Nachrichten für Filmschaffende - DOK.fest München

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Nachrichten für Filmschaffende - DOK.fest München
422 | 10. Mai 2018

Nachrichten für Filmschaffende

herausgegeben von Peter Hartig in Kooperation mit www.crew-united.com
Nachrichten für Filmschaffende - DOK.fest München
422 | 10. Mai 2018                                                                                     Dokumentarfilme | 2

Dem Dokumentarfilm bleiben die Zuschauer weg, der Spielfilm soll sich vorsehen, sagt Arne Birkenstock (Titel): »Im Bergbau wurden früher

Kanarienvögel als Warnsystem vor Sauerstoffmangel eingesetzt. Wir Dokumentarfilmer sind die Kanarienvögel der Filmbranche.«

Ganz leeres Kino!
Auf Festivals wird er gefeiert, in den Kinos läuft er vor leeren Sitzen. Was ist bloß mit dem
Dokumentarfilm los? Arne Birkenstock gab in seiner Eröffnungsrede zum Kongress »Ganz
großes Kino?« beim Münchner Dokfest einen Einblick in die Realität der Filmemacher.

Text Arne Birkenstock

Titel und Foto: Dokfest München
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Ich bin gestern aus Toronto hier eingeflogen, wo        Noch herber ist die Enttäuschung bei unserer
zwei unserer Filme bei Hot Docs liefen und wo       Produktion Die Nacht der Nächte: Dieser überaus
Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt ihre        populär und unterhaltsam erzählte Film der Er-
neuen Filmprojekte gepitcht haben. Ja genau:        folgsregisseurinnen Yasemin und Nesrin Samde-
Die Kollegen, denen wir im März schon in Ko-        reli wurde von Concorde mit großem Einsatz
penhagen, im April in Nyon und heute in Mün-        herausgebracht.
chen begegnet sind. Und die wir dann im Juni in        Über den Film wurde in Tagesthemen, Heute-
Sheffield und La Rochelle, im Oktober in Leipzig    Journal, in Titel, Thesen, Temperamente und ei-
und im November in Amsterdam wiedersehen            nem Dutzend Kultur- und Regionalmagazinen
werden.                                             positiv berichtet, auch die Printmedien berichte-
   So ziehen wir Dokumentarfilmer als munte-        ten ausführlich und überwiegend begeistert. Es
rer, stets pitchender Wanderzirkus um die Welt      gab sechsstellige Klicks in den sozialen Medien,
und präsentieren uns und unsere Projekte den        in den großen Städten wurden Plakatwände und
immer gleichen sogenannten »decision makers«,       Litfaßsäulen beklebt. Wir starteten in 60 gut aus-
die zu ihrem eigenen Leidwesen immer weniger        gewählten Kinos, die dem Film zumindest einige
Entscheidungsmöglichkeiten haben.                   Abendvorstellungen zugestanden. Das Ergebnis:
   Nur ein Bruchteil dieser gepitchten Filme ent-   Nach drei Wochenenden hat der Film bundes-
steht dann wirklich. Zum Glück, möchte man sa-      weit gerade mal 8.700 Zuschauer in den Kinos
gen, sind es weltweit trotzdem jedes Jahr 30.000    eingesammelt.
Filme, die auf den Markt geworfen werden.              Leider liegen wir mit diesen Zahlen voll im
   Ganz großes Kino also? Diesen Anspruch er-       Trend. In den ersten vier Monaten des laufenden
füllt nur eine Minderheit dieser Filme. Ganz lee-   Jahres sind in Deutschland schon wieder 40 Do-
res Kino? Dieser Realität begegnen wir Doku-        kumentarfilme per Flächenstart in die Kinos ge-
mentarfilmer in Deutschland inzwischen eigent-      kommen, darunter 21 deutsche Produktionen.
lich fast immer.                                    Davon erreichten 18 keine 10.000 Zuschauer, 15
   Wir haben im November Das Kongo Tribunal         keine 5.000 und neun nicht einmal 1.000 Besu-
mit einer gewaltigen Präsenz in Presse und sozia-   cher. Ganz leeres Kino eben.
len Netzwerken herausgebracht. Wir haben ein
großes interaktives Web- und VR-Projekt rund um     Es liegt nicht am Wetter, nicht am Klimawandel
den Film produziert, wir haben eine Ausstellung     und auch nicht an böswilligen Kinobetreibern –
konzipiert und auf Tournee geschickt, wir sind      wir müssen im Jahre 2018 einfach mal festhalten
mit illustren Gästen aus Afrika und Europa durch    und aussprechen, wie es ist: Der Flächenstart im
die Lande getourt und haben große Events in gro-    Kino funktioniert für 98 Prozent aller Dokumen-
ßen Kinos und Schauspielhäusern durchgeführt.       tarfilme nicht mehr! Und zwar völlig unabhän-
Geholfen hat das wenig: Während die Events auch     gig, davon, ob es regnet oder schneit; es funktio-
in den größten Sälen Wochen vorher ausverkauft      niert nicht mehr!
waren und mehr als 20.000 Menschen durch die           Und, liebe Kolleginnen und Kollegen vom
Ausstellung zogen, blieben die Kinos leer: Nicht    Spielfilm, macht Euch da mal nichts vor: Im
einmal 6.000 Zuschauer haben den Film auf der       Bergbau wurden früher Kanarienvögel als Warn-
Leinwand gesehen.                                   system vor Sauerstoffmangel eingesetzt. Wir Do-
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Bei Das Kongo Tribunal hatten die
Produzenten eigentlich alles richtig

gemacht: Mit Ausstellung, Tournee

und großen Events bewarben sie

den Film. Da kamen die Leute auch

gerne – doch die Kinos blieben leer.

Foto: Real Fiction
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kumentarfilmer sind die Kanarienvögel der           Dir die Herstellung Deiner Filme. Aber nur dann,
Filmbranche. Was uns gerade passiert, ist auch      wenn Du eine Form der Herausbringung wählst,
beim kleineren Arthouse-Spielfim bereits deut-      mit der diese von möglichst wenigen Menschen
lich spürbar.                                       gesehen werden können.
                                                        Wir dürfen nicht weiter ignorieren, dass sich
Dieser Trend ist seit Jahren sichtbar und verste-   die Welt, in der wir Filme herstellen und heraus-
tigt sich. Unsere Reaktion darauf: Wir produzie-    bringen, dramatisch verändert hat:
ren immer mehr Filme und bringen wirklich je-       > Filme sind immer und überall in riesiger Aus-
den Film, so nischig und so irrelevant er auch        wahl verfügbar und werden auf jedwedem
sein mag, in der Fläche in die Kinos: Die Anzahl      Endgerät zu jedweder Zeit konsumiert.
an Dokumentarfilm-Startkopien, die sich pro         > Der lineare Konsum von Filmen und Serien im
Jahr um die Plätze auf den Kinoleinwänden bal-        TV geht (nicht nur) bei jüngeren Zuschauern
gen, hat sich in den letzten 20 Jahren fast ver-      dramatisch zurück und wird zunehmend
hundertfacht! Waren es 1997 noch 11 Dokumen-          durch den non-linearen Konsum in Mediathe-
tarfilme, die mit gut 50 Kopien in den deutschen      ken, SVoD-Plattformen und so weiter ersetzt.
Kinos starteten, wurden 2017 fast 140 Filme mit     > »Neue« Player wie Netflix oder Amazon Prime
knapp 4.000 Startkopien herausgebracht.               rollen den Markt auf, nutzen auch Dokumen-
   Die Gründe dafür sind mannigfaltig und ha-         tarfilme zur Markenbildung und Imagepflege
ben unter anderem mit der Digitalisierung und         und bedrohen mit disruptiven Innovationen
mit dem Rückgang von Sendeplätzen zu tun, vor         althergebrachte Geschäftsmodelle unserer
allem aber werden hierzulande alle finanziellen       Branche.
Anreize so gesetzt, dass Produzenten möglichst      > International gibt es in der Folge eine verstärk-
schnell und möglichst viel produzieren. Mit Ent-      te Nachfrage für große und hoch budgetierte
wicklung verdient man in Deutschland kein Geld        Dokumentarfilme. Diese werden aufwändig
und für die Herausbringung erhält man zu wenig.       und zum Teil mit Budgets entwickelt, mit de-
   Bei den meisten Förderern gehen etwa 90 Pro-       nen hierzulande mancher Kino-Dokumentar-
zent der Fördermittel in die Produktion, nur zwei     film komplett produziert wird.
bis drei Prozent in die Entwicklung und nur sie-    > Es gibt einen Trend zur zunehmenden Festiva-
ben bis acht Prozent in die Herausbringung und        lisierung und Eventisierung des Kinos: Einfach
Vermarktung unserer Filme. Um es mal etwas            »nur« einen Film zu zeigen reicht häufig nicht
überspitzt zu formulieren: Jedes Jahr werden 350      mehr, um die Säle zu füllen. Das Kino ist dabei
Millionen Euro an Filmförderung von Bund und          längst nicht mehr der einzig mögliche Ort für
Ländern eingesetzt, um Anreize dafür zu schaf-        kollektiven Filmgenuss: Viele Filme suchen ihr
fen, unterentwickelte Filme zu produzieren und        Publikum wortwörtlich auf und gehen dahin,
diese dann ohne nennenswerte Herausbrin-              wo die Zielgruppen sitzen. Analog und digital.
gungsbudgets auf den Markt zu werfen. Das ist
absurd!                                             Und wir? Wir produzieren munter weiter und
   Noch absurder ist die Grundbedingung jed-        verstehen die Welt nicht mehr:
weder Filmförderung: Im Grunde läuft diese          > Da ist der Redakteur, der zwischen dem Zwang
nämlich auf das Motto heraus: Wir finanzieren         zur Einschaltquote und dem vorhergesagten
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Populär und unterhaltsam erzählte Die Nacht der Nächte über ihr Thema, die Medien berichteten über den ungewöhnlichen Dokumentarfilm. An

