Paris auf und über Schiene bringen - Wohnungswirtschaft-heute
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INTERNATIONAL Paris auf und über Schiene bringen Bis 2030 wird die Metropol- region Paris um fast vier Millio- nen Menschen zunehmen. Aus diesem Grund werden ehemalige Gleisanlagen über- baut und Brownfields entlang der Ringautoahn Périphérique ertüchtigt. Die Wohnen Plus Akademie hat die größten und wichtigsten Stadtentwicklungs- und Stadtverdichtungsprojekte in einer gemeinsamen Exkursion mit dem Fach- magazin WohnenPlus besucht. WOJCIECH CZAJA Fotos: Czaja 1 E in weißes Hochhaus, so klar struk- warmen Frühlingstag zu den meistfoto- turiert wie ein weißes Billy-Regal, grafierten Sujets der gesamten Exkursion, daneben ein etwas kleinerer Bruder die das Fachmagazin WohnenPlus und in Schwarz, mit ebenso gleichen die Wohnen Plus Akademie unter dem Füllungen an Wohnungen, die wie Bü- Titel „Frühling in Paris“ veranstaltete. Das cher mit mal schwarzen, mal hell beleuch- ungewöhnliche Doppelhaus des Investors teten Buchrücken in den Regalfächern und Wohnbauträgers Kaufman & Bro- stehen. Doch bei genauerem Hinsehen ad umfasst 170 Wohnungen und diverse fallen plötzlich die Irritationen in der Ma- Geschäftslokale – verteilt auf 50 Meter trix auf: Ab und zu hat sich ein stilisiertes Bauhöhe und 13.000 Quadratmeter Nutz- Satteldach hineinverirrt, davor eine um- fläche – und ist ein Beispiel dafür, wie 1 / Beispiel im Stadtviertel Clichy-Batignolles, wie ein laufende Terrasse mit Blumentöpfen XXL, auch im standardisierten, großvolumigen standardisierter, großvolumiger Wohnbau mit gefüllt mit Wucherpflanzen gleichen Maß- Wohnbau architektonische Qualität und architektonischer Qualität und einem künstlerischem stabs, und stört das sonst so cleane, re- künstlerisches Augenzwinkern Platz fin- Augenzwinkern seinen Platz finden kann. duzierte Architekturbild mit lustigen, viel- den können. Nicht zuletzt zählt es zu den 2 / Fassadenvielfalt im neu entwickelten Stadtviertel leicht sogar sarkastischen Versatzstücken gleichermaßen schönsten wie auch bau- Clichy-Batignolles. französischer, ach was, paneuropäischer lich spannendsten Wohnbauprojekten im 3 / Wohnbau in Rive Gauche von Périphériques Architectes. Häuslichkeit. Die Wohnbebauung auf neu geschaffenen Stadtviertel Clichy-Ba- 4/ Ökopark mit dem Palais de Justice von Renzo Piano der Parzelle O4B hat es der Reisegruppe tignolles im 17. Pariser Arrondissement, im Hintergrund. wahrlich angetan und gehört an diesem das heute am Programm steht. 32 WOHNENPLUS . 2|2018
INTERNATIONAL „Wir haben das Gebäude als eine Art Exoskelett mit gebauter Materie und Freiräumen in Form von Balkonen und Terrassen interpretiert“, erklärt Vincent Parreira von AAVP Architectes, der das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Lissa- boner Architekten Aires Mateus realisier- te. „Auf den zweiten Blick jedoch fallen in diesem Skelett gewisse Fremdkörper auf, die die klare Struktur, die für das Haussmann’sche Paris so typisch ist, stö- ren und zu einem Bruch in der Lesbarkeit des Wohnraumes führen. Hinzu kommt, dass wir auf diese Weise Wohnräume mit großer Raumhöhe schaffen konnten.“ Erst kürzlich wurde das Haus mit dem Preis „Livraison 2018 Certification H&E“ ausgezeichnet. Und wieder werden die 2 3 Fotoapparate und Smartphones gezückt. Die Gruppe ist begeistert. Es macht klick, im Bereich der ehemaligen, historischen viertel in Wien. Doch im Gegensatz zu klick, klick. Stadttore. den österreichischen Stadtentwicklungs- Eines der größten und wichtigsten projekten werden hier nicht nur Fassade Stadtverdichtung pur Projekte ist die Auflassung und Über- und Erscheinungsbild variiert, sondern Die Pläne für das europaweit einzigarti- bauung der Gleisanlagen in Clichy-Ba- auch Volumen, Bauhöhe und Materialität. ge Stadtentwicklungsprojekt Clichy-Batig- tignolles. Ursprünglich hätte hier das Damit das Potpourri nicht vollends im nolles, das auf dem Areal des einstigen Olympische Dorf für die Sommerspiele Chaos aufgeht, wurde – zumindest in der Fracht- und Verschubbahnhofs im Norden 2024 errichtet werden sollen, doch dann westseitigen Bauphase 2, nachdem man von Saint-Lazare realisiert wurde, liegen beschloss Bürgermeisterin Anne Hidalgo, aus den Fehlern und Schwächen der im weit zurück. 