ein Steckbrief besteht der Qualität aller Projekt-Elemente gelegt. Das aus zwei Bildern, einer Verbreitungskarte sowie ei- Stichprobendesign wurde unter Berücksichtigung
7 Vierteljahrsschrift — 1 | 2021 — Jahrgang 166 — NGZH aller verfügbaren Ressourcen definiert. Ein voll- schnitt mit mehr als 200 Stunden am Projekt be- ständiges Quadratkilometer-Inventar wie jenes des teiligten. Ohne die vielen Freiwilligen wäre ein Sihltals (249 km 2) (Landolt 2013) wurde aus Grün- Projekt dieses Umfangs nicht durchführbar gewe- den des zu grossen Zeitaufwands für den ganzen sen. Diese Art von Bürgerwissenschaft (engl. citizen Kanton (ca. 1800 km 2) verworfen, ebenso wurde science) ermöglicht es, grossflächige Arteninventa- von einer opportunistischen Datensammlung ab- re zu erstellen, die viel Feldarbeit erfordern und in gesehen, die vor allem die artenreichen Habitate denen das Wissen auf viele Personen verteilt ist. In berücksichtigt. der Zusammenarbeit kommt vor allem aber auch Eine Stichprobe von systematisch angeord- geteilte Neugierde, Erlebnisse, Erkenntnisse und neten Kilometerquadraten schien innert fünf Jah- Freundschaft zum Ausdruck. ren durchführbar. Basierend auf den Erfahrungen Thomas Wohlgemuth1, Corina Del Fabbro2 , Andreas Keel3, Michael Nobis1, Michael Kessler4 einer einwöchigen Pilotkartierung 2011 mit 40 Mitwirkenden wurde der Rahmen für die Inven- 1 Eidg. Forschungsanstalt WSL, Birmensdorf, 2 Pro Natura St. Gallen-Appenzell, St. Gallen, 3 Büro tarisierung von 2012–2016 festgelegt. An Bestim- Aceras – Ökologische Beratungen GmbH, Maur, mungsabenden während des Sommerhalbjahrs 4 Institut für Systematische und Evolutionäre Botanik, Univ. Zürich wurden Artenfunde kontrolliert. Eine Fachgruppe sichtete die Kartierbelege und prüfte die Angaben Literatur in den Inventarblättern auf Plausibilität. Weitere Baumann E. 1933. Manuscript zur Zürcher Flora. Zahlreiche lose Seiten geordnet nach Familien, Fachgruppen kontrollierten die Erfassung von his- Gattungen und Arten. Im Herbarraum des torischen Daten, die Fotovorschläge der Projekt- Botanischen Garten in Zürich eingeordnet. leitung, die Taxonomie und die systematische Kölliker A .1839. Verzeichnis der phanerogamen Gewächse des Cantons Zürich. Orell Füssli u. Ordnung im Buch. Alle Texte wurden von den He- Comp., Zürich. 154 S. rausgebern oder durch externe Fachleute begut- Landolt E. 2013. Flora des Sihltals von der Stadt achtet. Die mehrstufigen Reviews der Artsteck- Zürich bis zum Höhronen. Fachstelle Naturschutz Kanton Zürich, Zürich. 1001 S. briefe samt Revisionen wurde über eine eigens Wohlgemuth T., Del Fabbro C., Keel A., Kessler M. programmierte Internetanwendung abgewickelt. & Nobis M. (Hrgs.) 2020. Flora des Kantons Zürich. Zürcherische Botanische Gesellschaft, Haupt Verlag, Bern. 1127 S. Naturraum, Floraveränderung, Exkur- sionsvorschläge Wo und wieso eine Pflanze wächst, hängt mit dem Habitat und allgemein mit den aktuellen und frü- heren Umweltbedingungen zusammen. Im Buch wird als Einstieg hierzu auf 68 Seiten der Natur- raum des Kantons beschrieben, mit Kapiteln zu Geologie, Topographie, Klima, Böden, Vegetati- onsgeschichte, Landnutzung und Vegetation. Wei- tere Kapitel behandeln die Geschichte der botani- schen Erkundung des Kantons, eine Bilanz über 200 Jahre Florawandel sowie den Schutz der Flora. Auf 15 Seiten werden Exkursionen durch beson- ders eindrückliche Lebensräume im Kanton vor- gestellt. In drei weiteren Kapiteln sind die Erfas- sung der Artvorkommen sowie die Artsteckbriefe beschrieben. Eine Flora durch Bürgerwissenschaft Aus dem oben Dargestellten geht hervor, wie viele Personen zum Gelingen und zum Abschluss des Floraprojekts beigetragen haben. Eindrücklich ist dabei die Anzahl von 250 Leuten, die sich im Durch-
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