den Zuschauerzahlen war davon nichts zu merken. Birkenstock: »Der Flächenstart im Kino funktioniert für 98 Prozent aller Dokumentarfilme nicht

mehr!«

Fotos: Concorde
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  Ende des linearen TV-Konsums verloren                viel Geld eingekauft. Der andere eher unter »fer-
  scheint, auch weil er die von ihm kofinanzier-       ner liefen« im Rahmen eines Filmpakets.
  ten Filme nicht oder nur sehr kurz in seiner            Davon habe ich jetzt nicht so viel gesehen.
  Mediathek auswerten darf.                            Und sollten die Kollegen aus dem Silicon Valley
> Der sich übrigens auch darüber wundert, dass         sich mit ihrer disruptiven Strategie durchsetzen
  sein Programmdirektor sonntags die Bedeu-            und alle anderen Wettbewerber plattmachen,
  tung des Dokumentarfilms als DNA des öffent-         wird die zweite Variante der häufigere Fall sein.
  lich-rechtlichen Rundfunks beschwört, ihm            Dann ist SVoD (Subscription-Video-on-De-
  dann aber montags Budget und Sendeplätze             mand, abonnierte Videos auf Anforderung, Red.)
  dafür zusammenstreicht.                              für die Macher von Qualitätsfilmen irgendwann
> Da ist die Produzentin, die mit sinkenden Bud-       in etwa so attraktiv wie Flatrate-Saufen für die
  gets für immer weiter gefasste Lizenzverträge        Winzer edler Weine.
  konfrontiert wird.
> Und am Ende der Nahrungskette fragt sich             Letztlich schauen wir alle (Sender, Filmemacher,
  eine Regisseurin, warum ihre Tagesgage, die          Förderer, Vertriebe und Verleiher) aus unter-
  sowieso schon unter der eines Kameraassi-            schiedlichen Richtungen auf dasselbe Phäno-
  stenten liegt, immer weiter sinkt und warum          men: Wir erleben gerade, dass unser Finanzie-
  eigentlich alle Seiten so viel Energie darauf ver-   rungssystem und unser Geschäftsmodell auf ei-
  wenden, dafür zu sorgen, dass Ihr Film mög-          ner Auswertungskaskade basiert, die es so nicht
  lichst wenige Zuschauer erreicht, indem sie          mehr gibt. Wir müssen dieses System gemein-
  den Film nachmittags um drei im Kino spielen,        sam vom Kopf auf die Füsse stellen und kon-
  gegen Mitternacht im Fernsehen versenden             struktiv einen neuen Deal miteinander finden.
  und danach möglichst nicht ins Netz stellen.         Solange jeder einzelne von uns lobbyistisch auf
                                                       seinen Partikularinteressen beharrt, kommen
Andernorts redet man vom neuen Dokumentar-             wir nicht weiter und verlieren die Schlacht um
filmboom. Der britische Guardian ruft »the Gol-        die Zuschauer der Zukunft, beziehungsweise um
den Age of Documentary« aus, in Variety gibt die       die Zuschauer der Gegenwart. Solange ein jeder
Chefin von National Geographic einen neuen             für sich ruft »Rette sich, wer kann«, werden wir
Slot für lange Dokumentarfilme bekannt und             alle gemeinsam an den Herausforderungen die-
wird zitiert: »Obwohl der Wettbewerb im Doku-          ses sich wandelnden Marktes scheitern.
mentarfilm-Bereich in den jüngsten Monaten                Wenn wir unsere Ressourcen und Fähigkeiten
immer stärker geworden ist, ist sie zuversicht-        jedoch zusammenwerfen und gemeinsam die
lich, dass sie Projekte anlocken kann.« Ja, Sie ha-    richtigen Strategien und Geschäftsmodelle ent-
ben das richtig verstanden: Die Dame bezieht           wickeln, werden wir in diesem sich wandelnden
sich auf den Wettbewerb der Sender und Platt-          Markt wachsen und am Ende von den sich erge-
formen um gute Filme und nicht umgekehrt.              benden Chancen profitieren. Wir brauchen dazu
   Die Plattformen. Als neues El Dorado schim-         Mut, Ambition und die Bereitschaft, uns von lieb-
mern sie uns aus Kalifornien entgegen. Zwei            gewonnenen Gewohnheiten zu verabschieden.
meiner Filme laufen dort auch. Der eine, über ei-         Wir müssen erstens unsere Filme sorgfältiger,
nen Kunstfälscher, wurde tatsächlich für sehr          ganzheitlicher und aufwendiger entwickeln und
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dabei auch in dieser Phase kreativ über Zielgrup-    aber (der überwiegend nur noch wenige Wochen
pen und Herausbringungsstrategien nachden-           im Kino läuft), sollten Pilotprojekte erlaubt wer-
ken. Wir sollten lernen, dass nicht jedes entwik-    den, um neue Vertriebsstrategien auszuprobie-
kelte Projekt auch in die Produktion gehen muss,     ren, von denen im besten Falle alle Beteiligten
dass ein Erfolg von guter Projektentwicklung so-     und eben auch die Kinos profitieren könnten,
gar sein kann, dass ein Projekt nicht oder zumin-    was man ja von der zurzeit üblichen herkömmli-
dest nicht als Kinofilm produziert wird. Kurz: Wir   chen Herausbringungsweise deutscher Doku-
müssen mehr entwickeln und weniger produzie-         mentarfilme wirklich nicht sagen kann.
ren.
    Und zweitens: Wir müssen ambitionierter          Solche Experimente werden wir auch gar nicht
produzieren. Nicht alles, was keiner sehen will,     nicht gegen Kinos, Verleiher und Vertriebe
ist große Kunst. Manches ist einfach langweilig.     durchsetzen können, sondern nur mit ihnen.
Wir brauchen weniger Nabelschau und mehr             Um in der Sperrfristdebatte voranzukommen
Outreach. Mehr Experimente und weniger               brauchen wir keine weiteren Panels und nicht
Angst. Wir brauchen Relevanz, wir brauchen Tie-      einmal weitere Keynotes. Wir brauchen Pilotpro-
fe, und wir brauchen Größe, um gegen die Pro-        jekte, bei denen Produzenten, Sender, Vertriebe,
duktionen vieler angelsächsischer und skandi-        Kinos und Plattformen in der Herausbringung
navischer Kollegen bestehen zu können.               zusammenarbeiten und neue Wege ausprobie-
    Wir müssen drittens auch solche Filme und        ren.
Formate produzieren, die weder Kino noch Fern-          Wir müssen differenzieren und uns immer ge-
sehen sind, sich also heute noch nicht refinan-      nau anschauen, was wir tun, für wen wir es tun
zieren lassen. Sie sind womöglich unsere Zu-         und wo wir es auswerten wollen. Auch bei dem
kunft.                                               ewigen Streit um Mediatheken und Online-
    Wir müssen viertens mit neuen Herausbrin-        Rechte müssen wir gemeinsam Lösungen fin-
gungsstrategien experimentieren. Wir sollten         den. Es führt zu nichts, wenn Sender ihre Ver-
ausprobieren und sehen, was passiert, wenn wir       tragsvorlagen einseitig in ihrem Sinne ergänzen
internationale Dokumentarfilme mit internatio-       und auch nicht, wenn Produzenten und Förde-
nalem Eventstart in den Kinos, vorgezogener TV-      rer dies pauschal verweigern.
Ausstrahlung und früher weltweiten Online-Ver-          Wir müssen für jedes Projekt nicht nur das
fügbarkeit herausbringen. Und wir sollten schon      unterschiedlich große Engagement unterschied-
während der Entwicklung und Produktion mit           licher Partner in der Lizenzaufteilung würdigen,
Impact Producern, Outreach Campaignern und           sondern für jeden Film entscheiden, wann wo
Zielgruppenspezialisten zusammenarbeiten, um         und wie er am besten ausgewertet werden kann
Kooperationspartner zu finden und Zielgruppen        und dies dann auch gemeinsam und partner-
für die Auswertung aufzubauen.                       schaftlich tun. Für all das brauchen wir kein zu-
                                                     sätzliches Geld. Das Geld ist da, wir müssen es
Wir müssen dazu überhaupt nicht grundsätzlich        vielleicht anders nutzen und verteilen.
an den Sperrfristen sägen, ich bin mir der Bedeu-       Wir müssen Ausnahmen, Experimente und
tung dieser überlebenswichtigen Exklusivität für     neue Wege der Distribution nicht nur endlich er-
die Kinos sehr bewusst. Im Dokumentarfilm            lauben, sondern befördern. Wir müssen über-
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Netflix und Amazon sind auch keine Lösung – Birkenstock hat’s ausprobiert. Beltracchi – Die Kunst der Fälschung wurde zwar für »sehr viel