2007 lud der damalige Prä- die gesamte olympische Infrastruktur Osten angrenzenden Bauphase 1 dazuge- sident Nicolas Sarkozy zehn Architektur- nach Saint-Denis auszulagern und das 54 lernt hat – eine eigene Arge gegründet, in teams aus ganz Europa ein, ihre Visionen Hektar große Frachtenareal für die Pariser der sich die hier planenden Architekten und Utopien für ein „Grand Paris“ vor- Stadtbevölkerung zu nutzen – nicht erst in und Bauträger miteinander austauschen zustellen. Die daraufhin ausgearbeiteten sechs Jahren, sondern schon heute. Unter und die Einzelprojekte aufeinander ab- Projekte von Richard Rogers, Jean Nou- einem Teil des Gebiets befindet sich heu- stimmen konnten. Auch die österreichi- vel, Christian de Portzamparc, MVRDV te eine große Werkstätten- und Waschstra- schen Architekten querkraft (für den Bau- und vielen anderen, umfassten innovative ßenhalle der Französischen Staatsbahnen träger 3F) und Baumschlager & Eberle Verkehrskonzepte, Leitlinien für ein men- SNCF. Auch das schwarz-weiße Doppel- (für die Investoren Bouygues Immobilier schenwürdiges Leben in Kleinstrukturen, haus von AAVP und Aires Mateus hat statt und Caisse des Dépôts et Consignations) aber auch klar inszenierte und choreo- eines Kellers kilometerlange Gleiskörper sind mit von der Partie. grafierte Wachstumsschritte, wie und wo im Fundament. sich Paris bis 2030 auf die prognostizier- 50 Meter mit Ausnahmeregelung ten 15 Millionen Einwohner entwickeln Stilistischer Mix „Nicht alle der hier realisierten Wohnbau- und ausdehnen solle. Herzstück von Clichy-Batignolles, das ten halten sich strikt an den klassischen Die Ideen für „Grand Paris“ waren vom Pariser Stadtplaner François Grether Pariser Bebauungsplan, der mit 35 Meter ein wichtiger Katalysator, um erstmals und der Landschaftsarchitektin Jacqueline Bauhöhe reglementiert ist“, erklärt Archi- die große Hürde der bestehenden Bahn- Osty entwickelt und koordiniert wurde, tektin Marcia Mendoza, die das Projekt trassen und der permanent überlasteten ist ein zehn Hektar großer Ökopark mit von Anfang an beobachtete und heute Ringautobahn Périphérique zu überwin- großen, ausgewachsenen Bäumen, rege professionelle Führungen durchs Quar- den. Gerade auf der Schiene fallen im genutzten Kleinflächen für Urban Garde- tier anbietet. „Viele nehmen die Ausnah- historisch gewachsenen Paris enorme Flä- ning sowie etlichen Auffang- und Sicker- meregelung von 50 Meter Bauhöhe in chen an, sind doch die insgesamt sieben becken für Regenwasser. Um die vielfäl- Anspruch, doch mein Eindruck ist, dass Kopfbahnhöfe, die quer über die ganze tig gestaltete Grünfläche gruppieren sich die Mischung hier sehr sorgfältig gewählt Stadt verteilt sind, kaum miteinander ver- rund 3.400 Wohnungen unterschiedlicher wurde.“ Auch der soziale Mix unterliegt netzt. Die aktuellen Stadtentwicklungs- Rechtsformen – von supergeförderten ganz genauen Regelungen: Der Woh- und Stadtverdichtungsprojekte, die im so- Kleinst-Garçonnièren bis hin zu freifinan- nungsschlüssel beträgt 50 Prozent sozialer genannten Plan Local d´Urbanisme (PLU) zierten Eigentumswohnungen – sowie Wohnbau, 30 Prozent privater Wohnbau festgehalten sind, umfassen dreizehn Bürobauten und öffentliche Institutionen mit Mietobergrenze und 20 Prozent freifi- Quartiere entlang wichtiger Straßen- und mit fast 13.000 Arbeitsplätzen. nanzierter Wohnbau. Schienenachsen und sollen Platz bieten Was sofort auffällt: Der stilistische Mix Der mit Abstand größte und wichtigs- für rund 200.000 Bewohner. Die größten mag so vielfältig sein wie in der Seestadt te Magnet und Attraktor ist das neue, 160 und wichtigsten Areale konzentrieren sich Aspern wie am ehemaligen Nordbahnhof Meter hohe Palais de Justice von Renzo im Norden, Osten und Süden und liegen wie im seit Jahren gehypten Sonnwend- Piano, das als PPP-Projekt errichtet wurde WOHNENPLUS . 2|2018 33