Geld« eingekauft, ein weniger bekanntes Werk aber ging in einem Filmpaket unter. Für die Zukunft werde sich die zweite Variante durchset-

zen, fürchtet Birkenstock.

Foto: Senator
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haupt mehr für die Herausbringung und Bewer-         laufen! Für das Kino, für diesen ureigenen Ort
bung unserer Filme tun und dafür auch mehr           der Filmkultur sind sie gemacht: Für die große
Ressourcen einsetzen.                                Leinwand, den perfekten Ton, die konzentrierte
    Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr       Spannung, das kollektive Erlebnis im dunklen
Menschen an immer mehr Orten und zu jeder            Saal.
Zeit Filme konsumieren. Es ist unfassbar, dass
dies von Filmemachern hierzulande als Krise          Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass
wahrgenommen wird. Wir sollten diesen Para-          unser Publikum dies auch wieder mitbekommt!
digmenwechsel vielmehr als Chance wahrneh-             In diesem Sinne wünsche ich fruchtbare und
men und nutzen!                                      konstruktive Diskussionen am heutigen Tage! c
    Ich glaube mit Leidenschaft an die Zukunft         Herzlichen Dank!
des Dokumentarfilms, der in Zeiten gefühlter
Wahrheiten und »alternativer« Fakten wichtiger
ist denn je. Ich glaube aber auch, dass wir dazu
groß denken und produzieren müssen. In einer
Welt, in der Filme auf allen möglichen Plattfor-
men und Endgeräten konsumiert werden, hängt
der Hammer sehr hoch für kreative Dokumen-
tarfilme im Kino.

Es ist dringend an der Zeit, dass wir jegliche Na-
belschau beenden und uns gemeinsam den
Chancen und Risiken zuwenden, die die »neue«
Medienwelt und ihr unstillbarer Appetit auf au-
diovisuelle Inhalte für uns bereithält.
   Wir müssen Möglichkeiten schaffen für die
Entwicklung und Produktion künstlerisch und
kommerziell erfolgreicher Filme. Wir müssen
also größer, nachhaltiger und innovativer den-
ken, wenn wir Filme entwickeln, produzieren
und auswerten. Die Mittel dazu sind, wie gesagt,
da. Kaum ein anderes Land dieser Erde hat ein
besser ausgestattetes Förder- und Rundfunksy-
stem als wir in Deutschland. Wir sollten kon-
struktiv darüber verhandeln, wie diese Ressour-
cen besser, zielgenauer und zeitgemäß einge-
setzt werden können.
   Denn wir können ganz großes Kino! Das zei-
gen nicht zuletzt viele der großen und großarti-
gen Dokumentarfilme, die hier auf dem Dokfest        www.dokfest-muenchen.de
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Sieben Themen in vier Stunden: Der Kongress beim Münchner Dokfest setzte auf viele kurze Gespräche in kleiner Runde. Das Konzept ging

auf.

Wo geht’s lang?
Nach neuen Wegen zum Publikum suchte der Kongress »Ganz großes Kino?« für den Dokumen-
tarfilm. Ideen gab es, doch die Branche wehrt sich noch. Viele harken lieber noch die alten Pfade.

Text Peter Hartig

Foto: Dokfest München
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Große Umwälzungen kündigen sich durch De-           Anfang. Der Festivalleiter Daniel Sponsel, selbst
batten an. Kleine auch. So gesehen, scheint in      einst Dokumentarfilmer, schilderte in seiner Be-
der Filmbranche einiges in Bewegung geraten zu      grüßungsrede, was noch ein Traum ist: Wie er im
sein. Seit zwei Jahren wird im Rahmen von Festi-    Jahr 2027 im vollbesetzten Kino einen Doku-
vals und eigenen Veranstaltungen über den Zu-       mentarfilm sieht; dann nach Hause fährt, und
stand und den Ausblick des Deutschen Films          den Film noch einmal als Stream ansieht; wo ihn
diskutiert und gestritten wie nie zuvor. Geredet    seine Frau, während er noch im Kino saß, auch
und geschrieben wurde zwar auch früher schon,       schon gesehen hat. Und das Ganze sei dann
doch nicht so geballt und andauernd. Die Pro-       auch noch eine Koproduktion mit Arte, BR und
bleme sind ja auch dringend.                        Netflix. Kurz gesagt, sei die heutige Auswer-
   Der Krise widmete nun das Dokfest München        tungskette ist nicht mehr »state of the art«, mein-
seine erste Konferenz. Unter dem Titel »Ganz        te Sponsel: »Von liebgewonnen Strukturen der
großes Kino?« diskutierten am vorigen Donners-      Filmauswertung müssen wir uns endgültig ver-
tag Filmemacher, Funktionäre und Experten vor       abschieden.«
160 Gästen in der Hochschule für Fernsehen und         Schon im nächsten Satz schränkte Sponsel
Film München über die Krise des Kino-Doku-          das gleich wieder ein: »Das Kino kann nicht län-
mentarfilms. Dabei setzten die Veranstalter auf     ger als Premierenort für Filme geschützt werden
ein etwas anderes Konzept: Statt großer Panels      – oder muss es das in ganz besonderer Weise?
ließen sie lediglich zwei Gesprächspartner mit      Was nicht passieren darf, ist, dass wir das Kino
einem Moderator ihre Standpunkte austau-            als ureigenen Ort der Filmkultur verlieren.«
schen. Eine halbe Stunde musste dafür reichen,
dann war das nächste Thema dran.                    Solche Worte hört man oft auf solchen Kongres-
   Das Konzept ging auf. In etwas mehr als vier     sen. Da wird das Kino als Begegnungsstätte be-
Stunden waren in fünf Runden die brennendsten       schworen und die Riesenleinwand dem Video-
Fragen durchgesprochen worden. Natürlich            gucken auf dem Smartphone entgegengestellt,
nicht abschließend, doch ausreichend, um            als gäbe es nichts dazwischen. Die Verkaufszah-
Denkanstöße und Einblicke zu geben (mehr            len von Beamern, Surround-Anlagen und vor al-
wäre auch keiner Riesenrunde gelungen) und          lem Großbildfernsehern steigen seit Jahren.
ohne das Publikum in endloser Debatte zu er-           Auch den Vergleich mit der Musikindustrie
müden. Und ausreichend genug, dass auf das ge-      findet Sponsel »nicht angemessen«: Die Musik
plante Resümee am Schluss verzichtet werden         von einer CD und deren Stream seien identisch –
konnte.                                             ganz anders als der Kontrast zwischen Kino und
   Der Preis dafür: Für Fragen aus dem Publikum     Stream. Doch da vergleicht er unterschiedliche
blieb keine Zeit, auch wenn man beim einen          Obstsorten. Zwischen DVD und Stream werden
oder anderen Standpunkt gerne mal etwas ge-         die wenigsten einen Unterschied feststellen, und
nauer nachgefragt hätte. Das aber war zu ver-       Musik kann man auch aus schlechten Boxen hö-
schmerzen.                                          ren. So etwas wie Auswertungsfenster, die das
   Falls die Debatten tatsächlich große Umwäl-      Kino vor dem Home-Entertainment schützen
zungen ankündigen (und das nicht nur Wunsch-        sollen, kennt die Musikindustrie nicht. Denn
denken ist), stehen sie bei vielen Fragen noch am   dies würde bedeuten, dass ein neuer Song erst
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vier bis sechs Monate nur in Diskotheken und                          vom Leiter eines renommierten Festivals. Das
auf Live-Konzerten gehört werden dürfte, ehe er                       zeigte sich kurz darauf im ersten Gespräch zwi-
in Internet und Radio zu hören ist.                                   schen Kinobetreiber und Filmverleiher, die je-
   Wichtiger als die ganz große Leinwand oder                         den Gedanken an andere Wege kategorisch aus-
das gemeinschaftliche Erlebnis im Kino scheint                        blendeten.
dem Publikum doch die eigene Autonomie zu                                Sponsel steht mit seinen Gedanken nicht al-
sein: Dass man auf alles zugreifen kann, und                          lein. Karin Jurschick, als Leiterin der Abteilung
zwar wo und wie und wann man will. Das lassen                         Dokumentarfilm an der HFF Gastgeberin des
nicht nur die erwähnten Verkaufszahlen vermu-                         Kongresses, sagte in ihrer Begrüßung, es gebe
ten – auch Sponsel verrät solche Sehnsüchte in                        nicht nur große Kinos, sondern auch kleine gro-
seinem Traum. Mal abgesehen davon, dass nicht                         ße; und kleine große Filme. Man könne im Kino
jeder ein Kino gleich um die Ecke hat, und schon                      auch Serien gucken. Also (das jedoch sprach sie
gar keines, dass dann auch spielt, was nicht                          nicht aus) ganz großes Fernsehen.
überall schon zu sehen ist, sondern auch den                             Auf die anschließenden Podien stimmte der
ganzen Rest.                                                          Dokumentarfilmer Arne Birkenstock mit Fakten,
                                                                      Zahlen und Beobachtungen ein (Seite 2). Eine
Doch trotz der tiefen Verbeugung vor dem My-                          Dokumentation aller Diskussionsrunden will
thos Kino bergen Sponsels Worte eine Spreng-                          das Dokfest in den nächsten Tagen auf seiner
kraft, die man vielleicht von jungen, wilden In-                      Website veröffentlichen. Eine Zusaammenfas-
dependentfilmern erwartet hätte, nicht aber                           sung lesen Sie auf den nächsten Seiten.

In ihrer Begrüßung dachten Karin Jurschick von der HFF und Festivalleiter Daniel Sponsel laut über andere Formen der Filmauswertung

nach.

Foto: Dokfest München
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Faire Gagen – auf dem Podium: Stefan Eberlein, Jörg Langer und David Bernet (von links).

»Faire Gagen für Buch und Regie im Kinodoku-                             Die Leute finanzieren sich also gezwungener-
mentarfilm« war das erste Thema. Jörg Langer, der                      maßen selbst, sagte Bernet von der AG Dok. Etwa
in mehreren Studien die Lage der Filmschaffen-                        zwei Jahre Arbeitszeit steckten in einem Kino-
den untersucht hat, sprach mit David Bernet von                       Dokumentarfilm – »so lange reicht kein Etat.«
der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG                            Für ihn stellt sich daraus die Frage: Was für eine
Dok) und Stefan Eberlein vom Regieverband                             Branche ist das? Und wie sieht sie ihre Kreativen
(BVR). Zur Einstimmung zitierte Langer aus sei-                       – etwa als Hobbyfilmer? Ein Regisseur investiere
ner Studie für die AG Dok zum Aufwand der Auto-                       als Faustregel 75.000 Euro an Arbeit. Das müsse
ren- und Regieleistung bei dokumentarischen Fil-                      in den Kalkulationen sichtbar sein.
men und Formaten: Wenn Dokumentarfilmer ihre                             Als nächsten Schritt, war man sich auf dem
Arbeit an einem Film wirklichkeitsnah berechnen                       Forum einig, müsse man mit den Förder-
würden, kämen sie auf einen durchschnittlichen                        einrichtungen sprechen, damit diese Zahl für die
Stundenlohn von 9,80 Euro. Zum Vergleich: Hilfs-                      Vergabe relevant wird. Für die Zwischenzeit ver-
arbeitern am Bau stehen 11,75 Euro zu.                                wies Bernet auf die Website www.faire-dokga-
   Das ist kein blinder Idealismus, den Filmema-                      gen.de, eine gemeinsame Initiative beider Ver-
chern bleibt keine echte Wahl. Der BVR, der eine                      bände mit dem Deutschen Journalistenverband,
eigene Abteilung für Dokumentarfilm-Regie hat,                        um, wie dort zu lesen ist, mit Honorar-Empfeh-
kam in einer Studie auf eine Tagesgage von 120                        lungen »dem Gagendumping und der damit
Euro. »Die Sender feiern sich für ihr kulturelles                     einhergehenden Entprofessionalisierung des
Engagement, zeigen aber nicht den selben Re-                          deutschen Dokumentarfilms ein Ende zu set-
spekt bei der Bezahlung«, sagte Eberlein.                             zen.«
Foto: Dokfest München
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Dokumentarfilme gehören ins Kino – auf dem Podium: Christian Bräuer, Daniel Sponsel und Joachim Kühn (von links).