INTERNATIONAL an architektonischer Inspiration, denn man erkennt, dass die Projekte in einer Gesellschaft zusammenlaufen und mehr oder weniger über einen Kamm gescho- ren werden“, sagt ein Herr aus der Woh- nungswirtschaft, der sich mit diesem Zitat nicht im Artikel wiederfinden möchte. „Aber dieses Viertel ist eindeutig das le- bendigere und besser funktionierende. So hochwertig kann die Architektur gar nicht sein, als dass sie imstande wäre, die- se städtischen Qualitäten, die hier spürbar sind, aufzuwiegen. Hand aufs Herz... Mir ist das hier lieber!“ Nach weiteren besichtigen Projekten wie etwa Gare de Rungis im Süden, wie Porte Pouchet, wo die Pariser Architek- ten Lacaton & Vassal ein Sechzigerjah- re-Wohnhochhaus thermisch und struktu- rell saniert haben und wie Paris Nord-Est MacDonald, wo ein ehemaliges, 617 Me- ter langes Lager- und Logistikzentrum von insgesamt 17 Architekten in ein gemischt genutztes Quartier umgebaut wurde, hat sich der Eindruck verfestigt: Paris nimmt es mit seinem bevorstehenden Bevölke- 4 rungswachstum ernst, mehr als ernst so- gar. Von dieser inhaltlichen, prozessualen und nicht zuletzt architektonischen Radi- und den alten Justizpalast in der Innen- Dominique Perrault. Während das Me- kalität kann man sich ein Scheibchen ab- stadt seit einigen Monaten ersetzt. „So ein gabauwerk mit seinen charakteristischen schneiden. großes Stadtentwicklungsprojekt macht vier Büchertürmen damals noch in der nur dann Sinn, wenn man es nicht nur als Einöde stand, befindet es sich heute in- Wohn- und Schlafstadt sieht, sondern sich schon von Anfang an darum kümmert, mitten eines pulsierenden Wohn- und Of- fice-Bezirks nächst der Seine. Buchtipp auch öffentliches Leben und Funktionen Ein Fünftel des gesamten Areals, rund Hektopolis Foto: KONNEX Edition Korrespondenzen des täglichen städtischen Bedarfs anzu- 26 Hektar, liegen im ersten Stock. Es han- siedeln“, so Mendoza. „Wenn die Stadt 8 delt sich dabei um die Überbauung der will, dass ein neues Stadtviertel lebt, dann vom Kopfbahnhof Gare d´Austerlitz nach Ein Reiseführer in muss sie bereit sein, mit eigenen Behör- Südosten hinausführenden, bis zu 80 hundert Städte, den und Institutionen hinzuziehen. Das Meter breiten Gleisanlagen. Wie auch in Wojciech Czaja, ist auch der Unterschied zu Projekten der Clichy-Batignolles ist der Geländesprung KONNEX Edition Vergangenheit.“ Die Anbindung an die mit Rampen, Stiegen, Grünflächen und Korrespondenzen Metrolinie 14, die heute von Saint-Lazare abgetreppten Terrassenbebauungen mit bis zur Bibliothèque Nationale und weiter unterschiedlichen Erdgeschoß-Niveaus Der ungewöhnliche Reiseführer nach Olympiades verkehrt, ist bereits in geschickt in die städtische Topografie bringt den Leser in hundert verschie- Arbeit und soll nächstes Jahr in Betrieb integriert. Die hinter dem Gesamtpro- dene Städte, die nicht unterschied- genommen werden. jekt agierende Entwicklungsgesellschaft licher sein konnten. Die in diesem Semapa wird hier bis 2025 insgesamt Buch skizzierten Beobachtungen, Stadtentwicklung über Gleisen 7.500 Wohnungen errichten. Hinzu kom- Begegnungen und Erlebnisse sind Am genau anderen Ende der violetten men 750.000 Quadratmeter Bürofläche, Momentaufnahmen und haben kei- Métro 14 liegt das Stadtentwicklungsge- 400.000 Quadratmeter Handelsfläche so- nerlei Anspruch auf Vollständigkeit. biet Paris Rive Gauche. Das 130 Hektar wie öffentliche Einrichtungen wie etwa Sie sind subjektiv, persönlich und große Areal am linken Seine-Ufer befindet Krankenhaus, Universität, Schulbau und manchmal auch intim. sich schon seit einigen Jahren in Entwick- Bibliothek im Gesamtausmaß von weite- In diesem Sinne sind die hier zu- lung und weist heute bereits ein reges ren 700.000 Quadratmeter. sammengetragenen Miniaturportrats Leben mit Cafés, Restaurants, Geschäfts- Der Tenor unter den Exkursionsteil- und Anekdoten nicht zuletzt auch zeilen und guter öffentlicher Verkehrsan- nehmern aus Österreich, Deutschland eine Liebeserklärung an die Unter- bindung an. Den Startschuss machte 1996 und der Schweiz ist nicht zu überhören: schiedlichkeit der Welt – stellver- Staatspräsident François Mitterrand mit „Clichy-Batignolles mag das schönere tretend für das Ganze, das ohnehin der heute nach ihm benannten Biblio- und architektonisch ambitioniertere Pro- niemals zu erfassen sein wird. thèque Nationale des Pariser Architekten jekt sein, und hier mangelt es definitiv 34 WOHNENPLUS . 2|2018
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