»Dokumentarfilme gehören ins Kino!« Das Aus-                          brauchte vier Wochen, bis er endlich seine Zu-
rufezeichen im Titel der zweiten Gesprächsrun-                       schauer anzog …
de duldete eigentlich keinen Widerspruch. Sie                           Bräuer widersprach aus der Sicht des Kinobe-
war aber als Streitgespräch angelegt. Joachim                        treibers: »Wir brauchen große Film für die große
Kühn vom Real Fiction Filmverleih vertrat die                        Leinwand.« Aber wie viele Filme eigneten sich
These, Christian Bräuer kam die Gegenposition                        tatsächlich dafür? Auch das Arthaus lebe von
zu. Bräuer ist Geschäftsführer, der Yorck-Kino-                      zugkräftigen Filmen, dazu gehöre auch ein Mar-
gruppe, mit zwölf Lichtspielhäusern (darunter                        ketingbudget. All das schaffe ein normaler Doku-
»Delphi«) der größte Betreiber in Berlin.                            mentarfilm nicht – außer zuletzt vielleicht Wim
   Kühn beschwor die Magie des Kinos und die                         Wenders 3D-Tanzdoku Pina.
»Frankfurter Positionen« (cinearte 421) und be-                         Da wagte Daniel Sponsel als Moderator eine
zweifelte, dass Dokumentarfilme zwangsläufig                         ketzerische Frage: Sollte man vielleicht die Aus-
in leeren Sälen laufen müssen. Erfolgreiche Aus-                     wertungsfenster aufgeben? »Die Sperrfrist ist
nahmen zeigten, dass es nicht am Genre an sich                       nicht diskutierbar«, entgegnete Bräuer. »Da wer-
liegt. Zum Beispiel Wildes Herz: Der Dokumen-                        den Kinobetreiber zu französischen Bauern.«
tarfilm über die Punkband Feine Sahne Fischfilet                        Da half auch der Verweis auf Weit nichts. Der
fülle die Kinos trotz des sommerhaften Wetters,                      Dokumentarfilm war mit Hilfe von Crowdfun-
noch dazu mit einem jungen Publikum, »denn                           ding entstanden und startete erst in den Kinos,
die hat das Thema interessiert. Oder Beuys, gera-                    nachdem er schon auf Video herausgekommen
de als bester Dokumentarfilm mit dem »Deut-                          war. »Mit 450.000 Zuschauerinnen wird unser
schen Filmpreis« ausgezeichnet. Der Film                             Film 2017 zum meistgesehenen deutschen Art-
Foto: Dokfest München
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housefilm in den deutschen Kinos«, heißt es auf         Dass es anscheinend doch geht, macht in
der Website zum Film. Die FFA kommt zwar in          Großbritannien die Arthouse-Kette Curzon Ci-
ihrer Jahresstatistik auf 100.000 weniger, den-      nemas vor, die mit zwölf Theatern mit der Yorck-
noch steht der Dokumentarfilm da auf Rang 17,        Gruppe vergleichbar ist: Statt bloß Kinos zu be-
gleich nach den üblichen Komödien und Kinder-        treiben, versucht sie, die Filme ans Publikum zu
filmen, die den Marktanteil deutscher Filme he-      bringen und stellt schon seit einigen Jahren aus-
ben. Die Gilde deutscher Filmkunsttheater            gewählte Werke parallel zum Kinostarts auch als
zeichnete das Werk im vorigen September als          Stream auf die eigene Plattform – inklusive Flat-
»Kinophänomen 2017« aus.                             rate-Abo. Im vorigen Jahr ist die Kette mit dem
   Warum tut man sich nicht mit einem Strea-         »Bafta« für »herausragende britische Beiträge
ming-Partner zusammen, hakte Sponsel nach.           zum Kino« ausgezeichnet worden.
Das seien ganz andere Geschäftsmodelle, wehrte          Da hatte Sponsel aber schon bemerkt, dass er
Kühn ab. Und warum sollte dann überhaupt noch        als Moderator plötzlich in die Kontra-Position
jemand ins Kino gehen, wenn die Filme auf einer      gegen seine beiden Gesprächspartner geraten
Plattform billiger zu sehen sind? Bräuer stimmte     war.
zu: Da schütte man das Kind mit dem Bade aus.

Der Saal war damit schon aufs nächste Thema          die Kinos nicht selber streamen? Helwig sah da
eingestimmt: »Streamingdienste – der erfolreiche     gleich mehrere Hürden. Die Leute müssten sich
Weg zum Publikum«. Dafür sprach der Dokumen-         aufraffen und bezahlen, um ins Kino zu gehen.
tarfilmer Cay Wesnigk, der mit Onlinefilm.org        Derselbe Film als Stream müsste dann genauso
eine Verwertungsplattform für Independent-Fil-       viel kosten wie eine Eintrittskarte. Zudem werde
me betreibt. Dagegen sprach Mathias Helwig, Be-      ohnehin zu viel produziert. Er wisse ja jetzt
treiber mehrerer Kinos in Oberbayern.                schon nicht, wie er all die Neustarts bewerben
   Wesnigk zitierte frei nach dem Zigaretten-Pro-    solle – »und dann auch noch Streaming?«
duzenten Reemtsma: »Film ist etwas Zelluloid,           Dann machst Du eben ein Nachspiel als
Einsen und Nullen und ganz viel Marketing. Das       Stream, riet Wesnigk. »Aber nicht vier Monate da-
haben wir alle nicht gelernt.« Er erinnerte an ein   nach.« Denn wer eine Auswertungsschiene ver-
schon 120 Jahre altes Modell der Werbung, nach       passt hat, muss für die nächste erst wieder erin-
der die Kunden durch vier Phasen zur Kaufent-        nert werden.
scheidung geführt werden: Kreative denken bei           Onlinefilm.org setzt auf die Autonomie der
Aida gleich an Opern, das Marketing liest daraus     Filmemacher. Das Aktienkapital ist laut Website
Attention – Interest – Desire – Action. Erst Auf-    »auf mehr als 130 Aktionäre verteilt, die selbst
merksamkeit erzeugen, dann Interesse wecken,         Urheber, Filmproduzenten oder Dienstleister im
damit ein Wunsch entsteht, der schließlich zur       Filmbereich sind«, zwei der drei Aufsichtsräte
Kaufhandlung führt.                                  sind wie Wesnigk Mitglieder der AG Dok. Wer sei-
   Sponsel, der auch diese Runde moderierte,         nen Film über die Plattform ans Publikum
wiederholte seinen vorherigen Vorstoß: Könnten       bringt, erhält 51 Prozent der Einnahmen. Ob sich
Foto: Dokfest München
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Streamingdienste – auf dem Podium: Cay Wesnigk, Daniel Sponsel und Mathias Helwig (von links).

das lohnt, muss sich jeder selbst ausrechnen.                       fertigen Film gebe es hingegen 2.500 Euro und
Wesnigk führte Beispiele von Filmen an, die sich                    man bekomme keine Informationen über die
über Jahre mit kleinen Zuschauerzahlen ein Pu-                      Zuschauerzahlen.« Bei Amazon direkt hingegen
blikum gewonnen hätten. Auch zwischen den                           könne man als Autor auch selber entscheiden.
großen Plattformen gebe es grundlegende Un-                            Wie einfach es sei, verkannte Filme auf die-
terschiede. Im Schwung der Diskussion etwas                         sem Weg ans Publikum zu bringen, erklären im-
flapsig formuliert: »Netflix kuratiert heftig, Ama-                 mer wieder Marketing-Fachleute. Solche Rat-
zon nimmt alles.«                                                   schläge sieht Wesnigk inzwischen skeptisch: »Ich
   Doch das große Geld darf man wohl auch da                        habe solchen Experten angeboten, mal das In-
nicht erwarten. Netflix zahle zwar viel für seine                   teresse an so einem Film zu wecken – sie dürften
Produktionen, etwa den österreichischen Doku-                       die ersten Einnahmen behalten. Ich habe von
mentarfilm Elfenbein: Das weiße Gold. Für einen                     keinem mehr wieder gehört.«

Das nächste Podium war wieder beim Lieblings-                       und Lisa Giehl vom Filmfernsehfonds (FFF) Bay-
thema deutscher Filmemacher: »Welches Film-                         ern.
fördergesetz braucht der Kinodokumentarfilm?«                           Berg verteidigte die neuen Leitlinien der FFA,
Kein Streitgespräch diesmal, denn auf der Bühne                     die im vorigen Jahr heftig in die Kritik gekom-
saß der AG-Dok-Vorsitzende Thomas Frickel als                       men waren: Zu hoch seien die Anforderungen
Moderator zwischen zwei Fördererinnen: Chri-                        ans Produktionsbudget und die erwarteten Zu-
stine Berg von der Filmförderungsanstalt (FFA)                      schauerzahlen, für den Dokumentarfilm erst
Foto: Dokfest München
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Filmförderung – auf dem Podium: Christine Berg, Thomas Frickel und Lisa Giehl (von links).

recht. Doch die Leitlinien förderten weiterhin                        Film »an mindestens sieben aufeinanderfolgen-
die Vielfalt, sie intensivierten das sogar noch, er-                  den Tagen […] in einem Kino mit regelmäßigem
klärte Berg. Auch die Förderlandschaft habe sich                      Spielbetrieb im Inland gegen ein marktübliches
entwickelt: Neben der FFA gebe es große regio-                        Entgelt vorgeführt wurde.« Dass aber gehe heute
nale Fördereinrichtungen, dazu den Deutschen                          kaum mehr, meinte Frickel. Der Dokumentar-
Filmförderfonds (DFFF) und die Töpfe der Kul-                         film sei im Kino eine bedrohte Art.
turstaatsministerin (BKM). »Wir haben uns erst-                           »Wir sollten aufhören, nur an Stellschrauben
mal positioniert und schauen hin, was das be-                         zu drehen«, entgegnete Berg und drehte erstmal
deutet. Wir müssen über Qualität reden. Die                           selber an einer: Sie halte auch nichts von Sperr-
Reichweite ist ein Kriterium.«                                        fristen für Dokumentarfilme. Es gebe auch im
   Und dann spielte sie den Ball zurück: »Wir er-                     Kino erfolgreiche Beispiele. Das eigentliche Pro-
halten keine Anträge für neue Wege [der Distri-                       blem sei aber, dass der Dokumentarfilm keinen
bution] – wir würden darauf eingehen.«                                Platz mehr im Fernsehen habe. Er brauche neue
   Doch was ist mit den Filmen, die die Hürden                        Plattformen wie Streaming oder Festivals.
der FFA nicht nehmen können, fragte Frickel                               Filme sollten dort sichtbar gemacht werden,
nach. Giehl antwortete mit einer Gegenfrage:                          wo sie hingehören, nämlich im Kino, hielt Frickel
Muss jeder Dokumentarfilm unbedingt ins Kino?                         dagegen. Der Dokumentarfilm brauche eine
   Frickel appellierte an Kultur und Vielfalt, die                    besondere Förderung. Die sei zumindest beim
doch besondere Unterstützung bräuchten. Auch                          FFF Bayern gegeben, erwiderte Giehl und führte
in der Neufassung von 2017 schreibt das Filmför-                      dazu den hohen Anteil unter den Förderprojek-
derungsgesetz als eine Bedingung vor, dass ein                        ten an.
Foto: Dokfest München
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   Wie gut die Produktionsförderung laufe, zeige                     Berg, sondern auch bei den Dokumentarfilmern:
ja schon die Zahl der Filme, die produziert wer-                     »Wir vergeben pro Jahr 12 Millionen Euro für die
den, stimmte Frickel zu. »Aber wie bringen wir                       Auswertung. Wenn Sie sehen, was wir da für Kon-
das zum Publikum?« Da solle man nicht nur die                        zepte vorgelegt bekommen …«
Steine bei den Förderern umdrehen, entgegnete

Wenn nicht Kino, dann vielleicht ein anderer al-                        Der BR habe sich schon immer stark für den
ter Weg: »Braucht der Dokumentarfilm das Fern-                        Dokumentarfilm engagiert, sagte Felber. Aber
sehen?« fragte Arne Birkenstock drei Redakteu-                       die Etats seien nicht gestiegen, ebensowenig die
re: Carlos Gerstenhauer und Petra Felber vom                         Sendeplätze. Warum aber gebe es keinen Prime-
Bayerischen Rundfunk (BR) und Andreas Weinek                         time-Sendeplatz für Dokumentarfilme, fragte
vom History Channel. Letzterer dämpfte gleich                        Birkenstock. Diente das nicht auch dem Image
keimende Erwartungen: Die Schnittmenge sei-                          der Sender zu zeigen: Dokus können nur wir!
nes Senders zum Kino sei gering, man setze we-                          »Ich halte 22:45 Uhr für einen guten Platz«,
gen der Markenpflege auf Eigenproduktionen,                          erwiderte Gerstenhauer. Filmklassiker liefen
und die kämen vor allem aus den USA. Interes-                        etwa um die selbe Zeit. Es gehe auch nicht nur
sierten Filmemachern empfahl er (und da ließ                         ums Geld, sondern ebenso die Qualität: Das
sich einschlägige Erfahrung vermuten) erstmal                        Wesen des cineastischen Dokumentarfilms müs-
genau die Profilbeschreibung seines Senders zu                       se wieder spürbar sein. Gerade auch im Fernse-
lesen.                                                               hen.

Fernsehen – auf dem Podium: Carlos Gerstenhauer, Petra Felber, Arne Birkenstock und Andreas Weinek (von links).

Foto: Dokfest München
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  Doch die Frage nach dem besten Sendeplatz           zent Eigenproduktionen und können darauf rea-
dürfte sich ohnehin bald erübrigen, räumte Bir-       gieren.«
kenstock indirekt ein: Kaum jemand schaue                »Aus diesem Grund haben wir die Mediathe-
noch linear. Ja, stimmte Weinek zu: »Das lineare      ken«, nickte Felber für den öffentlich-rechtlichen
Fernsehen ist tot. Doch wir haben etwa 90 Pro-        Rundfunk.

»Was gibt der Dokumentarfilm der Demokratie?«          die Zahlen: Die Mediennachrichten würden an-
Die Antwort kannten wohl viele schon oder hiel-       deres sagen. Er stehe hinter dem öffentlich-recht-
ten die Frage nur für rhetorisch, denn plötzlich      lichen Rundfunk, weil der einen ganz anderen
leerte sich der Saal. Dabei ist die Frage aktueller   Auftrag als andere Medien habe, »den wir brau-
denn je: Ist unser öffentlich-rechtliches System      chen.« Es gelte, neue Mittel zu erschließen.
bereit, gegen Fake News anzugehen? fragte Mode-          Über Geld wollte Langer aber nicht reden:
rator Jörg Langer die Politiker Isabell Zacharias     Etwa 9,1 Milliarden Euro beträgt das jährliche Ge-
(SPD) und Otmar Bernhard (CSU).                       samtbudget der öffentlich-rechtlichen Anstalten.
   Streckenweise ließ die Diskussion die nahende      »So viel hat kein anderer öffentlich-rechtlicher
Landtagswahl spüren, was besonders die Opposi-        Rundfunk auf der Welt. Da sollte doch etwas mög-
tionspolitikerin beförderte. Ihr Gegenüber ruhte      lich sein.« Und zückte ein paar selbsterhobene
derweil in der Gelassenheit seiner Partei, die seit   Zahlen zum gelebten Bildungsauftrag: In einer
mehr als einem halben Jahrhundert (mit fünfjäh-       Woche im Januar dieses Jahres hatte Das Erste 22
riger Unterbrechung) alleine regiert. Doch Zacha-     Stunden Sport ausgestrahlt, 21,5 Stunden Soaps,
rias führte einige Beispiele an, weshalb sie den BR   14 Stunden Krim, aber nur 7 Stunden Dokumen-
nicht für staatsfern hält. Was das Programm an-       tationen. Das ZDF kam in der selben Zeit auf 45
geht, wünsche sie sich auch »manchmal weniger         Stunden Krimi und 8,5 Stunden Dokumentatio-
Kochen, Fußball oder Tatort-Wiederholungen.«          nen. Dokumentarfilme kamen bei beiden Sen-
   Da stimmte auch Bernhard zu: Das sei nicht         dern nicht vor.
der öffentlich-rechtliche Auftrag. Wie’s anders          Das Dokumentarische bräuchte einen anderen
geht, machte er an überraschender Stelle aus:         Stellenwert im Programm, sagte Bernhard. »Wer
»Die Privaten senden rund um die Uhr Dokus. Die       guckt sich nach zehn noch sowas an?« Anderer-
Öffentlich-Rechtlichen sagen, das geht erst ab        seits könnten es die Öffentlich-Rechtlichen auch
zehn. Das soll mir mal jemand erklären, wo es         nie allen recht machen.
doch offenbar andere Geschäftsmodelle gibt.«             Dann sollte man ins Land gehen und die Men-
   Ansonsten findet der Rundfunkrat des BR das        schen fragen, was sie von ihrem Geld sehen wol-
Meiste in Ordnung. Die veröffentlichte Meinung        len, schlug Zacharias vor. Das würde auch fürs öf-
habe sich zwar von dem entfernt, was die Masse        fentlich-rechtliche Fernsehen werben. Auch da
denkt, aber das Niveau der Medien ist hoch.           stimmte Bernhard zu: Das wäre auch eine Chance
   »Junge Leute hören kein Radio und sehen kein       gegen das allgegenwärtige Denken, wenn statt
Fernsehen, weil es sie nicht anspricht«, entgegne-    Quoten einfach nur Qualität erwartet werde. Die
te Zacharias: »Für die ist Fernsehen Vintage, die     Idee stamme allerdings vom WDR-Intendanten
finden das Angebot langweilig.« Bernhard bestritt     Tom Buhrow.
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Jetzt werden auch beim Dokumentarfilm

die Arbeitsbedingungen beurteilt. Erster

Preisträger des »Fair Film Awards Non-

Fiction« ist die Kölner Florianfilm, für die

Oliver Bätz (Mitte) die Auszeichnung

entgegennahm. Die Produzentin Nicole

Leykauf hielt die Laudation, um die

beiden gruppieren sich Vincent Lutz und

Christian Dosch von Crew United

(links), und Festivalleiter Daniel Sponsel

(rechts), der sich für den neuen Preis

beim Dokfest stark gemacht hatte.

Im Anschluss an den Kongress und als sein Ab-          Die Laudatio hielt die Produzentin Nicole Ley-
schluss wurden zwei neue Preise verliehen, die      kauf, die sichtlich beeindruckt war von dem
zum Thema passen. Für die Verwertungsgesell-        Rückhalt aus der Branche, der sich in vielen Logos
schaft der Film- und Fernsehproduzenten ver-        zeigte: »So viele Menschen wollen, dass fair pro-
gab deren Geschäftsführer Johannes Kreile den       duziert wird. Also sollten wir es öfter tun.« Über-
»VFF Dokumentarfilm-Produktionspreis«, der          rascht sei sie aber auch gewesen, dass der Preis
mit 7.500 Euro dotiert ist und den Einsatz eben     nicht dotiert ist – »die Produzenten bekommen
dieser Berufsgruppe würdigt. Erste Preisträgerin    nur die Ehre.«
wurde Birgit Schulz von der Kölner Produktions-        Wahrscheinlich müssen Produzenten beson-
firma Bildersturm für ihre Leistung bei Grenzen-    ders aufs Geld achten, so dass sie auch einem ge-
los – Geschichten von Freiheit & Freundschaft.      schenkten Gaul noch tief ins Maul schauen. Dar-
   Die Produktions- und Arbeitsbedingungen          um zur Erinnerung: Wie sein Vorbild ist auch der
bei der Herstellung von Dokumentarfilmen wür-       »Fair Film Award Non-Fiction« ein Preis, den es
digt der »Fair Film Award Non-Fiction«, der in      gar nicht geben sollte. Wenn einer den anderen
Kooperation mit Crew United und mit Unter-          vorführt, was nur selbstverständlich sein sollte, ist
stützung zahlreicher Branchenverbände verge-        das ein Lob wert, doch mehr wäre übertrieben. Es
ben wird. Vorbild ist der »Fair Film Award Ficti-   bekommt auch kein Grundschüler ein Fleißkärt-
on«, den die Bundesvereinigung Die Filmschaf-       chen, bloß weil er seine Hausaufgaben gemacht
fenden mit Unterstützung von Crew United            hat.
schon seit mehreren Jahren während der Berli-          So sah das wohl auch Oliver Bätz, der den Preis
nale verleiht. Die Wahl treffen die beteiligten     auch im Namen seiner Kollegen Marianne und
Filmschaffenden selbst, die Kriterien wurden        André Schäfer von der Kölner Florianfilm entge-
den besonderen Produktionsbedingungen ange-         gennahm und das Geheimnis des Erfolgs mit dem
passt: Beurteilt werden hier nicht einzelne Pro-    »Grundgefüge« in ihrer gemeinsamen Firma er-
jekte, sondern die gesamten Produktionen einer      klärte, wo man auch als Produzent mal über-
Firma in den vergangenen zwei Jahren.               stimmt werden könne: »Fair ist nicht nur Geld.« c
Foto: Dokfest München
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Gelassen im Glamour. Edin Hasanovic moderierte die Lola-Gala mit seiner »Chefin«, der Filmakademie-Präsidentin Iris Berben.

Foto: Deutsche Filmakademie, Agentur Eventpress
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Ohne Diskussion
In Berlin wurden Ende April die »Deutschen Filmpreise« verliehen. Eine fröhliche Familienfeier für
die Branche, ernste Themen hatten da keinen Platz.

Text Jan Fedesz

Wie war’s denn nun, vorletztes Wochenende in           ben. Das lag gewiss auch an der Regie von Sherry
Berlin bei der Verleihung des »Deutschen Film-         Hormann und den vier Autoren, die bei den Mo-
preises«? »Filmreife Ratlosigkeit« sah Spiegel On-     derationstexten halfen; darunter Ralf Husmann,
line. »Was für eine Nacht«, schwärmte der Stern,       der uns schon Stromberg und Dr. Psycho beschert
und titelte begeistert, »wie Edin Hasanovic die        hatte.
Lola rockte.«                                             Vor allem aber lag es an den Filmschaffenden
    Ja, hat er, auch wenn das mit dem »rocken«         selbst. Hasanovic führte mit einer quirligen Be-
vielleicht ein bisschen stark ist. Sagen wir, er       geisterung durch die Gala, die auch die Laudato-
machte seine Sache hervorragend. Als Schauspie-        ren und Preisträger zeigten. Der Deutsche Film
ler braucht er sich nicht mehr zu erklären, die Ver-   wollte sich selber feiern, und eben dafür sind
leihung von Deutschlands renommiertestem               solche Veranstaltungen auch gedacht: Als Famili-
Filmpreis moderierte er zum ersten Mal. »Entwe-        enfest, auf dem man sich lobt und freut und die
der hab ich’s total verbockt, oder es kommt zum        Sorgen der Welt mal für einen Abend vergisst.
Eklat vor laufender Kamera«, erklärte er gleich           Und damit könnten wir es gut sein lassen und
zum Anfang. Die Sorge war unbegründet.                 den Gewinnern und Nominierten gratulieren.
    Das Problem bei solchen Veranstaltungen ist        Die Liste mit den Preisträgern steht am Ende des
ja, dass sich draußen vor der Tür nicht wirklich       Artikels.
viele dafür interessieren, wer von den Nominier-
ten nun einen Preis gewonnen hat oder wer über-        Andererseits: Wenn man schon all den Freunden
haupt nominiert ist, außer den Nominierten             und Familien dankt für die Unterstützung in har-
selbst. Und dass sie wenig Spielraum lassen, ir-       ten Zeiten, dann wäre dies doch der Ort, auch
gendetwas groß anders zu machen. Preis-Galas           das mal öffentlich anzusprechen. Wo doch schon
arbeiten ihre Liste nach dem immer gleichen Mu-        die Kulturstaatsministerin leibhaftig auf der
ster ab: Ankündigung der Kategorie, Laudatio,          Bühne steht und der eine oder andere Förderer
Preisverleihung, Dankesrede, der nächste, bitte …      und Politiker im Saal sitzt. Die Arbeitsbedingun-
Das sieht in Paris ähnlich aus wie in Hollywood        gen in der Branche zum Beispiel, die schwachen
oder Stockholm.                                        Strukturen, die Abhängigkeiten vom Fernsehen
    In Berlin konnten die versammelten Film-           … Und warum, verdammt noch mal, die FFA seit
schaffenden dem trotzdem eine eigene Note ge-          mehr als einem Jahr als Aufgabe hat, sich um ihre
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Beschäftigten zu kümmern, aber sich bis heute
einen feuchten Dreck darum schert. Aber bei
den Fördermeldungen vorzählen, wie viele
Drehbücher von Frauen sie unterstützt hat, das
kann sie.
   Das kann man jetzt leicht falsch verstehen, ist
aber nicht so gemeint. Vor den kreativen Kolle-
gen für Selbstverständlichkeiten einzustehen, ist
wohlfeil. Frauen stehen die selben Rechte und
Möglichkeiten wie Männern, auch Flüchtlinge
können es schaffen, wenn man sie nur lässt – wer
wollte da (zumindest öffentlich) widersprechen?
Dass es im Alltag auch am Filmset noch ganz an-
ders zugeht, ist ein anderes Thema. Oder ob die
paritätisch beteiligten Filmemacherinnen von
ihren Aufträgen, die sie plötzlich erhalten, auch
tatsächlich leben können …
   Aber das wurde eben nicht gesagt. Solange wir
nur Quoten zählen und darüber reden, womit             Aufnahme-
der Dieter wedelt, haben wir auch keine Zeit, uns     bedingungen
um all das andere zu kümmern. Zum Beispiel
eben, unter welchen Bedingungen die hohe
                                                       vereinfacht
Filmkunst entsteht, die hier geehrt wird. Da
reicht schon ein schneller Blick auf die Nominie-
rungsliste für den besten Film: Sechs Titel stan-
den in der Endauswahl, vier davon waren von              Ein wertvoller Beitrag
den Mitarbeitern selbst für den »Fair Film
Award« der Bundesvereinigung Die Filmschaf-
                                                     zu Ihrer Altersversorgung:
fenden benotet worden. Nur einer kam auf eine
gute Note: Fatih Akins Aus dem Nichts, mit der
                                                        Bis zu 50 % gibt ’s von
»Lola« in Silber ausgezeichnet, hatte eine »1 bis       Ihrem Auftraggeber dazu.
2« erhalten. Der nächste hatte schon nur noch
eine schlechte »2 minus«: Emily Atefs 3 Tage in
Quiberon. Die anderen beiden wurden als mehr
oder weniger »befriedigend« beurteilt.

Es wäre schön, wenn die Kulturstaatsministerin
                                                        Die Altersversorgung für Freie
auf ihrer Veranstaltung den versammelten Film-
schaffenden dazu auch etwas zu sagen hätte.
Oder die Präsidentin der Filmakademie, die ja                             www.pkr.de
Foto: Deutsche Filmakademie, Agentur Eventpress
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nach eigenem Verständnis die Filmschaffenden          Lolas 2018
im Lande repräsentiert und selbst sagte, sie          Spielfilm – Gold: 3 Tage in Quiberon von Karsten
könnte eigentlich die gleiche Rede halten wie in      Stöter (Produktion) und Emily Atef (Regie) Silber:
den Vorjahren, mit den »identischen Fazits« und       Aus dem Nichts von Nurhan Sekerci-Porst, Her-
»identischen Forderungen«. Oder vielleicht            man Weigel (Produktion) und Fatih Akin (Produk-
eine/r der vielen Regisseur/innen, die ja (sagt ihr   tion und Regie) Bronze: Western von Jonas Dorn-
Berufsverband) eine »Fürsorgepflicht« für ihre        bach, Janine Jackowski, Maren Ade (Produktion),
Mitarbeiter haben. Taten sie aber nicht. Und was      Valeska Grisebach (Produktion und Regie)
Berben und Grütters doch sagen wollten, wurde         Dokumentarfilm: Beuys von Thomas Kufus (Pro-
aus der Aufzeichnung herausgeschnitten.               duktion) und Andres Veiel (Regie)
    Indirekt wies auch der Preisträger-Film auf die   Kinderfilm: Amelie rennt von Philipp Budweg,
Krise hin, in der der deutsche Film schon seit        Thomas Blieninger, Martin Rattini (Produktion)
Jahrzehnten steckt. 1981 gab Romy Schneider in        und Tobias Wiemann (Regie)
dem französischen Kurort einem Stern-Reporter         Regie: Emily Atef für 3 Tage in Quiberon
ein langes Interview. 3 Tage in Quiberon ist die      Drehbuch: Fatih Akin und Hark Bohm für Aus
kunstvolle Verdichtung dieser wahren Begeben-         dem Nichts
heit, zehnfach nominiert und mit sieben »Lola«        Bildgestaltung/Kamera: Thomas W. Kiennast für
ausgezeichnet, darunter die für den besten Film.      3 Tage in Quiberon
    Die Branche bespiegelt sich selbst – so etwas     Szenenbild: Erwin Prib für Manifesto
funktioniert bei den »Oscar«-Verleihungen fast        Kostüm: Bina Daigeler für Manifesto
immer. Schön, dass auch Deutschland so etwas          Maske: Morag Ross, Massimo Gattabrusi für Ma-
in seinem Fundus findet. Mit einem Unter-             nifesto
schied: Man muss es sich »ausleihen«. Romy            Montage: Stephan Krumbiegel, Olaf Voigtländer
Schneider war eine »Abtrünnige«, die aus              für Beuys
Deutschland floh, um endlich mal andere Filme         Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas für 3
zu drehen.                                            Tage in Quiberon
    60 Jahre später sitzt Diane Kruger im Saal, die   Tongestaltung: André Bendocchi Alves, Eric De-
nun für ihren ersten deutschen Film nominiert         vulder, Martin Steyer für Der Hauptmann
ist (die Koproduktion Unknown Identity lassen         Hauptdarstellerin: Marie Bäumer in 3 Tage in
wir mal unbeachtet). In Frankreich und Amerika        Quiberon Nebendarstellerin: Birgit Minichmayr
ist sie schon lange gut im Geschäft.                  in 3 Tage in Quiberon
                                                      Hauptdarsteller: Franz Rogowski in In den Gän-
Man schließlich könnte man auch kurz grübeln,         gen Nebendarsteller: Robert Gwisdek in 3 Tage in
ob die Branche schon so verzweifelt ist, dass sie     Quiberon
eine eigene »Lola« für den besucherstärksten          Besucherstärkster Film: Fack ju Göhte 3 von
Film vergibt.                                         Lena Schömann (Produktion) und Bora Dagtekin
   Damit soll’s aber genug sein mit der Mäkelei.      (Produktion und Regie)
Schön war’s, wir freuen uns mit den Preisträgern      Ehrenpreis: Hark Bohm (Regisseur, Schauspieler
und beherzigen den Abschiedssgruß und wer-            und Drehbuchautor)
den ins Kino gehen. Die Preisträger:                  www.deutscher-filmpreis.de
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Was treibt die nächste Generation?
Die Umfrage von HFF München und cinearte auf dem Internationalen Festival der Filmhochschulen
München.

Miriam Goeze
Spielfilmregie. Hochschule für Fernsehen und
Film München

So habe ich mich ins Kino verliebt:
Als ich als Kind Jenseits der Stille sah und zu Trä-
nen gerührt war, ohne dass ich verstand, warum
und wieso es mich persönlich so ansprach. Spä-
ter verstand ich es. Für mich persönlich können
Filme im Kino in einem kleinen Moment Wahr-
heiten zeigen, und man fühlt sich als Zuschaue-
rin wahr- und ernstgenommen.

Mein Traumprojekt in drei Sätzen:
Ein Zeitgeist-Projekt, welches Leben rettet,
Menschen berührt und zu Tränen und Verände-
rung anregt. Ein phänomenal-geiles Team mit
einer intensivst-phänomenalen Zeit. Ich will
den Film danach immer noch sehen wollen. :)

Ein Monat, eine einsame Insel und nur ein
Video*. Welches?
Central Station (Central do Brasil) von Walter
Salles.

* Stromanschluß vorhanden

Fragebogen und Fotos: Sophie Averkamp, Tim Dünschede, Gudrun Gruber und Ozan Mermer
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